Der Gesang der Lerche bleibt - Klaus Weniger - E-Book

Der Gesang der Lerche bleibt E-Book

Klaus Weniger

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Beschreibung

Mit gerade sechzehn bin ich als Luftwaffenhelfer in den 2. Weltkrieg gezogen. Mit siebzehndreiviertel kam ich Anfang August 1945 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause zurück. In der Kriegsgefangenschaft, im Kriegsgefangenenlager Wickrathberg am Niederrhein, habe ich mir hinter dem Stacheldraht das Versprechen abgenommen, eines Tages, sollte ich jemals nach Hause kommen, meine Erlebnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dieser Bericht bietet einen chronologisch gestalteten Blick auf meine Kriegszeit. Ich habe darin vor allem Vorgänge beschrieben, die zu meinen Schlüsselerlebnissen gehören.

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Klaus Weniger

Der Gesang der Lerche bleibt

Ein Bericht über die Kriegsjahre 1943-1945

Dieses Dokument soll den an der jüngeren Geschichte Interessierten Informationen für eigene, weitergehende Analysen geben.

Unter der Voraussetzung, dass wir uns mit unserer Geschichte beschäftigen, haben wir die Möglichkeit, unsere Zukunft friedfertig zu gestalten.

Copyright: © 2014 Klaus Weniger Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de ISBN 978-3-7375-1975-5

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bildnachweis:

Rückseite rechts oben: IWMCollections Bild BU 5230, gemeinfrei.

Rückseite rechts Mitte: IWMCollections Bild BU 2332, gemeinfrei.

Vorderseite oben links sowie Seite 422: Familienarchiv Norbert Radtke, gemeinfrei.

Inhalt

0Vorgeschichte - Der Weg in die Vernichtung5

1Der „Große Krieg“ und der „Zweite Weltkrieg“12

2Rückblick auf 1943 - Schulzeit und Jugendjahre28

3Luftwaffenhelfer61

4Beim Reichsarbeitsdienst in Uelzen133

5Panzergrenadier152

6Kriegsgefangener (POW)311

7Meine Gedanken, Wahrnehmungen und Erkenntnisse398

8Vita von Klaus Weniger400

9Geschichtsbeschreibung – Die Kriegsgeschichte401

10Aufstellung der Armee403

11Segnung der Waffensysteme406

12Umgang mit der seelischen Hemmschwelle407

13Gedanken zur Moral411

14Umgang mit der Angst412

15Gedanken zur Wahrheit417

16Gedanken über den Soldaten als Mörder418

17Militärtradition

0Vorgeschichte - Der Weg in die Vernichtung

Bis zum 19. April 1945 war die militärische Ordnung innerhalb unserer Einheit als normal anzusehen. Im Raum von Senftenberg sollte die Neuaufstellung unserer Division erfolgen. Am Nachmittag des 19. April 1945 vernichteten sowjetische T 34/76 oder T 34/85 Panzer bei Boblitz, südlich von Lübbenau in der Niederlausitz, unseren Truppentransportzug.

Nach der Zerstörung haben sich die marschfähigen Soldaten in Richtung Westen und der größere Teil in Richtung Norden vom Ort des Geschehens abgesetzt.

Zurück gelassen haben wir die gefallenen und verwundeten Kameraden. Sie waren in den Resten des zerstörten Zuges und auf dem Acker geblieben. Die Zerschlagung unseres Bataillons war eine der letzten Kriegshandlungen.

Von diesem Zeitpunkt an, noch weit vor Mitternacht, befand sich meine Gruppe auf dem Wege in Richtung Luckau, in Richtung Westen. Unsere Gruppe bestand aus einem Feldwebel, einem Obergefreiten und zwei Panzergrenadieren. Gemeinsam saßen wir im Transportzug. Nach dessen Zerstörung haben wir uns rein zufällig gefunden. Unser Marschbefehl lautete, ohne Verzug auf dem schnellsten Wege nach Parchim in Mecklenburg zu marschieren.

Am 1. Mai 1945 erreichten wir Havelberg, wo wir in einer Kampfgruppe landeten. Am Nachmittag des 2. Mai 1945 erreichte ich westlich von Havelberg, in einer gewaltigen Ansammlung von den gestrandeten Soldaten, den breiten Elbstrom. In der letzten Nacht war ich durch die reine, militärische Willkür von meinen drei Kameraden getrennt worden.

Nur nicht jetzt noch in die sowjetische Kriegsgefangenschaft kommen. Dieses war das unausgesprochene Verlangen aller hier gestrandeten Soldaten.

Denn sich irgendwo in Sibirien wiederfinden, wenn man hier, an dieser Stelle, noch den sowjetischen Truppen ausgeliefert würde. Jeder uniformierte Soldat befand sich doch hier im Zustand einer psychischen Lähmung.

Den Amerikanern, die uns wohl heute, am 2. Mai 1945 gefangen nehmen werden, ist nicht zu trauen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte von den Männern an dieser Stelle auf der Ostseite der Elbe noch keiner Kontakt mit einem Amerikaner gehabt. Da war zwar auf dem Wege von Havelberg zur Elbe hin ein Amerikaner, an den erinnere ich mich, der Waffen entgegennahm und diese stapelte.

Nach den physischen und psychischen Anstrengungen der letzten Wochen standen wir als eine riesige, graue Menschenmasse an einer Stelle am Elbstrom, die über unser Schicksal entscheiden musste. Den Gedanken an einen Marsch in die sowjetische Kriegsgefangenschaft noch vor Augen und dann das Wissen um die Rote Armee bereits spürbar im Nacken. Uns hat nur die Elbe auf- und festgehalten. Am Rande des Wassers zur Handlung angetrieben, wollte sich jeder der Männer nur noch retten. Retten ja. Aber wie?

Viele der fremden Kameraden versuchten, ohne Rücksicht auf das eigene Leben, daran haben sie vor Anspannung nicht denken können, schwimmend durch und über die Elbe in Sicherheit zu kommen. Leere Blechkanister, Schläuche aus LKW-Reifen, Hölzer und vieles mehr an unbrauchbaren Dingen sind für die Flucht eingesetzt worden. Von den Anstrengungen und der Angst verbraucht, verloren viele Männer in der Elbe ihr Leben.

Noch heute habe ich, wenn ich an die damaligen Stunden an der Elbe zurückdenke, immer wieder eine gewaltige, für mich gesichtslose, graue Masse Soldaten vor Augen. Ich habe damals wirklich kein einziges Gesicht gesehen. Alles um mich herum war nur grau. Gesteuert vom Bewusstseinsverlust und Taumel, vom Unterbewusstsein manipuliert, bezwang ich mich und den Elbstrom.

Körperlich nahezu am Ende erreichte ich auf dem linken Elbufer eine in den Strom reichende Buhne. Von dem, was gerade mit mir geschehen war, habe ich einfach nichts begriffen. Mit einem Schlag war ich in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft angekommen. Frühere Gedanken, wie ich einmal den Eintritt in die Kriegsgefangenschaft erleben werde, waren auf einmal vergessen.

In Kolonnen marschierten wir, nun nicht mehr im Gleichschritt, auf den Straßen am Westufer der Elbe in Richtung Süden. Meine mitgefangenen Kameraden in unmittelbarer Umgebung von mir waren, soweit ich mich erinnere, in trockenen Uniformen unterwegs. In meiner nassen Kleidung laufe ich zwischen ihnen in die erste Nacht.

Von der ersten Auffangstelle am Bahnhof in Arendsee, auf 2 ½ long ton Fahrzeugen stehend, transportierten uns die Amerikaner am sonnigen Vormittag des 3. Mai 1945 zur zweiten Sammelstelle nach Herford. Am Abend des 6. Mai irgendwo bei Herford in offene Güterwagen verladen, rollte der Transport über Nacht in Richtung Westen. Wir durchfuhren das zerstörte Ruhrgebiet und rollten über den Rhein bei Wesel.

In Wickrath war am Nachmittag des 7. Mai 1945 unsere Reise zu Ende. Bei glühender Hitze, die Hände auf dem Kopf abgelegt, marschierten lange Kolonnen der Kriegsgefangenen zum Ziel. Auf dem langen Marsch brachen auf der Straße mehrere Kameraden von den Anstrengungen und der Hitze zusammen.

Am Ortsrand von Wickrathberg breitete sich vor mir überraschend ein nicht überschaubares, großes Gelände aus. Da standen auf dem flachen Acker die ersten Baumstämme. An ihnen befand sich bereits teilweise der silbern blinkende, straff gespannte Stacheldraht. Im Hintergrund standen übermannshohe Stacheldrahtzäune. Einzelheiten des unter freiem Himmel errichteten Lagers blieben mir zunächst verborgen.

Eingewiesene, deutsche Kriegsgefangene setzten jeden einzelnen von uns, bis auf die Haut, in gewaltige Staubwolken aus DDT-Pulver. Dieses geruch- und geschmacklose weiße Pulver fühlte sich nicht wie Mehl an. Ohne zu wissen hatte man das widerliche aber trockene Pulver im Mund. Man musste es einfach runterschlucken.

Nach einem Zeitsprung standen wir, abgezählt in vier Tausendschaften, in einem der mit Stacheldraht eingefassten Camps. Die DDT-Pulverwolke hatte sich wie ein Schleier auf jeden von uns gelegt. Staubigen Mehlsäcken gleich atmeten wir das Pulver und das Gas, das sich aus dem Pulver entwickelte, ein. Das Gas, das sich über Nacht vom DDT-Pulver und der Feuchtigkeit des warmen Körpers entwickelte, tötete die Plagegeister. Bereits in der ersten Nacht sind nahezu alle Kleiderläuse aus meiner Militärkleidung verjagt worden.

