Der Groll der Zwerge - Bernd Frenz - E-Book
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Der Groll der Zwerge E-Book

Bernd Frenz

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Beschreibung

Elfen gegen Zwerge! Orks gegen Trolle! Und alle gegen die Menschen! Mit dem ›Groll der Zwerge‹ beginnt Bernd Frenz (›Die Blutorks‹) ein neues, fulminantes Epos, in dem die beliebtesten Fantasy-Völker miteinander um die Vorherrschaft kämpfen. Nach dem Großen Krieg herrschte dreißig Jahre lang Frieden im Lande Garon – doch damit ist jetzt Schluss. Als Steinmetze in der Zwergen-Nekropole Felsheim neue Grabkammern in den Berg schlagen und einen heiligen Fluss der Elfen zum Versiegen bringen, lebt der alte Zwist wieder auf. Dass just zu diesem Zeitpunkt der Ork Grimm aus dem Exil zurückkehren will, um mit alten Feinden abzurechnen, macht es nicht besser. Und auch die Menschen beweisen jeden Tag aufs Neue ihre Arglist. Und so heißt es schon bald: Elfen gegen Zwerge; Trolle gegen Orks; und alle gegen die Menschen. Ein abenteuerlicher Fantasyroman für alle Fans von Markus Heitz, Bernhard Hennen und T.S. Orgel. »Bernd Frenz setzt mit seiner packenden Trilogie den Schlussakkord in der Geschichte der Völkerromane.« Bernhard Hennen

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Seitenzahl: 564

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Bernd Frenz

Der Groll der Zwerge

Die Völkerkriege 1

FISCHER E-Books

Inhalt

KARTETeil 1 VorgeplänkelFelsheim1.2.Imor1.2.3.4.5.Im Hochwald1.2.3.Wehrhof am Schwarzen WeiherZwanzig Tage vor dem Steinernen WaldTeil 2 Sturm zieht aufFelsheim1.2.3.Gohliks Erdhütte1.2.Felsheim1.2.Gohliks ErdhöhleFelsheimBandorZehn Tage vor dem Steinernen WaldTeil 3 Axt gegen GleveDie Knochensenke1.2.In der Silberfeste1.2.3.Felsheim1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.23.24.25.BandorDer Steinerne WaldTeil 4 Die Stille nach der SchlachtGohliks Erdhütte1.2.BandorUnter dem Steinernen WaldAnhangPersonenliste

Teil 1Vorgeplänkel

Gehst du zu den Trollen, vergiss die Knute nicht!

Alte Zwergenweisheit

Felsheim

1.

Selbst unter seinesgleichen galt Orm Eisenbeiß als knurriger Gesell, dem nur selten ein freundliches Wort über die Lippen schlüpfte. Dunkler Groll und immerwährende Gereiztheit pochten abwechselnd in seinem spärlich bewachsenen Schädel. Gute Laune bedeutete bei ihm kaum mehr als die Zeit zwischen zwei Wutausbrüchen. Manch wohlmeinende Gemüter behaupteten zwar, erst die Erfahrungen der Großen Schlachten hätte ihn hart und unnachgiebig gemacht, doch viele, die ihn schon von Kindesbeinen an kannten, versicherten mit heiligem Ernst, dass Orm von jeher ein Stinkstiefel gewesen sei. Die Entbehrungen und Gräuel der Kriege hätten nur prächtig gedeihen lassen, was ohnehin schon tief in seiner Brust geschlummert habe.

Vielleicht war das der Grund dafür, warum er selbst im Schlaf mit sich und der Welt zu hadern schien. Für gewöhnlich klang sein Schnarchen wie das Knurren eines angriffslustigen Tieres, und sein Gesicht verzerrte sich dabei, als litte er unter ständiger Atemnot. Doch manchmal – selten zwar, aber mit den Jahren immer öfter – stahl sich auch nackte Angst in seine Züge, immer dann, wenn er im Schlafe zu wimmern begann.

Orm hatte andere Steinmetze darüber hinter seinem Rücken tuscheln hören, deshalb vermied er es mittlerweile, in der Öffentlichkeit einzunicken, obwohl das einem Zwerg seines Alters ohne Gesichtsverlust zustand.

Aber an jenem verhängnisvollen Tage, als der Zwist zwischen den Alten Völkern wiederaufflammte, war er dennoch eingeschlafen. Zum Glück in einer leeren Grabkammer der dritten Tiefebene, in der er den Augen und Ohren der anderen entzogen war. So bemerkte niemand, wie seine Augäpfel heftig unter den geschlossenen Lidern umherwanderten, und keiner hörte die halberstickten Laute in seiner Kehle, als er von Scherbental träumte.

Von den großen Leichenbergen, zwischen denen er wieder und wieder umhertaumelte. Angeschlagen und aus zahlreichen Wunden blutend, das Triumphgeheul der siegtrunkenen Orks im Nacken – das schlagartig verstummte, als der Boden unter den Stiefeln der versammelten Heere zu beben begann. Kurz bevor die nackte Angst bei Freund und Feind gleichermaßen um sich griff, weil …

Von plötzlich aufbrandendem Geschrei geweckt, schreckte Orm aus dem Albtraum auf. »Verflixt und zerstückelt!« Anstatt sich die schlaftrunkenen Augen zu reiben, langte er instinktiv nach der Peitsche an seiner Hüfte. »Was geht da bloß vor?«

Inzwischen übertönte hämmernder Steinschlag die entsetzten Rufe aus Troll- und Zwergenkehlen. Das lang anhaltende Grollen, das von den Felswänden widerhallte, jagte Orm kalte Schauer über den Rücken. Da hagelte weit mehr durcheinander als nur der Abraum eines vollen Lastkorbes, das war deutlich zu hören.

Und zu spüren!

Nein, Orm täuschte sich nicht. Das leichte Zittern, mit dem der ausgehöhlte Berg seine Stiefelsohlen kitzelte, war eindeutig. Die gesamte Nekropole erbebte in ihren Grundfesten!

Auf einen Schlag hellwach, sprang der Oberste Steinmetz in die Höhe, richtete seine Lederschürze mit sicheren Griffen und strich sich den schlohweißen Bart glatt, bevor er die aufgerollte Trollpeitsche vom Gürtel löste. Zwar lag die Zeit der Sklaverei lange zurück, doch Orm gehörte zu jenen Zwergen, die weiterhin darauf schworen, dass sich aufrührerische Trolle durch nichts besser zur Räson bringen ließen als durch lautes Peitschenknallen.

Schlecht gelaunt, aber gut gerüstet, schlug er das Bärenfell am Eingang zur Seite, bevor er ins Freie stürmte. Direkt in die grauen Staubwolken hinein, die durch den Seitengang des Westschachtes wallten. Orm kniff die Augenlider zusammen, doch zu spät. Der mehlfeine Steinnebel hüllte ihn bereits vollständig ein, durchdrang seinen Bart, kroch ihm unter die Kleidung, legte sich auf seine Lungen und stach ihm in die Augen, bis sie tränten.

O Elend der Welt!, fluchte der Zwerg still in sich hinein. Elend, dass du uns dazu zwingst, Trolle als Träger einzusetzen, weil Felsheims Hüter auf die Münze schauen, anstatt die Traditionen zu achten!

Hustend kämpfte sich Orm nach links, in Richtung der neuen Talsohle, wo die hochstehende Sonne die im westlichen Lichtschacht aufsteigenden Schleier langsam zu lichten begann. Der Radau entsprang in der Tiefe, dort, wo seine fleißigen Zwerge neue Grabkammern aus dem Fels schlugen, daran bestand kein Zweifel. Den linken Arm auf das Gesicht gepresst, um Mund und Nase zu schützen, stürmte er die Stufen der nächstgelegenen Treppe hinab. Vorbei an pockennarbigen Wänden, die noch zu glätten und zu schleifen waren, obwohl dort bereits eine Grabkammer für die Bestattung eines Toten aus dem Geschlecht der Odemar vorbereitet wurde.

Auch ohne den umherwirbelnden Staub, der jeden Atemzug zur Qual machte, wäre die Sicht schummerig gewesen. Denn hier unten, auf der vierten Tiefebene, hatten sich die Zwerge so weit in den Berg gewühlt, dass es zwischen den Felswänden nur noch zur Mittagszeit richtig hell wurde, wenn die Sonne senkrecht am Himmel stand.

Mit brennenden Augen tastete sich Orm unter einem Steinbogen hindurch, hinter dem ein halbkreisförmiger Absatz lag. Obwohl er nur mit Mühe sehen konnte, hielt er kurz vor den ersten Stufen inne.

Orks, Menschen oder anderes Gezücht wären wohl haltlos ins Leere gestolpert, doch dem Volk der Zwerge war die Arbeit in Bergwerken und dunklen Stollen über unzählige Generationen in Fleisch und Blut übergegangen. Selbst in tiefster Finsternis spürten Orm und seinesgleichen, wo vorspringende Felsnasen und abgrundtiefe Spalten lauerten.

Umgeben von keifenden Stimmen, die sich gegenseitig die Pest, schwindende Manneskraft und noch Schlimmeres an den Hals wünschten, verschnaufte er einige Herzschläge lang. Zum Glück klarte die Sicht allmählich wieder auf. Nachdem er mehrmals mit den Augenlidern gezwinkert hatte, um den Tränenfluss anzuregen, schälten sich die ersten Kontrahenten des lautstarken Streits aus den absinkenden Staubnebeln hervor.

Obwohl sie gleichermaßen grau eingepudert waren, ließen sich beide Parteien gut voneinander unterscheiden. Auf der einen Seite die Zwerge, die mit ihren unterschiedlich großen Hämmern, den Meißeln und den Lederschürzen deutlich als Steinmetze zu erkennen waren. Ihnen gegenüber standen die doppelt so großen Trolle, die außer ihren Schulterpolstern, auf denen für gewöhnlich die Lastkörbe ruhten, nur einfache Lendenschurze um die Hüften trugen. Den anfallenden Abraum, für den sie zuständig waren, klaubten die lederhäutigen Riesen mit bloßen Händen auf, ansonsten verfügten sie über mannshohe Brechstangen, mit denen sie die Abbrucharbeiten gehörig beschleunigten.

