Der Himmel über Alabama - Marlen Suyapa Bodden - E-Book

Der Himmel über Alabama E-Book

Marlen Suyapa Bodden

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Beschreibung

In dunklen Zeiten ist ihre Freundschaft wie ein helles Licht …

Alabama, 1853. Als Clarissa Allen, Tochter eines reichen und grausamen Plantagenbesitzers, heiratet, erhält sie von ihrem Vater Cornelius ein Hochzeitsgeschenk: Sarah, die junge Sklavin, mit der sie aufgewachsen ist. Nach der Geburt ihres Sohnes behauptet Clarissas Ehemann, nicht der Vater des Neugeborenen zu sein. In Schande kehren Clarissa und Sarah zurück auf die Plantage der Allens und setzen damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die für die einstmals so einflussreiche Familie unvorhersehbare Konsequenzen haben wird.

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Seitenzahl: 518

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Buch

Alabama, 1853. Die junge Sklavin Sarah lebt mit ihrer Schwester und ihrer Mutter, der Haussklavin Emmeline, auf der Plantage der reichen und einflussreichen Familie Allen. Seit sie als kleines Mädchen zum ersten Mal Zeugin der Grausamkeiten der Weißen gegenüber den schwarzen Sklaven wurde, ist in ihr der Entschluss gereift, irgendwann zu fliehen, um an einem anderen Ort ein Leben in Freiheit zu führen. Als Clarissa, die Tochter des Plantagenbesitzers Cornelius Allen, heiratet, erhält sie von ihrem Vater Sarah als Hochzeitsgeschenk. Die beiden Mädchen haben ihre gesamte Kindheit miteinander verbracht; Sarah ist außerdem Clarissas Halbschwester. Nun ziehen sie gemeinsam auf das Anwesen von Clarissas Ehemann, Julius Cromwell.

Als Clarissa jedoch ihr erstes Kind zur Welt bringt, behauptet Julius, nicht der Vater des Neugeborenen zu sein. Clarissa und Sarah werden in Schande zurückgeschickt auf die Plantage der Allens, wo Cornelius Allen vor Wut tobt. Er beschuldigt seine Tochter, den Ruf der Familie zerstört zu haben, und auch seine Frau Theodora kann ihn nicht milder stimmen. Sarah erkennt, dass sie ihren Wunsch zu fliehen rasch in die Tat umsetzen muss, bevor ihr Leben auf der Plantage noch unerträglicher wird. Mit der Hilfe des Sklaven Isaac und des Schneiders Mr. Adams schmiedet sie einen gefährlichen Plan, der ungeahnte Konsequenzen für die gesamte Familie Allen haben wird …

Autorin

Dr. Marlen Suyapa Bodden studierte an der New York University School of Law und der Tufts University Jura und ist als Anwältin für die Legal Aid Society in New York City tätig. Seit über zwanzig Jahren setzt sie sich für die Rechte benachteiligter und unterbezahlter Arbeiter und Immigranten ein. 2012 verlieh die University of Rhode Island ihr den Ehrendoktortitel. Der Himmel über Alabama ist Marlen Suyapa Boddens erster Roman.

Weitere Informationen unter: www.marlenbodden.com

Marlen Suyapa Bodden

Der

Himmel

über

Alabama

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Carolin Müller

Die Originalausgabe erschien 2013

unter dem Titel The Wedding Gift bei St. Martin’s Press, New York.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe August 2014

bei Blanvalet, einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © Marlen Suyapa Bodden 2013

Marlen Suyapa Bodden has asserted her right under the Copyright, Designs and Patents Act, 1988, to be identified as the author of this work.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014

by Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung: Johannes Frick, Neusäß/Augsburg, nach einer Originalvorlage von Michael Storrings

Umschlagmotiv: Getty Images/Jupiterimages;

Getty Images/Fernando Bueno; Trevillion Images/Mark Owen

Redaktion: Angela Kuepper

Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-12308-6

www.blanvalet.de

Gewidmet meinen Eltern in liebevoller Erinnerung:

Maria Borjas Bodden, die mir die Bedeutsamkeit von Stärke vorgelebt hat, und Hall James Bodden, der mich

gelehrt hat, wie man eine Geschichte erzählt.

Lass dir wohlgefallen die Rede meines Mundes und

das Gespräch meines Herzens vor dir, Herr,

mein Hort und mein Erlöser.

Psalm 19:15

Prolog – Sarah Campbell

Es ist Tag, aber der Pfad ist dunkel. Der Gestank von fauligen Pflanzen vermischt sich mit dem Duft der reifen Muskatellertrauben. Rubinkehlkolibris zwitschern. Die kahlen Zypressen und Tupelobäume haben vom Wasser aufgetriebene Stämme, und ihre Äste wirken bleischwer vom grasgrünen Moos. Eine Wassermokassinotter schlängelt sich an mir vorbei, und die Bluthunde – ich weiß nicht, wie viele – umkreisen mich. Mein Blick trübt sich, bis ich nur noch die silbernen Umrisse der Hunde erkennen kann. Während ich mich inmitten der Hunde um mich selbst drehe, höre ich ihr dumpfes Hecheln, und mir schießen Bilder durch den Kopf von stollenförmigen Zähnen, die mir das Gesicht zerfleischen. Schweiß durchtränkt mein Hausmädchengewand. Ich schreie: »Hilfe, bitte, so hilf mir doch einer!« Doch keiner antwortet. Ich frage mich, wann die Hunde anfangen werden, mir das Fleisch zu zerfetzen, und in dem Versuch, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, denke ich an mein Leben auf der Plantage und bereue es, mich bis an den Rand dieses verwilderten Schlupfwinkels vorgewagt zu haben.

Ich bin hierhergeraten, nachdem ich die Sklavenquartiere hinter mir ließ, und befinde mich nun weit weg von Allen Hall, dem Anwesen meines Herrn und seiner Familie, wo meine Mutter Emmeline, meine Schwester Belle und ich uns plagen. Wir schreiben das Jahr 1852, und ich bin gerade sechzehn geworden. Wir gehören Cornelius Allen, Esquire, Herr über eine zwölfeinhalbtausend Morgen große Plantage namens Allen Estates in Benton County, Alabama, und Besitzer von über vierhundert Feldarbeitern und mehr als zweihundert anderen Sklaven, die sich in den Ställen, der Räucherei, der Meierei, als Tischler, Näherinnen, Gärtner, Schuster und in allerlei anderen Gewerben abmühen. Fünfundzwanzig von uns arbeiten auf Allen Hall, dem Herrenhaus. Meine Mutter führt die Küche und einen Haushalt, der einen Ballsaal, eine Bibliothek, Gästequartiere und die Privatgemächer der Familie umfasst. Die Felder, auf denen die Sklaven schuften, bestehen aus endlosen Reihen von Baumwollstauden, mit Platz für genau einen Feldarbeiter zwischen jeder einzelnen Reihe; alle fünfzig Reihen befindet sich ein Weg, breit genug für einen Karren. Aufseher sitzen oben auf ihren Türmen oder auf Pferderücken, bewaffnet mit Gewehren, Pistolen und Peitschen, und es gibt sogar ein Gefängnis und eine Krankenstation für die Sklaven in diesem Areal.

Langsam trocknen meine Handflächen, mein Atem geht ruhiger, und mein Blick klärt sich. Ein Hund wartet zwei Schritte vor mir und drei weitere ein Stück entfernt am Rande des Sumpfs. Die Viecher sind allesamt schwarz-braun, haben Hängeohren und wiegen an die hundertfünfzig Pfund. Ich mache einen Schritt auf den Sumpf zu, und die Hunde fangen an zu knurren. Also mache ich wieder einen Schritt zurück, woraufhin sie verstummen. Dann weiche ich langsam, Schritt für Schritt zurück, weg vom Rande des Sumpfs. Die Hunde rühren sich nicht. Als ich etwa zwanzig Meter weit gekommen bin, drehe ich mich um und renne los, renne, auch wenn ich nicht höre, dass die Hunde mich verfolgen. Ich renne, bis mein Brustkorb und meine Füße schmerzen, und dann lasse ich mich zu Boden fallen und schnappe nach Luft.

Meine Mutter hat mir gesagt, ich solle niemals zum Sumpf gehen, aber sie hat mir nicht gesagt, diese Warnung sei der Tatsache geschuldet, dass dort Bluthunde lauern, die jegliche Flucht verhindern sollen. In zwei Jahren werde ich neben weiteren Lektionen gelernt haben, dass auch die Sklavenfänger Hunde einsetzen, um entlaufene Sklaven zu ergreifen.

Erstes Kapitel – Sarah Campbell

Meine Aufzeichnungen beginnen mit den Königinnen meines Herzens: meiner Mutter, die mir das Licht der Welt geschenkt hat, und meiner Schwester, an die ich mich in schweren Zeiten klammerte. Beide waren sie schöne Frauen mit feinen Gesichtszügen und dunkler Haut. Ich dagegen bin kräftig und, wie es in der Alabama Newspaper einmal über mich hieß, von »gelblichem« Hautton. Abgesehen von den strohblonden Haaren und blauen Augen sehe ich eher aus wie meine andere Schwester, der man mich schenkte, als sie heiratete: Clarissa Allen, die Tochter des Plantagenbesitzers und dessen Frau Theodora. Wie Clarissa und der Mann, der uns zeugte, bin ich groß und habe Grübchen, eine spitze Nase und schmale Lippen. Ich weiß nicht genau, wie alt ich war, als mir klar wurde, dass ich eine Sklavin war, aber ich glaube, ich war sechs. Es war im selben Jahr, in dem ich anfing, beim Kochen, Putzen und bei all den anderen Arbeiten mitzuhelfen, die im Haushalt der Allens anfielen.