Im Kriegsgefangenenlager Wickrathberg waren die Männer dem Wetter vollkommen schutzlos ausgesetzt. Jeder für sich allein oder in Kameradschaften lagerten wir auf und in der Erde. Innerhalb weniger Tage verbanden sich die mitgebrachten Mäntel, Decken und Dreieck-Zeltplanen mit der Erde. Dabei veränderten sich die ehemaligen Farben der Uniformen und nahmen die Farbe der Erde an. Die allgegenwärtige Zwangslage warf jeden von uns, ohne Verzug, auf die kalte und nackte Erde.

Uns PoW1 waren nur der Himmel und der straff gezogene Stacheldraht geblieben.

Der nächste Tag, der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, hatte für mich keinerlei Bedeutung. Zwischen all den fremden Soldaten, die ich vorher nie gesehen habe, war auch ich nun auf diesem Platz ab sofort auf mich allein gestellt.

Die körperlichen Anstrengungen der letzten Tage machten sich jetzt auch bei mir bemerkbar. Ich hatte die Schnauze gestrichen voll. „Was habe ich nur verbrochen, dass es mir so gut geht?“ Dieses war ein allgemeiner Ausspruch unter den Soldaten, wenn eine militärische Schikane zu überwinden war.

All die Feldgrauen, die noch in den letzten Wochen von ihren Vorgesetzten – im Osten und im Westen – zwischen beiden Fronten unter Waffen stehend zum Sterben angetrieben worden waren, plagten jetzt Hunger und Durst. Nicht allein physisch, sondern auch psychisch war ich am Ende. Alles, aber auch wirklich alles war mir jetzt scheißegal geworden. Es war nur der spürbar bohrende Hunger geblieben.

Nach kurzer Zeit, es waren sicher nur Stunden, verweigerte mir der Stacheldraht den normalen Blick. Ohne mein Dazutun hat er sich seit meiner Ankunft in meine Seele gefressen. Überall war für mich nur der Stacheldraht. Seine bei der Herstellung silberne Farbgebung hatte er bereits über Nacht in ein Eisengrau verwandelt. Mit dem Farbwechsel hat sich der Stacheldraht für das normale Auge getarnt.

Im Lager Wickrathberg hat die grausame Fratze des brutalen Krieges endlich Zeit, sich tief und für alle Zeiten in die Seelen der Kriegsgefangenen einzubrennen. Diese Tatsache wird den meisten Kriegsgefangenen in den ersten Tagen, wo auch immer sie in Kriegsgefangenenlagern vegetierten, kaum bewusst geworden sein. Alle meine Wahrnehmungen, Empfindungen aus den unterschiedlichen Erlebnissen des Krieges, dazu gehört die folgende Feststellung:

Die Staatsführung des Dritten Reiches hat die Jugend auf die schändlichste Art und Weise getäuscht und betrogen. Wir sind aus der erlebten Erziehung und der Achtung vor den Erwachsenen, einschließlich der eigenen Eltern bewusst und unbewusst in unser Verderben genötigt und letztlich gezwungen worden. Wir waren, wie auch die älteren Jahrgänge, für den Staat nur als Kanonenfutter von Interesse.

Die Verursacher, die den Wahnsinn des Krieges angestiftet haben, machten sich am Ende, nach dem gemeinsamen Untergang, unbemerkt aus dem Staub. Oder sie haben sich teilweise selbst umgebracht oder haben sich in den Untergrund abgesetzt. Ihre bereits in der Anonymität lebenden ehemaligen Mitkämpfer waren ihre neuen Beschützer.

Meine Erfahrungen während meiner Kriegsdienstzeit und der Kriegsgefangenschaft hinter dem Stacheldrahtzaun haben mir damals das Versprechen abgenommen: Sollte ich je wieder nach Hause kommen, dann wollte ich als Zeitzeuge über meine Kriegserlebnisse berichten. Später erweiterte und vervollständigte sich mein Gedanke: Meine Erlebnisse sollten nicht nur für mich, sondern stellvertretend auch für meine jungen Kameraden geschrieben werden, die nicht das Glück hatten, die Heimat wiederzusehen.

Nach meiner Heimkehr aus dem Krieg habe ich bereits nach den ersten Monaten damit begonnen, meine Erlebnisse handschriftlich festzuhalten, um diese später, vielleicht auch erst nach meiner Lebensarbeitszeit, zu verarbeiten. Die damaligen Kriegseinsatzorte konnte ich 1990 und 1995 besuchen. Gespräche mit den Menschen an den Plätzen, einmal in Günterberg im Land Brandenburg, Biesenbrow im Land Brandenburg, waren nicht sehr ergiebig. Während der Besuche kamen mir, wie auch in Bischdorf, Niederlausitz viele Bilder aus dem Erlebten schlagartig ins Bewusstsein zurück. Die in den besuchten Orten lebenden Männer waren in der Zeit 1944 und 1945 selbst irgendwo im Kriegseinsatz oder in der Kriegsgefangenschaft.

1Der „Große Krieg“ undder „Zweite Weltkrieg“

Das Gleichgewicht der europäischen Mächte war nach den deutschen Siegen über Österreich 1866 und über Frankreich 1870/1871 mit der deutschen Reichsgründung stark belastet. Deutschlands Annexion Elsass-Lothringens zerstörte die Verständigung mit Frankreich. Bedingt durch die in Deutschland verstärkt betriebene Industrialisierung und die Vereinigung Deutschlands mit Österreich-Ungarn 1879 als Zweierbund kam es mit der Erweiterung, dem Beitritt Italiens zum Dreierbund zu innereuropäischen Machtrivalitäten. Diese Verbindung provozierte den Zweierverband Frankreich und Russland, der durch Absprachen mit Großbritannien 1904 zur „Tripel Entente“ erweitert wurde.

Die Monarchen der Königshäuser Europas, die Windsors, die Romanows und die Hohenzollern, waren miteinander verwandt. Die zwei Monarchen der Windsors und der Romanows beäugten den Monarchen der Hohenzollern argwöhnisch. Jeder von ihnen war bestrebt, die eigene Machtposition in Europa zu verstärken und zu vergrößern. Der Bau einer starken deutschen Schlachtflotte signalisierte den Windsors, dass Deutschland einen Anspruch auf eine Weltpolitik wollte.

Deutschland war bereits die stärkste militärische und größte Industriemacht in Europa. Diese Tatsache brachte die Wendung im Verhältnis Großbritanniens zu Deutschland. Eine deutsche Herausforderung an Großbritannien als Seemacht hätte bei einem positiven Ausgang, Deutschland den Weg zur Überlegenheit nicht nur in Europa geebnet. Die Romanows verfügten ihrerseits über eine große Landstreitmacht. Russland hatte sich nach der Niederlage im russisch-japanischen Krieg 1904/19052 und nach der ersten russischen Revolution 1905-1907 als militärische Großmacht präsentiert. Deutschland kam in Zugzwang und manövrierte sich in die Situation, die Einkreisung durch einen Präventivkrieg gegen den Russland zu sprengen. Zwischen den Großmächten: Großbritannien, Frankreich und Russland einerseits und den Mächten der Entente, Deutschland, Österreich-Ungarn und der Türkei, kam es zum Ersten Weltkrieg. Der Mord an dem österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo am 28. Juni 1914 bot den willkommenen Anlass. Die deutsche Kriegserklärung gegen Russland erfolgte am 1. August 1914, gegen Frankreich am 3. August 1914. Nach Eingang der Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland am 4. August 1914 kam am gleichen Tag der Befehl zum Kriegsbeginn.

Vom Balkon des Schlosses in Berlin verkündete am gleichen Tage Kaiser Wilhelm II (1881-1918):

„Es muss denn das Schwert nun entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf zu den Waffen. Jedes Wanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande“.

Der Kaiser schloss die Ansprache an sein Volk mit den Worten:

„Wir werden uns wehren bis zum letzten Haupt von Mann und Ross. Und wir werden diesen Kampf bestehen. Auch gegen eine Welt von Feinden.

Vorwärts mit Gott, der mit uns sein muss, wie er mit den Vätern war!“ 3

Das deutsche Volk, das sich vor dem Schloss eingefunden hatte, bejubelte die anfeuernden Worte des Kaisers. Das Kommando zum Angriff gegen die Romanows und die Windsors mit ihren jeweiligen Verbündeten war damit gegeben. Dieser Termin kam zu dem Zeitpunkt, an dem die Felder abgeerntet waren.

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts begann man die Vorbereitungen auf einen Krieg. „Mann gegen Mann“. Der Krieg galt damals als Vater aller Dinge. Der Krieg war nicht geächtet. In Deutschland fühlte man sich stark, weil man 1870/1871 die Franzosen besiegt hatte.

Von diesem Stichtag, dem 4. August 1914 an, rasselten die drei Monarchen nicht mehr mit ihren Säbeln. Die Waffen für den Land- und Seekrieg waren auf den letzten Stand der Technik gebracht. Ihre Soldaten waren zum Kampf Mann gegen Mann gedrillt und ausgerüstet.

Jetzt konnten sich die Monarchen nach einer jahrelangen Aufrüstung von den bisher erbrachten Leistungen erholen. Sie wollten von nun an Zuschauer sein. Sie wollten erleben und bestätigt bekommen, wie sich ihre jungen Männer auf den Schlachtfeldern für die Monarchen die Köpfe einschlagen. Die monarchischen Verwandten hatten sich nach Übergabe der militärischen Macht an die hohen Offiziere zum Tee zurückgezogen. Die Soldaten wurden beim Tagesappell noch einmal zur Treue auf den Kaiser vergattert und mit einem extra dicken Verpflegungspaket ausgestattet in den „Großen Krieg“ entlassen. Alle zum Kampf angetretenen Soldaten der Nationen, die in den Krieg zogen, haben ihren Herrschern den Treueid geleistet. Daran waren sie bis zum Tode jedes einzelnen Mannes gebunden.

Am 4. August 1914 waren die Truppen zur Verladung auf die Eisenbahn in Marsch gesetzt worden. Freiwillig, begleitet von ihren Angehörigen, sangen sie mit strahlenden Augen ihre fröhlichen Soldatenlieder. Auf der Fahrt an die Fronten schrieben die Soldaten Siegesparolen an die Eisenbahn- und Güterwagen.

