Der Hirte - Ingar Johnsrud - E-Book
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Der Hirte E-Book

Ingar Johnsrud

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Beschreibung

Der Nr.-1-Bestseller aus Norwegen!

Die Tochter der einflussreichen Politikerin Kari Lise Wetre wird vermisst – ein Routinefall für Hauptkommissar Fredrik Beier. Doch kurz darauf wird Beier nach Solro beordert, einem alten Hof vor den Toren Oslos. Fünf Männer wurden auf dem Sitz der christlichen Sekte »Gottes Licht« grausam getötet. Das Gelände des Hofs ist ausgestattet wie ein Hochsicherheitstrakt, und im Keller des Gebäudes stoßen die Ermittler auf ein Labor, das auf erschreckende Experimente hinweist. Von den restlichen Mitgliedern der Sekte fehlt jede Spur, unter ihnen die vermisste Annette Wetre ...

Alle Bände der Fredrik-Beier-Reihe
Der Hirte (Bd. 1)
Der Bote (Bd. 2)
Der Verräter (Bd.3)

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Buch

Die Tochter der einflussreichen Politikerin Kari Lise Wetre wird vermisst – ein Routinefall für Hauptkommissar Fredrik Beier. Kurz darauf wird Beier nach »Solro« beordert, einen alten Hof vor den Toren Oslos. Fünf Männer wurden auf dem Sitz der christlichen Sekte »Gottes Licht« grausam abgeschlachtet. Das Gelände des Hofs erinnert an einen Hochsicherheitstrakt, und im Keller des Gebäudes stoßen die Ermittler auf ein Labor, das auf monströse Experimente hinweist. Von den restlichen Mitgliedern der Sekte fehlt jede Spur, unter ihnen die vermisste Annette Wetre ...

Autor

Ingar Johnsrud, Jahrgang 1974, wuchs in Holmestrand auf. Er studierte Publizistik und Filmwissenschaft und arbeitete fünfzehn Jahre als Journalist bei einem der größten norwegischen Medienunternehmen. Sein erster Thriller um den Osloer Ermittler Fredrik Beier, Der Hirte, wurde als bestes Krimidebüt für den Maurits-Hansen-Preis nominiert, und in seiner Heimat wird Johnsrud als neuer Star der skandinavischen Spannungsliteratur gefeiert.

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Ingar Johnsrud

Der Hirte

Thriller

Deutsch von Daniela Stilzebach

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Wienerbrorskapet« bei Aschehoug & Co., Oslo.Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert, wofür wir uns herzlich bedanken.

Copyright der Originalausgabe © Ingar Johnsrud 2015

Published by agreement with Salomonsson Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: plainpicture/NordicLife/Terje Rakke

WR · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-18685-2V002

www.blanvalet.de

In jeder heterogenen Population, wie z. B. der humanen, spielt die Auswahl – die Selektion – eine entscheidende Rolle. Je strenger die Selektion, umso besser wird sich die Art erhalten.

Die Auswahl der besten, lebensfähigsten Exemplare einer Art wurde ursprünglich durch die Natur selbst getroffen – sowie durch Menschen, solange sie nur in Übereinstimmung mit der Natur handelten. Die ersten menschlichen »Eingriffe« erfolgten nämlich nicht wider die Natur, sondern vielmehr, um die natürlichen Prozesse zu unterstützen. Dass die hierfür gewählten Methoden strittig und unserer Auffassung nach in Teilen grausam waren, steht auf einem anderen Blatt, doch stellt sich heute die Frage, ob der moderne Mensch, indem er das entgegengesetzte Extrem zelebriert und alles, was schwach und gebrechlich ist, zu fördern sucht, nicht vielleicht neuerliche Grausamkeiten begeht, die sich hinsichtlich der Barbarei an den alten messen können.

Aus der Einleitung zu Rassenhygiene von Jon Alfred Mjøen, Jacob Dybwads Forlag, 1938.Jon Alfred Mjøen starb 1939.

