Der Hauch des Sommers - Andrea Walberg - E-Book

Der Hauch des Sommers E-Book

Andrea Walberg

0,0

Beschreibung

Mel hätte ihr Leben gern fest im Griff, wenn ihr nur nicht immer wieder ihr bester Freund dazwischen funken würde. Seit Jahren verdreht er ihr nun schon den Kopf und erst nach einem einschneidenden Erlebnis schafft sie es, sich von ihm zu lösen. Sie flieht nach Amrum, um einen klaren Kopf zu bekommen und trifft dort gleich zwei Männer, die ihr Leben nachhaltig verändern. Wie wird sie sich entscheiden? Wo schlägt ihr Herz?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 406

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

1

Wieder einmal hatte er es geschafft. Wütend über sich selbst starrte Mel das Telefon vor ihr auf dem Tisch an. Warum konnten sie nicht ein einziges Mal vernünftig miteinander reden? Wie lange kannten sie sich schon? Acht, neun Jahre? Und fast genauso lange war sie bereits in ihn verliebt, was allerdings nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Zornig dachte sie an ihre kurze Konversation am Telefon.

„Hallo, Kleines“, hatte er fröhlich in den Hörer gedröhnt. „Ich hab gerade an dich gedacht.“

„Ach ja?“, hatte sie geargwöhnt.

„Du Zweifler. Gib mir eine Minute und du wirst mir vor lauter Dankbarkeit die Füße küssen.“

Sie hatte verächtlich geschnaubt. „Da kannst du lange warten.“

„Oh, wir sind heute wieder nicht in bester Stimmung, aber davon lasse ich mich erst gar nicht irritieren. Es geht um ein neues Projekt für dich.“ Ohne auf ihre Reaktion zu warten, fuhr Arno unbeirrt fort. „Ich weiß, du bist vor Freude sprachlos. Ich werde dir gleich die Baupläne vorbeibringen, dann kannst du noch heute mit der Arbeit beginnen. Ich brauche deinen ersten Entwurf nämlich schon am Montag.“

„Montag?“ Vor lauter Entsetzen hatte sie ins Telefon geschrien. „Das ist in vier Tagen. Bist du wahnsinnig? Das schaffe ich nie!“ Sie hielt den Hörer so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

„Hey, Kleines, dazwischen liegt doch noch das ganze Wochenende. Bitte lass mich nicht hängen. Du schaffst es.“ Und in beschwörendem Ton hatte er „Bitte Mel, ich brauch dich“, hinzugefügt. Er wusste, dass sie es nie schaffte, ihm zu widerstehen. Dafür verabscheute sie sich und noch viel mehr verabscheute sie ihn dafür, dass er so mit ihr spielte.

„Ich hasse dich“, hatte sie gefaucht und aufgelegt.

Resigniert über ihre eigene fehlende Durchsetzungskraft Arno gegenüber schüttelte sie den Kopf und riss sich vom Anblick des Telefons los. Sie hatte Arbeit zu erledigen und konnte es sich nicht leisten, ihre Zeit mit Tagträumen zu vergeuden, die eh zu nichts führten. Dabei schweifte ihr Blick durch das Büro, das sie vor drei Jahren bezogen hatte. Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen, als sie daran dachte, wieviel Energie sie in die Gestaltung dieses Raumes gesteckt und mit wieviel Eifer sie sich jedes kleine Detail der Einrichtung überlegt hatte. Als Innenarchitektin stellte dies schließlich ihre Visitenkarte dar. Wie sollte sie neue Kunden von ihrem Können überzeugen, wenn ihr eigenes Büro nicht ihren Stil ausdrückte? Sie hatte sich für helle Farben entschieden; cremefarbige Sessel, weiße Lamellen vor den Fenstern und einen dicken, weißen Velourteppich. Ihr ganzer Stolz war der rote Lackschreibtisch, der die volle Aufmerksamkeit auf sich zog. An den Wänden hingen zwei gerahmte, großformatige Meeresfotografien. Das Blau der Wellen reflektierte unterschiedlich im Licht und bildete einen beruhigenden Gegenpol zum Schreibtisch. Mel schlüpfte aus ihren hochhackigen Pumps und fühlte den weichen Teppich unter ihren Füßen. Mit geschlossenen Augen atmete sie tief ein und genoss die Ruhe ihres Büros. Dann griff sie zu den vor ihr ausgebreiteten Bauplänen. Eigentlich war die Zusammenarbeit mit Arno und Christopher eher zufällig entstanden. Als Christopher vor zwei Jahren entschieden hatte, sich größtenteils aus dem operativen Geschäft zurückzuziehen, um sich strategischen Fragen zur Weiterentwicklung seines Architekturbüros zu widmen, hatte Arno die Geschäftsführung übernommen. Nachdem er zunehmend Kunden betreute, die neben der Gestaltung des Gebäudes auch Entwürfe zur Inneneinrichtung sehen wollten, hatte er sie gefragt, ob sie sich eine Zusammenarbeit auf Projektbasis vorstellen konnte. Es war ihr wie ein Wink des Schicksals erschienen, dass ihr bester Studienfreund sich an sie wandte, als sie sich gerade selbstständig gemacht hatte. Seitdem hatten sie zahlreiche Projekte in Zusammenarbeit betreut. So wie heute. Seufzend fuhr sie mit der Hand über die vor ihr liegenden Stoffmuster und verdrängte Arno aus ihren Gedanken.

Ein ungeduldiges Klopfen riss sie aus der Arbeit. Mit gerunzelter Stirn blickte Mel zur Tür. Kerstin wusste doch genau, dass sie im Moment nicht gestört werden wollte. Noch während sie dies dachte, öffnete sich die Tür schwungvoll und Arno stürmte in einem dunklen enggeschnittenen Anzug herein. Unter dem Arm trug er eine große Papprolle, in der die Baupläne verstaut waren. Seine blonden kurzen Haare standen an der Stirn ein wenig ab und verliehen ihm etwas Spitzbübisches. Seine blauen Augen strahlten aus seinem gebräunten Gesicht und seine große, schlanke Figur ließ ihn athletisch erscheinen. Die gelbe Krawatte hatte sich durch sein stürmisches Eintreten verdreht, aber ihn schien das nicht zu stören.

„Hey, Kleines. Hier bin ich.“ Mit aufsteigendem Zorn beobachtete Mel, wie er mit ausholenden Schritten den Raum durchquerte und auf sie zukam. Aus den Augenwinkeln sah sie Kerstin flink die Tür ihres Büros zuziehen. Besser war das, schließlich mussten ja nicht alle ihre Mitarbeiter mitbekommen, was hier passierte. Finster blickte sie Arno an, der sich in einen der cremefarbigen Sessel vor ihrem Schreibtisch setzte, die Beine übereinander schlug und sie unbekümmert anstrahlte. Er schaute ihr prüfend ins Gesicht und krauste die Stirn, als er sie kritisch musterte. „Du siehst ein wenig blass aus. Ich glaube, du solltest mehr an die frische Luft gehen.“

„Das hatte ich am Wochenende auch vor“, antwortete Mel schnippisch. Zur Beruhigung tippte sie mit ihrem Fuß rhythmisch auf den weichen Teppich.

Für einen Sekundenbruchteil umwölkte sich Arnos Stirn. „Das tut mir Leid, aber weißt du was, ich fahre kommendes Wochenende zu Christopher und lade dich herzlich ein, mitzukommen. Die Bergluft wird dir bestimmt bekommen.“

„Ich bin nicht krank, sondern brauche einfach ein freies Wochenende, Arno. Außerdem bin ich keine Maschine, die du einfach bedienen kannst, wann du willst. Ich habe schließlich auch noch andere Projekte auf dem Tisch.“ Demonstrativ deutete sie auf die Berge von Stoffmustern vor ihr. „Du hättest mich wenigstens fragen können, ob mir der Abgabetermin passt. So wie sich das zwischen Geschäftspartnern gehört.“ Vor lauter Empörung sprang sie auf und ging zum Fenster. Sie wandte Arno ihren Rücken zu, denn er sollte nicht ihren verletzten Gesichtsausdruck sehen. Er war ebenso aufgesprungen und dicht hinter sie getreten. Beruhigend legte er seine Hände auf ihre Schultern. Sie spürte seinen Atem auf ihrem Haar, denn sie reichte ihm selbst mit Schuhen nur bis zum Kinn.