Für anspruchsvollere Tätigkeiten waren Trolle nicht zu gebrauchen. Und wäre es nach Orm gegangen, hätten die plumpen Gesellen ohnehin keinen einzigen Fußbreit in die heiligste aller Grabstätten setzen dürfen. Schließlich war Felsheim nicht irgendeine Totenstadt, sondern die Nekropole schlechthin, in der schon seit grauer Vorzeit die reichsten und edelsten Zwerge ihre letzte Ruhestätte fanden.

Leider waren die beengten Verhältnisse der unteren Ebenen für schweres Gerät ungeeignet, und ein Troll schaffte bei jedem Gang ebenso viel Gewicht die Stufen hinauf wie drei kräftige Zwerge, brauchte dafür aber nur einmal bezahlt zu werden. Das genügte den Hütern, um großzügig über das alte Gebot hinwegzusehen, dass es nur Zwergen reinsten Blutes erlaubt war, Felsheim zu betreten.

Wie die meisten Angehörigen seines Volkes, so glaubte auch Orm nicht an helfende oder strafende Götter, sondern ausschließlich an die Macht der Ahnen sowie an Tugenden wie Tatkraft, Fleiß und Handwerkskunst, die jeden Zwerg im Leben weiterbrachten. Und mit größter Wahrscheinlichkeit auch in der jenseitigen Welt, die sie nach ihrem Tode erwartete. Trotzdem war er davon überzeugt, dass sich aus den alten Traditionen und Ritualen Kraft schöpfen ließ, die nicht für eine Handvoll Gold vergeudet werden durfte.

Aber in diesem Punkt vertraten die Herren von Felsheim eine andere Meinung. Allein die Hüter bestimmten über das Schicksal der Nekropole, mochte Orm auch seit Jahrzehnten die Aufsicht über die Steinmetze innehaben. Das hatten ihm Hezio und die anderen beiden des Dreigestirns deutlich vor Augen geführt. Ebenso wie die Möglichkeit, dass er jederzeit durch einen jüngeren und einsichtigeren Aufseher ersetzt werden konnte.

Also musste er parieren, so schwer es ihm auch fiel.

Und so sehr es ihm die Laune verhagelte.

»Tölpel! Tumbes Gesindel!« Borstels helle Stimme, die sich bei Aufregung besonders schrill in die Höhe schraubte, verdrängte die trüben Gedanken. »Dieses Missgeschick ist allein eure Schuld!«

Erst beim Anblick der klagenden Geste, mit der Borstel Flammenhaar auf eine Stelle neben den bereits in den Berg geschlagenen Kammern deutete, wurde sich Orm des vollen Ausmaßes der Katastrophe bewusst. Da, wo sich eigentlich eine massive Steinwand in der staubgeschwängerten Luft abzeichnen sollte, klaffte ein riesiges Loch im Fels. Groß und breit wie ein Troll war die Öffnung. Mit wild gezackten, beinahe ausgefranst wirkenden Rändern, von denen tiefe Risse ausgingen. Die blitzförmig verlaufenden Spalten bereiteten Orm gehöriges Magengrimmen. Angesichts der höher gelegenen Grabstätten vermochte jede Erschütterung der Talsohle weitere Abbrüche nach sich ziehen. Nicht auszudenken, wenn dabei eines der belegten Gräber Schaden erlitt.

»Was willst du denn, du Wicht?« Natürlich war es Archat, der aufseiten der Trolle das Wort ergriff. Ein grober Klotz, der noch die Zeit der Knute kannte, sich aber trotzdem nicht scheute, jetzt für klingende Münze in Felsheim zu schuften. »Ihr Steinmetze habt doch selbst die Löcher, die wir erweitern sollten, in den Stein getrieben!«

Schon als Kettensklave war Archat durch seine Widerspenstigkeit aufgefallen. Als Freier ließ er erst recht keine Gelegenheit aus, eigensinnig auf seine Meinung zu pochen. Seinem Vorbild folgend, pumpten auch die anderen Trolle ihre Brustkörbe auf.

Abgeschieden lebenden Zwergen hätte diese drohende Haltung sicherlich Angst eingeflößt, die Steinmetze von Felsheim wussten jedoch um die Kraft, die in ihren eigenen muskelbepackten Leibern steckte. Außerdem waren sie dem Gegner zahlenmäßig überlegen. Mehr als ein Dutzend Zwerge gegen drei Trolle, da brauchte man bloß einig sein, um den Kampf für sich zu entscheiden. Zumal ihnen die beengten Verhältnisse entgegenkamen. Denn während die Zwerge volle Bewegungsfreiheit genossen, mussten die Trolle schon unter normalen Bedingungen darauf achten, nicht überall anzustoßen.

Borstel zeigte entsprechend wenig Respekt, als er sich über Archats Anschuldigungen empörte.

»Erweitern, ja!«, rief er mit schriller Stimme. »Aber doch nicht so, dass halb Felsheim zusammenkracht! Könnt ihr denn keine Vorsicht walten lassen?«

»Wääähhhh!«, ahmte Archat das Weinen eines Säuglings nach. »Hört euch bloß diesen greinenden Winzling an! Will nicht begreifen, dass ein ausgehöhlter Stein zerbricht, sobald man auf ihn einhämmert!«

Selbst unter der dicken Staubschicht hindurch war zu erkennen, wie Borstel angesichts des Spotts knallrot im Gesicht anlief. Mit seinen vierzig Lenzen war er noch ein junger Spund, dem schnell das Blut in den Adern kochte. Schnaubend umfasste er seinen Vorschlaghammer mit beiden Händen und reckte ihn Archat entgegen.

»Vorsicht!«, drohte er mit überraschend ruhiger und gefasster Stimme. »Noch ein falsches Wort, und ich …«

Archat lachte dröhnend, obwohl ein richtig geschwungener Hammer nicht bloß Stein, sondern auch einen Trollschädel zu zertrümmern vermochte. Seine Kameraden forderten den alten Kämpen schon durch beschwichtigende Gesten und Laute zur Mäßigung auf, vergeblich. Anstatt seine Behauptung über den Hohlraum näher auszuführen, drehte sich der lederhäutige Koloss auf der Ferse um und hob seinen Lendenschurz an, um Borstel die blanke Kehrseite zu präsentieren. Das war die Art der Trolle, anderen zu bedeuten, dass sie ihnen den Buckel herunterrutschen konnten – nur dass sie dafür ein tiefer gelegenes Körperteil ausstellten.

Beim Anblick des faltigen und behaarten Hinterteils verlor Borstel endgültig die Beherrschung. Seinen Hammer wild über dem Kopf schwingend, setzte er dazu an, dem alten Troll in den Rücken zu fallen. Einige seiner engsten Vertrauten schlossen sofort zu ihm auf, denn eine solche Beleidigung musste eine handfeste Auseinandersetzung nach sich ziehen. Die meisten Zwerge verharrten jedoch zögernd auf ihrem Platz, scheinbar unschlüssig, ob der Einsturz wirklich einen solchen Kampf wert war.

Hasenherzen! Nach-Scherbental-Geborene! Orm hätte gerne dabei zugesehen, wie die Trolle eine kräftige Tracht Prügel bezogen, doch dazu hätten alle Steinmetze auf der Baustelle an einem Strang ziehen müssen. So war es hingegen an der Zeit, dem kindischen Treiben ein Ende zu bereiten.

In einer geübten Bewegung ließ Orm den dicken Peitschenstrang zu Boden gleiten. Kaum dass er sich über den staubigen Fels schlängelte, schleuderte ihn der Zwerg auch schon wieder in die Höhe. Pfeifend zischte das Leder durch die Luft und streckte sich in einem lauten Knall, als Orm seine Rechte ruckartig an den Körper zog.

Augenblickliche Stille folgte, nur gestört durch ein vielfaches Echo des Peitschenknalls. Ob Zwerge oder Trolle, alle waren bei dem gefürchteten Geräusch erstarrt. Auch Archat, der mehr als alle anderen Anwesenden böse Erinnerungen damit verknüpfte.

»Auseinander!«, forderte Orm, der die Peitsche betont langsam einholte, bevor er sie in seiner Rechten aufrollte. »Ihr habt schon genügend Unheil angerichtet! Einer wie der andere!«

Dass alle auf der Baustelle beschämt zu Boden sahen, tat dem Aufseher gut. Vom wohligen Gefühl der Macht durchströmt, schritt Orm die Treppe hinab. Selbst der Steinstaub, der ihm unter die Kleidung gedrungen war und bei jedem Schritt scheuerte und zwickte, schmälerte den Triumph nicht. Nur Archats Blick kreuzte den seinen, während er Stufe um Stufe nahm. Aber auch der Troll würde noch vor dem Abendrot begreifen, wer in Felsheim das Sagen hatte.

»Meister Eisenbeiß«, versuchte sich Borstel förmlich an ihn zu wenden, als er durch die Reihen schritt, doch Orm brachte den Jungspund mit einer herrischen Geste zum Verstummen.

Grimmig war er nun, aber nicht zornig.

Sich jeder Faser seines vor Stolz strotzenden Körpers bewusst, bestieg er den Geröllhaufen, der sich vor dem Einsturz auftürmte. Ach, wäre er, wären sie alle doch nur in Scherbental so selbstsicher gewesen!

Zum Glück verflüchtigte sich dieser Gedanke so schnell, wie er Orm durch den Kopf geschossen war, als er in die vor ihm liegende Höhle blickte. Nur vier Armlängen tief reichte sie in den Berg hinein, erstreckte sich dafür aber nach rechts auf einer Länge von drei Grabkammern. Typisch für einen Hohlraum, den eingedrungenes Regenwasser aus dem Fels gewaschen hatte. Angesichts des brüchigen Gesteins, welches, erst einmal in Bewegung geraten, fast von alleine zu staubigem Geröll zerfallen war, schied auch die bereits links davon fertiggestellte Gruft für eine Nutzung aus. Wenn sie die beiden Öffnungen mit unbeschrifteten Frontplatten verschlossen, würde hoffentlich nie ein Trauernder bemerken, was hier los war. Doch der Verlust der Grabkammern blieb ein Ärgernis.