Teil 1

1

Im Halbdunkel räumte die Flugbegleiterin das unberührte Tablett mit Räucherlachs, Wolfsbarsch aus dem Bosporus und Wiener Apfelstrudel ab. Sie arbeitete zügig und so routiniert, dass sie nicht einmal mehr hinsehen musste. Flüchtig schaute sie zu ihm hinüber. Bekam den gleichen Ausdruck im Gesicht wie so viele, die ihn aus nächster Nähe sahen. Wie bei einer kurzen Bildstörung, nur dass sie nicht hätte sagen können, was genau es war. Als sie sich nach dem Champagnerglas streckte, legte er die Hand auf ihre. Sie zog sie sofort wieder weg.

Langsam schob er das Rollo vor dem Fenster nach oben. Die anderen Passagiere schliefen. Eine blinkende Lampe draußen auf dem Flügel sorgte für blasse Reflexe auf der Scheibe. Dort unten, weit unten, schwammen goldene Lichter. Europa. Das letzte Mal war lange her. Er schloss die Augen, strich mit den Zeigefingern über die Kante der Maske und dachte an alles, was hinter ihm lag.

Der Staub hatte träge in der leichten Nachmittagsbrise getanzt. Die glühend heiße Sonne war in einen blass graublauen Schleier gehüllt. Die Steppe lag tausend Meter über dem Meeresspiegel, hier war die Luft dünn, der Luftwiderstand niedrig. Die Voraussetzungen hätten nicht besser sein können.

Reglos kauerten sie hinter der Scharte im alten Minarettturm auf der Steintreppe. Die Außentemperatur betrug fast vierzig Grad. Hier drinnen war es nur unmerklich kühler.

Er versuchte, die Augen zu entspannen. Blinzelte und starrte hinab in die Wolken, wohl wissend, dass Hvalen mit dem Fernrohr alles im Blick hatte. Das Treffen dauerte bereits seit fast vier Stunden an. Sollte der Gouverneur es bis Anbruch der Dunkelheit zurück in sein verschanztes Heim schaffen, würde er seine Sachen packen müssen.

Hvalen tippte ihm auf die Schulter. Er wusste, was das bedeutete. Er legte die Hand an den Ladegriff und sah durch das Visier hinüber zu der ungestrichenen rostbraunen Wand. Ein barhäuptiger Mann in dunkler Weste und hellem perahan tunban, dem traditionellen Gewand afghanischer Männer, hatte die Balkontür geöffnet. Das war Hassam, der Informant, der den Gouverneur hierhergelockt hatte.

Hassam trat zur Seite und machte dem älteren Mann Platz am schmiedeeisernen Balkongeländer. Gouverneur Osmal Abdullah Kamal. Das Fadenkreuz glitt über den braunen Turban, dann weiter über den üppigen, grau melierten Bart. Schweigend blickten die beiden Männer über die Mohnfelder.

Durch den Rückstoß verlor er das Ziel kurz aus dem Blick. Als er das Gewehr senkte, erkannte er, dass die .338 Lapua Magnum etwa fünf Zentimeter neben dem Brustbein eingedrungen war. Das Projektil hätte sein Ziel schlimmer verfehlen und nichtsdestoweniger töten können. Trotzdem hämmerte Verdruss in seinen Schläfen. Anstatt ein apfelsinengroßes rotes Loch in das helle Gewand des Gouverneurs zu schlagen, riss die Brust regelrecht entzwei. Eine hellrote Fontäne aus Blut prasselte auf den Balkon, auf Hassam und die Wand hinter den beiden nieder. Der Körper schleuderte gegen die Tür, wo er jäh innehielt. Für einen kurzen Augenblick blieb der Gouverneur leicht vornübergebeugt stehen, bevor das dünne Holz in seinem Rücken nachgab. Staub wirbelte auf, als die Leiche auf dem Boden aufschlug.