„Komm, mein kleiner Zwerg, sei nicht böse. Ich entschuldige mich bei dir und gelobe, mich zu bessern.“

„Nenn mich nicht Zwerg“, fauchte Mel. Seine Nähe irritierte sie. Die Wärme seiner Hände prickelte auf ihren Schultern. Arno schwieg einen Moment, dann flüsterte er ihr leise ins Ohr: „Ich stelle mir gerade vor, wie es wäre, wenn ich diese ordentliche Frisur mal so richtig durcheinander bringe und du wegen einer feurigen Umarmung außer Kontrolle gerätst.“

„Bitte was?“ Mel fuhr entsetzt herum. Ihre großen Augen starrten Arno entgeistert an. Doch der lachte ihr belustigt ins Gesicht.

„Wusste ich es doch, dass du eher wieder mit mir sprichst, als dich überrumpeln zu lassen.“ Mels Gefühle fuhren Achterbahn. Barsch schob sie Arno von sich.

„Ach, verschwinde einfach, Arno. Lass mich arbeiten.“ Dabei eilte sie wieder hinter ihren Schreibtisch. Dort war sie wenigstens vor ihm sicher. Für einen Augenblick schaute er überrascht hinter ihr her, dann nickte er nur kurz.

„Gut, dann lass ich dich arbeiten.“ Und bevor Mel etwas erwidern konnte, hatte er die Tür schon leise von außen ins Schloss gezogen.

Missmutig verließ Arno Mels Büro. Warum war jedes Gespräch mit ihr nur so schwierig? Anstatt sich darüber zu freuen, dass er ihr neue Projekte anbot, und ihm als Dank ein nettes Lächeln zu schenken, fuhr sie einfach ihre Krallen aus. Diese kleine Furie gehörte wirklich einmal übers Knie gelegt. Und wenn sie so weiter machte, dann würde er irgendwann seine Geduld mit ihr verlieren und es selbst tun. Er verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen. Wie man sich in Frauen täuschen konnte. Eine so kleine und zierliche Person, bei derem Anblick jedem Mann das Herz schneller schlug. Ihre braunen Augen schauten meist schelmisch und verrieten ihren Sinn für Humor. Und dann war da noch dieser sinnliche Mund. Er kannte keine andere Frau, die so einen sinnlichen Mund wie Mel besaß. Missbilligend schüttelte er den Kopf. Mel versuchte wirklich alles, um bloß nicht weiblich zu wirken. Ihr langes, volles, braunes Haar trug sie stets streng am Hinterkopf zu einer Banane eingedreht. Wann hatte er sie das letzte Mal mit offenen Haaren gesehen? Das musste schon Jahre her sein.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er sich beeilen musste, wollte er zum Mittagessen mit Christopher und Jessie pünktlich sein. Arno beneidete seinen besten Freund. Er hatte sich aus dem operativen Geschäft zurückgezogen und konzentrierte sich auf die Projekte, die er als anspruchsvoll und interessant einschätzte. Dazu hatte er seinen Wohnort in die Berge verlegt, und kam nur hin und wieder nach München. Dies war in letzter Zeit dank Jessie, seiner Verlobten, häufiger der Fall, da sie hier arbeitete. Eine wunderbare Frau, intelligent, humorvoll und unglaublich attraktiv. Für Arno stand außer Frage: sein bester Freund war ein absoluter Glückspilz.

Mit rasantem Tempo fuhr Arno durch die Innenstadt und beglückwünschte sich, als er einen freien Parkplatz fand. Schnell stieg er aus und eilte mit ausholenden Schritten ins Restaurant. Der helle rechteckige Raum, dessen eine Längsseite aus einer riesigen Glasfront bestand und an dessen gegenüberliegende tiefrot gestrichenen Wand dunkle Lederbänke mit ebenso dunklen Holztischen und vereinzelten Stühlen standen, wirkte sehr einladend. Die weißen Tischdecken bildeten einen hellen Kontrast zu den dunklen Möbeln und untermalten die schlichten weißen Halogenlampen mit ihren milchglasigen Lampenschirmen über den Tischen. Das Restaurant war bereits gut gefüllt; teils mit Geschäftsleuten in dunklen Anzügen, teils mit Leuten, die einfach nur ein gutes Essen in angenehmer Atmosphäre genießen wollten. Arnos Blick glitt über die Köpfe der Anwesenden. Wie erwartet sah er an einem der hinteren Tische bereits Christopher und Jessie sitzen. Als Jessie Arno erblickte, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Mit ausholendem Schritt durchquerte Arno das Restaurant und beugte sich für einen Begrüßungskuss zu ihr hinunter. Dabei konnte er ihr leichtes Parfüm riechen. Der passende Duft für eine tolle Frau.

„Hallo, Jessie. Wie schön dich endlich wiederzusehen.“

„Hallo, Arno. Es freut mich auch, dass wir es endlich schaffen, zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu sein. Die letzten Male habe ich dich ja leider immer verpasst.“ Ungeniert ließ sie ihren Blick über ihn gleiten. „Gut siehst du aus.“

Arno zog verschmitzt eine Augenbraue hoch. Dann wandte er sich Christopher zu und die beiden Männer umarmten sich herzlich.

„Hey, Chris, du musst auf deine Verlobte besser achtgeben. Sie macht anderen Männern ungeniert Komplimente.“

„Petze“, kam es in entrüstetem Ton von der anderen Tischseite. Christopher nickte betont ernst. „Du hast Recht, Arno. Ich sollte sie wirklich nicht so oft aus den Augen lassen. Aber nun setz dich. Was gibt es Neues?“

Arno nahm neben seinem Freund Platz und streckte genüsslich seine Beine aus. „Ich komme gerade von Mel.“ Unmut schwang in seinen Worten, worauf Christopher fragend eine Augenbraue hob.

„So, hattet ihr heute wieder eine von euren beliebten kleinen Meinungsverschiedenheiten?“

Genervt zuckte Arno mit den Achseln. „Professionelles Verhalten ist eben nicht jedermanns Stärke. Anstatt sich über einen neuen Auftrag zu freuen, muss man wegen einer kleinen, dummen Deadline streiten.“ Er atmete tief ein und lachte dann schadenfroh. „Zumindest, bin ich als Sieger vom Platz gegangen.“ „Daran zweifle ich nicht eine Sekunde“, antwortete Christopher lakonisch.

„Darf ich fragen, wer Mel ist?“ Jessie schaute neugierig von einem zum anderen.

„Unser Innenarchitekt, mit dem wir auf Projektbasis zusammenarbeiten. Ein echt harter Brocken und nicht selten unangenehmer Zeitgenosse.“ Als Christopher auf Arnos Beschreibung laut auflachte, bedachte Arno seinen Freund mit einem finsteren Blick.

„Arno und Mel streiten fast immer. Allerdings scheint das der Arbeit eher zuträglich zu sein“, erklärte Christopher an Jessie gewandt.

Sie hatte interessiert zugehört und nach ihrem Wasserglas gegriffen. Dieser Mel musste wirklich ein interessanter Typ sein, wenn er Arno kontinuierlich aus der Reserve lockte. „Ich würde Mel wirklich gerne kennenlernen“, murmelte sie leise, bevor sie einen Schluck Wasser trank.