Eines Morgens, wir schliefen noch, klopfte jemand an die Tür unserer Hütte. Meine Mutter stand auf, legte sich ein Schultertuch um und befahl uns, es ihr gleichzutun und uns an den Tisch zu setzen. Als sie die Tür öffnete, standen zwei Männer mit Laternen und Pistolen draußen. Ich zitterte, und Belle hielt mich fest bei der Hand.

»Was wollen die hier, Mama?«

»Schscht, Kind. Sei still.«

»Deinen Schlüssel!«, befahl einer.

»Ja, Sir«, antwortete meine Mutter.

Meine Augen reagierten empfindlich auf das Licht ihrer Laternen. Ich hörte sie überall herumgehen, zu den Betten, den Schränken und in den Küchenbereich. Einer der Männer hatte einen hartnäckigen Husten. Ihr ranziger Geruch durchdrang die Hütte. Das Schloss klickte, und der Deckel knarrte, als sie die Truhe öffneten, in der meine Mutter das Geld aufbewahrte, das sie mit dem Verkauf von Backwaren und getrockneten Küchenkräutern in der Stadt verdiente.

Als sie wieder fort waren, setzte sich meine Mutter zu mir an den Tisch und legte die Arme um mich. Sie zitterte.

»Warum waren diese Männer hier, Mama?«

»Mr. Allen hat es ihnen aufgetragen.«

»Aber warum, Mama, warum?«

»Hör auf, Fragen zu stellen, Sarah. Er befiehlt es ihnen, und uns muss niemand erklären, warum er das tut oder sonst was.«

Eines Nachmittags, ich füllte gerade zwei Eimer am Brunnen hinter der Küche, spielten zwei Jungen etwa in meinem Alter mit Tonmurmeln, als ein Aufseher auf sie zukam.

»Was macht ihr kleinen Nigger da?«

Sie antworteten nicht.

»Hört ihr nicht, ihr schwarzen Bastarde?«

Die Jungen schenkten ihm weiter keine Beachtung.

»Ihr verfluchten Nigger! Antwortet gefälligst, wenn ich mit euch rede!«

Er schwang seine Peitsche und traf einen der Jungen am Arm und den anderen am Bein, dann trat er nach beiden, stieß sie zu Boden, und die Jungen und ich fingen an zu schreien. Ich ließ meine Eimer fallen, verschüttete das Wasser. Ich hörte Leute herbeirennen, und dann übertönte die Stimme meiner Mutter den Lärm, die mir zurief, dass sie gleich bei mir sei.

Sie sagte jemandem, er solle die Jungen in ihre Hütte bringen. Mich küsste sie und trug mich heim, aber als sie mich auf dem Bett absetzen wollte, klammerte ich mich am Ärmel ihres Kleids fest.

»Sarah, Kindchen, alles wird gut. Bleib hier. Lass mich nach den Kindern schauen.«

Die Jungen weinten.

»Eure Mama wird gleich hier sein. Jetzt lasst mich mal sehen, wie schwer ihr verletzt seid«, sagte sie zu ihnen. »Ich säubere die Schnitte und tue euch was drauf, damit sie gut heilen. Es wird ein bisschen brennen. Aber ihr seid ja beide schon große Jungs, und ich weiß, dass ihr tapfer sein werdet.«

Als die Mutter der Jungen kam, erkannte ich ihre Stimme. Sie war eine der Wäscherinnen aus Allen Hall.

»Miss Emmeline, danke, dass Sie sich um meine Jungs gekümmert haben. Gott sei Dank, dass Sie da waren und dieser Mann ihnen nicht noch Schlimmeres angetan hat.«

»Nichts zu danken, das ist doch selbstverständlich. Wir müssen ein Auge auf die Kinder der anderen haben. Ich weiß, Sie täten für meine Mädchen dasselbe. Sagen Sie Bescheid, falls es den beiden nicht bald besser geht.«

Die Waschfrau brachte ihre Söhne nach Hause. Ich hatte mich wieder etwas beruhigt, aber vor meinen Augen schien alles zu verschwimmen. Meine Mutter meinte, ich solle im Bett bleiben und mich ausruhen.

»Sarah, ich muss zurück in die Küche, damit ich das Abendessen fertig machen kann. Aber erst lass mich dich ein bisschen waschen. In Ordnung, Kindchen?«

»Nein, Mama, lass mich nicht allein hier. Was, wenn der Mann noch da draußen ist? Warum hat er die Jungen überhaupt geschlagen?«

»Mr. Allen wird es nicht gefallen, wenn er hört, was der Mann getan hat. Aber Sarah, jetzt hör mir gut zu, du musst immer tun, was die Aufseher dir sagen. Du musst ihnen genauso gehorchen, wie wir Mr. und Mrs. Allen gehorchen. Hast du mich verstanden?«

»Ja, Madam. Aber ich habe Angst vor diesem Mann. Was, wenn er zurückkommt?«

»Ich pass schon auf dich auf, Kind, und ich lass dich nirgends mehr alleine hingehen, bis du älter bist. Weißt du, ich kann unsere Hütte von der Küche aus sehen, und ich werde aufpassen, dass niemand reinkommt. Belle und ich werden immer wieder nach dir schauen.«

In diesem Jahr fing ich an, den Worten des Pastors Gehör zu schenken, der jeden Sonntagmorgen in der Küche einen Gottesdienst für die Sklaven und ihre Familien abhielt. Wir gingen nicht mit den Allens in die Kirche in der Stadt, weil wir das Essen vorbereiten mussten. Die Feldarbeiter und die Handwerksleute hatten ihr eigenes Andachtshaus auf der Plantage. Nach seiner Predigt sprach der Pastor mit uns über die Sklavengesetze und unsere Tätigkeiten außerhalb der Plantage.

Eines Nachmittags im Winter, nachdem die Allens und ihre Gäste gegessen hatten, nahm meine Mutter Belle und mich mit in die Stadt, um Einkäufe für Allen Hall zu erledigen. Am Tor begegneten wir einem Aufseher, der dem Fahrer einen Passierschein aushändigte.

Wie zuvor, wenn wir bei anderen Gelegenheiten durch die Stadt gelaufen waren, blieben die Männer oft stehen und starrten meine Mutter an. Doch sie hielt niemals inne und blickte nur starr vor sich hin. An diesem Tag gingen wir zu verschiedenen Läden, um Waren abzuholen, die die Händler für die Allens aus Übersee geordert hatten, und um getrocknete Küchenkräuter aus Indien für meine Mutter zu besorgen. Um sechs Uhr holte uns der Fahrer am letzten Laden ab und half uns mit den Paketen.

»Johnny, ich muss noch was erledigen. Bitte warte hier auf uns.«

Johnny gab meiner Mutter eine Laterne, und als wir auf eine Seitenstraße zugingen, hörte ich plötzlich Leute schreien und sah, wie sie zu dem Platz in der Stadtmitte liefen. Meine Mutter packte mich bei der Hand und steuerte zurück zur Kutsche. Ich hörte wieder jemanden schreien, und sie sagte mir, ich solle mich beeilen.

»Mister, bitte lassen Sie uns gehen. Wir haben nichts Schlimmes getan. Wir haben nur geredet. Bitte peitschen Sie uns nicht aus«, flehte ein Mann.

»Haltet den Mund und stellt euch nacheinander an den Pfosten. Wenn ihr weiter rumdiskutiert, bekommt ihr nur noch mehr Hiebe.«

»Bitte, Mister, nicht. Ich werd’s auch nicht wieder tun. Wir haben bloß geredet.«

»Wenn ich noch ein Wort von einem von euch höre, dann bekommt ihr die vollen dreißig Schläge.«

»Mama …«

»Sarah, still. Kein Wort jetzt. Ich erklär dir später alles. Jetzt müssen wir bloß hier weg.«

Wir schwiegen auf dem ganzen Weg zurück nach Allen Estates. Als wir in unserer Hütte ankamen, erklärte mir meine Mutter, dass die Leute, die wir in der Stadt gesehen hatten, ausgepeitscht werden sollten, weil sie etwas getan hatten, wovor uns der Pastor sonntags immer warnte.

»Sarah, ein paar Leute haben sich in der Stadt in einer Gruppe unterhalten. Ich sag dir das nur, damit du nicht das Gleiche tust, wenn du älter bist. Wenn die Kontrolleure der Patrouille eine Gruppe Sklaven ohne einen Aufseher antreffen, dann dürfen sie jeden von ihnen auspeitschen.«

Etwa zur selben Zeit beobachtete ich weitere Eigenheiten meines Lebens und das der Leute auf Allen Hall, die mein kindliches Denken in Unruhe versetzten. Clarissa, die Tochter von Mr. und Mrs. Allen, hatte zu ihrem sechsten Geburtstag eine Feier, die am Donnerstag begann und am Sonntagabend endete. Es kamen um die dreißig Gäste, einschließlich ihrer Familie väterlicherseits aus Montgomery und Macon County und benachbarter Plantagenbesitzer mit ihren Familien. Meine Mutter kochte das ganze Essen und backte Clarissas Kuchen.