Ladegriff. Das Klirren der leeren Hülse auf der Treppe.

Neben den Sandalen des Gouverneurs krümmte Hassam sich zusammen. Womöglich betete er. Vielleicht hatte ihn auch Panik ergriffen. Oder er schauspielerte für die herbeieilenden Leibwächter. Es spielte keine Rolle mehr. Der Schütze richtete die Waffe in der Brise neu aus und erhöhte den Druck auf den Abzug. Im nächsten Augenblick kippte Hassams Körper zur Seite. Hirn, Blut, Haut und Schädelsplitter bildeten an der Wand des Lagers einen orangeroten Heiligenschein.

Der Schütze blinzelte, als wäre sein Auge eine Kamera und sein Blinzeln das winzige, kaum fassbare Dunkel, wenn der Spiegel hinunterklappte und die Zeit gefror. Dies war sein Augenblick, für immer festgehalten.

»Leb wohl, Hassam«, murmelte Hvalen.

Der Schütze wickelte das Gewehr in ein Tuch. Während Hvalen noch sein Fernrohr zusammenpackte, stand er auf und stieg die drei Stufen hinauf zu dem Mann, der gefesselt auf dem Treppenabsatz über ihnen lag. Fliegen surrten um das geronnene Blut auf seiner Stirn. Unmöglich zu erkennen, ob der alte Imam mit der Augenbinde bei Bewusstsein war. Sein Atem ging schnell und gurgelnd. Der Schütze zog die automatische Pistole aus dem Holster, doch Hvalen schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig.«

Vor dem Minarett gaben sie einander die Hand.

»Die Organisation wünscht dir viel Glück in Norwegen«, sagte Hvalen zum Abschied.

Er schnaubte.

2

»Fredrik Beier. Mit i, nicht y.«

»Adresse?«

»Sorgenfrigaten sechs. In Majorstua.«

»Im Heineckegården?«

»Bitte?«

»Heißt der Häuserkomplex nicht Heineckegården? Und Sie sind geboren in …«

»In … Hier in Oslo. Spielt das irgendeine Rolle?«

»Tut mir leid, ich meinte das Jahr. Wie alt sind Sie?«

»Achtundvierzig. Ich bin achtundvierzig.«

Der Hauptkommissar streckte sich auf dem Ledersofa nach vorne, griff nach dem Löffel, den er für den Pulverkaffee gebraucht hatte, und drehte ihn, bis er sein erschöpftes Spiegelbild darin fand. In dem gebogenen Metall waren die feinen grauen Strähnen an den Schläfen kaum zu sehen. Allerdings hatte es den Anschein, als wäre ihm der schmale, akkurat gestutzte Bart im Rausch aufgemalt worden.

Vor ihm saß der Polizeipsychologe. Über ihm hing ein Poster von Ernest Hemingway mit freiem Oberkörper. Er posierte ausdruckslos mit einer doppelläufigen Schrotflinte.

»Hat Hemingway sich nicht erschossen?«

»Genau wie sein Vater.«

»Ist es für einen Psychologen nicht ein bisschen merkwürdig, sich einen Kerl an die Wand zu hängen, der sich das Hirn weggeblasen hat?«

»Genauso merkwürdig wie Ihre Adresse, könnte man meinen. Dass ausgerechnet Sie in einer Straße namens ›Sorgenfrei‹ wohnen«, entgegnete der Psychologe und nickte in Richtung der dicken Patientenakte auf dem Tisch.

Der Ermittler schnaubte. Die Adresse war bestenfalls Zufall. »Meine Exfrau hat die Wohnung ausgesucht.«

»Sie waren also verheiratet? Kinder?«

»Drei … Zwei. Zwei, meine ich.«

»Drei oder zwei?«

»Eins ist gestorben.«

»Das tut mir leid. Was ist passiert?«

Dieser Hirnkriecher mit dem Doppelkinn zog das Haargummi im Nacken straff.