Arno griff nach der Menükarte. „Habt ihr schon bestellt? Ich habe einen Bärenhunger.“

Jessie schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, wir haben auf dich gewartet. Und da ich ebenfalls fast verhungere und gleich schon wieder los muss, würde ich vorschlagen, wir verlieren keine weitere Zeit und bestellen direkt.“ Noch während sie zustimmungsheischend die beiden Männer anschaute, hatte sie bereits den Arm leicht gehoben und dem Kellner ein Zeichen gegeben. Der junge Mann schlenderte in gemächlichem Tempo auf die drei zu und zog seinen Block aus der Tasche.

„Darf ich die Bestellung aufnehmen?“ Hoffnungsvoll blickte er zu Jessie, die zustimmend nickte.

„Sehr gerne. Ich nehme den gemischten Salat mit den gegrillten Scampi.“ Entschieden klappte sie die Menükarte zu.

„Dem schließe ich mich an“, schob Christopher nach. “Und danach nehme ich den gegrillten Zander.“

„Hm“, Arno blätterte unschlüssig die Seiten der Karte vor und zurück. „Ich nehme das Gazpacho und den gegrillten Lachs.“

Nickend steckte der Kellner seinen Stift hinters Ohr und sammelte die drei Menükarten ein. „Ich serviere Ihnen dann zuerst die Salate und das Gazpacho und danach die gegrillten Fische, ja?“ erkundigte er sich sicherheitshalber. Als er zustimmendes Nicken erntete, drehte er sich um und verschwand. „Bist du derzeit in München, Jessie?“ Arno hatte sich entspannt in seinem Stuhl zurückgelehnt und einen Arm auf Christophers Stuhllehne ausgestreckt.

„Ja, zum Glück. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal einen Kunden in München betreut habe. Es ist zwar nur ein kleines Projekt, aber ich genieße es, jeden Abend nach Hause zu kommen. Zumal ich ja erst vor kurzem aus Toulouse zurückgekommen bin.“

„Zum Glück“, fiel Christopher ihr ins Wort und schaute Jessie liebevoll an. Sie schenkte ihm ein verführerisches Lächeln und Arno spürte gegen seinen Willen einen kleinen Stich.

„Ach, ihr Turteltauben“, murmelte er und trank einen Schluck Wein. Jessie wandte sich entschuldigend Arno zu. „Ich hoffe doch, dass es dich nicht abschreckt und du uns am kommenden Wochenende am See besuchen wirst. Das Wetter ist im Moment herrlich und wir hatten gedacht, dass wir grillen und vielleicht sogar ein bisschen pokern könnten.“

„Das klingt wirklich viel zu verlockend, als dass ich dieses Angebot ablehnen könnte. Außerdem könnten Chris und ich ein wenig an unserem neuen Projekt arbeiten.“ Fragend schaute er Christopher an.

„Ich wollte dir den gleichen Vorschlag machen, denn ich habe mir nochmal einige Gedanken gemacht, die ich mit dir gerne besprechen würde.“

„Gut“, Arno nickte zustimmend und schaute leicht angespannt in sein Weinglas. Dann gab er sich einen Ruck: „Würde es euch etwas ausmachen, wenn ich Mel mitbringe?“

Jessie und Christopher schauten ihn schweigend mit großen Augen an.

„Ich meine, das wäre doch eine gute Gelegenheit, mit Mel auf neutralem Boden alle wesentlichen Aspekte des neuen Projektes durchzukauen.“ Er fuhr sich müde mit der Hand durchs Haar. „Vielleicht können wir zu dritt alles sachlich diskutieren. Chris, auf dich hört Mel. Was meinst du, wäre das ok?“

„Klar kannst du Mel mitbringen. Allerdings bete ich jetzt schon inständig, dass ihr beide das Wochenende lebend übersteht.“

Ein verschmitztes Lächeln umzog Arnos Mund. „Mit deiner Hilfe bestimmt.“ Sein Blick wanderte zu Jessie, deren Gesicht strahlte.

„Worüber freust du dich denn so?“

„Ach, nur so. Ich fand eure Unterhaltung einfach nur amüsant“, erwiderte sie ausweichend. Eher würde sie sich auf die Zunge beißen als zuzugeben, wie neugierig sie war, Mel kennenzulernen. Welch ein glücklicher Zufall, dass Arno ihn mitbringen wollte. Sie blickte auf ihre Uhr. Mist, sie musste sich beeilen, um zu ihrem nächsten Termin pünktlich zu erscheinen. Schnell schob sie sich das letzte Salatblatt in den Mund.

„Es tut mir wirklich leid“, begann sie entschuldigend, „aber ich muss los. Sonst komme ich zu spät zu meinem Termin.“ Sie legte rasch die Serviette zusammen und griff nach der Tasche neben sich. Sie warf Christopher einen vielsagenden Blick zu. „Und außerdem habt ihr zwei ja noch so einiges zu besprechen.“ Dabei stand sie auf. Arno und Christopher hatten sich ebenfalls erhoben. Jessie umarmte Arno zum Abschied.

„Ich sehe dich und Mel dann also am Wochenende. Ich freue mich schon sehr darauf.“

„Ich mich auch, Jessie. Pass auf dich auf.“

„Mache ich.“ Sie drehte sich zu Christopher um, der sie küsste und dann etwas in ihr Ohr flüsterte, worauf sie spitzbübisch schmunzelte.

„Wehe dir“, drohte sie mit gespielter Entrüstung. „Ich sehe dich dann heute Abend bei mir, ja?“

„Freu mich schon“, antwortete Christopher leise, bevor er sich wieder neben Arno setzte.

„So, und nun raus mit der Sprache. Warum hast du mit Mel gestritten?“

Leicht genervt zuckte Arno mit den Schultern, ohne jedoch seinen Blick vom Weinglas abzuwenden. „Ich habe wirklich keine Ahnung, was sie heute schon wieder hatte. Ich habe sie angerufen und ihr von dem neuen Projekt erzählt. Gut, den ersten Entwurf brauche ich bereits am Montag, aber das ist doch erst in vier Tagen und es ist auch nicht das erste Mal, dass sie kurzfristig eine Deadline erhält. Außerdem ist nichts Schwieriges an dieser Architektur. Sie kann den Entwurf bei ihrer Kreativität doch schnell aus dem Ärmel schütteln.“ Missbilligend schüttelte er den Kopf und schaute Christopher leicht wütend an. „Am Ende des Tages ist sie selbstständig und sollte uns für all die Aufträge dankbar sein. Wenn sie lieber ihre freien Wochenenden haben möchte, dann hätte sie eben nie ihr eigenes Büro gründen dürfen.“ Fast trotzig trank er einen Schluck Wein.

„Mach dir keine Gedanken. Vielleicht braucht sie einfach mal eine kleine Schaffenspause. Das Wochenende am See wird ihr bestimmt gut tun.“

„Hoffentlich“, antwortete Arno lakonisch.