Als wir alleine waren, fragte ich meine Mutter nach meinem Geburtstag.

»Du weißt doch noch, als ich dir vor einer Weile den Kuchen gebacken habe und wir ihn nach dem Abendessen zusammen mit den anderen gegessen haben, oder?«

»Aber du hast nicht für mich gesungen und mir nicht gesagt, dass mein Geburtstag ist.«

»Ich weiß, Kind, aber er war’s. Mr. Allen meinte, er hätte das Datum in das Buch geschrieben, in dem er die Geburtstage von allen Babys notiert.«

»Wann ist mein Geburtstag?«

»Mr. Allen meinte, er ist am fünfundzwanzigsten Juni. Aber das behalten wir für uns, ja, Kind? Erzähl es lieber nicht den anderen Kindern. Denn nicht alle kennen ihren Geburtstag. Ich weiß meinen und den von Belle, weil Mr. Allens Vater ihn aufgeschrieben hat und Mr. Allen es mir gesagt hat.«

Wenn die Verwandten der Allens die Plantage besuchten, war ich nicht Clarissas Spielkameradin wie sonst, wenn wir unter uns waren, sondern ihre Bedienstete. Und wenn sie mit mir sprach, dann nur, um mir etwas aufzutragen. Während eines dieser Besuche, als wir abends in unserer Hütte waren und ich auf dem Schoß meiner Mutter saß, fragte ich sie nach ihrer Familie, wer sie waren und wo sie jetzt sein mochten.

»Kindchen, das ist etwas, über das ich nicht gern rede. Aber mir ist klar, dass jeder wissen will, woher er kommt. Nur Gott weiß, wo die meinen sind, ob sie noch leben oder nicht. Sie wurden verkauft, hat Mommy mir erzählt. Anscheinend haben sie den Aufsehern immer Ärger gemacht und versucht wegzulaufen, deshalb hat Master Allens Vater sie schon vor langer Zeit verkauft. Kurz vor ihrem Tod hat Mommy zu mir gesagt, dass es nichts bringt, wenn man versucht, die Dinge auf dieser Erde ins Lot zu rücken. Sie hatte recht, es bringt wirklich nix. Sarah, das ist auch der Grund, warum ich dir immer sage, dass du dem Master und Mrs. Allen und den Aufsehern gehorchen sollst. Wenn jemand Probleme macht und nicht arbeitet oder versucht wegzulaufen, dann wird er verkauft, und keiner sagt uns, wohin, und dann sehen wir ihn mit Sicherheit nie wieder. Kind, du weißt, ich hab keine einzige Schwester, nicht einen Bruder, keine Cousine, keine Tante und keinen Onkel, von denen ich wüsste, wo sie sind, niemanden, niemanden außer dich und Belle. Ihr seid alles, was mir auf dieser Erde noch geblieben ist.«

Sie zog mich noch fester an sich. Belle, die uns gegenüber am Tisch saß, schwieg. Ich fragte Mama, ob sie wisse, was mit ihren Eltern und Geschwistern passiert sei.

»Ich weiß nicht, wo mein Pa steckt, weil er verkauft wurde. Ich erinner mich noch, als ich klein war, nachts in unserer Hütte … Mommy und Pa dachten, ich und meine Geschwister würden schlafen. Da haben sich Mommy und Pa oft ganz leise unterhalten, und Pa hat zu Mommy gesagt, dass er weglaufen wird. Mama hat geweint und Nein gesagt, weil sie Angst hatte, aber Pa hat gesagt, er wird es tun und dann einen Weg finden, uns alle rauszuholen, er meinte, da seien Leute, die ihm helfen könnten, zu fliehen und die ganze Familie rauszuholen. Mommy, ach, meine arme Mutter, wir mussten sie begraben, nachdem der Aufseher sie so schlimm geschlagen hatte. Sie war dazwischengegangen und hatte versucht, ihn davon abzuhalten, Pa zu schlagen, als sie ihn wieder einfingen, nachdem er weggelaufen war. Wir haben Mommy in den Gräbern bei den Feldern begraben.«

Meine Mutter schenkte uns Wasser aus einem Krug ein und schnitt jeder von uns ein Stück Kuchen ab. Wir aßen schweigend, und als wir fertig waren, fuhr meine Mutter fort, uns von unserer Familie zu erzählen.

»Nachdem Mommy tot war, hat Master Allens Vater meine drei Schwestern und zwei Brüder verkauft, wer weiß, wohin, und ich bin bei einer der Großmütter geblieben, die sich um die kleinen Kinder der Arbeiterinnen im Herrenhaus kümmerten. Ich war damals erst ungefähr zehn Jahre alt, und der alte Master Allen sagte zu der Köchin, sie solle mir das Kochen beibringen. Die Großmutter, Miss Thomasina, hat sich immer gut um mich gekümmert, auch als ich dann älter war, aber sie starb ein paar Monate, nachdem Belle geboren wurde.«

Sie küsste mich auf den Scheitel, bevor sie fortfuhr.

»Wenn ihr wollt, nehm ich euch beide am Sonntag mit zu den Gräbern, wo sie uns beerdigen. War seit Jahren nicht mehr da, es fällt mir nicht leicht … Das letzte Mal war ich dort, als ich mit Belle schwanger war, und alles, was ich an dem Tag tun konnte, war weinen.«

Später in dieser Woche bat meine Mutter einen Tischler, ihr ein neues Kreuz anzufertigen, denn sie ging davon aus, dass das Holzkreuz auf dem Grab meiner Großmutter über die Jahre hinweg zerfallen war, und sie borgte sich von einem der Gärtner eine große Schaufel. Am folgenden Sonntag, nachdem der Pastor uns aus der Bibel vorgelesen hatte und wir das Mittagessen vorbereitet hatten, nahm Mama, die das Kreuz trug, mich und Belle, die die Schaufel trug, mit zu dem Ort, wo die Sklaven der Allens beerdigt wurden. Es war das erste Mal, dass ich die Gräber der Sklaven besuchte, aber ich kannte bereits den Friedhof, wo einige der verstorbenen Allens lagen, ein Ort, der von schmiedeeisernen Zäunen umgeben war und an dem wir auf dem Weg zu den Feldern vorbeikamen. Die Gräber der Allens waren mit kunstvollen, aus Stein gemeißelten Kreuzen geschmückt. Ich brannte darauf, den Friedhof der Sklaven kennenzulernen, aber meine Neugier war getrübt von Mamas Traurigkeit. Sie hielt mich fest bei der Hand, und als wir uns den Gräbern näherten, ließ sie mich los, um ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche zu holen und sich die Tränen vom Gesicht zu wischen. Ich war froh, dass Belle dabei war, denn sie half mir, unsere Mutter zu trösten – Belle, indem sie den Arm um Mamas Schulter legte, und ich, indem ich Mamas Hand küsste.

Die Begräbnisstätte war kein Friedhof, wie man ihn heutzutage kennt; sie bestand einfach nur aus freiem, unebenem Gelände, auf dem nichts als Unkraut wucherte. Wo die Gräber sich befanden, konnten wir bloß an den Kreuzen erkennen, die auf Erdhügeln standen. Wir waren die Einzigen, die an diesem Tag dort waren, und wir gruben an verschiedenen Stellen, um den Sarg meiner Großmutter zu finden, der, wie meine Mutter sagte, mit einer geschnitzten Rose verziert war, Großmutters Lieblingsblume. Doch wir fanden keinen Sarg mit einer Rose. Belle und ich verkniffen uns die Tränen, bis wir auf ein Büschel Haare stießen. Wir begruben es wieder, weil meine Mutter sagte, wenn dies alles sei, was von einem Menschen übrig wäre, würde Gott wollen, dass man es mit so viel Respekt behandelte wie den ganzen Leichnam eines Menschen – selbst wenn man nicht wüsste, wessen Haar es war. Nachdem wir das Holzkreuz dort in die Erde gesteckt hatten, wo wir das Haarbüschel begraben hatten, sprachen wir ein Gebet und dankten dem Herrn dafür, dass wir lebten.

Meine Mutter hatte die Arme um uns gelegt, als wir nach Allen Hall zurückkehrten. Die Traurigkeit, die ich verspürte, nachdem ich erfahren hatte, wie Mr. Allens Vater meine Großeltern und unsereins zu Lebzeiten und im Tod behandelt hatte, ließ mich ängstlich werden, wann immer unsere Mutter Belle und mich abends allein in unserer Hütte ließ. Da kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass meine Mutter ganz bestimmt einverstanden wäre, wenn ich sie fragen würde, ob wir die Plantage der Allens nicht besser verlassen sollten.