Bockmist! Das Dreigestirn würde toben!

»Ausgeschwemmt.« Archats fauliger Atem schlug Orm in den Nacken, als sich der Koloss ungebeten zu Wort meldete. Dem Zwerg war gar nicht aufgefallen, dass sich der Troll zu ihm herabgebeugt hatte, aber das machte die Sache nicht besser. Im Gegenteil. »Hab so was schon häufiger gesehen in all den Jahren. Und jedes Mal schlossen sich dem ersten Hohlraum noch weitere an. Von irgendwoher muss das Wasser schließlich kommen, und irgendwohin fließt es wieder ab.«

Die Häme in Archats Stimme war unüberhörbar. Trolle waren von Natur aus nicht sonderlich helle, aber auch sie begriffen Zusammenhänge und gewannen an Erfahrung. Einige von ihnen verfügten sogar über eine gewisse Bauernschläue, leider gehörte Archat diesem erlauchten Kreise an. Darum wusste er ganz genau, dass die Zwerge nichts stärker schmerzte als die verlorenen Münzen, die mit einem unbrauchbaren Abschnitt wie diesem einhergingen.

Orm drehte den Kopf zur Seite, doch Archat hielt seinem drohenden Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Hier ist nichts weitergeflossen«, beschied er dem Hünen wider besseres Wissen. »Ist doch alles furztrocken, sonst hätte es beim Einsturz nicht so gestaubt. Und jetzt schleich dich zu den anderen Handlangern, während wir Zwerge uns der Sache annehmen.«

Um seine Aufforderung zu unterstreichen, tippte Orm mit der Peitschenrolle gegen Archats Oberkörper. Im Grunde handelte es sich um eine sanfte Berührung, die einem Troll nicht viel ausmachte. Selbst einem kräftigen Stoß mit der flachen Hand oder einem Fausthieb auf den Oberarm maßen die unempfindlichen Kolosse für gewöhnlich keine größere Bedeutung bei.

Doch die Berührung mit dem geschmeidigen Peitschenstrang löste etwas in Archat aus. Vermutlich eine Erinnerung an die Zeit, die ihm das Narbengeflecht auf seinem Rücken eingebracht hatte. Ruckartig richtete sich der Gigant auf, einen furchtsamen Glanz in den Augen, wie ihn noch keiner der Anwesenden je bei ihm gesehen hatte.

Irgendwo lachte ein Zwerg auf.

Eine äußerst dumme Reaktion, obwohl Orm sie gut verstand. Ausgerechnet Archat in Panik zurückstolpern zu sehen hob auch seine Laune.

»Was grinst du so blöde, Eisenbeiß?« Von einem Herzschlag auf den anderen schlug Archats kreatürliche Furcht in blinde Wut um. Wild mit seinen Armen rudernd, richtete er sich zu voller Größe auf, bevor er nachschob: »Hast wohl vergessen, wer in Scherbental zum letzten Gefecht geblasen hat? Unsere Schamanen waren es, während du und deinesgleichen mit vollen Hosen davongelaufen seid!«

Orm spürte, wie ihm bei dieser Lüge alles Blut aus dem Gesicht wich. Plötzlich war ihm heiß und kalt zugleich. Seine Wangen vereisten, während der Steinstaub unter seinem Wollhemd so stark scheuerte, dass er darüber ins Schwitzen geriet.

»Da wirst du blass, was?« Beifallheischend wandte sich der Troll zu seinen Kameraden um. »Weil’s nämlich wahr ist. Ich muss es wissen, ich war dabei!«

Orm spürte, wie in ihm der Grimm anschwoll. Archat hatte natürlich Ketten aus Zwergenstahl getragen, als die großen Schlachten tobten. Doch was war, wenn die jungen Steinmetze dieser Lüge trotzdem Glauben schenkten?

Alles konnte Orm ertragen, aber keine Schmähungen über Scherbental! Nicht über den verruchten Tag, an dem so viele der Ihren dem Stahl der Orks zum Opfer gefallen waren. An das namenlose Grauen, das dort getobt hatte, würde er sich bis zu seinem letzten Atemzug erinnern.

Glühend heißer Zorn pulsierte durch seine Adern, während er die Peitsche fallen ließ. So nahe, wie er vor dem Troll stand, war sie als Waffe nutzlos. Zudem besaß sie keine tödliche Wirkung. Und Archats Worte konnten nur noch mit dem Tode abgewaschen werden.

Einige Atemzüge lang stand Orm wie in Trance da, dann sprang er aus dem Stand heraus in die Höhe. Schon einen Wimpernschlag später hatte er den Troll am Hals gepackt. Einhundertvierzig Jahre alt! Ein Zwerg, nicht mehr im besten Mannesalter, doch so voller Groll, dass sich seine Kräfte dadurch vervielfachten.

Selbst Archat, der schon manches Scharmützel ausgefochten hatte, war von der Heftigkeit des Angriffs überrascht. Der harte Aufprall, bei dem ihm Orm beide Knie tief in den Brustkasten rammte, trieb dem Troll die Luft aus den Lungenflügeln. Schwankend kämpfte Archat um das Gleichgewicht.

Das war die winzige Zeitspanne, in der Orm es zu Ende bringen musste. Anders konnte er allein und waffenlos keinen Sieg davontragen.

Mit fliegenden Fingern tastete er nach der Luftröhre des Gegners, um sie mit aller Macht zu zerquetschen. Starke, von harter Arbeit gestählte Zwergenfinger besaßen durchaus die Kraft, einem Troll den Kehlkopf einzudrücken, ja, ihm sogar das Genick zu brechen.

Aber Orm, der alte Eisenbeiß, war viel zu ungestüm vorgegangen. Seine kurzen Beine fanden keinen Halt an dem unbekleideten Trollkörper. Mochte die Haut der dunklen Kolosse auch so zerfurcht wie ausgebrannter Erdboden unter der heißen Sonne sein. Um sich mit den Stiefelspitzen darin abzustützen, waren die Spalte nicht tief genug. So blieb Orm nur, sich mit beiden Händen an Archats Hals festzuklammern und ihn gleichzeitig zuzudrücken. Dadurch fehlte ihm das letzte Quäntchen Kraft, das eigentlich nötig gewesen wäre, um dem Troll die Luft abzuschnüren.

Knurrend überwand Archat seine Überraschung, packte den strampelnden Zwerg mit beiden Pranken und riss ihn mit solchem Schwung von sich fort, dass Orm wie von einem Katapult geschnellt davonflog.

Die Welt um ihn herum schien sich zu drehen, während ihn die Höhle verschluckte. Gleißender Schmerz durchzuckte Orms Rücken, als er gegen die rückwärtige Wand prallte. Der Aufschlag hätte ihm glatt die Wirbelsäule zerschmettert, wäre der Fels nicht unter seiner gedrungenen Gestalt auseinandergeplatzt. Scharfkantige Bruchstücke zerschnitten ihm Hände und Gesicht, während er inmitten eines Steinhagels in die Tiefe stürzte. Kalte Fluten milderten Orms Sturz ab und schlugen gleich darauf über ihm zusammen. Wasser drang ihm in Mund und Nase, stach wie Eisnadeln in seinen Schlund und drohte ihn zu ersticken.

Hustend und spuckend kämpfte sich der Zwerg zurück an die Oberfläche. Als seine großen Hände einen Felsgrat ertasteten, zog er sich empor und rang nach Luft. Erst danach fiel ihm auf, dass er längst festen Grund unter seinen Stiefeln spürte.

Strudelnd und gurgelnd floss das Wasser um seinen Leib, was auf eine schnelle Strömung schließen ließ, doch sonderlich tief war das Nass nicht. Ein unterirdischer Flusslauf, der die zur Totenstadt ausgebaute Bergkuppe durchzog, um irgendwo am Fuße des Gebirgsmassivs als Quelle zu entspringen.

Die Hüter von Felsheim würden toben vor Wut!

Die höher gelegenen Hohlräume mussten schon vor Äonen entstanden sein, vermutlich lange bevor das erste Grab in die Bergkuppe geschlagen worden war. Wahrscheinlich hatte die stete Strömung an dem Gestein genagt, bis das Flussbett im Laufe der Zeit allmählich tiefer gewandert war.

Genau genommen interessierten Orm die Details aber herzlich wenig. Das kalte Bad hatte ihn gehörig abgekühlt. Er fror und wollte nur noch ins Trockene.

Mühsam kämpfte er sich über den Durchbruch zurück in die Höhle. Vor dem Eingang drängten sich bereits die Neugierigen, die sehen wollten, was mit ihm geschehen war. Bei seinem triefenden Anblick brandete Gelächter auf. Die dumpfen Kehllaute der Trolle machten den Anfang, doch alsbald fielen auch viele Zwerge mit in das schadenfrohe Konzert ein.

Orm hätte darüber zürnen müssen, stattdessen erfüllte ihn lähmende Traurigkeit. In den alten Tagen hätte Archat schon blutend am Boden gelegen, niedergeworfen von aufrechten Zwergen, die darauf brannten, einen der Ihren zu rächen. Seine Steinmetze spotteten hingegen lieber mit dem Feinde, als seine Ehre zu verteidigen. Zählte er wirklich schon so sehr zum alten Eisen, dass er das Benehmen der Fünfzig- bis Hundertjährigen nicht mehr verstand?

Schweigend wrang Orm seinen Bart aus und schüttelte alle Glieder, um sich der ärgsten Feuchtigkeit zu entledigen. Drei Schritte später stand er vor seiner Peitsche, die noch immer auf dem Geröll lag. Der Spott um ihn herum verebbte, und trotzdem beging er nicht den Fehler, den verlorenen Kampf fortzusetzen. Ohne blanke Klinge war er Archat nicht gewachsen, und Blut zu vergießen hätten ihm die Hüter nie verziehen.