„Davon abgesehen wollte ich dir eine Neuigkeit mitteilen.“ Arnos Kopf fuhr herum und er schaute Christopher zuerst fragend an, doch dann begriff er und grinste breit. “Ihr habt endlich einen Termin für eure Hochzeit gefunden, stimmts?“

Christopher nickte zustimmend. „Du hast es erraten.“

„Mensch Chris, wann ist es denn soweit?“

„Wir hatten an Anfang September gedacht.“

Arno überlegte kurz. „Das ist ja schon in vier Monaten. Wow. Da wirst du in den kommenden Wochen ja gut beschäftigt sein.“

Christopher schüttelte belustigt den Kopf. „Ich glaube, ehrlich gesagt, dass sich mein Engagement auf einige wenige Bereiche beschränken wird. Jessie hat bereits so viele Ideen und sprudelt vor Energie geradezu über.“

Arno nickte langsam. „Tja, so sind die Frauen.“

2

Mel blickte erschöpft von ihren Unterlagen auf. Sie hatte bis spät in die Nacht daran gearbeitet und war seit den frühen Morgenstunden dabei, ihre Entwürfe in eine präsentable Form zu bringen. Langsam stand sie von ihrem Esszimmertisch auf und ging hinüber in die Küche, um sich einen starken Espresso zu genehmigen. Die große Wanduhr tickte beruhigend und bestätigte ihr, dass es bereits früher Nachmittag war. Warum lief die Zeit bei engen Abgabefristen immer nur so schnell? Resigniert schüttelte Mel den Kopf. Für dieses Phänomen würde sie heute sicherlich keine Erklärung finden, also musste sie sich einfach so schnell wie möglich beeilen, ihre Entwürfe fertig zu stellen. Während sie den Espressokocher mit Kaffee und Wasser füllte, klingelte es. Neugierig eilte sie in den Flur und griff nach ihrem Handy, das auf dem Seitentisch lag. In blinkenden Leuchtziffern erkannte sie Arnos Name im Display. Warum rief er sie an? Wahrscheinlich um sicherzustellen, dass sie wirklich arbeitete und sich nicht anderweitig vergnügte. Also ehrlich, ein bisschen mehr Vertrauen hatte sie wirklich verdient.

„Hallo, Arno“, meldete sie sich kurz.

„Hallo, Kleines. Wie geht es dir an diesem schönen Samstag?“

„Bist du betrunken?“ fragte Mel überrascht.

„Nein, wieso?“ Arnos Stimme klang leicht verwirrt.

„Weil es eine total bescheuerte Frage ist. Du hast mich zu Nachtschichten und einem Wochenende am Schreibtisch verdonnert und fragst, wie es mir an so einem wunderschönen Tag geht?“

„Ich wollte ja nur einen freundlichen Anfang unseres Gespräches, bevor du wieder über mich herfällst“, verteidigte sich Arno und fuhr in leicht beleidigtem Ton fort: „Aber klar, das hätte ich mir ja bei dir sparen können.“

„Wenn ich so ätzend bin, dann sag mir doch einfach, warum du mich anrufst und dir damit deinen Tag verdirbst“, fauchte Mel. Zur Beruhigung drückte sie ihren Handrücken gegen die Stirn.

„Weil ich die letzten zwei Stunden mit unserem Auftraggeber am Telefon verbracht habe und mir dachte, du solltest das Ergebnis lieber gleich erfahren.“

Mel spürte, wie sich ihr Magen leicht verkrampfte. Das waren keine guten Neuigkeiten.

„Und die wären?“ fragte sie vorsichtig.

„Es gab in letzter Minute eine Veränderung in der Investorenstruktur und somit im vereinbarten Projektbudget, was wiederum unsere Arbeit beeinflusst.“

„Das ist nicht dein Ernst. Ich habe mir also die Nacht umsonst um die Ohren geschlagen“, entfuhr es ihr ärgerlich.

„Mensch Mel, du tust so, als ob das meine Schuld wäre. Ich kann doch auch nichts dafür.“ Nun klang auch Arno ärgerlich und Mels schlechtes Gewissen regte sich. Er hatte ja Recht. Sie war einfach nur so unglaublich müde und erschöpft.

„Entschuldige, ich weiß, dass es nicht deine Schuld ist. Kannst du mir sagen, was das genau bedeutet?“ meinte sie entschuldigend.

„Deswegen rufe ich ja an. Können wir uns treffen?“

„Ja, magst du vorbeikommen?“ Noch während sie es vorgeschlagen hatte, verdrehte sie die Augen. Wie dämlich von ihr. Sie selbst sah total fertig aus und ihre ganze Wohnung bedurfte einer dringenden Aufräumaktion, zu der sie in der letzten Woche leider nicht mehr gekommen war. Wie sollte sie das alles schaffen bis Arno klingelte? Als ob er ihre Gedanken erraten hatte, antwortete er spottend:

„Lieber nicht. Ich habe heute nicht den Mut, in die Höhle des Löwen zu gehen.“

Obwohl Mel leicht verstimmt war, musste sie lachen. „Das ist eine gute Entscheidung. Wo magst du dich denn treffen?“

„Ich schlage einen neutralen Ort vor.“ Mel konnte Arnos Grinsen förmlich vor sich sehen und spürte einen leichten Stich in ihrer Herzgegend. „Was hältst du vom Café Brasselio gegenüber von unserem Büro?“ unterbrach Arno ihre Gedanken.

„Ja, das ist ok. Ich kann in einer Stunde dort sein, passt dir das?

Soll ich etwas mitbringen?“

„In einer Stunde ist prima. Könntest du bitte deine Friedenspfeife mitbringen?“ Arnos Stimme klang plötzlich erschöpft. „Für heute ist meine Kapazität an ungemütlichen Diskussionen wirklich aufgebraucht.“

Mel nickte zustimmend. Wie gerne hätte sie jetzt einfach Arnos Kopf zwischen ihre Hände genommen und ihm einen tröstenden Kuss gegeben. Stattdessen antwortete sie: „Einverstanden. Ich werde sie mitbringen.“ Sie hörte, wie er erleichtert ausatmete.

„Ach, Arno“, entfuhr es Mel.

„Ja?“

„Es tut mir leid, dass ich so grantig zu dir war. Ich bin einfach nur sehr müde.“

„Kein Problem, ich verstehe dich doch“, antworte er sanft.

Gegen ihren Willen stiegen Mel Tränen in die Augen.

„Dann bis gleich.“ Schnell legte sie auf, damit er ihre belegte Stimme nicht hörte. Mit dem Telefon in der Hand starrte sie regungslos vor sich hin. In ihrem Bauch kribbelte es freudig, obwohl sie eigentlich keine guten Nachrichten erhalten hatte. Aber wieso eigentlich nicht? Sie würde gleich Arno auf einen Kaffee treffen. Die Arbeit würde ihnen einen neutralen Boden fürs Gespräch liefern, und vielleicht schafften sie es ja heute Nachmittag friedlich miteinander umzugehen. Sehnsüchtig dachte sie an die Zeit vor einigen Jahren, als sie beide unzertrennlich gewesen waren und die Zeit zu zweit so genossen hatten. Stundenlang hatten sie miteinander reden können. Sie kannten einander so gut, konnten genau die Reaktion des anderen einschätzen, und dennoch war ihre Beziehung kompliziert geworden. Sie selbst hatte sie kompliziert gemacht, denn sie hatte sich in Arno verliebt. Das war nicht Teil des Pakets gewesen. Es war schließlich nicht seine Schuld, dass er sie nicht liebte, also lag es an ihr, sich entsprechend zu verhalten und die eigenen Gefühle außen vor zu lassen. Das war leider sehr viel einfacher gesagt als getan. Mel atmete tief ein und ging langsam in Richtung ihres Schlafzimmers.

Arno sah Mel schon, bevor sie das Café betrat. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bei jedem ihrer Schritte fröhlich wippte. Dazu trug sie eine enge Jeans und ein T-Shirt mit buntem Aufdruck auf der Vorderseite. Es fiel in Wellen bis zur Hüfte und war durch den länglichen Halsausschnitt über eine Schulter gerutscht, was ziemlich sexy aussah. An ihrem Arm baumelten drei dicke orangefarbene Armreifen. Mit ihrer quer hängenden Aktentasche wirkte sie wie eine Studentin. Gerade überquerte sie auf ihren mörderisch hohen Absätzen die Straße. Arnos Mund umspielte ein amüsiertes Lächeln. Auch wenn sie auf diesen Stelzen ging, sie blieb halt doch sein Zwerg, der ihm kaum bis zur Schulter reichte. Fasziniert beobachtete er, wie sie die Cafétür öffnete und sich lässig ihre Sonnenbrille ins Haar schob. Zwei Strähnen hatten sich an der Seite aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und verliehen ihrem Gesicht etwas Mädchenhaftes. Wie anders Mel heute wirkte.