Hierher kamen Polizisten aus der ganzen Stadt, um sich auszukotzen. Der Gestank von Verbitterung, Unzulänglichkeit und Angst, der hier tagtäglich über die schmutzig weiße Textiltapete schwappte, war ekelhaft. Das Sprechzimmer hatte die Größe einer Zelle, und Fredrik Beier brauchte Luft. Der abgenutzte Lederbezug des Sofas quietschte unter ihm, als er aufstand. Der lange Körper reichte fast bis an die Decke. Er stellte sich ans Fenster. Die fleckigen Gardinen flatterten über die regennasse Alufensterbank.

Der Psychologe machte sich nicht mal die Mühe, sich zu ihm umzudrehen. Als Fredrik über die Schulter blickte, sah er nur den strähnigen Pferdeschwanz und den schweißglänzenden Scheitel. Das Gehirn darunter musste mariniert sein mit den finstersten Polizistengeheimnissen. Dieser Kerl war wirklich die Polizeilatrine Oslos. Einen Teufel würde er tun, mit diesem Kerl über seinen Sohn zu sprechen.

»Wohnen Sie mit Ihren Kindern zusammen?«

Fredrik rieb sich die Augen. »Nein. Sie wohnen in Tromsø. Bei ihrer Mutter. Alice. Und deren neuem Mann.« Es knackte schmerzhaft im linken Knie, als der Polizist sich wieder aufs Sofa setzte. »Ich bin nicht freiwillig hier. Es hieß, das hier oder eine längere Beurlaubung.«

Der Psychologe fuhr mit dem Daumen über die Falte seines Doppelkinns. »Weil Sie nicht glauben, dass Sie krank sind?«

Der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, was er von Selbstdiagnostikern hielt.

»Psycho?«, antwortete Fredrik und sah ihn an. »Nein.«

3

Der Junihimmel hing grau über dem Jernbanetorget. Vor dem Autofenster eilten die Bewohner Oslos mit Regenschirmen und Allwetterjacken vorbei. Fredrik klappte die Sonnenblende nach unten, warf einen Blick in den Spiegel und strich sich durch die kurzen Haare. Dann angelte er seine neue Brille aus der Tasche. Ein Metallgestell, die Gläser groß, beinahe viereckig. Damit sah er aus wie ein ostdeutscher Spion, fand er. Das gefiel ihm. Er verzog den Mund, fuhr sich mit den Fingerspitzen über den Bart und spähte verstohlen zu seinem Nebenmann hinüber.

»Kari Lise Wetre«, wiederholte Oberkommissar Andreas Figueras, diesmal lauter, und trommelte mit den Daumen auf das Lenkrad. »Stand sie nicht eine Zeit lang unter Personenschutz?«

Fredrik lehnte den Kopf zurück. Über der Nackenstütze lag eine Holzkugel-Sitzauflage. »Es ist nie was dabei rausgekommen.«

Der Partner schnalzte mit der Zunge – jetzt erinnerte er sich wieder. Sie bogen in die Kongens gate ein und fuhren in Richtung des verwaisten Zentrums. Zwischen die Büros und Verwaltungsgebäude verirrten sich bloß Touristen, einfache Angestellte und die verlorenen Seelen dieser Stadt. Die Tristesse eines Stadtteils namens Kvadraturen.

»Worum ging es in dem Fall noch mal?«, fragte Andreas. »War das nicht irgend so eine Homogeschichte?«

»Tja. Sie war Zeugin, als ein homosexuelles Paar vor dem Colosseum-Kino verprügelt wurde. Ein paar Tage vor dem Prozess rief ein Mann bei ihr an und drohte damit, ihr den Unterleib aufzuschlitzen, wenn sie aussagte. Es wurden noch mehr Leute bedroht, aber bei ihrem Bekanntheitsgrad haben natürlich die Alarmglocken geschrillt.«

»War ja klar, dass sie eine Sonderbehandlung bekam. Verfluchte Politiker«, knurrte Andreas, zog sich die Brille aus den silbergrauen Locken und setzte sie auf. Andreas war einige Jahre älter als er, trotzdem war Fredrik sein Vorgesetzter.