»Packt euch!«, forderte Orm, ohne die Trolle dabei anzusehen. »Eure Dienste sind in Felsheim nicht länger erwünscht.«

Archat wartete, bis die Peitsche wieder fest in der Gürtelschlaufe saß, bevor er fragte: »Und wer, glaubst du, soll zukünftig unsere Arbeit erledigen?«

Orm kreuzte den neugierigen Blick des Trolls mit entschlossener Miene. »Packt euch, habe ich gesagt. Oder ich verwende all meine Ersparnisse auf ein paar Elfensöldner, die euch bis zur Erschöpfung jagen, bevor sie euch die Füße auf kleiner Flamme rösten! Und danach alle anderen Körperteile, selbst die, die euer Lendenschurz verdeckt.«

Die Erwähnung der abtrünnigen Elfen flößte den Trollen zwar keine blinde Panik, aber doch zumindest einige Ehrfurcht ein.

»Gut, wir gehen«, verkündete Archat. »Und wir kommen erst wieder, wenn du auf Knien darum bettelst. Du oder der Winzling, der deine Nachfolge antreten wird!«

Sogar die Trolle wussten, wie schlecht es bei den Hütern um ihn stand. Kein Wunder, dass es auch den Steinmetzen an Respekt mangelte.

»Aber Meister Eisenbeiß«, wagte Borstel einzuwenden, als die Trolle davonschlurften. »Wer soll denn nun wirklich die Lastkörbe tragen?«

Orm ließ seinen Blick so lange über die versammelten Zwerge gleiten, bis auch dem letzten von ihnen die Antwort dämmerte.

»An die Arbeit, ihr Memmen!«, forderte er rau. »Schafft Kübel voller Mörtel herbei und verschließt den offenen Zufluss mit so vielen Steinen und Geröll, wie nötig ist, damit hier nicht zukünftig alles unter Wasser steht!«

Während die Steinmetze einander betreten ansahen, klapperten an der Felstreppe die Lastkörbe die Stufen herab. »Schlechte Zeiten für einen Besuch, Menschlein!«, rief Archat. »In Felsheim herrscht dicke Luft!«

Als Orm in die Höhe spähte, um herauszufinden, mit wem der gerade in einem Seitengang der dritten Ebene abtauchende Troll gesprochen hatte, entdeckte er Velb, einen Grenzläufer, der mit den Alten Völkern Handel trieb. Eigentlich hätte dieser Mensch nie so tief ins Herz der Nekropole vordringen dürfen, andererseits hatte Orm höchstpersönlich erwirkt, dass Velb überhaupt die heilige Stätte betreten durfte.

Warum auch nicht? Schließlich trampelten hier auch Trolle herum.

Außerdem hatten, als es Velb nur gestattet gewesen war, die kleine Siedlung am Fuße des Berges zu besuchen, jene Auswärtigen, die gerade das Bett hüten mussten, stets die besten Geschäfte mit ihm gemacht. Das hatte zeitweise zu überquellenden Krankenlagern geführt, und zwar immer dann, wenn die Zwerge glaubten, dass Velbs Ankunft kurz bevorstände. Da sparte es schon viele Münzen ein, dass sie ihn inzwischen bis zu den Baustellen vorließen.

»An die Arbeit«, forderte Orm seine Zwerge auf, während er dem Grenzläufer entgegenging. Staub wölkte bei jedem Schritt auf und blieb an seinen nassen Hosenbeinen haften.

Borstel und die anderen Steinmetze fragten sich wohl einen Moment, ob sie noch die Befehle eines Mannes annehmen sollten, der schon mit einem Bein in der Verbannung stand. Schließlich machten sie sich aber doch ans Werk.

Orm hörte sie hektisch umherlaufen, während er die in den Fels geschlagenen Stufen emporeilte. »Schnell, höher hinauf«, forderte er Velb auf. »Wenn die Hüter dich so tief unten entdecken, war das dein letzter Besuch.«

»Keine Sorge.« In dem hageren Gesicht des Grenzgängers blitzte ein schalkhaftes Lachen auf. »Hezio und die Seinen kommen uns garantiert nicht in die Quere. Als ich mich von ihnen verabschiedet habe, sind sie gerade zu einem wichtigen Ritual im Kontor verschwunden.«

Orm verstand sofort, was damit gemeint war.

»Du hast Schmauch dabei?«, fragte er weitaus begehrlicher, als es eigentlich klingen sollte.

»Genug für euch alle!«

Einer plötzlichen Eingebung folgend schüttelte Orm den Kopf. »Nein, nur für mich«, verlangte er entschlossen. »Es soll dein Schaden nicht sein.«

Der mit mehreren Lederbeuteln behängte Grenzläufer legte seine Stirn in Falten, stimmte aber nach einigem Zögern zu. Immerhin. Wenigstens dieser Mensch zollte Orms Stellung noch Respekt.

Sein Tag war also nicht völlig verloren …

2.

Obwohl die Nekropole Zeichen der Verwitterung aufwies, trotzte sie dem Zahn der Zeit. Als steinernes Monument für die Ewigkeit erbaut, war sie gleichzeitig ein Bollwerk, deren steil aufragende Felswände fremde Blicke abprallen ließen und Unbefugten den Zutritt verwehrten.

Die Gesindehäuser am Fuße des Bergsattels wechselten dagegen in Form, Größe und sogar Beschaffenheit. Natürlich herrschten hier Mauern vor, die aus zurechtgeschlagenen Quadern bestanden, aber die noch vor fünfzig Sommern üblichen Steinplattendächer wichen allmählich hölzernen Giebeln.

Wo sie nicht wie ihre Altvorderen in Erd- oder Berghöhlen wohnten, zeigten sich Zwerge gegenüber Neuem durchaus aufgeschlossen. Nicht alles auf Menschenmist Gewachsene war von Natur aus schlecht, und selbst das kleinwüchsige Volk wusste den Vorzug ablaufenden Regens bei einem Spitzdach zu würdigen. Außerdem lösten sich Reetbündel und Holzschindeln schneller in Rauch auf, sobald es die Situation erforderte.

Zwerge waren nun einmal von Natur aus misstrauisch. Vielleicht weil sie das kleinste aller Völker waren und zu allen anderen aufsehen mussten. Schon das rundum freie Sichtfeld bewies ihre Bereitschaft, sich jederzeit hinter Felsheims Mauern zu verschanzen. Das war Velb schon bei seinem ersten Besuch aufgefallen, der längst einige Sommer zurücklag.

»Gab’s Ärger?«, fragte er, den Blick auf das offene Fenster gerichtet.

»Verdammte Trolle!«, murrte Orm, während er seine frisch gestopfte Wurzelpfeife entzündete.

Rund um die Siedlung wurde der Berg von tiefen Spalten durchzogen, denen hellgraue Schleier entwichen, die rasch mit dem Wind verwehten. Es handelte sich um Wasserdampf, gar keine Frage. Rauch wäre beständiger gewesen, außerdem hätte Brandgeruch in der Luft gelegen.

Dass es in diesem Teil des Gebirges überall zischte und brodelte, war allgemein bekannt. Die Zwerge, die hier hausten, störten sich nicht an den heißen Quellen, die dem Inneren der Erde entstiegen. Im Gegenteil. Schon seit unzähligen Generationen machten sie sich diese Naturgewalten für heiße Bäder und warme Höhlen zunutze, aber auch für dampfbetriebene Zahnräder, Mühlsteine, Blasebälger und andere mechanische Konstruktionen.

Mit Hebeln und Gegengewichten zu arbeiten lag den Zwergen im Blut. Wer nur über so kurze Arme verfügte wie sie, musste sich eben auch anderweitig zu helfen wissen.

Wie es tatsächlich tief drunten im Fels aussah, wussten nur Eingeweihte. Dass auch rund um die Totenstadt viele Zwerge lebten, war aber allgemein bekannt. Menschen, Elfen und andere Grenzgänger, die das Gebirge durchstreiften, bekamen die kleinen Leute zwar nur selten zu sehen, doch sie waren da, so viel stand fest. Obwohl sie das Tageslicht keineswegs scheuten, dauerhaft wohl fühlten sich Zwerge nur in ihren dunklen Höhlen und Gängen.

Umso erstaunlicher mutete es andere Völker an, dass sie ihre Angehörigen so hoch in den Bergen bestatteten. Andererseits hätten ihnen tiefer im Massiv liegende Gräber nur wertvollen Platz geraubt. Und überhaupt: Begruben die auf der Oberfläche lebenden Menschen nicht ihre Toten am liebsten sechs Fuß unter der Erde?

Orm schmauchte bereits das zweite Pfeifchen, als Velb durch ein Fenster verfolgte, wie Archat und die Seinen ihre Unterkunft räumten. Mit schweren Rucksäcken bepackt, zogen die Trolle davon. Einige schulterten ihre Lasten auf Tragegestellen, die denen in der Nekropole ähnelten, nur dass diese Konstruktionen aus gebogenen Weidenruten statt aus massivem Holz bestanden.

Mit dem Aufbruch in die Heimat war es den klobigen Riesen offenbar ernst. Ein theatralischer Abschied in der stillen Hoffnung, man möge sie noch mit klingender Münze oder guten Worten zurückhalten, lag nicht in ihrer schlichten Natur. Solcherlei war eher der Zwergen Art.

Entsprechend überrascht reagierten Hezio und zwei weitere Hüter, die aufgeregt herbeieilten, um das Schlimmste zu verhindern. Die Trolle rannten die felsgrau gekleideten Würdenträger beinahe über den Haufen, ohne auch nur für eine kurze Erklärung innezuhalten. Vergeblich rauften sich die Zwerge Haare und Bärte, während sie abwechselnd flehten und fluchten, um die Trolle zum Bleiben zu überreden. Als der erste Hüter wütend auf Orms Unterkunft deutete, wusste Velb, dass es höchste Zeit war, seinen Handel abzuschließen.