In dem Jahr, als ich ungefähr sechs Jahre alt war, fing ich an, Mrs. Allen und Clarissa genauer zu beobachten, wenn sie zusammen waren. Immer wenn Clarissa auf dem Schoß ihrer Mutter saß oder sie umarmte, beneidete ich sie, denn meine Mutter arbeitete den ganzen Tag, und auch die meisten Nächte verbrachte sie nicht in unserer Hütte. Ich vermisste sie, wenn sie nicht bei uns war, und konnte nicht einschlafen, bis sie wie üblich vor Tagesanbruch zurückkehrte. Wenn sich unsere Blicke trafen, an jenen Morgen, nachdem sie fort gewesen war, schien sie beschämt, und das bereitete mir Kummer.

Einmal, als wir unser Frühstück einnahmen, wirkte sie ganz nachdenklich. Ich kitzelte sie unterm Kinn, was sie normalerweise zum Lachen brachte. Diesmal aber gelang ihr kaum ein Lächeln. Ich fragte sie, warum sie so traurig sei.

»Ich bin bloß müde, das ist alles, Kind. Bloß müde.«

Ich fragte sie, warum wir nicht irgendwohin gingen, wo sie nicht so schwer arbeiten müsse, und ihre Antwort fiel unerwartet heftig aus.

»Rede nie, nie wieder von so was! Hör mir jetzt gut zu. Allein so ein Gerede kann dazu führen, dass wir verkauft werden. Weißt du, was es heißt, verkauft zu werden? Es bedeutet, dass wir alle an verschiedene Orte geschickt werden und uns niemals wiedersehen. Vielleicht glaubst du, nur weil Mr. Allen dich immer mit Clarissa spielen lässt, bist du wie sie, aber du bist kein bisschen wie Miss Clarissa. Sie kann sagen, was sie will. Du musst auf jedes Wort, das du sagst, achten. Vergiss nie: Wir haben nur uns.«

Ich wollte nicht, dass meine Mutter immer wegging; ich hatte Angst, dass sie eines Tages nicht zurückkommen würde. An einem Abend hielt ich sie fest.

»Geh nicht weg, Mama! Bleib hier.«

Sie strich mir übers Haar.

»Sag, dass du nicht fortgehst, Mama. Sag, dass du nicht fortgehst.«

»Sarah, ich muss, Kindchen.«

Ich weiß nicht mehr, wie viele Wochen verstrichen, bevor sie meiner Versuche, sie vom Gehen abzuhalten, überdrüssig wurde.

»Belle ist doch hier bei dir. Komm schon, Sarah, hör auf damit.«

Sie übergab mich an Belle, die mich in ihre langen Arme schloss. Ich blickte meine Mutter wütend an. »Ich hasse dich, ich hasse dich! Geh doch! Mir ist egal, ob du jemals wiederkommst.«

Sie setzte sich aufs Bett und weinte. Ich vergrub mein Gesicht im Kissen. Nach einer Weile hörte ich ihre Schritte auf dem Boden der Hütte und wie sie die Tür hinter sich schloss.

Der Kampf zwischen uns ging weiter, und ich lernte, sie mit stillen Vorwürfen zu verletzen. Eines Abends nach unserem Gebet aber fragte ich sie direkt, warum sie uns immer allein lassen musste.

»Sarah, du bist eigentlich zu jung für das, was ich dir jetzt sagen werde, aber du musst es wohl erfahren. Du und Belle, ihr seid kluge Mädchen. Was das betrifft, kann ich mich glücklich schätzen. Ich hatte gehofft, dass ich dieses Gespräch erst mit dir führen müsste, wenn du erwachsen bist. Aber in diesem Leben müssen wir reifer sein, als wir es an Jahren sind. Ich werd dir jetzt was erzählen, das du niemandem weitersagen darfst, nicht mal Miss Clarissa. Das musst du mir versprechen, bevor ich’s dir erzähle.«

»Ich versprech es. Ich werde ein großes Mädchen sein und nichts weitersagen.«

»Sarah, ich gehe … ich gehe zu … Mr. Allen. Dorthin gehe ich nachts.«

»Warum?«

»Weil er es sagt.«

»Warum musst du das?«

»Ich hab es dir doch schon erklärt. Wir müssen alles tun, was er, Mrs. Allen, die Aufseher und sogar Miss Clarissa sagen.«

»Warum?«

»Wir … gehören Mr. und Mrs. Allen.«

»Wie meinst du das?«

»Weißt du noch, als uns der Pastor aus der Bibel vorgelesen und uns die Geschichte von den Israeliten erzählt hat, dass sie in Knechtschaft gelebt haben und alles tun mussten, was der Pharao sagte? Dass sie ausgepeitscht wurden, wenn sie zu müde zum Arbeiten waren? Erinnerst du dich an die Geschichte von Moses, der zu Gott gebetet hat, auf dass er sein Volk ziehen lasse? Zuerst wollte der Pharao die Israeliten nicht ziehen lassen, aber dann, nachdem Gott ihm viele Plagen gesandt hatte, musste er es tun, sonst hätte Gott dafür gesorgt, dass ihm und seiner Familie und den Ägyptern weiterhin so schlimme Dinge passieren.«

»Aber warum waren sie in Knecht… Knechtschaft?«

»Weil die meisten Menschen Gott nicht ehren wollen. Das israelitische Volk lebte vierhundertdreißig Jahre in Sklaverei, aber Gott hat zu ihnen gesagt, dass sie nach ihrem Tod frei sein werden, wenn sie nur an ihn glauben. Wir müssen das auch glauben, denn wenn wir das nicht tun, dann ertragen wir dieses Leben auf Erden nicht. Was immer uns passiert, Sarah, falls wir einmal getrennt werden sollten, dann werden wir uns im Himmel wiedersehen. Verstehst du, was ich dir sagen will?«

»Ja, Mama, das versteh ich schon, aber warum will Mr. Allen, dass du zu ihm kommst?«

»Kindchen … hm. Ach, Kind, dafür bist du wirklich noch zu jung. Aber wir werden uns darüber noch mal unterhalten. Wir werden darüber reden, wenn du älter bist.«

Sie strich mir über die Wange, bevor sie zu unserem Besitzer ging. Ich hatte meiner Mutter nicht die ganze Wahrheit gesagt. Das meiste von dem, was sie mir erklärt hatte, hatte ich nämlich nicht verstanden; ich hatte nicht verstanden, wie wir Mr. und Mrs. Allen gehören konnten. Aber ich hatte verstanden, dass wir daran glauben mussten, Gott würde uns nach unserem Tod wieder vereinen, und dieser Glaube linderte die Angst, die mich jedes Mal überkam, wenn sie uns verließ, um zu unserem Herrn zu gehen.

Solange ich noch ein Kind war, blieb meine Wut auf sie bestehen, und ich forderte immer wieder Streit heraus. Einmal spät am Abend setzte sie sich nieder, zog ihre Schuhe aus und rieb sich die Füße, doch sie zog nicht ihr Nachthemd an.

»Warum musst du immer zu ihm gehen? Bleib doch hier bei uns und ruh dich aus.«

»Sarah, hör auf damit. Ich muss tun, was sie mir sagen.«

Ich sprang aus dem Bett, stampfte mit dem Fuß auf und schrie: »Warum gehen wir dann nicht weg von hier?«

Da ohrfeigte sie mich. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen.

»Wie oft muss ich dir das noch sagen? Bist du taub? Vielleicht bist du ja gar nicht so klug, wie ich dachte. Also, ein letztes Mal: Wenn ich dich das noch einmal sagen höre oder wenn mir zu Ohren kommen sollte, dass du es zu jemand anderem sagst, dann nehm ich die Rute und versohl dich so fest, dass du in allen Farben schillerst, bloß nicht mehr in Gelb. Verstanden? Ob du mich verstanden hast?«

»Ja, Mama. Ich sag’s nie wieder.«

»Du schläfst jetzt.« Sie zeigte auf mich. »Zurück ins Bett! Und, Sarah, das tust du nie wieder!«

»Ja, Madam, ich meine … nein, Madam.«

Später erzählte mir Belle, warum Mama Angst hatte, wenn ich vom Weglaufen redete. »Du musst wissen, was den Leuten passiert, die versuchen wegzulaufen. Sie werden gejagt und zurückgebracht. Dann werden sie geschlagen. Denjenigen, die mehr als einmal weglaufen, werden die Zehen oder ein Fuß abgeschnitten. Alle Sklaven müssen bei der Züchtigung zusehen, sogar Kinder wie wir. Sie treiben uns zusammen, damit wir es alle mitbekommen. Denjenigen, der weglaufen wollte, ziehen sie aus, binden ihn mit den Händen fest und fesseln ihm die Füße. Manche verkaufen sie auch einfach an Sklavenhändler. Für uns ist es besser hier als irgendwo anders, weil wir zusammen sind und nicht auf den Feldern arbeiten müssen.«

Belle war die Tochter eines Hufschmieds, der in Afrika geboren worden war und verkauft wurde, als sie ungefähr ein Jahr alt war. Wenn ich heute an Belle denke, versuche ich sie mir immer nur vorzustellen, wie sie glücklich war, sonst überkommt mich ein Schmerz, der mich all meine Kraft kostet und mich meinem monotonen Alltagsleben gegenüber vollkommen gleichgültig macht. Dass Belle so sehr hat leiden müssen, lässt mich noch immer an Gott zweifeln, denn Belle war ein guter Mensch, stets auf das Wohl anderer bedacht – besonders jener Sklaven, deren Verwandte wie ihr eigener Vater verkauft worden waren und nie mehr gesehen wurden.