»Irgendwelche Verbindungen zu dieser Sache?«, fuhr er fort, nachdem Fredrik die großzügige Einladung ausgeschlagen hatte, Gift und Galle gegen ihre Volksvertreter zu spucken.

»Nichts, was darauf hinweist, nein.«

»Aber jetzt ist ihre Tochter verschwunden?«

»Die Tochter und das Enkelkind. Sie gehören angeblich irgendeiner eigenartigen Glaubensgemeinschaft an.«

»Ein neuer Scheißfall also«, stöhnte Andreas und reckte das ohnehin schon ausladende Kinn. Wenn er nicht gerade verärgert war – was selten vorkam –, war Andreas mit seinen unergründlichen Augen, dem südländischen Teint und dem kantigen Gesicht womöglich der attraktivste Polizist der ganzen Stadt.

Fredrik schloss die Augen und dachte an die Frau, der sie gleich gegenübertreten würden. Sie war extrem stilsicher, fast schon unnorwegisch. Stellvertretende Vorsitzende der Kristelig Folkeparti, kurz KrF, seit sie verloren hatte, was die Medien damals die Schlacht um den Chefposten der Partei genannt hatten. Im Fernsehen war sie eine der wenigen Politiker, die die Kunst beherrschten, aufrichtig rüberzukommen, ohne auch nur ansatzweise heuchlerisch zu wirken.

Sie parkten auf dem Schotterplatz vor dem elegant geschnittenen Gebäude der Oslo Militære Samfund, das direkt an die Festung Akershus grenzte. Fredrik schob die Cordjacke zurecht, stopfte das weiße T-Shirt in die Jeans und sah zu seinem Partner hinüber. Andreas besaß drei naturweiße Hemden, drei graue Hosen und zwei schmal geschnittene Anzugjacken. Die Sachen standen ihm gut. Fredrik sah ihn selten in etwas anderem.

»Es ist eine Feier für Kriegsveteranen«, erklärte Fredrik, als sie an den beiden bauchigen Kanonen am Eingang vorbeiliefen. Drinnen roch es nach Zitrone und Garnelen. In dem großen Festsaal saßen rund einhundert Männer und ein paar wenige Frauen: Nazijäger, Islamistenjäger, Friedensritter. Dem Armeechef und einer Handvoll profilierter Veteranen waren Ehrenplätze unter den Porträts des Königspaars zugeteilt worden. Kari Lise Wetre saß am hinteren Ende des Saals, wo der königliche Leitspruch Alt for Norge – »Alles für Norwegen« – in goldfarbenen Lettern unter die Decke gemalt worden war. Sie unterhielt sich lebhaft mit ihren beiden Tischherren. Der eine war ein stattlicher rothaariger Mann in den Fünfzigern. Sein Bart erinnerte an eine Raupe mit aufgestellten Härchen. Der andere war ein gebrechlicher Alter, der augenscheinlich bereits früh im Leben schwer verletzt worden war. Brandwunden, wie es aussah. Die Haut über seinem Schädel wirkte brüchig und verblasst, wie Pappe, die feucht geworden und wieder getrocknet war. Die kalkweißen Hände ruhten auf dem runden Griff eines schwarzen Gehstocks.

Fredrik bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen hindurch und fing Wetres Blick auf. »Hauptkommissar Beier. Wir haben telefoniert …«

Die KrF-Politikerin sah erleichtert zu ihm auf.