»Zufrieden?«, fragte er gleichmütig, als hätte er bei dem langen Blick aus dem Fenster nur seinen Gedanken nachgehangen.

»Guter Schmauch!«, lobte Orm, bevor er ein weiteres Mal an der polierten Wurzelpfeife zog. »So würzig und stark wie kein anderer.«

Behaglich seufzend lehnte sich der Zwerg so weit auf seinem Felllager zurück, dass er mit dem Hinterkopf gegen die steinerne Rückwand stieß. Ein dumpfer Laut ertönte. Als echter Eisenbeiß zeigte er dabei keine Anzeichen von Schmerz, sondern sog erneut an der hohlen Baumwurzel, die so lang wie sein Unterarm war.

Dicke Rauchringe verließen Orms gespitzte Lippen und nebelten die niedrige Decke ein. Der Blick seiner rotgeäderten Augen wirkte entrückt, aber sein Verstand war noch hellwach.

»Ein Schmauch wie der deine findet sich so schnell kein zweites Mal«, sinnierte er. »Viele haben schon vergleichbare Qualität versprochen, doch noch keiner konnte sie wirklich bieten. Verrat mir dein Geheimnis, und ich werde dich reich entlohnen.«

»Zeig mir, wie Zwergengold geprägt wird, und ich unterweise dich in der Kunst der Moosernte«, bot Velb im Gegenzug an.

Ein seltenes Lächeln huschte über Orms bartumflorte Lippen. »Recht hast du, Menschlein. Jeder von uns verfügt über geheimes Wissen, das er besser für sich behält. So ist es schon von alters her, und so soll es für alle Zeiten bleiben.«

Obwohl stark berauscht, schnellte der alte Eisenbeiß mit dem Oberkörper jäh nach vorne, um in die übereinandergeschichteten Felle seiner Schlafstätte zu langen. Nach kurzem Umhertasten zog er einen kleinen Lederbeutel zwischen der dritten und vierten Lage hervor. Bis unter die Haarwurzeln voller Schmauch oder nicht, Orm rechnete wohl selbst nicht mehr damit, diese Unterkunft noch lange zu bewohnen, andernfalls hätte er Velb das primitive Versteck nicht so bereitwillig gezeigt.

Dass er immer noch in der für Besucher, Trolle und zugereiste Steinmetze bestimmten Siedlung wohnte, bewies ohnehin, dass er unter seinesgleichen ein Außenseiter war, für den sich noch keine passende Höhle gefunden hatte.

Entwurzelt, ohne Aussicht auf ein Weib, das es dauerhaft mit seinen Launen aushielt – solcherart Kriegsveteranen fanden sich auch unter den Menschen. Aber dort starben die Verbitterten zwanzig oder dreißig Sommer nach ihren schrecklichen Erlebnissen. Eine kurze Zeitspanne, in der eine neue Generation ohne Narben auf der Seele heranwuchs. Eine Generation, die erst die Fehler ihrer Mütter und Väter wiederholen musste, um vor den gleichen Trümmern des Lebens zu stehen.

Ein langes Gedächtnis konnte ein wahrer Segen sein, aber auch eine schwere Bürde.

»Ist das wirklich der gesamte Schmauch, den du mitgebracht hast?« Den Goldbeutel noch fest umschlossen, deutete Orm auf die mit Rauschkraut gefüllten Leinensäckchen, die sich zwischen ihnen auf einem grobgezimmerten Tisch stapelten.

»Wie abgemacht«, log Velb. »Obwohl mich das bei deinen Zunftbrüdern in Ungnade stürzen wird.« Den letzten Teil fügte er für den Fall hinzu, dass einer der anderen Steinmetze zum Tratschen neigte. Andererseits würde der alte Eisenbeiß ohnehin nicht mehr lange in Felsheim arbeiten, dessen war sich Velb ganz sicher.

»Das ist nicht gut, zumal deine Tage zwischen den Grüften womöglich gezählt sind«, sprach er seinen letzten Gedanken laut aus, ohne es zu versäumen, eine gehörige Portion Bedauern in die Stimme zu legen.

»Auch in Orm, dem Schmied, wirst du stets einen guten Käufer finden«, gab der alte Zwerg missmutig zurück. »Zudem entlohne ich dich großzügig für dein Entgegenkommen.« Statt mehrere Münzen aus der Geldkatze abzuzählen, schleuderte Orm sie verschlossen über den Tisch.

Geschickt fing Velb sie auf.

Schon das Gewicht des prall gefüllten Schnürbeutels machte deutlich, dass er die doppelte oder gar dreifache Menge der üblichen Summe enthielt. Velbs offensichtliches Erstaunen erheiterte Orm so sehr, dass sein breites Grinsen die bärtige Gesichtshälfte in zwei schlohweiße Teile spaltete.

Velbs Herz beschleunigte vor lauter Freude. Rasch ließ er die üppige Börse in einer Seitentasche seines Umhangs verschwinden, bevor es sich der alte Eisenbeiß noch anders überlegte – und seinen spendablen Anflug auf das kostenlose Probierpfeifchen zu schieben versuchte.

Mit einem solchen Batzen Zwergengold standen ihm überall die Türen offen. An den Münzen der kleinen Leute bissen sich Kipper und Knapser nämlich die Zähne aus. Da konnte keine andere Währung mithalten, weder der Durat aus Imor noch die Norvaler Fischtaler. Nicht einmal die silbernen Halbmonde der Elfen besaßen einen so guten Ruf wie die Münzen der Zwerge, die ihre Prägung einbüßten, sobald ihnen ein Lumpensohn mit Feile, Bohrer oder Säge zu Leibe zu rücken versuchte.

Velb wollte sich gerade überschwänglich bedanken, als er vor der Hütte schwere Schritte vernahm. Nur einen Atemzug später flog die Tür auf. Mit hochroten Köpfen stürmten Hezio und seine beiden Stellvertreter zu ihnen herein. Besonders dem Weib des Dreigestirns war die Aufregung deutlich anzusehen. Genauso drall und kurz geraten wie die Männer, wucherten der Zwergin nur ein paar dunkle Härchen auf der Oberlippe, so dass ihr erhitztes Gesicht nicht zu großen Teilen durch einen dichten Bart verdeckt war.

Kaum hatten die drei die Schwelle überquert, blieb Hezio wie angewurzelt stehen. Während seine ihm dicht auf den Hacken klebende Gefolgschaft Mühe hatte, nicht gegen seinen Rücken zu prallen, rümpfte er die Nase und schrie: »Was ist hier los? Heilige Kräuter außerhalb der Zeremonie?«

Dass seine eigenen Augen mindestens ebenso rot wie die von Orm schimmerten, nahm der gespielten Empörung ein wenig die Wirkung, andererseits fiel es dem Magistrat der Nekropole sicherlich nicht schwer, irgendein angeblich vollzogenes Totenritual vorzuschieben. Abgesehen davon spielte es bei dem unangemeldeten Besuch keine Rolle, dass der alte Eisenbeiß dem Schmauch frönte, das war jedem in der rauchverhangenen Hütte klar.

Trotzdem bedachte man Velb mit vor Anklage triefenden Blicken.

»Schmuggler, Stromer, Ungläubiger …«, hob Hezio zu einer Tirade an.

Nun war der Grenzgänger doppelt froh, den Lohn für seine Ware bereits sicher in seinem Umhang zu wissen. Wer wusste schon, was sich der erzürnte Magistrat als Nächstes einfallen ließ?

»Lass das Menschlein in Frieden«, mischte sich Orm ein, bevor er demonstrativ einen weiteren Zug nahm, obwohl der Schmauch im Pfeifenkopf längst ausgeglüht war. »Velb versteht nichts von unseren Angelegenheiten, und so soll es auch bleiben.«

Hezios rotglühende Wangen blähten sich auf wie bei einem quakenden Frosch, doch gerade als er zu einer lautstarken Erwiderung ansetzen wollte, ließ ihn eine Hand auf seiner Schulter vorzeitig verstummen. Stattdessen ergriff Wighild das Wort, die greise Zwergin mit den zerfurchten Gesichtszügen.

»Räum das Feld«, sagte sie mit ruhiger Stimme zu Velb. »Wir haben mit Orm Dringendes zu besprechen, das nicht für fremde Ohren bestimmt ist.«

Der Grenzgänger kam dieser Aufforderung umgehend nach. Es sich mit dem Dreigestirn zu verderben hätte für ihn den Verlust aller Handelsrechte zur Folge haben können. Stumm nickte er Orm zu, dann eilte er ins Freie hinaus.

Draußen überkam ihn ein Gefühl der Erleichterung.

Selten zuvor hatten ihm grimmige Zwerge so viel Unbehagen eingeflößt. Der Handel mit den Alten Völkern barg körperliche Gefahren, das hatte er schon in der Vergangenheit zu spüren bekommen. Darum beeilte sich Velb, so rasch wie möglich Abstand zu der Hütte zu gewinnen, in der sich nach seinem Abgang lautes Geschrei erhob.

Wighilds Behauptung, die Auseinandersetzung über schlampige Arbeiten und verschwundene Lastenträger wäre nicht für menschliche Ohren bestimmt, erwies sich als glatte Lüge. Obwohl er keineswegs darauf erpicht war, den Streit mit anzuhören, begleiteten Velb die gegenseitigen Vorwürfe und Beschimpfungen noch eine lange Zeit.

Imor

1.

Binek spürte die Gefahr, in der er schwebte, sobald er die Augen öffnete. Vermutlich hatte ihn ein Geräusch geweckt oder der durchdringende Gestank schwärender Fäulnis, der ihm jäh in die Nase stach. Was auch immer es gewesen sein mochte, für Flucht oder Gegenwehr war es längst zu spät. An seinem Hals drückte geschliffener Stahl so fest in die Haut, dass schon die kleinste Bewegung, ja, nur ein halberstickter Schrei einen Schnitt durch die Kehle zur Folge gehabt hätte.