Ihr Blick glitt über die besetzten Tische. Als sie Arno im hinteren Teil des Cafés entdeckte, lächelte sie ihm zu und bahnte sich ihren Weg durch die engen Tischreihen. Er hatte sich erhoben und begrüßte sie mit einem leichten Kuss auf die Wange.

„Hallo, Mel.“ Ihr blumiges Parfüm stieg ihm in die Nase.

„Hallo, Arno. Ich hoffe, du hast nicht allzu lange gewartet.“ Sie legte ihren Kopf leicht schief und schaute ihn neugierig an. Sein Mund verzog sich zu einem leichten Lächeln. „Keine Sorge, ich bin auch erst gerade gekommen.“

„Gut, dann bin ich ja erleichtert.“ Mit einem schnellen Griff streifte sie sich die Tasche von der Schulter und rutschte auf die freie gegenüberstehende Bank. Dann hob sie die Hand, damit der Ober ihre Bestellung aufnehmen konnte.

„Gut siehst du aus“, Arno schaute Mel bewundernd an. Bei diesen Worten tat ihr Magen einen kleinen Hüpfer.

„Danke“, meinte sie schlicht. Er hatte sie also doch angeschaut. „Und was hast du bisher am Wochenende so gemacht?“

Er fuhr sich nachdenklich mit der Hand durchs Haar, das wie immer vorne leicht abstand. „Ehrlich gesagt, habe ich ausgiebig geschlafen und dann über einem neuen Auftrag gebrütet, bis mich unser gemeinsamer Auftraggeber in Beschlag genommen hat. Und nun bin ich hier.“

Mel zog eine Augenbraue hoch: „Das hört sich auch nicht sehr viel aufregender an als bei mir.“

„Siehst du.“ Arno nahm seine frische Cappuccinotasse und trank einen Schluck. „Wir zwei sitzen wie immer im selben Boot.“

Mel warf ihm einen zweifelnden Blick zu. Nichts würde sie sich lieber vorstellen als das, aber dass sie beide definitiv nicht in einem Boot und vor allem nicht in die gleiche Richtung ruderten, wusste sie schmerzlicher Weise sehr genau. Schweigend beobachtete sie, wie er neben sich zu den in einer Papprolle mitgebrachten Plänen griff. Enttäuscht stellte sie fest, dass er kaum ein privates Wort mit ihr gewechselt hatte. War es nun schon so weit mit ihnen gekommen, dass sie sich außer Geschäftlichem nichts mehr zu sagen hatten? Ein leiser Seufzer entrann ihrer Kehle. Wahrscheinlich war das die bittere Wahrheit. Sie beobachtete, wie er mit seinen langen feingliedrigen Händen die Pläne vor ihr auf dem Tisch ausbreitete. Unwillkürlich rückte sie ihre Espressotasse zur Seite und dachte wieder einmal, dass dies wahre Pianistenhände waren, auch wenn Arno kein Klavier spielen konnte. Dann riss sie sich von ihren Gedanken los, griff in ihre Aktentasche und holte einen Skizzenblock heraus, bevor sie sich auf seine Ausführungen konzentrierte.

Während Arno die Rolle ausbreitete, seufzte Mel leise. Es tat ihm leid, dass er sie das Wochenende umsonst hatte arbeiten lassen. Sie sah so müde und zerbrechlich aus. Am liebsten hätte er sie sich einfach über die Schulter geworfen und ins Bett gesteckt, damit sie sich mal so richtig ausschlief. Aber stattdessen musste er ihr nun weitere Arbeit aufbürden. Kein Wunder, dass sie nicht glücklich war. Am besten, er machte es so kurz wie möglich, damit sie wieder nach Hause konnte und eventuell noch ein oder zwei ruhige Stunden für sich hatte. Also erklärte er ihr, dass einer der vier Investoren abgesprungen war und sich dadurch das Budget verringerte. Davon abgesehen hatte nun einer der verbleibendenden Investoren das Sagen und er wollte ein weiträumiges, modernes Großraumbüro auf der einen Seite und eine Büroraumflucht auf der anderen. Unterteilt durch luftige einzelne Trennwände, die als kleine Oasen gestaltet werden sollten. Dazu ein offenes, luftiges und modernes Design. Arno zeigte Mel, welche Wände versetzt würden, welche stehen blieben und an welchen Orten die sogenannten Oasen entstehen sollten. Sie folgte seinen Ausführungen aufmerksam und schrieb eifrig in ihr Skizzenbuch. Dann warf sie kurze, unverständliche Bildchen aufs Papier, sagte jedoch kein Wort. Als er geendet hatte, nickte sie: „Verstehe. Das verändert zwar vollkommen mein bisheriges Design, ist aber nicht unmöglich.“ Sie kniff die Augen leicht zusammen. „Und wenn ich es mir recht überlege, macht es wahrscheinlich sogar mehr Sinn. Nur werde ich es unmöglich bis Montag schaffen. Was meinst du?“

Arno zuckte mit den Schultern. „Du hast wahrscheinlich Recht. Glücklicherweise konnte ich eine neue Deadline für dich herausschlagen. Du hast nun Zeit bis Donnerstag.“

Mel stützte ihr Kinn auf ihre Handfläche und schaute Arno an. „Das sind mal gute Neuigkeiten. Mach dir nichts aus der vertanen Zeit. Schließlich ist es nicht zu ändern. Der Kunde ist König.“ Sie lächelte matt.

„Woher kommt denn diese plötzliche Einsicht? Vorhin am Telefon hattest du die aber noch nicht.“

Mels Gesichtsausdruck wurde verschlossen. „Ich dachte, du wolltest heute keine weiteren Diskussionen. Hast du deine Meinung gerade geändert?“

„Nein, habe ich nicht, du kleiner Streitzwerg.“

„Nenn mich nicht Zwerg“, zischte Mel.

Arno ergriff ihre freie Hand, die auf dem Tisch lag.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht ärgern. Ich schlage vor, wir zahlen jetzt, und dann kannst du in Ruhe noch den restlichen Tag verbringen.“ Ohne Mels enttäuschtes Gesicht zu sehen, hatte er bereits die Rechnung bestellt.

Keine zehn Minuten später standen sie draußen vor dem Café. Arno schaute auf Mel hinunter, die beide Hände in ihre Jeanstaschen vergraben hatte.

„Und, hast du über meine Einladung in die Berge nachgedacht? Ich würde mich echt freuen, wenn du mitkommst.“ Er legte den Kopf leicht schief und blickte sie aufmunternd an. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen und Mel spürte, wie ihr Widerstand gegen ein Wochenende in den Bergen unter diesem Blick schmolz.

„Ja, habe ich.“ Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr und versuchte gelassen zu wirken, dabei war sie plötzlich nervös. „Ich nehme deine Einladung an. Ein bisschen Abwechslung wird mir nach all der Arbeit bestimmt gut tun.“

Sein Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen. „Eine sehr gute Entscheidung.“ Er nickte zufrieden. „Dann wünsche ich dir jetzt einen schönen Abend.“

„Danke, den wünsche ich dir auch.“ Bevor sie es realisierte, beugte Arno sich zu ihr hinunter und küsste sie auf den Mund. Völlig überrascht starrte sie ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Arnos Augen funkelten fröhlich und er unterdrückte ein Grinsen. „Daran könnte ich mich gewöhnen. Mach es gut, Kleines.“ Ohne ihre Reaktion abzuwarten, drehte er sich um und hob hinter seinem Kopf einfach eine Hand winkend in die Höhe. Beschwingt schlenderte er zur Straßenecke. Dort drehte er sich aus Neugier um. Mel stand noch immer wie angewurzelt an der Stelle, wo er sie geküsst hatte und blickte ihm regungslos nach. Vielleicht sollte er das öfter tun, wenn sie danach so brav war? Fröhlich warf er ihr eine Kusshand zu und verschwand hinter der Häuserfront.