In einigen meiner frühesten Erinnerungen an Belle kümmerte sie sich um mich, während unsere Mutter nachts fort war, und brachte mir und den anderen kleinen Mädchen, deren Eltern auch im Herrenhaus arbeiteten, das Nähen, Sticken, Seilspringen und Zöpfeflechten bei. Wenn ein Kind hinfiel, machte Belle ihm einen Umschlag. Wenn Belle einen Älteren sah, der sich beim Laufen schwertat, bot sie ihm ihren Arm als Stütze an. Wenn ein Familienmitglied eines Nachbarn starb, half Belle Mama dabei, während der Trauerzeit Essen für die Familie zu kochen.

Belle hat so viel für mich getan, und dafür bin ich ihr dankbar. Wenn ich nachts nicht schlafen konnte, weil unsere Mutter nicht da war, blieb sie mit mir wach, bis Mama zurückkam oder mir die Augen zufielen, und erzählte mir Geschichten, die Mama teilweise noch von Belles Vater kannte. Wenn ich weinte, weil ich Mama so sehr vermisste oder Angst hatte, dass die Aufseher in unsere Hütte kommen und unsere Habseligkeiten durchsuchen könnten, nahm mich Belle auf den Schoß und hielt mich im Arm. Als ich älter wurde, war es Belle und nicht meine Mutter, die mir Antworten auf all die Fragen gab, die mich bewegten. So wie viele Schwestern erzählten auch Belle und ich uns von Ereignissen in unserem Leben, über die wir mit unserer Mutter nie gesprochen hätten, nicht, weil wir Angst davor gehabt hätten, was sie dazu sagen würde, sondern um sie vor weiterem Schmerz und Leid zu bewahren.

Einmal, als meine Mutter nachts fort war, erzählte mir Belle, wie ihr Vater und die anderen Kinder aus seinem Heimatdorf in einem fernen Land jenseits des Ozeans verschleppt und zu Sklaven gemacht worden waren. Belle erinnerte sich nicht an ihren Vater, den sie »Papa« nannte, aber sie gab häufig wieder, was unsere Mutter ihr von ihm erzählt hatte.

»Als er ein kleiner Junge war, lebte Papa in einem Dorf an einem großen Fluss namens Senegal, wo das ganze Jahr über Vögel in allen Größen und Farben herumfliegen. Während der Trockenzeit kamen die kleinen Jungen ihren Pflichten immer so schnell wie möglich nach, damit sie am Fluss spielen konnten … Eines Nachmittags sind die Männer des Dorfes beim Fischen. Die Frauen und Mädchen sind auf dem Markt, um zu feilschen und zu handeln. Die alten Leute und die Kleinkinder sind in den Hütten geblieben, weil es draußen zu heiß für sie ist. Vielleicht fünfzehn Jungen spielen gerade am Fluss, als sie seltsame Männer in einem großen Boot näher kommen sehen. Die Männer winken den Jungen zu und segeln direkt auf sie zu.

Einer der Männer fragt die Jungen, ob sie aufs Boot wollen. Ein Junge sagt: ›Nein, wir sind noch zu klein, um fischen zu gehen.‹ Der Mann lacht. ›Wir gehen nicht fischen. Wir wollen euch bloß zeigen, wie es auf dem Meer ist. Kommt mit! Das Meer ist viel größer als euer kleiner Fluss hier.‹ Das lassen die kleinen Jungen natürlich nicht auf sich sitzen. Sie sind stolz auf ihren Fluss, auch wenn sie große Angst haben. Die Männer steigen aus dem Boot. Einer der Jungen ruft den anderen etwas zu, und sie rennen weg. In dem Moment kommen einige alte Leute aus den Hütten gelaufen und schreien, dass Fremde im Dorf sind. Doch als die Alten ans Flussufer gelangen, haben die Männer bereits einige der Jungen erwischt und stellen den anderen nach. Sie haben Waffen, die keiner im Dorf je zuvor gesehen hat. Die Alten versuchen die Fremden davon abzuhalten, ihre Kinder mitzunehmen, aber einer der Männer richtet die Pistole auf sie und schießt. Als ein alter Mann blutüberströmt zusammenbricht, bleiben die Leute aus dem Dorf stehen und starren ihn an, während die Fremden sich fast alle Jungen schnappen und sie in Ketten legen.

Sie bringen die Jungen auf das Boot und segeln davon. Die Dorfbewohner rufen: ›Halt, halt! Bitte, nehmt uns nicht unsere Kinder!‹, aber schon nach kurzer Zeit kann Papa die Leute nicht mehr hören.

In dieser Nacht ist Vollmond, und das schwarze Meer wirkt wie aus Glas gemacht. Es ist so kalt, dass die Jungen zusammengedrängt sitzen, um sich gegenseitig zu wärmen. Von Zeit zu Zeit sehen sie einen großen Fisch durch die Luft fliegen und wieder im Wasser verschwinden.

Die Sterne sind so groß und hell, dass man meint, sich einen vom Himmel pflücken zu können. Papa sagt zu einem der Jungen, der nicht aufhören kann zu weinen, er soll hinaufschauen. Er erklärt ihm, dass es noch immer dieselben Sterne wie zu Hause sind, also könnten sie nicht allzu weit von ihrem Dorf entfernt sein.

Am nächsten Morgen kommen sie zu einer Insel, auf der alle Häuser rosa, pfirsichfarben, gelb oder blau sind. Die Männer bringen die Jungen vom Boot. Am Strand laufen Leute herum. Einer der Jungen sagt zu ihnen: ›Seht ihr nicht, was sie mit uns machen? Helft uns doch!‹, aber die Leute blicken bloß starr vor sich hin.

Dann sehen die Jungen zum ersten Mal in ihrem Leben einen Mann mit rosa Haut im Gesicht und an den Händen. Sie starren ihn an. Die Männer, die sie hergebracht haben, zerren an den Ketten. »Weiter, weiter, ihr Bauernlümmel«, rufen sie.

Sie kommen an ein rosa Haus und werden in einen Raum gebracht, der schon voll mit anderen Jungen ist. In dem Raum stinkt es, weil sie sich nicht waschen und nur einmal am Tag den Abort benutzen dürfen. Was sie nicht erwartet haben, ist, dass die Männer, die sie verschleppt haben, ihnen viel zu essen und zu trinken geben. Aber in dem rosa Haus befindet sich ein Loch, in das man gesteckt wird, wenn man versucht wegzulaufen. Dort muss man zwei Tage lang ohne Essen und Trinken bleiben.

Als sie ungefähr drei Wochen dort sind, werden einige der Jungen aus dem Raum geholt. Dann holen sie noch mehr. Keiner dieser Jungen kommt zurück. Eine Gruppe, zu der auch Papa gehört, wird in einen anderen Teil des Hauses gebracht. Papa riecht etwas Scheußliches.

Als sie zu einem Raum kommen, müssen die Jungen vor der geschlossenen Tür warten. Dort ist der Gestank noch schlimmer. Die Jungen draußen hören nichts. Sie holen einen Jungen nach dem anderen herein, und keiner von ihnen kommt wieder heraus.

Sie holen auch Papa in den Raum, schließen die Tür und sagen ihm, er soll sein Hemd ausziehen. Ein Mann kniet mit dem Rücken zu den anderen vor einer Feuerstelle. Zwei Männer legen Papa mit dem Gesicht nach oben auf einen Tisch; dann halten sie ihn fest, der eine links, der andere rechts. Ein Mann presst Papa die Hand auf den Mund. Obwohl es sehr heiß ist, zittert Papa, als wäre es eiskalt. Der Mann, der vor dem Feuer gekniet hat, steht auf und dreht sich um. Er hat ein dampfendes Eisen in der Hand, wie es Landarbeiter für Lämmer oder Kühe verwenden.

Papa versucht die Männer abzuschütteln, aber sie lassen ihn nicht los und halten ihm weiter den Mund zu. Der Mann mit dem Eisen drückt es ihm auf die Brust, und Papa verliert das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kommt, hat er vergessen, wo er ist, und blickt sich suchend nach seiner Mutter um. Aber es sind bloß die Männer da. Papa schaut an sich herab, und es sieht aus wie angebratenes Fleisch.

Sie richten ihn auf und bringen ihn durch eine weitere Tür in einen anderen Raum, wo sich die übrigen Jungen befinden. Sie starren apathisch an die Wand, als sähen sie dort etwas, was gar nicht da ist. Als alle Jungen gebrandmarkt sind, werden sie zurück in den ersten Raum gebracht. Von Zeit zu Zeit sehen die Männer nach den Jungen, um sich zu vergewissern, dass die Wunden gut verheilen.