»Meine Herren, ich muss leider zum Ende kommen. Darf ich Ihnen Stein Brønner vorstellen. Er ist Kriegshistoriker«, sagte sie und lächelte in Richtung Raupenlippe. »Und das ist Kolbein Ihme Monsen. Herr Monsen ist einer unserer Helden des Zweiten Weltkriegs.«

Der Veteran starrte den Hauptkommissar mit dunklen, klaren Augen an. »Beier …«, murmelte er und gab ihm die Hand. Dann zog er einen gravierten Klappkamm aus der Brusttasche, auf dem in verschnörkelter Schrift »KIM« eingraviert war. Leicht zittrig presste er die Haarstoppeln in seinem Nacken wieder an ihren Platz.

Andreas wartete im angrenzenden Salon. An den Wänden hingen handgezeichnete Karten und Gemälde von Offizieren mit finsteren Gesichtern.

Die Politikerin hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf. »Ich bin wirklich enttäuscht darüber, wie lange das gedauert hat. Es ist über einen Monat her, dass ich die Polizei kontaktiert habe.«

Andreas’ Blick flackerte beunruhigend.

»Ihre Tochter ist eine erwachsene Frau«, gab er zurück. »Da wir nach wie vor nicht mit Sicherheit sagen können, ob ein Verbrechen vorliegt, wäre es immer noch möglich, dass sie ganz einfach keinen Kontakt mehr haben möchte« – Andreas sah sie über die Brille hinweg an – »mit ihren Eltern.«

Wetre holte tief Luft, doch Fredrik kam ihr zuvor.

»Was mein Kollege versucht zu sagen, ist, dass wir erst diverse Maßnahmen hinsichtlich der Schweigepflicht und so ergreifen mussten. Sowohl die Ermittlungsbehörden als auch das Jugendamt sind aufrichtig besorgt um das Wohlergehen Ihres Enkels … William?«

»William David Wetre Andersen. Er wird bald vier.«

»Richtig. Tja, das Jugendamt hatte bereits zu einem früheren Zeitpunkt Probleme mit der Glaubensgemeinschaft, der Ihre Tochter angehört. Insofern haben wir die Ermittlungen unter der Annahme eingeleitet, dass es sich um einen Vermisstenfall handeln könnte.«

»Wunderbar.« Wetre bedachte Andreas mit einem durchdringenden Blick.

Dann setzten sie sich.

4

Hätte er schätzen müssen, hätte er auf fünfundvierzig getippt, auch wenn er wusste, dass sie älter war. Schon über fünfzig. Ihr Alter war ein Grund, warum sie nur stellvertretende Vorsitzende geworden war. Die dunklen Haare waren im Nacken hochgesteckt, und sie trug ein schmal geschnittenes graues Kostüm. Um ihren Hals hing ein kleines Silberkreuz.

»Ich habe Annette seit einem halben Jahr weder gesehen noch gesprochen«, erklärte sie.

Ihre Stimme klang jetzt tiefer als zuvor. Offenbar wollte Wetre den Eindruck erwecken, dass sie Herrin ihrer Gefühle war. Kein ungewöhnlicher Zug bei Personen, die es gewohnt waren, dass andere zu ihnen aufsahen. Schwäche galt ihnen als unverzeihlich. Am meisten die eigene.

»In aller Regel verzweifeln Eltern doch daran, dass ihre Kinder rebellieren. Dass sie sich betrinken, mit Drogen experimentieren, Sex haben, was weiß ich? So war es bei uns nie. Meine Tochter ist wütend auf mich, weil sie der Ansicht ist, ich wäre zu liberal. Und ich bin wütend auf sie, weil sie mit meinem Enkelkind abgetaucht ist. Und weil sie ein erzkonservatives Weibsstück ist.« Wetre verzog das Gesicht, ehe sie fortfuhr: »Für Annette …«

Der Stuhl knarzte, als sie sich zurücklehnte und den Blick starr zur Decke richtete, als würden die Worte, nach denen sie suchte, irgendwo dort oben unter dem Stuck stehen.