Sie war wie vom Donner gerührt. Arnos Kuss war zwar nur flüchtig, aber so vollkommen unerwartet gewesen. Sie wusste nicht, ob sie glücklich oder traurig sein sollte. Wie lange hatte sie darauf gehofft, dass er sie küssen würde, aber natürlich nicht so. Er hatte sie vollkommen überrascht. Sie spürte immer noch seine Lippen auf den ihren. Sein warmer, fester und zugleich zärtlicher Kuss war so kurz und doch zugleich so viel mehr gewesen als sie sich in den letzten Jahren erträumt hatte. Gab es vielleicht doch noch Hoffnung? Vielleicht hatte er es endlich erkannt. Als Arno aus ihrem Blickfeld verschwand, fühlte Mel sich plötzlich beschwingt. Und am kommenden Wochenende fuhr sie mit Arno in die Berge. Ein ganzes Wochenende würde sie mit ihm zusammen sein. Wenn das kein Zeichen war. Danach wusste sie bestimmt, woran sie war.

3

Endlich war Donnerstag. Die letzten Tage hatten sich unendlich hingezogen und Mel hatte das Gefühl, dass die Zeit gar nicht vergehen wollte. Glücklich stand sie vor ihrem Badezimmerspiegel und gab Mascara auf ihre Wimpern. Gleich sah sie Arno das erste Mal nach dem letzten Wochenende wieder. Ob er vielleicht auch an den Kuss gedacht hatte? Sie rief ihn sich wieder und wieder ins Gedächtnis und lächelte verträumt bei dem Gedanken. Und heute fuhren sie am Abend zusammen in die Berge. Mel atmete tief ein, dann schüttelte zweifelnd den Kopf. Besser sie gab sich keinen Träumereien hin. Er war bestimmt nicht an romantischen Stunden mit ihr interessiert, zumal sie ja auch Christopher und Jessie besuchen würden. Außerdem wusste sie ja noch nicht einmal, ob es am Ende nicht sogar Christopher gewesen war, der sie in die Berge einlud. Ach es war egal, sie musste sich jetzt eh erstmal auf ihren Termin konzentrieren.

Es war kurz vor zehn als Mel mit ihrer großen schwarzen Ledertasche, in der sie die Büroskizzen transportierte, Arnos Konferenzraum betrat. Seine Sekretärin testete gerade den Beamer, während eine andere Kollegin den kleinen Beistelltisch an der Längsseite des Raumes mit einer Kaffeekanne und einer Saftflasche bestückte. Mel nickte beiden freundlich zu.

„Guten Morgen. Sie sind schon wieder so eifrig. Sind unsere Gäste schon da?“

Ines, Arnos Sekretärin, schüttelte augenzwinkernd ihren kurzen Rotschopf. „Glücklicherweise noch nicht. Aber das wird sich sicherlich in den nächsten zehn Minuten ändern.“

„Und ist Ihr Chef schon da?“ Mel ignorierte das freudige Kribbeln in der Magengegend.

„Oh ja, er war heute schon sehr früh im Büro und ist noch nebenan. Wollen Sie ihn kurz sprechen?“

„Nein, nein, das ist nicht nötig. Ich warte einfach hier und genehmige mir eine Tasse von Ihrem köstlichen Kaffee, wenn das in Ordnung ist.“

„Bitte, bedienen Sie sich.“ Ines lächelte Mel noch einmal kurz zu und verließ in ihrem engen grasgrünen Kostüm und auf gefährlich hohen Absätzen den Konferenzraum.

Indessen stellte Mel ihre Tasche auf den Stuhl und nahm ihre großformatigen Skizzen vorsichtig heraus. Dann drehte sie sich um und stellte sie vorsichtig mit der Rückseite zum Konferenztisch auf den vorgesehenen Präsentationsständer. Sie freute sich darauf, ihre Ideen dem Kunden zu erklären und war stolz auf ihre Arbeit. Die letzten Tage waren zwar unendlich langsam vergangen, doch sie war sehr produktiv gewesen. Ihr letztes Treffen mit Arno hatte sie ungeahnter Weise beflügelt. Besonders die kleinen Bürooasen gefielen ihr. Sie verliehen selbst dem riesigen Großraumbüro eine wohltuende Atmosphäre. Dort würden sich die Mitarbeiter bestimmt wohl fühlen.

„Ah, du bist schon da. Sehr gut.“ Arno betrat den Raum und kam mit lässigen Schritten auf Mel zu. Sie atmete tief ein und versuchte so unbeschwert wie möglich zu lächeln. Das war allerdings gar nicht so einfach, denn Arno sah einfach zum Anbeißen aus. Er hatte sich für einen cremefarbenen Anzug mit weißem Hemd, eine mit hellblauen und cremefarbigen Streifen durchwobene Krawatte und braune Lederschuhe entschieden. Seine blauen Augen blitzten vergnügt. Mel kam sich in ihrem dunkelblauen Kostüm und ihrem cremefarbenen Top langweilig vor. Den einzigen Farbtupfer bildete ihr locker um den Hals geschlungenes Chiffontuch, dessen rote Klatschmohnblumen sich farbenfroh von dem dunklen Kostümstoff abhoben. Ihr Herz pochte laut, als er sich zu ihr hinunter beugte, um ihr einen flüchtigen Begrüßungskuss auf die Wange zu hauchen.

„Guten Morgen. Alles klar?“ Mels blumiges Parfum umhüllte ihn. Plötzlich musste er an eine blühende Blumenwiese denken und grinste.

„Guten Morgen. Mir gehts gut, danke. Und dir?“ Mel schaute Arno neugierig an.

„Soweit ist alles in Ordnung. Hoffen wir mal, das wir heute ein erstes Zeichen setzen können.“

Enttäuscht nickte Mel. Arno wirkte wie immer. Wahrscheinlich hatte er den Kuss schon längst vergessen.

Zwei Stunden später schüttelte Mel glücklich eine Hand nach der anderen. Ihr Vorschlag mit den großwandigen Fotos und den vier Bürooasen sowie den mannshohen Palmen und der Saft- und Kaffeebar war ein voller Erfolg gewesen. Nach der Beendigung ihrer Erläuterungen hatte sie in eine Reihe zufrieden nickender Gesichter geblickt, der Lohn für ihre harte Arbeit. Nun hatte sie sich ein freies Wochenende wirklich verdient. Schweigend trat sie an den Präsentationsständer und griff nach ihren Skizzen, um sie wieder in die Tasche zu stecken. Arno, der die Kunden bis zum Fahrstuhl begleitete, kam zurück in den Konferenzraum. Lächelnd lehnte er im Türrahmen und beobachtete mit verschränkten Armen, wie Mel die Skizzen, die fast halb so groß waren wie sie selbst, geschickt in die Ledertasche verstaute. Sie hatte ausgezeichnete Arbeit geleistet und ihre Kreativität genau so eingebracht wie sie dem Kunden von bestem Nutzen war. Arno nickte unbewusst. Mel war ein echter Profi.

Als ob sie seinen Blick gespürt hatte, drehte sie sich um und blickte Arno erstaunt an. Langsam verzog sich ihr Mund zu einem siegessicheren Lächeln.

„Und, bist du zufrieden?“ Sie schaute ihn arglos an, aber Arno war sich sicher, dass sie bereits seine Antwort kannte.