Ungefähr einen Monat nach ihrer Ankunft werden sie wieder ans Wasser und auf ein größeres Boot gebracht als das, mit dem sie hergekommen sind. Als das Boot ablegt, starrt Papa so lange zurück zu der Insel, bis keine Punkte mehr zu sehen sind, weder rosa … noch pfirsichfarbene … noch gelbe … noch blaue.«

Zweites Kapitel – Sarah Campbell

Mein Leben war von Geburt an eng mit Clarissas verbunden. Ich wurde drei Tage vor ihr geboren, und meine Mutter war ihre Amme. Wir waren vom ersten Lebensjahr an Spielkameradinnen, erzählte mir meine Mutter. Als ich mit ungefähr sechs Jahren zu arbeiten begann, war es mir in meinen Pausen erlaubt, weiterhin Zeit mit Clarissa zu verbringen. Hinter der Küche gab es einen Gemüsegarten, in den wir manchmal gingen, angezogen von dem würzigen Duft. Lachend und uns an den Händen haltend, stürzten wir uns kopfüber in ein Kräuterbeet und sogen den erdigen Geruch tief ein.

Eine Aufgabe, die ich mochte, war das Möbelpolieren und das Saubermachen der Bibliothek. Während ich die Bücher abstaubte, stellte ich mir vor, sie enthielten Bilder ähnlich denen an den Wänden. Ich wagte es nicht, sie aufzuschlagen, aber ich streichelte ihre Einbände aus Leder und Leinen. Einmal fragte ich meine Mutter, was in den Büchern sei. Da legte meine Mutter zitternd den Finger auf die Lippen, um mir zu signalisieren, ich solle schweigen. Dann ging sie zur Tür der Bibliothek und schloss sie.

»Was in Büchern ist, davon brauchst du nix zu wissen. Wenn sie dich dabei erwischen, wie du in eins reinschaust, bestrafen sie dich.«

»Wer bestraft mich, Mama?«

»Warum stellst du so viele Fragen, Kind? Mr. und Mrs. Allen, die bestrafen dich. Sarah, es ist gegen das Gesetz, lesen zu lernen.«

»Was ist das Gesetz?«

»Das Gesetz sagt einem, was man tun darf und was nicht, wie zum Beispiel in Bücher schauen. Dafür kannst du von einem Aufseher ausgepeitscht werden.«

»Aber warum dürfen Mr. und Mrs. Allen dann Bücher lesen?«

»Sarah, das Gesetz gegen das Lesen gilt nur für uns.«

»Warum?«

»Du stellst zu viele Fragen. Hör … jetzt … auf damit, und lass uns hier weiter sauber machen.«

»Ist es auch gegen das Gesetz, wenn Clarissa liest?«

»Sarah … es gibt kein Gesetz dagegen, dass Clarissa liest. Genug jetzt. Staub die unteren Regale zu Ende ab.«

Clarissa und ich spielten zusammen in der Kinderstube, wo es zahlreiche Bücher gab – allesamt mit bunten Einbänden –, kleine Tische und Stühle, eine Schreibtafel, eine Landkarte an der Wand und einen Globus. Wenn wir dort waren, kamen Mrs. Allen oder meine Mutter von Zeit zu Zeit vorbei, um nach uns zu sehen. Eines Nachmittags, als Clarissa und ich gerade allein waren, zeigte ich auf ein Buch und fragte sie, ob das ein Spielzeug sei.

»Nein, das ist ein Buch. Du weißt schon, zum Lesen.«

»Was ist Lesen?«

»Na ja, da stehen Wörter drin, und man … ich weiß auch nicht, aber mein Papa, meine Mama und meine Brüder lesen, und ich werde es lernen, wenn Mama mich darin unterrichtet. Sie sagt, jede Dame muss lesen und schreiben können und die Zahlen lernen.«

Clarissa verlor das Interesse an diesem Thema, und wir zogen stattdessen ihre Puppen an. An einem der folgenden Tage bat ich sie, ein Buch aufzuschlagen.

»Das hier mag ich«, sagte sie. »Mama liest mir oft daraus vor. Es ist die Geschichte von Little Goody Two Shoesoder so.«

Wir betrachteten die Bilder.

»Wovon handelt es?«

»Äh … mal sehen, es handelt von einem kleinen Waisenmädchen, das sehr arm war. Sie besaß nur einen Schuh, bis ihr ein netter Herr zwei schenkte. Sie war ein guter Mensch, und später unterrichtete sie kleine Kinder. Am Ende wird sie glücklich, weil sie einen reichen Mann heiratet.«

Ich wünschte, ich hätte lesen können, was unter den Bildern stand.

»Miss Clarissa, könnten Sie mir noch mehr Bücher zeigen?«

Sie wählte eines aus dem Regal aus. »Das sind alles Kinderreime«, erklärte sie.

»Was ist ein Reim?«

»Das ist, wenn die Wörter gleich klingen. Ich kann es nicht wirklich erklären.«

»Miss Clarissa, ich wünschte, Sie könnten mir die Reime vorlesen. Klingen sie schön, wie wenn jemand ein Lied singt?«

Eines Tages blieb Mrs. Allen bei uns im Kinderzimmer und erzählte uns Fabeln von Äsop und las uns aus einem Buch über seltsame Tiere vor. Eines nannte sich Quagga und sah aus wie ein Pferd mit schwarz-weißen Streifen. Danach bat Clarissa ihre Mutter, uns jedes Mal, wenn sie nach uns sah, etwas vorzulesen. Ich freute mich so darüber, ihre Geschichten zu hören, dass ich manchmal vor Begeisterung in die Hände klatschte, was Mrs. Allen immer zum Schmunzeln brachte. Einmal kam meine Mutter herein und war wie erstarrt, als sie sah, dass Mrs. Allen uns vorlas. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war eine Mischung aus Schock und Angst. Schließlich fragte sie Mrs. Allen, ob sie etwas für sie oder Clarissa tun könnte.

»Nein, Emmeline, ich bleibe hier bei den Mädchen, du kannst dich wieder den Vorbereitungen fürs Abendessen widmen.«

Einmal sprangen Clarissa und ich vor der Küche Seil, als zwei andere Mädchen, die Töchter von Hausmädchen im Herrenhaus, fragten, ob sie mit uns spielen könnten. Wir wechselten uns mit Springen und Seilspannen ab. Als wir müde waren, brachte Belle Clarissa zurück ins Herrenhaus, und ich ging, um meiner Mutter in der Küche zu helfen. Ich wusch gerade grüne Bohnen, als sie mich bat, in ihren Gemüsegarten zu gehen, um mehr Zwiebeln zu holen. Zwei Jungen kamen vorbei und fingen an, mich zu hänseln. ›Sarah ist ein Gelbgesicht. Sarah ist ein Gelbgesicht.‹«

An diesem Abend erzählte ich meiner Mutter, was die Jungen gerufen hatten. »Warum haben sie denn das gesagt, Mama?«

»Das liegt bloß daran, weil du hellhäutiger bist, Baby. Das ist alles. Sie haben nix Bestimmtes damit gemeint, so sind Jungs halt.«

»Aber Mama, warum hat meine Haut eine andere Farbe als deine und die von Belle?«

»So ist das halt, Sarah. Siehst du nicht, dass niemand die gleiche Hautfarbe hat wie die anderen?«

»Miss Clarissa hat aber die gleiche Farbe wie Mr. und Mrs. Allen.«

»So hat Gott sie eben geschaffen. Sie sehen zufälligerweise gleich aus, aber wir sind alle verschieden.«

Von meinem sechsten Lebensjahr an bis ich ungefähr acht war, verbrachte ich die meiste Zeit damit, meiner Mutter und Belle im Herrenhaus und in der Küche zu helfen, die sich in einem Nebengebäude des Anwesens befand. Während dieser Jahre spielte ich weiterhin mit Clarissa in der Kinderstube, und Mrs. Allen las uns oft vor. Als Clarissa acht wurde, begann Mrs. Allen damit, Clarissa in Arithmetik, im Lesen, im Schreiben, in Geschichte, Geografie und Aquarellmalerei zu unterrichten, und ich durfte nicht mehr in der Stube sein, wenn Clarissa ihre Lehrstunden bekam.

Als ich acht wurde, etwa zu der Zeit, als Clarissa mit ihrem Unterricht begann, zeigte mir Mama ihre Kräuter und Blumen und brachte mir ihre Namen bei. Sie erklärte mir, welche von ihnen giftig sein könnten und wo in unserer Hütte sie die getrockneten Kräuter lagerte.

»Sarah, ich werde dir, so wie ich es auch bei Belle getan habe, beibringen, wie du dich selbst versorgen kannst, wenn du krank wirst. Wenn es etwas Ernstes ist, kann Mrs. Allen zwar für uns den Arzt aus der Stadt rufen lassen, aber bis es so weit ist, kann es schon zu spät sein. Und manchmal wissen diese Ärzte auch nicht wirklich, was sie tun, oder es liegt ihnen nicht viel daran, wenn es um uns geht. Also hör mir jetzt gut zu. Was ich dir beibringen werde, muss unter uns bleiben, verstanden? Erzähl nie jemandem davon.«

»Warum, Mama?«

»Weil wir von einigen dieser Kräuter eigentlich gar nichts wissen dürften, denn manche von ihnen sind … Gift.«

Sie holte sechs Behälter herunter, nannte mir die Namen der Kräuterpflanzen und ließ mich daran riechen. Dann musste ich die Augen schließen und jedes Kraut allein am Geruch erkennen. Als ich mir alle Kräuter gemerkt hatte, brachte sie mir bei, wie man Aufgüsse daraus bereitete.