»Annette lebt ausschließlich für Gott.«

Wetres Haar war glatt und gepflegt, jedes einzelne lag akkurat an seinem Platz. Ständig wanderte ihre Hand nach oben, um jegliche Widerspenstigkeit im Keim zu ersticken.

Es hatte schon im Teenageralter begonnen. Annette hatte sich geweigert, mit ihnen in die Kirche zu gehen, weil sie die dortige Pfarrerin verabscheut hatte. Homophile Pfarrer im Allgemeinen. Jede Abweichung von der Liturgie. Die Kirche spotte ihrem eigenen Gott, war ihre Ansicht gewesen.

Wetre lachte kurz und schüttelte den Kopf. Die feinen Fältchen um ihre Augen schienen ein wenig deutlicher hervorzutreten, als es die Kameras für gewöhnlich preisgaben. Trotzdem war die Politikerin ihrem Alter Ego aus dem Fernsehen verblüffend ähnlich, wie er fand. Das diskrete Make-up war perfekt aufgetragen, der rote Mund strahlte Glaubwürdigkeit und Wärme aus. Und noch etwas stellte er zögernd fest: Der Farbton ihres Lippenstifts war gerade so dunkel, dass er sinnlich wirkte. Dezent elegant. Das war kein Lippenstift, das war eine Hinwendung an Kopf, Herz und den Schwanz.

Wahrhaftig einer Politikerin würdig.

»Trotzdem hatten wir einen gewissen Respekt voreinander. Erst als sie ein Teil von Gottes Licht wurde – dieser Glaubensgemeinschaft, wie Sie es nennen –, änderte sich auch das.«

Ein rothaariger Schwede servierte ihnen Kaffee. Wetre wartete, bis er ihren Tisch wieder verlassen hatte.

Vor sieben Jahren hatte Annette angefangen, Gottesdienste von Gottes Licht zu besuchen, einem Ableger der Filadelfia-Gemeinde. Sie hatte ihre Ausbildung zur Laborantin nur wenige Monate, bevor sie ihre letzte Prüfung hätte ablegen sollen, abgebrochen.

»So verflucht dumm«, sagte die Politikerin und atmete schwer aus.

Dann hatte Annette ihre Wohnung auf dem Sankthanshaugen verkauft, die ihre Eltern ihr geschenkt hatten, und war auf das Gelände der Gemeinde gezogen. Dort hatte sie Per Olav kennengelernt, Williams Vater. Kirchlich hatten sie nicht heiraten wollen. Stattdessen hatten sie sich für irgendeine Art Zeremonie entschieden.

»Wir waren nicht mal eingeladen.« Wetre blinzelte und rieb sich mit den schlanken Zeigefingern über die Unterlider. »Das Ganze musste wohl sehr schnell gehen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Annette mit jemandem ins Bett gegangen wäre, ehe das Verhältnis … gesegnet worden war. Sie verstehen schon, so ein Mädchen ist sie nicht.«

»Es wirkt nicht so, nein.«

»Das Glück war nicht von langer Dauer. Per Olav starb, als William gerade auf die Welt gekommen war. Irgendeine Infektion … Im Krankenhaus konnten sie nicht allzu viel dazu sagen. Die Lotterie des Lebens. Oder Gottes Wille – das kommt wohl darauf an, wen Sie fragen«, sagte Wetre nachdenklich.

Andreas sah von seinem Notizblock auf. »Wo befindet sich diese Glaubensgemeinschaft?«

»Im Maridalen. Auf einem Hof, den sie Solro nennen. Mein Mann und ich dürfen sie dort nicht besuchen. Niemand dürfe sie besuchen, sagt Annette. Irgendeine paranoide Überzeugung, die sie dort haben.«

Wetre spreizte die Finger. Musterte ihre perfekt rot lackierten Nägel.