Kaiser Wilhelm II hatte seinen Soldaten bereits nach Kriegsbeginn 1914 versprochen: „Weihnachten werdet ihr wieder zu Hause sein!“ Die Soldaten freuten sich über das Versprechen und daran glaubten sie. Voller Freude und Begeisterung zogen sie auf die Schlachtfelder in die erste Schlacht.

Welche Weihnacht meinte der Kaiser?

Sie konnten es endlich dem Feind zeigen, wozu sie nach der Ausbildung fähig waren. Ihrem Herrscher hatten sie doch versprochen, den verdammten Feind zu vernichten. Doch unmittelbar nach der Ankunft auf dem Schlachtfeld wurden ihre frohgemuten Herzen vom Hieb ihrer Gegner hart getroffen. Der ihnen versprochene schnelle Sieg blieb plötzlich und unerwartet auf dem Felde stecken.

Zum Kampf getrieben, abgestumpft an Körper und Seele, ständig dem Tod ausgeliefert, standen und lagen sie im Blut der Kameraden und im Schlamm der Schützengräben und Granattrichter. Die Männer, die sich freiwillig vom Feind haben töten lassen, bekamen ihr Holzkreuz. Denn sie waren Christen. Jeder einzelne von den Gefallenen hatte sein Leben überstanden. Die verwundeten Männer waren der Hilfe der Kameraden, der Sanitäter und der Ärzte auf den Verbandsplätzen und in den Feldlazaretten ausgeliefert. Die hohen Auszeichnungen für die Kämpfe ihrer Soldaten bekamen in der Regel die Vorgesetzten.

Am 6. April 1917 erfolgte der Kriegseintritt der USA. Von diesem Zeitpunkt an zeigte sich die Lage der Mittelmächte hoffnungslos. Die Völker der Entente, Deutschland, Österreich-Ungarn und die Türkei, waren von Anfang an den Gesetzen des Krieges hilflos ausgesetzt, dieses galt ebenso für ihre Kriegsgegner. Sie konnten nur noch ums Überleben kämpfen.

Die Russen scheiterten nach der letzten Kraftanstrengung in der 2. Brussilow4-Offensive. Zar Nicolaus II musste nach dem Waffenstillstand am 15.Dezember 1917 abdanken. Zusammen mit seiner Familie wurde der Zar im Juli 1918 ermordet.

Kaiser Wilhelm II hatte die junge Monarchie von 1871 und die Existenz des Reiches aufs Spiel gesetzt. Mit seiner ihm angeborenen, erbeigenen Überheblichkeit hatte Kaiser Wilhelm II alles verloren. Der „Große Krieg“, der von 1914 bis November 1918 dauerte, war verloren. Der Deutsche Kaiser Wilhelm II musste abdanken. Er flüchtete ins Exil nach Holland. Zurückgelassen hatte er sein Volk, die an Leib und Seele zerstörten Menschen, die Toten der Schlachtfelder, die sichtbaren und unsichtbaren Trümmer. Unabhängig von einander riefen im November 1918 am gleichen Tage Scheidemann und Liebknecht ohne Wissen und Zustimmung des Reichskanzlers Ebert die Republik aus.

Das Empire Großbritanniens stand vor großen wirtschaftlichen Veränderungen und Belastungen. Doch seine Monarchie überlebte die Monarchien der Verwandten.

Die geplanten Siegesparaden mussten ausfallen. Alle am Krieg teilnehmenden Völker standen vor dem Nichts. Sie waren nach dem „Großen Krieg“ in der Weltwirtschaftskrise, in der Inflation und in der Arbeitslosigkeit gestrandet. Der französische Marschall Foch, Vertreter der Siegermächte, zu denen auch die USA gehörten, überreichte im November 1918 dem Staatssekretär Erzberger die Waffenstillstandsbedingungen in Compiègne. Der „Versailler Vertrag“, am 28. Juni 1919 im Versailler Schloss unterzeichnet, trat am 10. Januar 1920 in Kraft.

Der Staat, nach dem verlorenen Krieg aus der Monarchie entlassen, war noch nicht für eine Demokratie vorbereitet.

Die Weimarer Republik überwand nach den vielen Revolutionen auf der Straße nur vorübergehend die herrschende Unsicherheit. Die Weimarer Verfassung, am 11. August 1919 vom Sozialdemokraten und Reichspräsidenten Ebert unterschrieben, sagt aus, dass die parlamentarische Demokratie die herrschende konstitutionelle Monarchie abgelöst hat. Noch weiter mit sich und den internen Querelen beschäftigt nahmen die Parteien aus Selbstüberschätzung nicht einmal die Ideen und Gedanken anderer politischer Kräfte zur Kenntnis.

Das allgemein herrschende Chaos des Krieges konnte von den politischen Parteien nicht zügig gelöst werden. Die Menschen forderten lautstark nach Arbeit und Brot. Mit einem Generalstreik setzten die Menschen daraufhin die sich neu etablierenden Parteien unter Druck. Eine politische Unfähigkeit der Parteien war schnell erkannt. Das Kriegschaos konnte nicht zügig gelöst werden. Die Parteien standen sich gegenseitig im Wege, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Eine politische Einigung zwischen den Parteien, die zur Einrichtung der Demokratie in Deutschland nun dringend erforderlich war, erreichten sie nur bedingt. Die allgemeine Notlage der Bevölkerung konnte der Demokratie in Deutschland, der „Weimarer Republik“, kaum eine reelle Chance geben.

Für mich ist es noch heute bedauerlich, dass ich während meiner langen Lebenszeit keinerlei Einsichten und Aussagen über die Entwicklungen meiner Großväter und meines Vaters habe. Ich weiß einfach nichts von ihnen. In jungen Jahren war ich sicher nicht so daran interessiert, die Grundzüge ihrer Lebensphilosophie zu kennen. Wie war es mit ihrer politischen Einstellung? Waren sie Anhänger der Monarchie? Waren sie selbst deutsch-national erzogen worden? Wie sind sie von ihren Vätern erzogen worden? Waren sie nur der Zeit angepasste Jasager? Welche Vorbilder hatten sie? Welche Bedürfnisse haben sie gehabt und welche Freiheiten konnten sie leben? Was haben ihnen ihre Vorfahren für das Leben vermittelt?

Aus meiner Erinnerung halte ich fest: Alle Themen, die persönliche Fragen zum Inhalt hatten, sind damals innerhalb der Familien tabuisiert worden. Dieses trifft auch für meine Familie zu. Über Persönliches wie die eigene Jugendzeit oder von Freundschaften mit Gleichgesinnten habe ich nichts gehört. Ich bin mir sicher, dass nicht nur mir der Zugang zu dem Leben der Vorfahren, die im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gelebt haben, für immer verschlossen war. Um gerade heraus zu sein: Gehorsam sein, keine dummen Fragen stellen, nur den Forderungen der anderen, der Erwachsenen folgen. Ja, damals gab es noch dumme Fragen!

Ich habe, wenn ich auf meine eigene Erziehung zurückblicke und diese mit der heutigen Zeit vergleiche, festgestellt, dass in den von mir angesprochenen Generationssprüngen gewaltige gesellschaftliche Veränderungen (Revolutionen) stattgefunden haben. Und diese Veränderungen werden auch künftig weiter in den Generationen stattfinden.

Die Ereignisse, ob politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich, wiederholen sich ständig in Zyklen. Die etablierten Parteien in Deutschland wollten nach dem verlorenen Weltkrieg möglichst schnell wieder an die Macht. Sie drängten geradezu mit ihren überzogenen Ansprüchen und der ihnen eigenen Art von Autorität darauf, möglichst allein das Volk für die eigenen Ideen zu gewinnen. Sollte keine der Parteien allein regieren können, müssten sie Koalitionen eingehen. Damit beginnen Kämpfe um Spitzenposten. Dem deutschen Volk können die Parteien nicht helfen, obwohl sie es immer wieder versprochen haben. Versprechungen gab es nicht nur nach dem Weltkrieg.

Durch die Inflation fühlten sich die Menschen schon seit Anfang der zwanziger Jahre von den Trägern nationalsozialistischer Ideen angesprochen. Steigende Arbeitslosenzahlen veranlassten viele Arbeitslose und Teile der bürgerlichen Fraktion, die neuen Ideen nicht nur anzuhören. Vom Diktat des Elends und wegen der versprochenen, gut bezahlten Posten haben sich viele Menschen früh der kommenden Macht anschließen wollen. Am Ende erlagen sie den Agitationen der Nationalsozialisten unter der Führung Adolf Hitlers.

Auch diese Partei, die NSDAP, hatte den Arbeitslosen Arbeit versprochen. „Wählt uns!“, haben sie lautstark gerufen. „Wir werden euch Arbeit geben.“ Sie wiederholten diese Aussagen, dabei immer lauter werdend. Wer wollte da noch zurückstehen? Schon vor dem 30. Januar 1933 erlagen die Menschen dieser geschliffenen Propaganda und der politischen Indoktrinierung.

Vor Augen der künftigen Macht berief der Feldmarschall von Hindenburg, der amtierende Reichspräsident, am 30.Januar 1933 Adolf Hitler zum „Führer und Reichskanzler des Deutschen Reiches“.

Und dieser NS-Staat machte Schulden. Erstens um die Arbeitslosigkeit zu senken und zweitens um Geld für die militärische Aufrüstung zu bekommen. Mit der Tilgung der Verbindlichkeiten konnten sich die Nazis Zeit lassen. Im Hinterkopf hatten sie ja vorgemerkt, dass die eines Tages von ihnen im kommenden Krieg besiegten Völker diese Schulden mit Zins und Zinseszins bezahlen würden. Die neue Zeit, so prophezeite der neue Herrscher, sollte allen deutschen Menschen ein Leben in Frieden bringen.