»Blutwurz wird dafür hergenommen, um die Lunge zu reinigen, bei Erkältungen im Winter. Aber Blutwurz kann auch als Gift verwendet werden. Der Grund, warum du so lange gebraucht hast, um sie zu erkennen, ist, dass sie nach nix riecht. Aber die Wirkung ist stark, also nimmt man immer nur ein kleines bisschen davon. Dann schmeckt man sie nicht heraus. Man kann sie zum Beispiel in ein Getränk mischen. Stechapfel hat eine Blüte, die dir so gefällt. Manche Leute nennen ihn auch ›Teufelsapfel‹. Er ist genauso giftig, aber er wirkt auch gegen Schmerzen und Lungenbeschwerden, zum Beispiel wenn jemand nicht mehr gut Luft bekommt.«

An diesem Tag zeigte mir Mama, wie man diese sechs Kräuter anwendete, aber ihre Lektionen dauerten noch Jahre an, bis sie sicher war, dass ich insgesamt zwölf Kräuter ohne ihre Hilfe zubereiten konnte.

Alles, was mir Mama beibrachte, machte mir Freude, aber ich beneidete Clarissa um ihre Lehrstunden. Ich interessierte mich viel mehr für ihren Unterricht als für ihre hübschen Kleider und Zierbänder. Während ich in der Küche werkelte, dachte ich die ganze Zeit darüber nach, wie ich einen Weg finden könnte, an ihrem Unterricht teilzunehmen. Schließlich war es Clarissa selbst, die mir die Gelegenheit dazu verschaffte, denn ihre Eltern gaben all ihren Wünschen nach, weil sie ihre einzige Tochter war. Als ich eines Tages in ihren Räumen war, erzählte mir Clarissa, dass ihre Mutter sie gelobt habe, weil sie so schnell lernte, doch sie sagte auch, dass sie es vermisse, mit mir zu spielen. Obwohl ich wusste, dass es durchtrieben von mir war, beschloss ich, mir ihre Einsamkeit zunutze zu machen. Clarissa war nicht nur das einzige Mädchen in ihrer Familie, sondern auch das einzige Kind, das noch zu Hause lebte, da ihre älteren Brüder bereits höhere Schulen besuchten.

»Vielleicht könnte ich Ihnen ja beim Unterricht Gesellschaft leisten, Miss Clarissa, so wie damals, als wir noch zusammen im Kinderzimmer gespielt haben und Mrs. Allen uns vorlas«, sagte ich.

Sie lachte. »Das geht nicht, das war was anderes, weil wir da bloß gespielt haben. Meine Mutter hat gesagt, wir können zwar miteinander spielen, aber wenn wir mal älter sind und ich eine verheiratete Frau bin, dann muss ich lesen und mit Zahlen umgehen können. Meine Mutter meinte, dass alle jungen Damen Unterricht haben müssen, aber sie hat nicht davon geredet, dass Hausmädchen das brauchen.«

Ungefähr einen Monat später erzählte sie mir, dass sie Langeweile hätte. »Willst du nicht mit mir Puppen spielen?«

»Meine Mama sagt, dass ich alles machen muss, was Sie wollen, Miss Clarissa.«

Dann spielten wir mit ihren Puppen und ihrem neuen Puppenhaus, aber ich tat bloß so, als sei ich bei der Sache, und sie bemerkte es wohl.

»Magst du nicht mehr mit mir spielen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wie meine Mama gesagt hat, ich muss tun, was immer Sie mir auftragen, Miss Clarissa.«

Clarissa schlug mich, und ich weinte. Sie hielt mir den Zeigefinger drohend vors Gesicht.

»Du bist doch bloß neidisch, weil ich meine Mutter nicht gebeten habe, dass du bei meinen Unterrichtsstunden dabei sein darfst. Ich hab’s dir gesagt. Du kannst keinen Unterricht bekommen, weil du mein Hausmädchen bist. Und jetzt geh. Ich will dein schmutziges, dummes Gesicht nicht mehr sehen.«

Ich war verletzt, aber ich erzählte niemandem, nicht einmal Belle, dass Clarissa mich geschlagen hatte, denn ich war wild entschlossen, meinen Plan durchzusetzen und an ihren Lehrstunden teilzunehmen. Dabei war ich zuversichtlich, denn schließlich hatte Mrs. Allen mir schon zuvor erlaubt, mit Clarissa in ihrer Stube zu spielen, und es sogar geduldet, dass ich blieb, als sie Clarissa laut vorgelesen hatte. Mein raffinierter Plan würde sich bestimmt verwirklichen lassen, denn ich wusste, dass Clarissa sich nicht nur nach einer Spielkameradin sehnte, sondern dass sie jeden wachen Moment mit Spielen verbringen wollte und mich deshalb zu sich bestellte. Es war Clarissas Schwäche für alberne Zerstreuungen, denen sie nachging, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen ihres Verhaltens zu verschwenden oder daran, welche Auswirkungen ihr Handeln auf andere Menschen hatte. Und es war die Nachsicht ihrer Eltern gegenüber ihrer Selbstsucht, die, als wir älter wurden, noch katastrophale Folgen haben würde. Eines Tages, während ich die Möbel in ihrem Zimmer polierte, spielte sie mit ihren Puppen und ihrem Hund King.

»Sarah, wenn du wieder wie früher mit mir spielst, bitte ich Mama nachher, dass du während meiner Unterrichtsstunden mit in der Stube bleiben darfst.«

Ich strahlte.

Wir spielten eines unserer Lieblingsspiele, bei dem wir uns gegenseitig, auf einem Bein hüpfend, fangen mussten. Und wir spielten noch andere Spiele, von denen wir manche bereits gespielt hatten, als wir erst zwei oder drei Jahre alt waren.

Clarissa hielt ihr Versprechen und bestand darauf, dass ihre Mutter mir erlaubte, mit im Zimmer zu bleiben, während sie unterrichtet wurde. Auch King saß ein paar Minuten bei uns, verlor aber bald das Interesse an seiner Rolle als Schüler und trottete davon, um sich abzuschlecken und zu kratzen. Ich aber saß still da und achtete auf jedes Wort. Mrs. Allen rief Clarissa an die Tafel, und ich beobachtete, wie sie schrieb, und verfolgte aufmerksam Mrs. Allens Verbesserungen. Am Ende sagte Mrs. Allen, dass ich jederzeit wiederkommen dürfe, wenn ich wollte, und dass sie mich bei meiner Mutter von der Arbeit entschuldigen würde. Einige Monate, nachdem ich begonnen hatte, an Clarissas Unterricht teilzunehmen, wollte Mrs. Allen, dass sie das Wort »Temperatur« buchstabierte.

»T-e-m-p-e-r-a-t-u-r«, sagte ich.

Clarissa schwieg, und auch Mrs. Allen sagte zunächst nichts, schloss dann aber rasch die Tür und reichte mir eine Lesefibel. Mit sanfter Stimme sagte sie zu mir:

»Kennst du die Buchstaben, Sarah?«

»Ja, ja, Madam.«

»Kannst du lesen?«

»Ja, Madam.«

»Dann lies den ersten Satz vor«, sagte sie zu mir.

Ich las ihn laut vor.

»Hier ist die Kreide. Schreib den Satz.« Ich schrieb ihn, aber nicht ganz richtig. Mrs. Allens Gesicht war gerötet. Sie flüsterte: »Kinder, es ist sehr, sehr wichtig, dass ihr niemandem erzählt – auch nicht Mr. Allen, Emmeline oder Belle, niemandem –, dass Sarah lesen und schreiben gelernt hat. Wenn ihr es jemandem verratet, dürft ihr nie wieder miteinander spielen oder zusammen Unterricht haben. Habt ihr verstanden?«

»Ja, Madam«, sagten wir einmütig.

Mrs. Allen starrte mich an, aber ich hatte keine Angst, denn sie war nicht wütend. Ich konnte kaum glauben, dass ich lesen und schreiben gelernt hatte, und sie sagte auch nicht, dass sie mich nicht weiter unterrichten würde.

Am nächsten Tag, als ich wieder zu Clarissas Unterricht kam, sperrte Mrs. Allen die Tür hinter uns ab.

»Kinder, ich werde Sarah unterrichten, aber ihr müsst mir beide noch einmal versprechen, dass ihr niemandem sagen werdet, dass sie lesen und schreiben gelernt hat. Sarah, du darfst es nicht einmal Emmeline oder deiner Schwester verraten. Wenn ihr es irgendjemandem erzählt, wird das für Sarah, ihre Mutter und ihre Schwester schreckliche Folgen haben. Sie werden Allen Estates verlassen müssen, und Clarissa, dann siehst du Sarah niemals wieder. Habt ihr das beide verstanden?«

»Ja, Madam«, sagte ich.

»Ja, Mama. Wir haben es verstanden. Wir werden es niemandem erzählen. Versprochen«, sagte Clarissa, und wir blickten beide feierlich und ernst drein.