Stumm lag er da und wagte nicht, sich zu rühren. Trotzdem ahnten seine Jäger, dass er erwacht war.

»So ist es recht, kleines Schlitzohr!«, lobte eine kehlige Stimme aus der über ihm lastenden Dunkelheit. »Bleib so vernünftig, dann kommst du mit dem Leben davon.«

Kalte Wellen der Übelkeit peitschten in Binek empor. Zwar hatte ihn der modrige Gestank vorgewarnt, aber erst die von Knurrlauten durchzogenen Worte machten seine schlimmsten Befürchtungen zur Gewissheit. Ausgerechnet Kappoks übelste Bluthunde hatten ihn aufgespürt!

Endlich ließ der Druck an seinem Hals nach.

»Was wollt ihr von mir?«, stieß er hervor, obwohl er die Antwort auf seine Frage bereits kannte. Binek redete einfach drauflos, nur um etwas zu sagen. Das half für gewöhnlich, die ihn ihm wühlende Angst zu bezähmen. Auch diesmal ließ das schmerzhafte Ziehen in der Brust allmählich nach.

Die Sumpfgnome wussten trotzdem, wie es um ihn stand.

»Hast die Hose gestrichen voll, häh?«, fragte Drokk, der Ältere der beiden, der bereits die ganze Zeit über mit ihm sprach. »Dabei könnten wir Gildebrüder sein. Du müsstest nur den Befehlen unseres Herrn und Meisters gehorchen.«

Ein leises Glucksen im Hintergrund begleitete Drokks zwischen Hohn und Unverständnis schwankende Stimme. Der, der sich da so sehr amüsierte, musste Marzz sein. Die beiden Gnome schritten stets gemeinsam zur Tat.

»Aber … ich will einfach …« Binek rang unversehens mit aufsteigenden Tränen, bevor er vollendete: »Ich will einfach niemanden ermorden!«

Seine Stimme zitterte ganz erbärmlich vor Verzweiflung, doch das war beileibe kein Grund, sich zu schämen. Manch Nordlandkrieger hätte in ähnlicher Situation bereits hemmungslos um sein Leben gewinselt. Binek machte sich hingegen Sorgen um den Fischhändler, den er für Kappok töten sollte. Im Gegensatz zu anderen Bedrängten wusste er allerdings genau, dass ihn der Großmeister der Dunklen Gilden zunächst lebend in die Hände bekommen wollte.

Das Geräusch von Schritten erfüllte die gemietete Dachkammer.

Marzz trat ans Fenster. Unter leisem Knarren drückte er die angelehnten Holzläden so weit auseinander, dass fahles Mondlicht ins Zimmer fiel. »Zieh dich an, Schlitzohr!«, befahl er dabei. »Und wag es bloß nicht, auch nur an Flucht zu denken! Wir haben Kappoks Erlaubnis, dich nach Belieben zu verstümmeln, wenn uns danach ist! Kein Todesschatten benötigt ein unversehrtes Gesicht, um für den dunklen Fürsten zu töten.«

Auf Bineks Stirn perlte kalter Schweiß auf. Die Gnome waren dafür bekannt, dass sie andere gerne ängstigten, andererseits wusste er, dass Marzz keine leeren Drohungen ausstieß. In Imor verloren alle naselang irgendwelche Unglücksraben kleinere oder größere Teile ihres Körpers, nur weil sie Kappoks Unwillen erregt hatten.

Meistens führten die beiden Gnome dabei die Klinge. Auch Bineks linke Ohrspitze hatte schon Bekanntschaft mit Drokks Messer gemacht, weil er dem obersten Herrn der Dunklen Gilden eine geliehene Summe zu lange schuldig geblieben war.

Damals hatten die vielen Klageweiber in Magnons Tempel zu viel Geld verschlungen. Aber was bedeutete schon ein gespaltenes Ohr angesichts eines erträglichen Daseins im Reich der Toten? Vor allem, da die umfangreichen Zeremonien der Frau zugutegekommen waren, die ihn nicht nur geboren, sondern auch am Leben gelassen und aufgezogen hatte.

Ihn, der er doch nur ein Halbblut – ein elender Bastard – war!

»Möchtest du nicht wenigstens ein unversehrtes Ohr behalten?« Trotz der weiterhin drohend über Binek schwebenden Klinge gab sich Drokk verständnisvoll. »Es ist mir wirklich ein Rätsel, warum du so mit deinem Schicksal haderst? Andere im Pfuhl würden sich glücklich schätzen, dürften sie deine Talente ihr Eigen nennen. Unsereins lebt schließlich nicht schlecht hinter Imors Mauern. Und bei einem unschuldigen Gesicht wie dem deinen spreizt so manche Hure ihre Schenkel glatt für die Hälfte der üblichen Summe. Was kann einer wie du schon mehr vom Leben erwarten?«

Bei Drokks Ansprache glitzerte es mehrmals zwischen seinen wulstigen Lippen hervor. Gnome mit goldüberzogenen Eckzähnen, das war die schlimmste Sorte dieses furchteinflößenden Volkes. Goldprotzer, die ihre heimatlichen Sümpfe verlassen hatten, um ein besseres Leben in den Kloaken der Menschen zu suchen. Statt Wasserratten jagten sie nun Kopfgelder, schlitzten Wänste oder Lederbeutel auf – und verdingten sich mit jeder noch so schmutzigen Lumperei, solange sie nur leichtverdientes Gold versprach.

Binek widerten Gnome zutiefst an, dabei strömte durch seine Adern ebenfalls nichtmenschliches Blut. Schließlich war er die verbotene Frucht einer flüchtigen Nacht, die seine Mutter dereinst mit einem Elfen verbracht hatte. Ihr wenige Monde später anschwellender Bauch hatte Irmhild den Abstieg in den Pfuhl beschert und ihrem Sohn ein väterliches Erbe, auf das er liebend gerne verzichtet hätte.

Für seine spitz zulaufenden Ohren hatte Binek von Kindesbeinen an Spott und Schläge ertragen müssen, obwohl er den auf ihn einprasselnden Fäusten stets leichter als den Schmährufen entkommen war. Denn zu laufen, zu springen und zu klettern, vermochte er so gut wie kein anderer seines Viertels. Leider hatte er erst viel zu spät begriffen, dass solcherlei Fähigkeiten nicht nur Neid erregten, sondern auch die Aufmerksamkeit jener Mächte weckten, denen die Bewohner des Pfuhls beinahe hilflos ausgeliefert waren.

»Ankleiden, habe ich gesagt!«, riss ihn Marzz aus seinen Erinnerungen.

Mattes Licht fiel auf das knochige Gnomengesicht, in dem die Augenwülste fast ebenso stark hervortraten wie die gebogene Nase.

Schweigend schlängelte sich Binek unter Drokks Klinge hervor, um der Aufforderung nachzukommen. Er wusste um die Launenhaftigkeit der beiden Schergen, die von einem Herzschlag auf den anderen die Geduld verlieren konnten.

Binek hatte wenig Lust, ihre Klingen in seinem Gesicht zu spüren. Bisher genügte eine die Ohren bedeckende Kappe, um seine Herkunft als Halbblut zu verschleiern. Mit freundlichen Blicken oder Worten würde es jedoch endgültig vorbei sein, wenn dort, wo bislang die Nase saß, ein blutiger Krater klaffte.

So rasch es die zitternden Hände zuließen, schlüpfte er in seine wildledernen Beinkleider. Das lange Leinenhemd, in dem er geschlafen hatte, stopfte er mit in den Hosenbund, den er anschließend mit geflochtenen Lederbändern verschnürte. Danach zog er eine ärmellose Weste über, die bei weitem nicht so anschmiegsam wie die Hose war. Wie auch? Bestand sie doch aus zwei Lagen steinhartem Wildschweinleder, zwischen denen sich ein engmaschiges Kettenhemd erstreckte. Damit trug er einen recht brauchbaren Harnisch, an dem schon manch ungelenk geführter Stich abgeglitten war.

Gegen garstige Gnome, die bevorzugt Hals und Unterleib attackierten, bot er jedoch keinen Schutz.

Natürlich machten sich Drokk und Marzz über ihn lustig, als er seinen Kopf mit einem ausgeblichenen Stoffstreifen umwickelte, der die obere Hälfte seiner Ohren fest an die Schläfen drückte. Was durfte er schon von Kreaturen erwarten, die weder Liebe noch Zuneigung kannten?

Eine Lederkappe und ein mausgrauer Umhang vervollständigten Bineks Aufzug. Seinen Leinenbeutel, in dem er seine Diebesbeute aufbewahrte, beließ er unter den Bodendielen, die er eigens dafür gelöst und wieder eingesetzt hatte. Selbst die wenigen Habseligkeiten in diesem Versteck hätten die Gier der Gnome geweckt. Den Dolch, den er normalerweise am Gürtel trug, hatten sie ihm schon im Schlaf abgenommen.

Sobald Binek zum Aufbruch bereit war, banden sie ihm die Hände auf den Rücken. Auch in dieser Hinsicht verstanden Drokk und Marzz ihr schmutziges Handwerk. Ihre Knoten saßen zu fest, als dass er sie selbst hätte lösen können, aber doch nicht so stramm, dass sie ihm das Blut in den Armen abschnürten.

Nachdem sie seinen Umhang über die Fesseln drapiert hatten, nahmen sie Binek in ihre Mitte. Marzz schritt voran, Drokk folgte so dichtauf, dass Binek den heißen Atem des Gnoms unangenehm im Nacken spürte.

Der junge Dieb suchte nicht einmal nach einer Fluchtmöglichkeit, als sie über die steile Treppe ins Erdgeschoss gelangten. Normalen Söldnern wäre er vielleicht trotz seiner Fesseln entkommen, aber nicht Kappoks unbarmherzigen Todesschatten, vor denen jedermann im Pfuhl zitterte.