Neun Jahre nach Übergabe der Waffenstillstandsbedingungen in Compiègne im November 1918 bin ich Anfang November 1927 in die „neue Zeit“ hineingeboren worden. Neben meiner Erziehung innerhalb der Familie kam ich zwangsläufig mit dem nationalsozialistischen System in Kontakt. Meine eigene Entwicklung ist somit auch vom Nationalsozialismus geprägt worden.

Wir Kinder haben von Anfang an die seelische Gemütslage der Mutter und des Vaters in Bezug auf das sich im Aufbau befindliche System des Dritten Reiches mitbekommen, deren Tragweite wir als Kinder jedoch noch nicht erkennen konnten. Wie gesagt: Wir hatten als Kinder ausschließlich den Eltern und den erziehungsberechtigten Erwachsenen zu gehorchen. Am 30. Januar 1933 offenbarte sich die Gewaltherrschaft der Nazis.

Dass die Staatsführung von dem Tage an auch unser junges Leben autoritär bestimmen würde, konnten wir nicht erkennen. Dieses galt für alle Jungen und Mädchen dieser Jahre. Zu den Auflagen der Staatsmacht gehörte die absolute Unterwerfung der deutschen Menschen unter die Anordnungen der Partei. Die politische Einflussnahme auf die Menschen war mit der einhergehenden Rohheit, Verfolgung und Bespitzelung außerordentlich belastend.

Als „deutsches Volk“ haben wir, ohne Wenn und Aber, nur noch den Befehlen unseres allgewaltigen Führers zu folgen. Fragen? Was für Fragen? Wen sollte wer etwas fragen? Der Begriff „Frage“ zu politischen Angelegenheiten war zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Der vom Staat geforderte „Gehorsam“ ließ keinerlei Fragen zu! Die „Volksgenossen“ hatten nur auf Fragen der mächtigen politischen Partei zu antworten.

Nach der Machtübernahme im Jahr 1933 standen wir am 1. September 1939, zwanzig Jahre nach dem „Großen Krieg“, im 2. Weltkrieg. Nach und nach sollte noch größeres Leid als im „Großen Krieg“ über die gesamte Menschheit kommen. Die ständige Angst um die Menschen an den Fronten war die gleiche wie um die Menschen in der Heimat. Die Fronten im 2. Weltkrieg waren für uns, das „deutsche Volk“, überall. Die Furcht, die Angst, die Verzweiflung und die Trauer beherrschten lückenlos das Leben.

In den Kriegsjahren 1939-1945 vermehrten sich ständig die Zerstörungen an Zivilisation, an Kultur, an Lebensart, an Sitte, an Anstand, um nur einige Punkte zu nennen. Die allgemein bestehende, hohe Hemmschwelle zum Töten war im „Großen Krieg“ aus Mangel an den weiterhin in der Entwicklung befindlichen Massenvernichtungswaffen noch erkennbar. Diese Hemmschwelle ging mit Beginn des 2. Weltkrieges ab dem 1. September 1939 mit dem Einsatz schnellerer, verbesserter und stärkerer Waffen bis zum Ende im Mai 1945 nahezu vollends verloren.

Das Militär hat bei der Aufrüstung zum 2. Weltkrieg immer bessere und leistungsstärkere Waffensysteme verlangt und diese auch bekommen. Die Flugzeuge aus dem „Großen Krieg“, waren für die modernen Ziele nicht mehr einsetzbar. Sie landeten im Museum, wenn sie Glück hatten. So zeigte sich bei den Luftstreitkräften die gleiche Entwicklung. Mit den ständigen Verbesserungen der Kriegsflugzeuge und ihrer Waffen konnte man die Feinde effektiver vernichten. Im 2. Weltkrieg besaßen alle kriegführenden Mächte zusätzlich zu ihren Land- und Seestreitkräften die Luftstreitkräfte.

Wir jungen Menschen haben uns von Kindesbeinen an ausschließlich den Forderungen der Nationalsozialistischen Partei angepasst. Zur Verdeutlichung dieser Aussage heißt dieses: Unsere physische und psychische Entfaltung wurde nur von den Befehlen der Nationalsozialistischen Partei geprägt. Es gab keinerlei Möglichkeit, sich an einer anderen Partei zu orientieren. Und die Männer und Frauen dieser Partei haben uns bis zum bitteren Kriegsende nur für ihre Zwecke gebraucht und missbraucht. Am Ende des wahnsinnigen Krieges wollte kaum einer von uns noch nicht Volljährigen noch irgendetwas mit der ehemaligen Herrschaft der Nazis zu tun haben.

Wir haben schnell lernen müssen, was es heißt, frei zu ein. Diese „neue Freiheit“ hat man uns einfach übergestülpt. Mit ihr sollte für uns eine neue Zeit anbrechen. Wir empfanden den Begriff: „Freiheit“ für uns nicht verständlich, hatten wir doch im Kampf für die Freiheit unserer Nation den Krieg verloren. Nun waren Aufräumen und Aufbauen Pflicht geworden.

Den Krieg noch in den Köpfen schlossen sich über die Jahrzehnte die Wunden zu Narben. Nur die Überlebenden des 2. Weltkrieges wissen, dass sie von und mit den Kriegserlebnissen körperlich und seelisch außerordentlich belastet sind. Und der eingebrannte Stempel der Vernichtung und des Terrors wird sich nie mehr von den Seelen lösen.

Die Menschen, die nach der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 geboren worden sind, wurden in den Kriegstrümmern geboren und haben wohl den Hunger erleben müssen. Erspart geblieben sind ihnen jedoch die unmittelbare Brutalität des Krieges und die Angst vor der physischen Vernichtung. Im Alltagsleben hatten sich die Heimgekehrten überwiegend zum Schweigen entschlossen. In ihren Köpfen blieben die bitteren Erfahrungen des mörderischen Krieges zusammen mit der Angst um das eigene Leben. Selbst die Kriegspropaganda der Nazis klammerte sich noch eine lange Zeit an den Hirnen fest. War es den Heimgekehrten überhaupt möglich, über die eigenen Kriegserlebnisse mit dem Familiennachwuchs zu sprechen?

Die ganze bittere Wahrheit des Krieges erzählten die Heimgekehrten ohnehin nicht ihren Kindern. Die erlebte Wahrheit mussten sie ja erst selbst erkennen, um sie verarbeiten zu können. „Hast du geschossen? Warum hast du geschossen?“ Die Väter taten sich schwer damit, es auszusprechen, den Feind getötet zu haben. Sie waren auch nicht erzogen worden, Schwächen zu zeigen. Diese spezielle Frage, die sie tief traf, musste unbeantwortet bleiben.

Das Handwerk „Töten“ hatten sie bereits während der Grundausbildung vermittelt bekommen. Man räumte auch ein, dass man als Soldat im Kampf verwundet werden kann. Dass man im Krieg auch getötet werden kann, das hat man bei der Ausbildung generell und bewusst ausgeklammert.

Davon haben selbst die Soldaten in der Ausbildung nichts gehört. Über dieses heikle Thema sprachen die Soldaten niemals offen. Hatten sie wegen des geleisteten Eides auch gleich die Möglichkeit der eigenen Vernichtung verdrängt? Beim ersten Kriegseinsatz mussten sie dann die Wirklichkeit des Krieges erkennen. Der Verlust des Kameraden, der getötet zu Boden stürzte, schockte den Lebenden. Man gewöhnte sich nicht an diese Tatsache. Nur das seelische Abstumpfen nach Verlusten von Kameraden machte es möglich, mit der ständig latent anwesenden, eigenen Angst zu leben.

Von den Kriegserlebnissen des heimgekehrten Vaters wollten die Kinder hören. Doch der Vater sprach, wenn überhaupt, nur in knapper militärischer Form. Diese Sprache hatte er bei der Truppe gelernt. Sie ist gegen ihn und von ihm eingesetzt worden. Die Antworten eines Soldaten waren knapp und klar. Er, der Vater, war heimgekehrt und brauchte Zeit und Energie, um sich an das neue zivile Leben zu gewöhnen. Er war auf der Suche nach einem Arbeitsplatz. Die durch den Krieg entstandene Entfremdung von der Frau und Mutter seiner Kinder musste ebenfalls überwunden werden. Da war auf beiden Seiten sehr viel Anstrengung und Kraft erforderlich, um ein halbwegs vernünftiges Leben führen zu können.

Er wollte vor allen Dingen daheim seine Ruhe haben. Von nun an stand weder hinter noch vor ihm ein militärischer Vorgesetzter. Der Heimkehrer wurde von den Fragen der heranwachsenden eigenen Kinder überrascht. Bisher hatten nur die militärischen Vorgesetzten Fragen gestellt und der Vater hatte diese zu beantworten.

Und nun kommen die Kinder und stellen Fragen. Aus der Sicht des Vaters waren die Kinder gar nicht berechtigt, Fragen an ihn zu richten. Die waren doch plötzlich nur kleine Soldaten. Der Vater hatte noch keine Erfahrung, wie man mit Kindern umgeht.

Er hatte nach all den Kriegserlebnissen noch keine Ruhe gefunden. Die häufig gestellten stereotypen Fragen waren sicher: „Hast du auf den Feind gezielt geschossen? Hättest du nicht daneben zielen können? Warum hast du überhaupt geschossen?“ Hier kam mehrfach die Erwiderung des einen oder anderen Erwachsenen oder Vaters: „Geh du erst einmal dahin, wo ich hingeschissen habe.“ Damit hatte der Befragte zunächst seine Ruhe wieder. Nach dieser Antwort konnte keine Frage mehr gestellt werden. Selbst die Frauen und Mütter schwiegen lieber, denn sie wollten den Frieden für die Familie. Die heimgekehrten Männer brachten nur den harten militärischen Befehlston oder zum eigenen Schutz versteinerte Herzen mit nach Hause. Den militärischen Befehlston setzten sie überaus wirkungsvoll bei ihrem Nachwuchs ein. Die Kinder kuschten.

Natürlich gab es bei den Heimkehrern auch „Helden“. Die berichteten lauthals von ihren sogenannten Heldentaten, die sie während des Krieges „geleistet“ haben. Von ihren Erlebnissen kann man noch heute lesen.