Unser Unterricht wurde fortgesetzt. Für mich waren es wundervolle Tage, denn ich wurde in eine Welt versetzt, deren Existenz ich bis zu jenem Zeitpunkt nicht einmal erahnt hatte. In den ersten beiden Unterrichtsjahren machten Clarissa und ich beide bedeutende Fortschritte. Wir lernten Arithmetik und Schreiben, und Mrs. Allen, die eine talentierte Lehrerin war und ihr umfassendes Wissen gern mit uns teilte – und das zu einer Zeit, in der es Frauen noch nicht erlaubt war, die Universität zu besuchen –, überraschte uns mit Farben, Pinseln und speziellem Papier und zeigte uns, wie man Aquarelle malte.

Damals kam mir noch nicht in den Sinn, was für ein außerordentlicher Segen es war, dass Mrs. Allen das enorme Risiko auf sich nahm, mir Lesen und Schreiben beizubringen. Aber ich war dankbar für die Güte, die mir Mrs. Allen entgegenbrachte. Als ich schließlich noch in jungen Jahren erfuhr, dass meine Mutter nicht die einzige Frau war, die Mr. Allen schlecht behandelte, hatte ich Mitgefühl mit Mrs. Allen.

Als Hausmädchen wurde von mir erwartet, dass ich mich sofort zu meiner Herrin begab, wenn sie nach mir verlangte oder die Glocke läutete. Gleichzeitig sollte ich jedoch keine Gespräche oder Geschehnisse mitbekommen, die nicht für meine Augen oder Ohren bestimmt waren. Als ich acht Jahre alt war und Clarissas Mädchen wurde, fragte ich Bessie, warum Mrs. Allen so häufig weinte, und sie sagte, dass Mr. Allen seine Frau nicht anständig behandele. Daraufhin erzählte ich meiner Mutter, was Bessie gesagt hatte.

»Warum hat sie dir das erzählt? Grundgütiger! Sie sollte es eigentlich besser wissen. Du bist zu jung für solche Dinge, und wenn Mr. Allen wüsste, dass sie dir das gesagt hat, dann … ich will nicht mal dran denken, was er dann tun würde.«

»Aber Mrs. Allen hat geweint, Mama. Sie hat mir leidgetan.«

»Ich weiß, Kind. Mich macht das auch traurig. Gott weiß, sie hat kein’ Grund, gut zu dir zu sein, doch sie ist es. Aber Bessie und ich, wir versuchen ihr zu helfen. Sarah, du hast doch Clarissa nix davon erzählt, oder?« Dann sah sie mich eindringlich an, als wolle sie meine Gedanken lesen. »Sarah, du hast mit Clarissa darüber gesprochen, nicht wahr?«

»Mama, wir waren in der Stube, als Mrs. Allen zu weinen anfing. Clarissa hat sich auf ihren Schoß gesetzt und ihr die Tränen mit einem Taschentuch abgewischt. Danach hat sie aufgehört zu weinen und uns was vorgelesen.«

Wenn ich nicht mit Clarissa beim Unterricht war, war ich Bessie unterstellt, die mir beibrachte, wie man ein richtiges Hausmädchen wird, und als ich elf Jahre alt war, fing ich an, Mr. Allens Büro sauber zu machen. Wenn ich dort war und die Regale abstaubte, schloss ich die Tür. Ich erinnerte mich nur zu gut, wie Mrs. Allen Clarissa und mich davor gewarnt hatte, irgendwem zu erzählen, dass ich lesen und schreiben gelernt hatte, und auch meine Mutter hatte mir eingebläut, ich könnte ausgepeitscht werden oder Schlimmeres, wenn man mich dabei erwischte, wie ich einen Blick in ein Buch warf. Doch während ich in Mr. Allens Büro sauber machte, konnte ich nicht anders, als die Papiere und Schreibgeräte auf Mr. Allens Pult in Augenschein zu nehmen. Eines Tages las ich aufgeregt ein Dokument, mit dem Sklaven Bewegungsfreiheit gewährt wurde, und merkte, dass es dem ganz ähnlich war, welches der Aufseher dem Kutscher Johnny gab, bevor wir die Plantage mit dem Wagen durch das Haupttor verlassen durften, um in die Stadt zu fahren. Nachdem ich den Passierschein gelesen hatte, ertappte ich mich mehrere Tage dabei, wie ich herumhopste und immer grinsen musste, wenn ich daran dachte, bis mich meine Mutter fragte, ob ich mein Geheimnis nicht mit ihr und Belle teilen wolle.

»Nein, Mama«, sagte ich und rieb mir den Bauch. »Ich habe kein Geheimnis, aber dieser Pfirsichkuchen, den du letzten Sonntag für uns gebacken hast, war einfach so lecker, dass ich sicher noch ’nen Happen davon vertragen könnte.«

Mama und Belle lachten, und Mama schüttelte den Kopf.

»Ach Kind, du bist wirklich albern. Ich weiß sehr wohl, dass das nicht der Grund ist, warum du so glücklich bist, aber gut, behalt deine kleinen Geheimnisse ruhig für dich, solang es sich bloß um Harmlosigkeiten handelt«, sagte Mama, kniff mir in die Wange und küsste mich.

Nach diesem Vorfall beschloss ich, mit dem Gegrinse aufzuhören und meine Freude nicht mehr offen zu zeigen, denn ich wollte nicht, dass irgendjemand dahinterkam, was ich vorhatte – ich wollte lernen, einen Passierschein auszustellen, indem ich Mr. Allens kopierte. Ich hatte Angst, aber allein der Gedanke an meinen Plan versetzte mich in Aufregung. Obwohl ich noch zu jung war, um mir darüber im Klaren zu sein, wie ich dieses Wissen nutzen konnte, war mir dennoch bewusst, dass ein Sklave mit einem solchen von Mr. Allen geschriebenen Schein die Plantage verlassen konnte. In meiner naiven Art bildete ich mir ein, dass meine Mutter und Belle vielleicht nur deshalb solche Angst vor dem Weglaufen hatten, weil sie nicht ahnten, wie leicht es war, aber jetzt, da ich wusste, wie man einen Passierschein schrieb, konnte ich einen für uns drei in Mr. Allens Handschrift ausstellen. Erst als ich älter war, begriff ich, dass die größte Schwierigkeit gar nicht darin bestand, von Allen Estates zu fliehen, sondern vielmehr darin, seine Freiheit auch nach der Flucht zu behaupten.

Als ich das nächste Mal in Mr. Allens Büro sauber machte, pochte mein Herz wie wild, und meine Hände zitterten, als ich allen Mut zusammennahm, um einen Schein zu kopieren. Es gestaltete sich schwierig, weil mir der Federhalter mehrmals aus den zitternden Fingern glitt und ich jedes Mal innehielt, wenn ich jemand draußen auf dem Flur hörte und fürchtete, dass er hineinkommen könnte. Ich nahm einen leeren Bogen aus der Lade mit dem Schreibpapier und übte Mr. Allens Handschrift so lange, bis ich keinen Unterschied zwischen seiner und meiner mehr erkennen konnte. Dann riss ich meine Kopien in kleine Schnipsel, die ich später in das Loch des Aborts warf. Stolz auf meine Leistung und von der Angst befreit, dass mir jemand auf die Schliche kommen könnte, zeigte ich meine Freude wieder offen, indem ich meine Mutter und Belle während der Arbeit küsste und umarmte, bis sie meiner überdrüssig wurden und mich lachend von sich schoben.

Ich erinnere mich noch heute an den Passierschein, den ich damals kopiert habe:

Dieser Passierschein gilt für die folgenden Sklaven, die sich alle im Besitz von Herrn Cornelius F. Allen von der Allen-Estates-Plantage in Benton County befinden. Der Fahrer des Wagens ist Johnny, der ca. einen Meter achtundsiebzig groß ist, schwarze Hautfarbe hat und kräftig gebaut ist. Johnny trägt das Brandzeichen von Allen Estates auf seiner Brust. Missy, ca. eins siebenundfünfzig groß, mit schwarzer Hautfarbe und einem kleinen, schmalen Gesicht, ist eine Näherin, die Stoff bei Russell & Strong’s kaufen soll. Sammy ist ein Mulatte mit hellerer Hautfarbe, ca. eins dreiundachtzig groß, der Lederwaren zu Fielding’s bringt, um sie dort zu verkaufen. Sollte einer dieser Sklaven außerhalb des Verwaltungsbereichs Benton County aufgegriffen werden oder des Nachts innerhalb von Benton County, ist eine Belohnung von jeweils dreihundert Dollar auf ihre Rücküberstellung an ihren Besitzer angesetzt.

Als ich zwölf Jahre alt war, ging meine Mutter immer noch nachts zu Mr. Allen, aber ich gewöhnte mich langsam an ihre Abwesenheit. Belle erzählte mir nicht mehr so viele Geschichten wie früher, aber sie lehrte mich weiterhin das Stricken, und ich arbeitete bedächtig an Schultertüchern für sie und meine Mutter. Belle und ich vertrieben uns die Zeit damit, indem wir die Ereignisse des Tages besprachen.

»Erinnerst du dich noch, als ich geweint habe, weil mich diese Jungen Gelbgesicht genannt haben, und Mama meinte, es hätte nichts zu bedeuten?«

»Ja.«