„Ich gratuliere. Du hast wirklich ihren Geschmack getroffen. Sie waren alle ganz aus dem Häuschen.“

Eigentlich hatte sie Arnos Meinung wissen wollen, die Reaktion der Kunden hatte sie schließlich selbst gesehen. Konnte er noch nicht einmal jetzt zugeben, dass sie richtig gut war? Sie nickte kurz und widmete sich wieder ihren Skizzen, damit Arno nicht sah, wie verletzt sie war.

„Und deswegen kannst du ganz unbesorgt am Wochenende ausspannen. Übrigens brechen wir bereits am frühen Nachmittag auf, denn ich habe keine Lust in den Wochenendstau zu geraten. Ich hole dich gegen drei Uhr ab.“

Hatte sie sich verhört? Mel wirbelte herum. „Drei Uhr? Arno, das ist bereits in drei Stunden. Ich habe noch nichts gepackt und muss auch noch ins Büro.“

„Na, dann leg mal einen Zahn zu. Außerdem brauchst du doch nicht viel. Wir fahren ja nur für zwei Tage weg.“

Wütend biss sich Mel auf die Unterlippe. Er spielte sich auf, als ob sie ein dummes kleines Mädchen wäre, das seine Zeit schlecht einteilte. Entschieden griff sie nach ihrer Tasche sowie dem Zeichenblock.

„Ich werde versuchen mich zu beeilen, aber versprechen kann ich nichts. Bis dann.“ Und schon war sie an Arno vorbei zum Lift gerauscht.

Mit hochgezogenen Brauen schaute Arno ihr hinterher. Mel war wirklich ein Pulverfass. In der einen Minute war sie zahm und in der anderen schlug sie mit Knüppeln um sich. Zu ihrem eigenen Wohl sollte sie sich mal einen Mann angeln, dachte er erbost und wunderte sich, warum ihm dieser Gedanke dennoch missfiel. Er blickte kurz auf seine Armbanduhr. Er sollte sich besser auch beeilen.

4

Arno drosselte die Geschwindigkeit und fuhr vorsichtig um die Bergkurve, um sich zu vergewissern, dass ihm weder ein Auto, noch ein Fußgänger entgegen kamen. Mel blickte voller Erstaunen aus dem Seitenfenster. Vor ihr lag ein grüner Berghang, auf dem die unterschiedlichsten Wildblumen blühten. Dahinter schloss sich ein fast runder Bergsee an, der von mächtigen Bergmassiven eingesäumt war. Sein tiefblaues Wasser lag ruhig in der Abendsonne, deren gelb orangenes Licht sich über die Berghänge und halb über die Wasseroberfläche ergoss.

„Ist das wunderschön“, murmelte Mel ehrfürchtig.

„Ja, genau das denke ich auch jedes Mal, wenn ich hierher komme.“ Vorsichtig lenkte Arno den Wagen den steinigen Weg entlang, der langsam nach rechts führte. Dort bog er in einen kleinen Seitenweg ein und Mel erblickte ein großes Haus, das mit dunklem Holz verkleidet war. Seine Fensterläden waren in tiefem Grün gestrichen, aber vor der Haustür und auf den Fenstersimsen blühten weiße und gelbe Geranien, die den dunklen Farben Leichtigkeit verliehen. Vor dem Haus parkten bereits ein dunkler Geländewagen sowie ein dunkler Sportwagen. Geübt fuhr Arno auf die breite Wiese vor dem Haus und hielt mit leichtem Reifenknirschen neben dem Sportwagen.

„So, wir sind da.“ Ohne auf Mels Reaktion zu warten, öffnete er bereits seine Autotür.

„Auf gehts Sportsfreund, oder willst du im Auto bleiben?“, fragte er sie über die Schulter gewandt.

„Quatsch“, entgegnete Mel und öffnete ebenso ihre Autotür. Frische Bergluft wehte ihr entgegen und sie reckte genießerisch die Glieder. Dann schloss sie für einen Moment die Augen und atmete tief ein. Warum hatte die Bergluft nur einen so eigenen Duft, überlegte sie.

„Nun komm schon, wer so viel Gepäck für zwei Tage mitschleppt, der muss auch mit anpacken helfen.“

„Lass mich doch wenigstens einen Augenblick die Bergluft genießen“, entgegnete Mel gereizt. „Außerdem überfalle ich sie jetzt nicht gleich mit meinem ganzen Gepäck. Gib mir einfach nur die Blumen, den Rest hole ich später.“

„Das kann ich mir ja schon denken, wie das enden wird“, brummelte Arno. Mel ignorierte ihn und griff nach dem Seidenpapier, in das der Strauß Sommerblumen eingewickelt war. Ein prüfender Blick verriet ihr, dass sie die Reise von München hierher gut überstanden hatten. Schnell entfernte sie das Papier und warf es achtlos in den Kofferraum. Dabei verfehlte sie nur knapp Arnos Gesicht. Gegen ihren Willen musste sie lachen und erntete einen drohenden Blick.

„Wenn du dich jetzt auch noch über mich lustig machen willst, dann schleppst du gleich dein Gepäck selbst.“

„Keine Sorge, das mache ich sowieso. Ich brauche deine Hilfe nicht, vor allem nicht, wenn du sie mir eh nur widerwillig anbietest.“ Damit drehte Mel sich um und wartete neben der Beifahrertür bis Arno den Kofferraum schloss und mit seiner Reisetasche zur Haustür ging. Sie folgte ihm schweigend und blieb leicht hinter ihm stehen. Während er klingelte, schlug Mels Herz heftig. Hoffentlich war es Christopher wirklich recht, dass sie mitkam. Und wie wohl Jessie war? Sie hatte zwar so viel über sie gehört, aber ein persönliches Kennenlernen war doch immer etwas anderes.

Im selben Moment wurde die Haustür schwungvoll aufgerissen und Chris stand grinsend in Jeans und einem locker darüber getragenen langärmeligen Sweatshirt mit Sportapplikationen vor ihnen.

„Wie schön, dass ihr da seid.“ Christopher ging auf Mel zu und gab ihr einen leichten Begrüßungskuss auf die Wange. „Herzlich willkommen.“

Eilige Schritte näherten sich, dann lachte eine Frauenstimme.

„Dem schließe ich mich gerne an.“ Mel blickte auf und sah eine junge Frau mit schulterlangem dunklem Haar hinter Christopher stehen. Ihre blauen Augen strahlten voller Wärme. Als sie Mel erblickte, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck in pures Erstaunen.

Christopher drehte sich zu ihr um. „Jessie, darf ich dir Mel vorstellen?“ Und zu Mel gewandt meinte er: „Mel, darf ich dir Jessie vorstellen?“

„Sie sind Mel?“ fragte Jessie immer noch überrascht. Vor ihr stand eine zierliche Frau, die einen Kopf kleiner war als sie selbst. Ihr langes braunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug ein enges gelbes Sommerkleid und hatte sich einen dünnen Seidenschal mit großen orangen und gelben Blumen locker um den Hals geschlungen. An ihren Füßen trug sie hohe Stillettos mit orangen Riemen und einem dicken Bastabsatz. Was für eine elegante und attraktive Frau. Und sie hatte sich einen bärbeißigen verknöcherten Mann Mitte Vierzig mit milchigem Gesicht und Bauchansatz vorgestellt. Wie peinlich. „Entschuldigen Sie bitte, ich hatte Sie mir anders vorgestellt, daher war ich etwas verblüfft.“ Jessie lächelte herzlich. „Ich freue mich wirklich riesig, Sie endlich kennenzulernen und hoffe, dass Sie sich bei uns wohlfühlen werden.“

Mel atmete auf. Jessies direkte Entschuldigung vertrieb ihre Zweifel. Erleichtert schüttelte sie Jessies Hand. „Mein richtiger Name ist Melanie“, meinte sie entschuldigend. „Vielen Dank für die Einladung. Es ist wirklich ein wunderschöner Ort.“ Ein dunkles humorvolles Lachen entrann sich Mels Kehle. „Ich kann mir übrigens denken, wen Sie an meiner Stelle erwartet haben. Entweder eine bösartige Frau in grauem Tweed Kostüm mit Nickelbrille und Dutt oder eine Art Monster. Habe ich Recht?“ Jessie lachte ebenfalls. „Vielleicht nicht ganz so schlimm, aber ich bin jedenfalls sehr froh, dass Sie sind wie Sie sind. Kommen Sie doch bitte herein.“ Dabei öffnete sie weit die Haustür und ließ Mel ins Hausinnere treten. Dann wandte sie sich Arno zu.