Wie sollte der Nachwuchs nach dem 2. Weltkrieg überhaupt in der Lage sein, die ihn interessierenden Fragen zu formulieren? Dieses hätte auch ich, nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft mit knapp achtzehn Jahren, nicht können. Selbst ich hätte auf vergleichbare Fragen nicht klar und eindeutig antworten können. So haben die Nachgeborenen vom Vater oder Großvater kaum etwas erfahren. Und warum sollten sich die Väter überhaupt die Mühe machen, auf einmal die jungen Menschen zu verstehen? Sie und nicht die Jüngsten hatten doch den Krieg an der Front erlebt. Ihnen war jetzt Arbeit wichtiger als eine Auseinandersetzung mit der Geschichte. Man hat die Heimgekehrten vor und während des Krieges ja auch nicht gefragt.

An diesem Zeitpunkt war die einmalige Chance, eine Verständigung zwischen den Generationen herzustellen, für immer vergeudet worden. Wir, die alten und jungen Kriegsteilnehmer, scheiterten bereits von Anfang an, dem Nachwuchs und den Jugendlichen Informationen über den Krieg zu geben.

Im Unterbewusstsein kommt ein flüchtiger Gedanke in mir auf: Nur nicht der Jugend die ganze Wahrheit nach einem Krieg erzählen. Es könnte besser sein, die alten Kämpfer davon abzuhalten. Denn zu einem späteren Zeitpunkt benötigen die Herrschenden wieder Freiwillige. Ich bin mir fast sicher, nach dem 1. Weltkrieg war es genauso.

Vergessen wir deshalb auch nicht, dass unsere Zeitgeschichte sich auf keinen Fall ungestraft verdrängen lässt. Sie wird uns im Unterbewusstsein weiter begleiten. Und wir werden, wie unsere Vorgänger, eines Tages wieder im Strudel ungebetener Mächte landen, genau wie unsere Vorfahren. Auch wir haben unsere unerledigten Aufgaben auf den Müll der Geschichte geworfen. Die Jugend hat unsere Unfähigkeit zu Sprechen erfahren. Wir haben ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Unsere Schwäche und unser Schweigen hat die Jugend hingenommen. Ihrerseits hatte sie nun kein großes Interesse mehr an der Geschichte ihres Vaterlandes. Was früher einmal war, damit wollen sie nichts zu tun haben. Sie sind aufgebrochen, um ihren Lebensweg zu gehen. Und wer wollte ihnen das Recht streitig machen, ihren eigenen, für sie neuen Weg zu gehen? Ich fürchte nur, dass sie die gleichen Fehler machen werden, wie es die Väter machten. Sie werden genau wie ihre Väter in den Trümmern einer kriegerischen Auseinandersetzung enden.

Rückblickend auf den 1. und 2. Weltkrieg waren die Verluste an den Ressourcen im 2. Weltkrieg um ein mehrfaches größer als im 1. Weltkrieg. Ob die uns folgenden Generationen unbewusst oder bewusst auf einer vergleichbaren Schiene der Menschengeschichte, die auch wir von unseren Vorfahren übernommen und benutzt haben, einmal in ihren Abgrund rollen, wäre dann unsere Schuld. Sie müssen wie ihre Väter für die Verdrängung aller nicht verarbeiteten Tatsachen bezahlen. Und der nächste Kreislauf beginnt.

Mein Interesse an der Geschichte meines Umfeldes, meiner Heimat und Europas kam auf, als der wahnsinnige 2. Weltkrieg endlich sein Ende gefunden hatte. Zu der Verarbeitung meiner Erlebnisse, damals im Frieden als Kind und als Jugendlicher im Krieg, gehört die Begegnung mit den Fragen über die gelebte Zeit. Hierzu gehören ebenfalls Wahrnehmungen und Empfindungen aus meiner Lebenszeit.

Ich benötige auch heute noch Zeit für diese Arbeit. Der 2. Weltkrieg, seine Brutalität, seine Verbrechen kann ich nicht aus meiner Seele löschen, der 2. Weltkrieg ist in meiner Seele fest verankert. Bis zu meinem Lebensende wird er mich begleiten.

Der Bevölkerung kam es nach dem 2. Weltkrieg darauf an, welche Partei in der Lage sein wird, den Menschen Arbeit und somit Nahrung zu geben. Wir haben damals in den drei Westzonen nur deshalb so gut leben können, weil auf dem Gebiet der Sowjetzone die Sowjetmacht stand. Äußerungen im Westen waren zu hören: „Wer uns das dickste Butterbrot geben wird, zu dem werden viele Menschen freiwillig – sogar in den Machtbereich der Sowjets – umziehen.“ Politische und wirtschaftliche Weiterentwicklungen im Bereich der späteren DDR ließen die Menschen sehr schnell umdenken.

Ich beginne mit meinem Bericht.

IM GEDENKEN AN MEINE GLEICHALTRIGEN UND JÜNGEREN KAMERADEN, DIE NOCH IN DEN LETZTEN LANGEN MONATEN DES ZWEITEN WELTKRIEGES ALS KANONENFUTTER VERHEIZT WORDEN SIND, UND AN DIE KAMERADEN, DIE AUS ANDEREN GRÜNDEN

2Rückblick auf 1943 - Schulzeit und Jugendjahre

Während meiner Schulzeit im Jahre 1934, ich bin gerade siebeneinhalb Jahre alt, kommen erwachsene Männer zum Besuch der Schulkinder in meine Grundschule, die Luther-Schule meiner Heimatstadt. Sie erzählen uns Geschichten von unseren tapferen Soldaten. Und von unseren Soldaten, die im Kriege 1914-1918 in Feindesland gefallen sind. Sie erklären uns, dass es gut und nützlich sei, in Zukunft für gute Beziehungen zwischen den Völkern zu sorgen. Wir haben doch unser Leben noch vor uns und deshalb sollen wir Geld für die Pflege der Kriegsgräber unserer gefallenen Soldaten spenden. Die Kriegsgräber befinden sich, wie sie uns erzählen, weit weg von der Heimat. An Orten oder auf den Schlachtfeldern des „Großen Krieges“ 1914 bis 1918. Mit fröhlichen Herzen geben wir von unserem Gesparten.

In unregelmäßigen Zeitabständen finden diese Sammelaktionen wieder statt. Mit den Sammlungen werden wir Kinder bereits in der ersten Schulklasse an die „Volksgemeinschaft“ herangeführt. Mit allgemeinen Erklärungen wie „Gemeinsinn geht vor Eigensinn“ und „Es wird nie wieder einen Krieg geben“ verstärkte sich unsere Spendenfreude.

Unsere Staatsmacht, für uns Kinder noch völlig unbekannt, fordert von den heranwachsenden Kindern sehr früh, sich den politischen Ansprüchen fröhlich und freiwillig anzuschließen. Von den politischen Dingen unbeeindruckt machen wir weiter unsere Streiche. Bis zu dem Zeitpunkt, wo uns das Fell nicht mehr juckt. Altersbedingt sind wir Jungen störrisch, folgen gleichwohl brav den Wünschen der Eltern. Die Erwachsenen, die Eltern, die Amtspersonen und die Lehrer verlangten von uns Kindern Respekt und unsere Ehrfurcht.

Ab 1936 wird jeder deutsche Junge im Alter von zehn Jahren von der Nationalsozialistischen Partei aufgefordert, Pimpf zu werden. Es ist die unterste Stufe in der Hierarchie der Machthaber des Dritten Reiches. Im Jahr 1937 werde ich dann endlich Pimpf beim „Jungvolk“. Die Rangfolge im Aufstieg der deutschen Jugend liegt fest. Nach der Zeit beim Jungvolk kommt ab dem vierzehnten Lebensjahr die zweite Stufe bei der HJ, der Hitler-Jugend.

Ab dem achtzehnten Lebensjahr, nach Abschluss der Ausbildung, kommt der Übergang zum Reichsarbeitsdienst. Hier sollen die jungen Menschen in die Nationalsozialistische Partei eintreten. Nach der Zeit beim Reichsarbeitsdienst sollen die Männer ihren Wehrdienst beim Militär ableisten. Politisch gestärkt und zum Kampf für unseren „Führer“ fähig stehen die Soldaten den weiteren Befehlen zur Verfügung. Die aufgezeichnete Ordnung ist für die Staatsmacht unter dem Führer Adolf Hitler aufgestellt. Bis zum Ende unserer Tage werden wir aus dem „Nationalsozialistischen System“ nicht mehr freikommen. Die Mädchen haben eine vergleichbare politische Ausrichtung und Ausbildung.

Mit meiner Anmeldung bei dem Jungvolk 1937 erhalte ich von meinen Eltern meine komplette Uniform. Dazu Lederknoten, das braune Hemd, das schwarze Halstuch und den Koppel. Die meisten Jungen meiner Umgebung sind wie ich in dieser Gemeinschaft. Auf keinen Fall will jemand von uns abseits stehen. Mein Wunsch, mit gleichaltrigen Jugendlichen zusammen zu sein, erfüllt sich. Mit den Jungen gemeinsam marschieren und singen ist gerade mir als Einzelkind sehr wichtig. Mit meiner Aufnahme beim Jungvolk bin ich, zusammen mit meinen Gleichgesinnten, bereits vom System eingefangen, ohne es zu erkennen. Stets geschmeidig und formbar bleiben, das ist ganz nach dem Willen der Obrigkeit! Unseren „Treueeid“ auf den Führer leisten wir Pimpfe im Alter von zehn Jahren.