Unten im Schankraum saßen eine Handvoll Gäste an roh gezimmerten Tischen. Zwei der Zecher starrten krampfhaft in ihre Becher, um deutlich zu machen, dass sie weder hörten noch sahen, was gerade vor sich ging. Die anderen begafften den vorüberziehenden Aufmarsch mit unverhohlener Neugier.

Binek hatte allerdings nur Augen für den vor Schweiß glänzenden Wirt, der ihn vom Tresen aus mit verlegenen Blicken bedachte. Das schlechte Gewissen stand Mitos ins Gesicht geschrieben. Die Münzen, die er in den letzten Tagen erhalten hatte, um rechtzeitig vor einem ungebetenen Besuch wie diesem zu warnen, behielt der feiste Kerl trotzdem unter seiner schmutzigen Schürze.

Natürlich war es verständlich, dass der Wirt alles unterlassen hatte, was ihm Ärger mit den gefürchteten Gnomen hätte einbringen können. Trotzdem erregte der Gedanke an die vergeblich gezahlten Fischtaler Bineks Unwillen. Von jäh aufkeimendem Zorn gepackt, gelüstete ihn plötzlich danach, dem Glatzkopf die gleiche Heidenangst einzujagen, die er selbst am ganzen Leib verspürte. Aufgebracht fixierte er Mitos, der sich unter seinem Blick zu winden begann.

»Du!« Bineks Kinn zuckte in die Richtung des Unglücklichen. »Lass dich besser gleich einpökeln! Du wirst nämlich der Erste sein, den ich aus bloßem Vergnügen töte, sobald ich in den Reihen der Todesschatten marschiere!«

Angesichts dieser Drohung erbleichte Mitos am ganzen Körper. Selbst die behaarten Unterarme traten kalkweiß hervor. Sein jämmerlicher Versuch, etwas zu erwidern, endete in einem Krächzen.

Lastende Stille erfüllte den Schankraum. Bis zu dem Moment, in dem Drokks Hand unter zufriedenem Kichern auf Bineks Schulter krachte, wie um einen neuen Gildebruder zu begrüßen.

2.

Unmenschen, so schimpften Garons neue Herrscher die alten Völker. Wobei sie den Elfen, die ihnen am stärksten ähnelten, noch den größten Respekt entgegenbrachten. Gnome standen im Ansehen am tiefsten, sogar noch unter den monströsen Orks und Trollen.

Einem von bewaffneten Gnomen eskortierten Mann schlug von allen Seiten Mitgefühl entgegen. Besonders Frauen bedachten Binek mit weichen Blicken, es sei denn, sie gehörten zu den Eingeweihten, die um das Schlitzohr oder seine zwielichtige Herkunft wussten. Doch selbst jene, die ihn für einen unschuldig in Not geratenen Menschen hielten, rührten keinen Finger für ihn.

Nicht im Pfuhl, dem schwarzen Herzen dieser Stadt.

Durch ein unübersichtliches Labyrinth ansteigender und abfallender Gassen strebten die drei ihrem Ziel entgegen. Bereits die Architektur des Viertels, mit ihren aneinandergedrängten Gebäuden, den schiefen Fassaden und den überkragenden Balkonen, gemahnte an ein unkontrolliert wucherndes Geschwür. Der Eindruck verstärkte sich noch durch die vielen Bewohner, die sich hier auf so engem Raume drängten, dass sie an wimmelnde Maden in einem verrottenden Apfel erinnerten.

Wegen der unzähligen Tavernen, in denen die Gäste Abend für Abend hemmungslos dem Spiel, dem Rausch und den körperlichen Freuden frönten, zog es obendrein viele Vergnügungssüchtige in den Pfuhl. Der Reiz des Verbotenen lockte gleichermaßen Einheimische wie Durchreisende an, so dass immer wieder unerträgliches Gedränge entstand, in dem sich die Passanten schwitzend und fluchend aneinander vorbeischoben.

Flankiert von Drokk und Marzz, kam Binek jedoch besser voran als jemals zuvor in seinem Leben. Gnome waren unempfindlich gegenüber Temperaturen, deshalb trugen sie in ihren Sümpfen kaum mehr als einen Lendenschurz. Für ihr Leben bei den Menschen hatten sich die Todesschatten knielange Lederhosen zugelegt, unter denen dürre Waden hervorwuchsen, die in unnatürlich breiten Füßen endeten, für die sich kein Stiefelwerk schustern ließ. Über ihren froschgrünen Oberkörpern spannte sich ein Geschirr aus dünnen, mit spitzen Eisennieten beschlagenen Lederriemen, das ihnen als Wehrgehänge für ihr umfangreiches Arsenal an Messern, Wurfsternen und Kurzschwertern diente.

Mochte es an der waffenstarrenden Aufmachung liegen oder an ihren grotesken Schädeln mit den unförmigen Ohren, so eng und gewunden der vor ihnen liegende Durchgang auch war, vor ihnen bildete sich stets eine Gasse, die sich hinter dem ungleichen Trio sofort wieder schloss. Wie durch den langen Schlund einer alles verzehrenden Riesenschlange schritten sie unter gespannten Wäscheleinen hindurch, an unbeleuchteten Hinterhöfen vorbei, in deren dunklen Schatten sich noch dunklere Dinge abspielten.

Auf ihrem Weg zu Kappok begegneten ihnen einige betrunkene Zwerge, sogar zwei wehrhaft wirkende Elfen bekamen sie zu Gesicht. Doch obwohl jeder von ihnen die Gnome mit einer noch größeren Abscheu als die Menschen betrachtete, zeigten auch sie keinerlei Zeichen der Hilfsbereitschaft.

Von dem Volk seines Vaters erwartete Binek ohnehin keine Unterstützung. Er hatte ein paarmal versucht, Elfen anzusprechen, die ihm auf Märkten oder in Schänken begegnet waren. Doch sobald sie sich näher mit ihm beschäftigt hatten, hatten sie mit Abscheu reagiert. Vielleicht weil sie ihn für einen Bastard hielten oder ihm seine besonderen Fähigkeiten neideten, er wusste es nicht.

Nahe dem Zwergengebirge Graugard gelegen, zog Imor zwar immer wieder Angehörige der alten Völker an, die auf der Suche nach Abwechslung und schnell verdienten Münzen waren. Doch verschlug es sie für längere Zeit in den Pfuhl, gehörten sie auf ihre Weise genauso zu den Entwurzelten und Verzweifelten wie die Menschen, die in diesem Viertel ihr Dasein fristeten. Als Treibgut des Lebens – angespült, abgesunken und unfähig, sich aus der schlammigen Umklammerung des Pfuhls zu befreien – empfand sich auch Binek, der Imors Stadtmauern noch nie weiter als bis auf Sichtweite verlassen hatte.

Nur wenn er die Fassade eines Hauses bezwang oder lautlos über Dächer eilte, überkam ihn ein flüchtiges Gefühl der Freiheit. Leider ließ sich zwischen aneinanderklebenden Schindeln, Erkern und Schornsteinen nicht dauerhaft leben, und die vertraute Umgebung ganz zu verlassen, dazu fehlte ihm der nötige Mut.

Kappoks Fänge reichten weit über Imor hinaus, das wusste er genau.

Derbe Gesänge erfüllten die nächtliche Luft, als sie endlich die Goldgrube erreichten, die größte und einträglichste aller Tavernen des Viertels. Ihr Ziel waren aber nicht die hell erleuchteten Fenster, hinter denen die Schankmaiden umhereilten, um die bis auf den letzten Platz besetzten Tische mit dampfenden Speisen und kühlen Getränken zu versorgen, sondern ein gemauerter Niedergang, der in die Gewölbe unterhalb des belebten Gebäudes führte.

Nur eine Fackel wies den Weg über den tiefschwarzen Hinterhof. Außerhalb der eng umrissenen Lichtinsel wachten zwei kräftige Schwertträger darüber, dass sich kein Unbefugter Zutritt zum Hauptquartier der Dunklen Gilden verschaffte. Drokk und Marzz waren ihnen natürlich bekannt, deshalb rührten sie keinen Muskel, als die Gnome ihren Gefangenen die steinernen Stufen hinabführten.

Am Ende des Treppengewölbes versperrte eine schmiedeeiserne Tür den Weg. Sich wild gebärdende Schatten zuckten im Rhythmus der blakenden Flamme über die Wände, während Drokk sie mit einem geheimen Klopfzeichen anmeldete. Der letzte dumpfe Schlag war kaum verklungen, als sich eine handtellergroße Sichtluke öffnete, durch die sie ein weiterer Posten fixierte.

Bei Bineks Anblick funkelte es zufrieden in den grauen Augen des Mannes. Erneut begann das Herz des Diebes zu rasen, obwohl er sich alle Mühe gab, nach außen hin ruhig und gelassen zu wirken. Alles andere wäre ihm als Schwäche ausgelegt worden. Und Schwächlinge hatten im Pfuhl besonders zu leiden.

Noch ehe die stählernen Riegel zurückgeschoben wurden, hatte sich Binek wieder einigermaßen in der Gewalt.

Schon beim Eintreten schlug ihnen ein Schwall abgestandener Luft entgegen, ein Gemisch aus Schweiß, Rauch und schalem Bier. Auf den ersten Blick unterschied sich das, was in dem von Fackeln und offenen Feuern beleuchteten Gewölbe vor sich ging, nicht groß von dem, was ein Stockwerk höher in der Goldgrube geschah. Nur dass sich hier unten die Oberhäupter der Dunklen Gilden mit ihren Zuträgern und engsten Vertrauten aufhielten.

Süßliche Rauchschwaden, deren Geruch die Sinne betörte, durchzogen den weitläufigen Raum. Überall standen Männer und Frauen beieinander, um Pläne zu schmieden, Neuigkeiten auszutauschen oder es sich einfach gutgehen zu lassen.

Hätte es nicht so durchdringend nach versengtem Fleisch gestunken, es wäre ein beinahe friedvoller Anblick gewesen. So aber suchte Bineks Blick nicht den Großmeister, der mit seiner Favoritin in einem Berg von zerwühlten Seidenkissen versunken lag, sondern die rußgeschwärzte Feuerstelle an der Rückwand. Dort, wo sich für gewöhnlich ein Spanferkel drehte, lag ein Mann am Boden, dessen nackte Füße über den prasselnden Flammen schmorten.