„Hi Jessie, meine Süße“, begrüßte er sie herzlich und breitete die Arme aus.

Jessie schüttelte lachend mit dem Kopf und begrüßte Arno, der ihr einen Begrüßungskuss auf die Wange drückte. Während Jessie sich aus seiner Umarmung löste, fiel ihr Blick auf Mels Gesicht, in dem für einen Sekundenbruchteil tiefe Traurigkeit zu lesen war, doch dann wandte sich Mel schnell ab.

„Mein Kompliment, Christopher. Die Inneneinrichtung ist fantastisch.“ Sie drehte sich begeistert zu Christopher um. „Das hätte ich nicht besser machen können.“

„Danke. Ich habe in diese Räume auch ziemlich viel Zeit investiert.“ Er grinste zufrieden.

„Wenn du keine Lust mehr hast, dich mit diesem da herumzuschlagen“, Mel nickte vage in Arnos Richtung, „dann sag mir bitte Bescheid, damit wir Partner werden.“

„Ich wusste doch, dass du heute noch nicht genug Gift versprüht hast, du kleiner Giftzwerg“, mischte sich Arno ein, „aber Chris überlasse ich dir nicht.“

Mel warf ihm einen bösen Blick als Antwort zu.

„Ich denke nach der langen Fahrt von München habt ihr vielleicht Lust, euch kurz frisch zu machen und danach einen Kaffee zu trinken?“ Jessie schaute fragend von Arno zu Mel.

Arno strahlte Jessie an. „Das ist echt eine geniale Idee.“ Dabei griff er in die Hosentasche und zog seine Autoschlüssel heraus. „Hier Sportsfreund, fang.“ Ohne abzuwarten, warf er Mel seine Autoschlüssel zu, die sie geistesgegenwärtig fing. „Deine Sachen sind noch im Auto, da du sie ja alleine tragen wolltest.“

Mel nickte stumm und zwang sich zu einem harmlosen Lächeln, doch ihre Augen schossen wütende Pfeile in Arnos Richtung. Jessie war sprachlos. Plötzlich verspürte sie Mitleid mit Mel. Was war nur mit Arno los? So kannte sie ihn gar nicht. Schnell wandte sie sich an Christopher: „Schatz, könntest du bitte Mels Sachen aus dem Auto holen und ins Gästezimmer bringen? Ich würde ihr gerne kurz den See zeigen. Gleich geht die Sonne unter und dann ist alles dunkel.“

Christopher streckte sofort die Hand nach dem Autoschlüssel aus. „Jessie hat Recht, du musst den See in diesem Licht sehen, er ist einfach wunderschön. Ich hole dein Gepäck.“

„Bist du sicher?“ Mel zögerte.

„Ja, klar.“

Vorsichtig legte sie den Schlüssel in seine Hand und folgte Jessie zur Haustür hinaus, ohne Arno eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie war stinksauer auf ihn. Er benahm sich wie ein ungezogenes Schulkind. Sie jedenfalls würde sich die kommenden zwei Tage nicht von ihm provozieren lassen, entschied Mel, koste es, was es wolle. Langsam folgte sie Jessie um das Haus herum. Vor ihnen erstreckte sich eine weitläufige grüne Rasenfläche, die auf der einen Seite vom Haus sowie einem kleinen Schuppen, und auf der anderen durch den See begrenzt wurde. Zu Mels Linken stand ein Gartentisch mit sechs Gartenstühlen auf dem Rasen und etwas abseits in Richtung See sah sie zwei Gartenliegen.

„Ich möchte Ihnen gerne den Bootssteg zeigen, von dort hat man den schönsten Blick über den See.“ Während Jessie langsam vor Mel herging, fuhr sie fort: „Keine fünfhundert Meter von hier befindet sich das Ferienhaus meiner Eltern. Zusammen mit meinen Geschwistern habe ich jede Ferien hier verbracht. Ich liebe diesen See. Ebenso wie Christopher, dessen Eltern dieses Haus gehörte bis er sich hier niedergelassen, es gekauft und umgebaut hat.“

„Es muss wunderschön für Sie beide sein, sich schon so lange zu kennen.“

Jessie lachte fröhlich auf. „Unglaublicher Weise haben wir uns erst vor zwei Jahren kennengelernt. Komisch, nicht wahr?“

„Das ist wirklich ungewöhnlich“, stimmte Mel zu und betrat hinter Jessie den dunklen schmalen Bootssteg, an dessen Ende eine Holzleiter direkt ins Wasser führte. Vor ihnen lag still der See, nur noch erleuchtet von einigen letzten orangeroten Strahlen der Abendsonne. Mels Blick wanderte an den grünen Berghängen hinauf, die sich zu kahlen grauen Felswänden veränderten. Ihre rauen Zacken hoben sich majestätisch vom Abendhimmel ab.

Jessie streckte die Hand aus: „Der Bootssteg dort drüben gehört meinen Eltern und etwas weiter daneben beginnt der Seerosenbereich. Er ist wunderschön und man kann ihn gut vom Boot aus beobachten. Vielleicht haben Sie morgen Lust auf eine kleine Bootspartie oder möchten sogar im See schwimmen? Christopher und ich lieben es, morgens durch den See zu schwimmen. Das Wasser ist dann zwar grausam kalt, aber die Stille des Sees und das morgendliche Licht sind einfach unglaublich schön. Allerdings hat sich unser Langschläfer Arno dazu bisher nicht durchringen können.“

„Vielleicht kann ich es ja morgen mal ausprobieren, allerdings bin ich noch nie in einem Bergsee geschwommen.“

„Dann probieren Sie es besser am Nachmittag. Und wenn Sie danach Lust auf ein frühmorgendliches Schwimmen haben, können Sie sich uns gerne anschließen.“

„Vielen Dank, Jessie. Bitte duzen Sie mich doch.“

Jessie lächelte Mel warm an. „Sehr gerne. Das wollte ich dir auch gerade anbieten.“

Mel nickte in stillem Einverständnis, dann umwölkte sich ihre Stirn. „Die kleine Szene vorhin tut mir wirklich leid“, begann sie leise. „Du darfst Arnos Verhalten nicht ernst nehmen. Aus unerfindlichen Gründen ist unsere Kommunikation leider manchmal etwas, wie soll ich sagen, speziell.“ Dabei blickte sie Jessie entschuldigend an.

„Keine Sorge“, antwortete Jessie überrascht. Mel zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich kennen wir uns schon zu lange, da bleibt die Höflichkeit manchmal auf der Strecke.“ Mel verzog ihren Mund zu einem leichten Lächeln, doch Jessie entging der traurige Ausdruck in ihren Augen nicht.

„Magst du dich kurz hinsetzen und das letzte Licht der untergehenden Sonne anschauen?“ Dabei hatte Jessie sich an den Rand des Bootstegs gesetzt und ließ die Beine frei über dem Wasser baumeln. Mel tat es ihr gleich.

„Wie lange kennt ihr Zwei euch denn schon?“

„Seit unserem Studium. Christopher, Arno und ich haben zusammen studiert, wobei Arno und ich zwei Wahlfächer gemeinsam hatten. Für die haben wir zusammen gelernt und sind dadurch Freunde geworden.“