Die Jugendführung betäubte mich nicht nur allein mit den zackigen Liedern. „Unsere Fahne flattert uns voran“, „Ein junges Volk steht auf zum Sturm bereit“, „Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren“. Nicht vergessen: „Es zittern die morschen Knochen!“ Das sind unsere Lieder. Dass es Kampflieder der HJ-Führung für uns Pimpfe sind, ist mir nie bewusst geworden. Gemeinsam singen und schmettern wir diese Lieder aus vollen Kehlen. Die Texte lernen wir sofort auswendig, ihren Inhalt verstehen wir Pimpfe nicht. Für uns ist es nur wichtig, dass die Menschen, die unsere Lieder auf den Straßen hören, diese zur Kenntnis nehmen. Hören die Menschen die Texte überhaupt? „Die Fahne ist mehr als der Tod?“

Nach der endgültigen Vereinnahmung der Jugend durch die Parteiführung wird diese zu den Zukunftsträgern der deutschen Nation ausgezeichnet. Wir jungen Menschen steigen so zur Herrenrasse auf. Diese Aussage unseres Führers Adolf Hitler vernehme auch ich mit Stolz, fühle mich persönlich angesprochen, nur kann ich die wohlgeformten Worte nicht verstehen. Wir sollen, das sind die Worte Adolf Hitlers, künftig von den Alten – dazu gehören selbstverständlich die eigenen Eltern und Großeltern – keine große Notiz mehr nehmen. Ihre erbrachten Leistungen sind heute nicht mehr gefragt. Ich gebe zu, das verstehe ich nun gar nicht. In Zukunft sollen wir nur noch dem Führer gehorchen. Diese Forderung, an uns Heranwachsende gerichtet, verstehe ich. Das kann ich nachvollziehen. Mit dem von uns Jungen erwarteten Gehorsam und unserer Bereitschaft werde auch ich alle Befehle des Führers befolgen. Mein Gehorsam gilt einfach als Zeichen meiner Dankbarkeit.

Weitere Befehle folgen: Wir Jungen sollen flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl sein. Das „flink wie Windhunde, zäh wie Leder“ spricht mich an. Mit dem harten Kruppstahl habe ich meine Schwierigkeiten.

Die Forderungen der Staatsmacht einerseits und ihre Versprechungen andererseits, sie wirken wie Zuckerbrot und Peitsche, sie betäubten bis auf eine bedeutungslose Anzahl von Jungen und Mädchen die gesamte deutsche Jugend. Geradezu großspurig und überheblich lässt uns die Partei an der kurz gehaltenen Propagandaleine marschieren und singen. Und ich finde es gut, wie es ist. Meine gleichaltrigen Jungen machen keine Aussagen, ob sie es gut finden. Sie gehorchen ohne Widerworte, genauso wie ich.

Die Partei zeigt uns Pimpfen die Wege für unsere körperliche Entwicklung: Erstens, jeden Mittwoch und Sonnabend jeweils um 15:00 Uhr antreten. Marschieren und Lieder singen. Unsere kleinen Führer füttern uns mit dem nationalsozialistischen Gedankengut als geistige Nahrung. Geländespiele dienen unserer Körperertüchtigung.

Ich gehe auf das Gymnasium, heute Oberschule für Jungen, in meiner Heimatstadt.

Mein Geburtsort war während meiner Entwicklung eine Kreisstadt im Herzogtum Braunschweig.

Während der Nazizeit waren wir mit Hannover und Preußen verbunden.

Nach dem 2. Weltkrieg von den Briten besetzt und verwaltet.

Die Geburtsstunde des Bundeslandes Niedersachsen ist der 1. November 1946.

Bei dieser Gründung wurde festgelegt, dass Hannover die Landeshauptstadt wird.

Mit einigen Klassenkameraden befreundet sind uns der Lappwald, der Birkerteich und das Clarabad noch heute vertraut. Ich habe gern in Helmstedt gelebt. Dort habe ich mich wohlgefühlt. Der 2. Weltkrieg hat am 20. Februar 1944 mit dem Luftangriff auf meine Heimatstadt viele Menschenopfer gefordert. An diesen Tag werde ich immer wieder erinnert.

Zurück zum Zeitgeschehen.

Die Lehrerschaft meiner Schule ist ebenfalls auf den Staat vereidigt. Der Gehorsam verlangt, wie sich später herausstellen wird, die Bespitzelung der Lehrerkollegen untereinander. Besonders sind die im Visier, die sich stärker als erwünscht für die Ausbildung der Schüler einsetzen. Im September 1939 – ich bin noch keine zwölf Jahre alt – bricht der Krieg aus, es ist der 2. Weltkrieg. Im Jahr 1941 werden wir Jungen mit vierzehn Jahren regelmäßig und mit Nachdruck von den Führern der Hitlerjugend auf die uns übertragenen Pflichten hingewiesen. Zu den Lehren des Nationalsozialismus kommen außerdem ständig die Ermahnungen zum Gehorsam dem Führer Adolf Hitler gegenüber. „Ihr müsst euch körperlich und seelisch schneller als üblich entwickeln.“

Mit dieser Aussage erhöht sich der seelische Druck auf jeden einzelnen Jugendlichen. Diese Appelle setzen sich auch bei mir fest. „Ich will möglichst schnell älter werden, damit ich noch während des Krieges Soldat werden kann.“

Mit diesem Satz spreche ich in Gegenwart meiner Mutter meinen lang gehegten Wunsch laut aus. Ich bin, wie die meisten Jungen, endgültig von der Propaganda des Systems eingefangen Von nun an, so denke ich, können wir nur gemeinsam weiterleben. Mein so einfach dahin geplapperter Wunsch trifft meine Mutter sehr tief. Ihre Gedanken und ihre Entrüstung über mein kindliches Verlangen würgt sie sicher in diesem Augenblick hinunter. Sie spricht ihre Empörung nicht aus. Ich denke, sie schweigt vermutlich aus Angst vor mir, ich könnte ihre Betroffenheit einem meiner HJ-Führer anvertrauen.

Es ist beängstigend, es zeigt den politischen Zustand in der Gesellschaft an, wenn Eltern vor ihren Kindern Angst haben müssen. Mit dem Wunsch, schnell Soldat zu werden, melden sich sicher nur kindliche Träume. Ich erinnere mich: Gelegentlich spüre ich Zweifel am System, die sich bei mir im Wechsel zwischen einer gewissen Niedergeschlagenheit und einer künstlichen Hochstimmung zeigen. Sind es möglicherweise normale Vorgänge während der Zeit der Pubertät, die mich beeinflussen? Was ist das mit der Pubertät? Ich kenne noch nicht einmal diesen Begriff. Und darüber erfahre ich nichts. Bei politischen Schulungen kommen mir manchmal ungereimte und nebulöse Definitionen zu Ohren. Ist es der graue Schleier der Propaganda? Schnell und gekonnt räume ich alles fort, was bei mir nach einer grauen Absonderung der Propaganda aussieht. Auch dieses ist mir in Erinnerung. Die uns allgewaltige Kriegszeit lässt Augenblicke einer blitzartigen Erkenntnis von Unwiderlegbarkeit ebenso schnell wieder verschwinden. Gern möchte ich meine Fragen stellen, aber wen kann ich in meiner Umgebung ansprechen?

Ich gehe als Arbeiter in eine Munitionsfabrik

Vor den Sommerferien in 1943 melde ich mich im Arbeitsbüro der Munitionsanstalt in Grasleben. Freiwillig will ich einen Arbeitseinsatz für die kämpfenden Soldaten an den Fronten leisten. Ich bin dort sehr willkommen. Um in der Munitionsanstalt eine Arbeit aufnehmen zu können, mache ich mich ein Jahr älter. Bereits am ersten Tag der Schulferien bin ich unterwegs. Um nur nichts zu versäumen, fahre ich mit anderen Arbeitern der Munitionsfabrik, wie man sagt „bereits vor dem Aufstehen“ mit einem von vielen neuen, hellbeigefarbenen Werksbussen zur Munitionsfabrik.

In eingeschossigen, großflächigen Flachbauten befinden sich die Arbeitsräume. Eingereiht zwischen erwachsenen Frauen sitze ich und arbeitete täglich rund acht Stunden.

Wir rüsten überalterte Granatwerfermunition um. Die Stahlkörper, ausschließlich mit Sprengstoff gefüllt, werden aus dem Nebenbau angeliefert. Die Geschosse erhalten eine neue Treibpatrone. Diese wird dann seitlich mit einer Madenschraube befestigt. Zum Abschluss der Montage wird der neue Aufschlagzünder mit der Sprengkapsel auf den Stahlkörper aufgeschraubt. Gegen eindringende Feuchtigkeit werden die Aufschlagzünder mit Schellack versiegelt. Am Ende jeder Schicht verlassen etwa sechstausend 6-cm-Granatwerfer-Granaten unseren Arbeitsraum.

Die militärische Aufsicht in den einzelnen Räumen wird von Munitionsspezialisten gestellt. In unserem Arbeitsraum informieren sie uns wiederholt, dass hier eine Kiste mit kompletten Aufschlagzündern in die Luft geflogen sei. Fahrlässigkeit eines Arbeiters trage die Schuld an dem Unglück. Die Reste des Mannes mit der Schuld habe man regelrecht von den Wänden und der Decke „abkratzen“ müssen. Allein der Gedanke daran, einen Menschen von der Decke abzukratzen, erhöht ständig die Arbeitskonzentration.

Nach wenigen Tagen werde ich zur Verladung von 10,5-cm-Artilleriemunition an den Schacht und die Verladerampe abkommandiert. Aus der Tiefe des Bergwerks kommen laufend flache Loren mit Artilleriegranaten nach oben. Die schweren Loren mit ihren eisernen Rädern, für den Schienenweg ausgelegt, werden auf großflächigen Stahlblechen und anschließend auf die in die Eisenbahnwaggons reichenden Schienenstücke geschoben.

Zur Erleichterung der körperlich schweren Arbeit werden die Bodenbleche ständig mit Wasser begossen. So fällt es den Männern etwas leichter, die Loren zu bewegen. Das Wasser auf den Stahlblechen ergibt bereits nach kurzer Zeit eine dünne, rotbraune Rostbrühe. Die „Munitionskutscher“ erkennt man sofort an den Rostflecken, die sich beim Arbeiten bis hinauf in ihre Kniekehlen verteilen.