Seiner vornehmen Kleidung nach zu urteilen hatte er bis vor kurzem in der Goldgrube gefeiert. Vielleicht ein spendabler Gast, der sich beim Würfelspiel heillos übernommen hatte? Kappok hasste Zechpreller wie die Pest, trotzdem wurden ihnen für gewöhnlich nicht vor aller Welt die Fersen geröstet.

Binek entging nicht, dass dem Unglücklichen ebenso die Hände auf den Rücken gefesselt waren wie ihm. Wurde der arme Tropf am Ende nur gefoltert, um einen unwilligen Todesschatten einzuschüchtern?

Obwohl der Mann abwechselnd vor Schmerz schrie und um Gnade bettelte, schenkte ihm keiner der Anwesenden größere Beachtung. Erst als sich Kappok von seinem Lager erhob und Binek freundlich zu sich rief, verstummten die Gespräche. Natürlich wusste jeder im Gewölbe, dass heute der Tag war, an dem Schlitzohrs Willen gebrochen werden sollte. Da galt es, artig den Worten des Obersten aller Gildemeister zu lauschen, der die große Bühne zu schätzen wusste.

»Biiitteeeee!«, hallte es in der einsetzenden Stille von den Wänden wider. »Ich besitze doch nicht mehr als das wenige, das ihr mir schon genommen habt!«

Erbost fuhr Kappok zu den Folterknechten herum, die Bineks Ankunft übersehen hatten. »Stopft dem Erbschleicher das Maul!«, befahl er aufgebracht. »Ich will erst wieder von ihm hören, wenn er die Wahrheit ausspuckt!«

Ein Knebel brachte das Gejammer zum Verstummen, obwohl die Haut an den Füßen des Gequälten längst Blasen warf.

»Verzeih mir«, wandte sich der Großmeister erneut Binek zu. »Manche Geschäfte dulden einfach keinen Aufschub.«

Wer Kappok nicht kannte, hätte ihn in diesem Moment für einen Händler halten können, der sich für den lautstarken Trubel in seinem Kontor entschuldigte. Oder vielmehr für den verwöhnten Sohn eines Händlers, der noch nie in seinem Leben eigenhändig mit anpacken musste. Mit seinen blassblonden, zerzaust vom Kopf abstehenden Haaren, der glatten Haut und schlanken Erscheinung ähnelte er durchaus einem Spross aus gutem Hause.

Doch der äußere Schein trog.

Kappok war dreimal so alt, wie er wirkte, und jene, die seinen Aufstieg zum Großmeister der Dunklen Gilden mit eigenen Augen verfolgt hatten, wussten zu berichten, dass er einst ein mit Narben übersätes Schwergewicht gewesen war, das sich den Weg an die Spitze des Pfuhls mit blanker Klinge erkämpft hatte.

Als Oberhaupt aller Bettler und Wucherer, der Schläger, Diebe und Meuchler regierte Kappok mit eiserner Hand, so dass niemand wagte, nach dem Geheimnis seiner blendenden Erscheinung zu fragen. Ob er sie nur Kräutern und Tränken verdankte oder echter Magie, spielte eine untergeordnete Rolle, solange sich jeder, der zu laut über seine ewige Jugend nachdachte, kurz darauf mit durchschnittener Kehle in der Gosse wiederfand.

Lässig ließ sich Kappok auf den Stufen des weißen Marmorpodestes nieder. Wie hingegossen lag er da, einen Ellenbogen auf den obersten Absatz gestützt.

»Mein lieber Schlitzohr, tritt doch näher, wir haben zu reden.« Die vor Freundlichkeit triefende Stimme jagte nicht nur Binek eisige Schauer über den Rücken.

Auch der viele Schmauch, der die Kälte in Kappoks Augen ein wenig dämpfte, vermochte niemanden in Sicherheit zu wiegen. Imors Fürst der Unterwelt war berüchtigt für seine Stimmungsschwankungen. Wo er eben noch mit säuselnder Stimme parlierte, schlitzte er einem Mann nur einen Lidschlag später den Bauch auf. Das war allgemein bekannt.

Obwohl sich Binek um Haltung bemühte, zitterten ihm die Knie. Mit ungelenken Schritten trat er vor den Großmeister, der sein Leben ganz und gar fest in der Hand hielt. Im Hintergrund schwollen die erstickten Laute des Erbschleichers an, der sich, wahnsinnig vor Schmerz, im Griff seiner Peiniger immer wilder gebärdete. Den Folterknechten gelang es kaum noch, ihn mit dem Rücken auf dem Boden zu halten. Trotzdem roch es unerträglich nach verkohltem Fleisch.

Während Binek fürchtete, sein Magen könne sich jeden Moment umstülpen, füllten andere im Keller ihre Trinkbecher auf oder feixten ihm offen ins Gesicht. Offenbar versprach man sich von seiner bevorstehenden Marter weitaus mehr Unterhaltung als von den Schreien des angeblichen Erbschleichers.

Das gab ihm zu denken.

»Warum machst du mir das Leben so schwer?«, fragte Kappok in einem weinerlichen Tonfall, der noch weitaus ekelhafter war als der alles durchdringende Gestank, der das Gewölbe erfüllte. »Habe ich nach dem Tod deiner Mutter nicht alles dafür getan, dir den rechten Weg zu weisen? Und hast du nicht schon einmal einen Rat ausgeschlagen, der sich im Nachhinein als der richtige erwiesen hat?«

Um die Nacht heil zu überstehen, hätte Binek gut daran getan, zu nicken, doch er brachte es einfach nicht fertig. Stattdessen beobachtete er aus den Augenwinkeln heraus, wie einer der Folterknechte beschwörend auf den angeblichen Erbschleicher einredete. Im Stillen bat Binek inständig darum, der Gemarterte möge endlich ein Geständnis ablegen, und Magnon, der Allgewaltige, erhörte überraschenderweise sein Flehen.

Vom eigenen Erfolg berauscht, zog der Folterknecht den durchweichten Knebel aus dem Mund des Opfers, so dass es kreischen konnte: »Die Türschwelle meiner Bettkammer! Sie lässt sich anheben! Darunter findet ihr alles, was ihr haben wollt!«

Die letzten Worte gingen in einem Aufschluchzen unter, obwohl ihm der zweite Scherge bereits die aufgeplatzten Füße mit kaltem Wasser übergoss.

Binek war erleichtert über die Unterbrechung, aber der Rest der versammelten Menge zuckte vor Schreck zusammen. Nicht wegen des plötzlich einsetzenden Geschreis, sondern weil er Kappoks Launen fürchtete.

In dem Gesicht des Großmeisters zuckte es verdächtig, doch zur allgemeinen Erleichterung behielt er sich in der Gewalt. Statt aufzubrausen und zu poltern, wies er mehrere Mitglieder der Diebesgilde an, das erzwungene Geständnis zu überprüfen, bevor er den Folterknechten befahl, das Feld zu räumen.

Bebend vor Angst schleiften sie den Gequälten hinaus, bevor sein kraftloses Wimmern zu einem störenden Geheul anschwellen konnte.

»Sollte der Hurensohn gelogen haben«, gab ihnen Kappok mit auf den Weg, »häutet ihn lebend! Lasst keine Gnade walten, ganz gleich, was er noch gestehen oder versprechen mag. Heute bin ich nicht in Stimmung für zweite Gelegenheiten.«

Nach dieser Störung war Kappok jegliche Lust an einer langatmigen Ansprache vergangen. Daran vermochte selbst seine Favoritin nichts zu ändern. Grob schlug er ihre Hände beiseite, die über seinen nackten Oberkörper tasten wollten. Stattdessen holte er aus dem offenen Hemd ein schneeweißes Amulett hervor, das er an einem schlichten Lederband um den Hals trug.

Es handelte sich um eine kostbare Schnitzerei aus Elfenbein, die eine Reihe im Kreis schwimmender Raubfische zeigte, von denen einer den anderen mit weit aufgerissenem Maul verschlang. Niemand wusste, welcher Gottheit dieses Symbol huldigte, aber dem Schnitzer war das Kunststück gelungen, sein Werk so zu gestalten, dass es so aussah, als würde ein größerer Fisch den jeweils nächstkleineren von hinten verschlingen – ohne dass sich dabei die Stelle ausmachen ließ, an der der kleinste Räuber die Schwanzflosse des größten Exemplars zwickte.

Binek selbst hatte schon oft versucht, hinter das Geheimnis der Darstellung zu kommen, musste aber jedes Mal die schmerzenden Augen zusammenkneifen, ehe er den Übergang entdeckte. Deshalb ignorierte er das kostbare Amulett, so gut es ging, obwohl Kappok provozierend damit vor ihm herumspielte.

»Du verfügst über bemerkenswerte Fähigkeiten, doch du weigerst dich, sie für das Wohl unserer Gemeinschaft einzusetzen«, hob der Großmeister klagend an. »Warum nur? Warum zwingst du mich erneut, dir zu deinem eigenen Besten weh zu tun?«

Unter den Zuschauern erklang ein gemeinschaftliches Seufzen, ganz so, als könnten diese abgebrühten Hunde Kappoks Schmerz gut nachfühlen. Am liebsten hätte Binek verächtlich aufgelacht, zum Glück versagte ihm zuvor die Stimme.

Kappok erwartete ohnehin keine Antwort auf seine Fragen. »Mein großzügiges Angebot, der Diebesgilde beizutreten, hast du ebenfalls zuerst abgelehnt«, rührte er weiter die Vergangenheit auf. »Ich musste dich erst mit dem Zeichen des säumigen Schuldners belegen, bevor du meinem Rat gefolgt bist. Und war es am Ende nicht ein weiser Vorschlag, den ich dir unterbreitet habe? Bist du nicht einer unserer besten Fassadenkletterer geworden?«