Zusammen sind wir mit zehn Mann mit der Verladung beschäftigt. In jedem Waggon stapeln die „Lorenschieber“ die Munition, entsprechend der Anweisungen, auf den Achsen in den einzelnen Waggons. Die leeren Loren werden sofort zurück zum Schacht gerollt. Sie werden kurzfristig mit neuer Munition aus der Tiefe kommen.

Mit hohem Tempo arbeiten wir. Es ist eine körperlich schwere Arbeit und als Lohn bekomme ich zwischen 60 und 95 Reichspfennige je Stunde.

Den Rest der Ferien verbringe ich zusammen mit einigen Schulkameraden in der Badeanstalt Birkerteich. Die Freizeit vergeht sehr schnell, dann beginnt schon wieder der Schulbetrieb. Nach der üblichen Begrüßung vor dem Schulgebäude durch den Direktor der Schule und dem Hissen der Hakenkreuzflagge singen wir gemeinsam mit erhobenem rechten Arm und gestreckter Hand unsere Nationalhymne und das Horst-Wessel-Lied. Der Schulalltag hat uns wieder.

Werbeversuche zum Eintritt in die Waffen-SS

Jetzt kommen die ersten Werbeversuche für den Militärdienst. Die Hitlerjugendführer wollen mich für den Eintritt als Kriegsfreiwilligen in die Waffen-SS gewinnen. Gleichaltrige Jungen fühlen sich, wie auch ich mich, von dieser Werbung mächtig angesprochen.

Auf den Plakaten sind junge, kräftige Männer in Tarnuniform zu sehen. Ihre Tarnuniformen und ihre Stahlhelme mit Tarnstoffüberzug allein sprechen besonders uns junge Männer an. Die zwei großen SS-Runen auf schwarzem Untergrund bannen auch meine Augen. Die Waffen-SS-Uniform trägt auf dem rechten schwarzen Kragenspiegel die weißen SS-Runen. Auf dem linken Kragenspiegel ist die Rangstufe festgehalten. Als einzige Waffengattung tragen sie den Hoheitsadler mit dem Hakenkreuz am linken Oberarm.

Die harte, grünschwarze Ausmalung eines Uniformträgers auf dem Werbeplakat löst bei mir gleichzeitig Beklemmung aus. Ist es eine unbekannte, unterschwellige Angst hier überrumpelt zu werden von dem Anonymen? Fühle ich mich vermutlich nur von der Uniform angezogen und hingerissen? Oder gewinnt man bei den anderen Menschen in der Volksgemeinschaft an Ansehen, wenn man diese Tarnuniform trägt? Möchte ich sie nur tragen, um damit bei den anderen Menschen anzugeben? Will ich dann etwa plötzlich etwas „Besseres“ sein? Mich hat doch die Volksgemeinschaft längst angenommen.

All diese vorgenannten Gedanken und die allgemeinen Richtlinien der Erziehung lassen sich in meinem Inneren nicht in Übereinstimmung bringen. Wir jungen Menschen sind einmal auf Gemeinsinn und auf Gleichheit ausgerichtet. Und da ist noch etwas anderes, etwas Stärkeres in mir, was mich für eine Entscheidung zur Waffen-SS unfähig macht. Dieses Etwas, ich kann es nicht beschreiben, liegt tief und fest in meiner Person verankert. Was sollen meine Eltern dazu sagen und was sollen sie von mir halten? Meinen Eltern kann ich mit der Frage, ob ich mich freiwillig zur Waffen-SS melden soll, nicht kommen. Sie überlassen mir allein die Entscheidung. Denn weder meine Mutter noch mein Vater haben politische Fragen im Privaten zugelassen. Das ist die Tatsache.

An dieser Stelle soll ich einen Einblick in meine Erziehung geben: Gab mir mein Vater einen Auftrag, den ich in meinem Alter erledigen konnte, dann war es sinnlos zu fragen: „Wann soll ich das erledigen?“ Seine Aufträge waren grundsätzlich sofort zu erfüllen. Einen Widerspruch oder eine Ausrede, dass ich erst meine Schularbeiten machen würde, wurde nicht geduldet.

Aus Gründen einer durchgehenden Erziehung war es aus der Sicht der Erziehungsberechtigten einfach erforderlich, bereits kleine Abweichungen mit einer Ohrfeige zu bestrafen.

Je nach meiner Dickköpfigkeit gab es dann gelegentlich die allgemein bekannte „Tracht Prügel“ in unterschiedlicher Qualität. Selbst meine Mutter fühlte sich vereinzelt berufen, mich mit dem Teppichklopfer zu versohlen. Dagegen habe ich mich aber wehren können. An dem Teppichklopfer habe ich mich, auf dem Fußboden sitzend, einfach festgehalten.

Nach diesen Aktionen kam bei beiden kein versöhnliches Lächeln auf. Jedes Mal spürte ich bei diesen Aktionen, dass mein Vater auch noch über einen lange Zeit nachtragend und sehr jähzornig sein konnte.

Ich sollte mich doch für jede Tracht Prügel meinen Eltern gegenüber als dankbar zeigen! Dieses stellte der Studienrat Pepo S. in der Oberschule für Jungen beim Deutschunterricht fest. Er führte geradezu überzeugend aus: „Jeder von euch muss nach der Tracht Prügel dem Vater Danke für die Prügel sagen. Diese wohlgemeinte Behandlung wird euch in eurer Entwicklung stark machen. Und eine Tracht Prügel hat noch nie jemanden geschadet.“

Mit der Prügelei fing es bereits in der Luther-Schule an. Vor einem Lehrer dieser Schule hatten wohl alle Schüler vom sechsten Lebensjahr an große Angst. Der Name dieses „Steißbeinkloppers“ ist mir nicht in Erinnerung. Seine Lieblingsbeschäftigung war, den straffällig gewordenen Schüler vor der Klasse über das Knie zu legen, um ihm dann mit dem Rohrstock den Hintern zu versohlen. Bei dem Mann, der sich Lehrer nannte, half es auch nicht, wenn sich das straffällige Kind ein Heft hinten in die Hose steckte. Das Heft zog der Lehrer vor Verabreichung der Prügel einfach heraus. Darin hatte er Erfahrung.

Aus meinem anerzogenen Gefühl für Gerechtigkeit habe ich mir später gesagt: „Ich werde an meinen Mitmenschen nie Gewalt anwenden. Ich werde mich so gut wie möglich, ihnen gegenüber korrekt verhalten. So korrekt will auch ich von meinem Gegenüber behandelt werden.“ Meine Aussage zu dem Punkt meiner Erziehung sagt nicht, dass ich mich aus Geneigtheit von anderen Menschen beschädigen lasse.

Ich bin sicher, dass sich meine Eltern in allen politischen Fragen immer bedeckt gehalten haben. Bei ihnen fand ich keine Unterstützung. Warum es so war, weiß ich nicht. Ich habe sie nicht mit meinen Gedanken belastet und das werde ich nicht. Nur meine eigene Einstellung, ich möchte es meine persönliche Beherrschung nennen, lässt mich auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Wenn ich auf der einen Seite meines Lebens dem Führer Adolf Hitler die Treue geschworen habe, dann heißt es nicht, dass ich meine Eltern in irgendeiner Form hintergehen oder schädigen werde.

Da sich die Eltern, wie bereits festgestellt worden ist, bedeckt halten, verlangt die Zeit von mir, innerlich die notwendige Kraft zu entwickeln, die mich gegen die Irrungen und Wirrungen der Zeit immun werden und bleiben lässt. Nur die unauflösbare, seelische Verbindung zu meinen Eltern hält mich letztlich davon ab, für die Waffen-SS zu optieren. Ich gebe zu, ich habe in dieser Frage mit mir kämpfen müssen. Die schneidige Tarnuniform und diese kantigen und harten, die sogenannten germanischen Gesichter hinterlassen bei mir einen großen Eindruck. In vielen schlaflosen Nächten und weil ich unbedingt in den Krieg ziehen will, beschäftige ich mich damit.

Mit ihren sanften und unerwartet freundlichen, ja einschleichenden Stimmen versprechen mir die Hitlerjugendführer: „Wenn du jetzt unterschreibst, dann bist du noch vor dem sechzehnten Geburtstag bei der Waffen-SS.“ Was wären das für Aussichten! Und Luftwaffenhelfer brauche ich nicht mehr zu werden. Ich wäre schon mit allen Gleichgesinnten im Krieg, noch vor all den anderen Jungen meiner Umgebung.

Ich war mir für meine Entscheidung schließlich sicher, ihre sanften Stimmen haben mich gewarnt. Auf der einen Seite die Härte im Gesichtsausdruck auf den Plakaten und dann das für mich nicht passende Schmeicheln der Hitlerjugendführer. Noch im Sommer 1943 melde ich mich heimlich und freiwillig zum Kriegsdienst bei der „Division Hermann Göring“. Ihre Einheiten gehören zur Luftwaffe. Ihr Oberbefehlshaber ist der Reichsmarschall Hermann Göring.

Gegen diese Entscheidung haben meine Eltern nichts gesagt. Nach meiner Entscheidung kommt von den HJ-Führern keinerlei Druck mehr auf mich zu. Diese Alternative ist der einzige Grund, warum ich mich freiwillig zum Kriegsdienst meldete.

Brandwache in der Schule

Zur Sicherung unserer Schule gegen Feuer, das in Form von Stabbrandbomben von den feindlichen Bombern auf die Stadt fallen kann, ist in unserer Oberschule für Jungen eine Brandwache eingerichtet. Unter der Aufsicht eines Studienrates stehen zur Nachtzeit zwei oder drei Schüler für die Brandwache zur Verfügung.

Der Luftkrieg erfordert die Bereitstellung geeigneter Gegenmittel. Deshalb stehen an markierten Stellen innerhalb des Schulgebäudes zur Feuerbekämpfung Eimer, die ständig bis zum Rand mit Wasser gefüllt sind, große Papiertüten mit Sand, Feuerpatschen und die von Hand zu benutzenden Wasserpumpenspritzen. In der Gemeinschaft mit den in Glasschränken untergebrachten Tierpräparaten verbringen wir jeweils eine Nacht auf Feldbetten. In einer Ecke des Raumes steht ein komplettes echtes Skelett. Ob es sich um ein männliches oder weibliches handelt, das habe ich nicht erfahren. Lehr- und Hilfsmittel sind geordnet untergebracht. Es stinkt in dem Raum nach altem, verstaubten Bohnerwachs und Kreide.

Bis zum Ende Dezember 1943 kommt die Brandwache nicht zum Einsatz.

Einsatz in Hannover nach schweren Luftangriffen

Eines Vormittags wird der Schulunterricht unterbrochen. Die HJ muss sofort auf dem Schulhof der alten Penne „abmarschbereit“ antreten. Das ist der Befehl. Antreten vor dem Gebäude, in dem der Hitlerjugend-Bann, die Hitlerjugend-Führung, residiert.

Das fehlt mir noch, außer der Reihe anzutreten. Meine Uniform, frisch gewaschen, hängt heute zum Trocknen auf der Wäscheleine. Was werden die von der HJ sagen, wenn ich in Zivil antanze? Nicht hingehen? Das geht überhaupt nicht. Mir bleibt nichts anderes übrig, ich gehe in Zivil zum Dienst.

Mit meinem Erscheinen fängt der große Ärger an. Mein HJ-Führer kommt direkt auf mich zu. Von dem Schlag mit seiner flachen Hand, den ich ohne jede Vorwarnung im Gesicht spüre, bin ich fast benommen. Er brüllt mich an: „Was fällt dir ein, hier auf der Bildfläche ohne Uniform zu erscheinen? Du gibst hier eine private Vorstellung und dabei eine so lächerliche und billige Figur ab. Was du hier vorführst und was ich hier sehe … das ist die reine Wehrkraftzersetzung!“ Dass meine Uniform auf der Leine hängt, interessiert ihn überhaupt nicht. Das will er nicht hören.

Jetzt ist seine Stunde gekommen. War da noch die Rechnung mit der fehlgeschlagenen Werbung für die Waffen-SS offen? Er will mich fertig machen. Es ist für ihn ein Fressen, mich vor meinen Kameraden zu erniedrigen.

„Wenn es Antreten heißt, heißt es natürlich in Uniform antreten. Und das ist ein Befehl! Den Befehl hat jeder auszuführen, auch du. Hast du das gefressen? Nein! Du hast es nicht gefressen. Du bist ohne deine Uniform zum Dienst gekommen.“ Kann ich, so glaube ich, jedenfalls etwas dazu beitragen, damit er mit seiner Kanonade aufhört. Mein Versuch: „Ich denke …“, „… Ach nein! Du denkst, … du hast hier nicht zu denken! Das Denken kannst du ruhig den Pferden überlassen, die haben einen größeren und dickeren Schädel.“ Mit heftigem Brüllen schmettert er mir seine Reaktion entgegen. „Es gibt keine eigenmächtige Änderung der Kleiderordnung! Geht das denn nicht in deinen blöden Schädel?“

Warum muss meine verdammte Uniform ausgerechnet heute gewaschen auf der Leine hängen? Wer kann es überhaupt nachvollziehen: dass ein Zivilist bei der HJ nichts, aber auch gar nichts gilt. Ich habe es doch wissen müssen, was zu erwarten ist. So bleibe ich, innerlich fürchterlich aufgeregt, für Augenblicke in tiefe Zweifel mit dem System gestürzt, allein zurück. Meine Schulkameraden fahren in Uniform ohne mich zum Einsatz. Sie wollen den ausgebombten Menschen helfen. In der vorausgegangenen Nacht hat es einen Terrorangriff auf Hannover gegeben.

Mir ist die Auseinandersetzung mit dem HJ-Führer mehr als ärgerlich. Der hat mich vor den Augen meiner Kameraden gedemütigt. Er hat mich mit voller Absicht tätlich bestraft. Wie stehe ich jetzt da? Ich komme nach Hause und bitte meinen Vater, mit meinem HJ-Führer über die Angelegenheit zu sprechen. Ich bitte ihn eindringlich. Mein Vater dagegen findet meinen Wunsch überhaupt nicht gut. „Der HJ-Führer stellt sich doch jetzt stur. Vor dem werde ich nicht zu Kreuze kriechen.“ Ich habe das Zögern meines Vaters nicht verstanden.

Schließlich fahren wir zu dem Schläger. „Du bleibst im Wagen!“, lässt mich mein Vater beim Aussteigen wissen. Seine innere Unruhe war mir nicht entgangen. Nun kusche ich schon wieder wie ein Hund. Dieses Mal sogar vor meinem Vater. Ungeduldig warte ich auf seine Rückkehr. Er zeigt keinerlei Reaktion und spricht nicht mit mir. Hätte ich ihn gefragt, hätte ich wahrscheinlich eine extra Ohrfeige bekommen. Über das Ergebnis der Aussprache habe ich nie etwas gehört.

Der HJ-Führer S. hatte sich bestimmt mit seiner politischen Einstellung durchgesetzt. Er kostete mit Sicherheit bei dem Gespräch noch einmal seinen Sieg aus. Und der Vater wollte nicht vor seinem Sohn als Schwächling erscheinen. In der folgenden Woche habe ich auch nichts mehr von der HJ gehört. Und was wäre denn wirklich geschehen, wenn jetzt der eine oder andere Hitlerjunge zum Extra-Einsatz in Zivil kommen würde? Die Ehre der HJ darf in keinem Fall beschädigt werden. Dieses habe ich, wenn auch zähneknirschend, einsehen müssen.

Nach dem nächsten Angriff auf Hannover einige Tage später fahre ich endlich mit. In der frisch gebügelten Uniform geht es zum Einsatz. Nahe dem Hochbunker an der Lönsstraße werde ich mit einigen anderen Hitlerjungen zum Helfen eingesetzt.

Im Eilenriedestadion nahe der Stadthalle haben die Funktionsträger der Feuerwehr, des Roten Kreuzes, der Polizei und der Partei auf und neben der Aschenbahn Verpflegungsstände für die Bevölkerung einrichten lassen. Auf diesem Sammelplatz finden sich die ausgebombten Menschen ein, die über Nacht ihre Habe und Bleibe durch die Bomben verloren haben. Die Menschen erhalten hier ihre Verpflegung. Auch wir Helfer werden hier verpflegt.

Die Wasserleitungen und Wasserspülungen der Sanitäreinrichtungen sind im Eilenriedestadion über Jahre ungenutzt, völlig ausgetrocknet und verrostet. Nach den Luftangriffen sind sie jetzt bei dem Massenandrang von Ausgebombten im wahrsten Sinne des Wortes überfüllt. Freigemachte Räume in den Kabinen des Stadions dienen jetzt als Lager für den Nachschub an Nahrungsmitteln.

Die Menschen, die in der letzten Nacht den Angriff überlebt haben, stehen mit grauen Gesichtern stumpf und abwesend und hilflos herum. Ohnmacht steht auf ihren Gesichtern geschrieben. Einige betäubte Menschen erfassen im Augenblick nicht einmal mehr die Zerstörungen um sich herum. Teilweise irren sie, vorübergehend jede Erinnerung in ihren Köpfen gelöscht, ziellos umher. Andere, die sich in der Nacht zwischen den explodierenden Bomben ihren Schutz suchten, zeigen sich unerwartet überaktiv. Sie sind auf der Suche nach Resten ihrer Habe. Die ihnen vertraute Umgebung. existiert nicht mehr. Ein ekelhafter Gestank hat sich über der vernichteten Wohnlandschaft ausgebreitet. Schuttberge der zerbrochenen Mauern setzen noch stundenlang den schwelenden Qualm brennbarer Gegenstände frei. Nur selten verscheucht der Wind ihn für kurze Momente.

Hier also haben uns die HJ-Führer zum Helfen eingesetzt. Für uns fünfzehn Jahre alten Jungen sind diese Erlebnisse sehr stark. Wir werden die Erfahrungen mit nach Hause nehmen. Mein Eindruck ist, dass einige der Betroffenen nicht begreifen können, dass sie nun obdachlos sind. Mit dem Elend hier kann ich nicht umgehen. Ich bin tief betroffen. Unter uns Jungen sprechen wir nicht darüber, was wir sehen und erleben. Ich denke, hier beginnen wir früh mit der Verdrängung unserer Gefühle.

Wir verlassen den Ort mit dem Elend, um an einer anderen Stelle das gleiche Elend vorzufinden. Unter aufgetürmtem Trümmerschutt liegen Häuser, Straßen und Vorgärten. Wie es hier vorher ausgesehen hat, wissen die Menschen im Augenblick wohl selbst gar nicht mehr.

Später sind wir zu einer dritten Aufgabe unterwegs. Aus einem brennenden Haus sollen wir Telefonleitungen bergen. Die in Blei gefassten Leitungen sind auf kleine Rollen aufgewickelt. Sie liegen tief in einem Keller. Das mehrstöckige Haus ist zu diesem Zeitpunkt bis auf das erste Obergeschoss heruntergebrannt. Nur durch das schon vom Feuer aufgeheizte Erdgeschoss kommen wir in das Kellerlager. Der Zutritt zum Gebäude und der Aufenthalt in dem tiefen Keller machen mir Angst. Unter Aufbietung aller Kräfte kriechen wir vorwärts und holen die schweren Rollen aus dem überhitzten Keller. Restmengen müssen wir zurücklassen. Nur mit unseren Händen haben wir die Rettungsaktion der Wertstoffe bewältigt.

Einen Atemschutz und Schutzhandschuhe kannte man damals nicht. Selbst nasse Tücher für den Atemschutz standen uns nicht zur Verfügung. Unter Gasmasken hätten wir nicht arbeiten können. Uns wären die Volksgasmasken bei der Hitze in dem Kellerlager zur Todesfalle geworden.