Allerdings hatte Annette ihre Eltern besucht. Nicht oft, aber doch ab und zu. Womöglich waren es die Tränen der Mutter gewesen, die sie angerührt hatten, jedes Mal, wenn die ihr Enkelkind sah. Vielleicht war es auch ein Anflug von schlechtem Gewissen, das gute Leben einfach aufgegeben zu haben, das die Eltern ihr ermöglicht hatten. Doch mittlerweile war ein halbes Jahr vergangen. Ein halbes Jahr ohne ein einziges Wort.

»Ich hatte an einer Radiodebatte teilgenommen, über junge Schwangere und Abtreibung. Ich bin gegen Abtreibung. Man findet nicht viele in meiner Partei, die dafür sind. Aber ich bin andererseits auch der Meinung, dass es Situationen gibt, in denen eine Abtreibung als Alternative ermöglicht werden sollte. Das hat Annette offenbar gehört. Sie hatte einen Wutausbruch und schrie mich an, ob ich gewollt hätte, dass sie William abgetrieben hätte …« Wetre verdrehte die Augen. »Als hätte das eine irgendetwas mit dem anderen zu tun. Sie war der Ansicht, ich würde mich über die Schöpfung erheben. Ich hätte mit Gott gebrochen. Seither haben wir keinen Kontakt mehr.« Sie senkte den Blick. »In den vergangenen Monaten habe ich sie täglich angerufen. Mein Mann und ich haben unzählige Nachrichten geschickt, wir haben regelrecht um ein Lebenszeichen gebettelt. Zweimal sind wir auf dem Hof gewesen, aber dort wurden wir schroff abgewiesen. Sie haben Männer unten am Zufahrtsweg postiert, Wachleute.« Sie begegnete Fredriks Blick. »Bei einer Glaubensgemeinschaft …«

Draußen schlüpfte Fredrik unter Wetres schwarzen Regenschirm. Sie schlenderten am Umweltministerium in der Nedre Slottsgate vorbei. Um sie herum fiel Sommerregen. Andreas war mit dem Auto zurück zur Dienststelle gefahren.

»Was wissen Sie über diese Glaubensgemeinschaft? Über Gottes Licht?«, fragte Fredrik.

»Erinnern Sie sich noch an Bjørn Alfsen junior?«

Er schüttelte den Kopf.

»Bjørn Alfsen hat seine Eltern und den großen Bruder bei einem Autounfall verloren. Als Alleinerbe des Familienkonzerns Alfsen Skogindustrier war er mit einem Mal Hunderte Millionen schwer. Hätte er seine Karten clever ausgespielt, wäre er noch heute einer der reichsten Männer Norwegens. Aber Mitte der Siebziger, kurz nach dem Tod seines Großvaters, verkaufte er alles, und im Laufe weniger Jahre hatte er das gesamte Familienvermögen verjubelt. Partys, fehlgeschlagene Investitionen – riesige Summen verschwanden in einer Diamantengrube in Südafrika. Er kooperierte mit dem Apartheid-Regime, wurde dann von ein paar dortigen Geschäftsleuten über den Tisch gezogen. Die frühen Achtziger hat er quasi im Gerichtssaal verbracht – Konkurse, wütende Geschäftspartner«, erläuterte Wetre.

Der Fluch des Geldes, dachte Fredrik. Die erste Generation verdient ein Vermögen, die zweite Generation verwaltet es, und die dritte verprasst es. Nicht allzu verwunderlich im Grunde. Etwas wertzuschätzen, wofür man nie hatte kämpfen müssen, musste unendlich schwer sein.

»Über Jahre war er verschwunden. Mitte der Neunziger tauchte er urplötzlich wieder auf: als einflussreicher Sponsor der Pfingstgemeinde«, sagte sie.

»Da war er also wieder reich?«

»Ich weiß nicht … Solche Millionärskinder haben wohl immer irgendwo noch ein paar Kronen versteckt. In Wertefragen war er allerdings überaus konservativ geworden. Fing an, eine Reihe von Forderungen an die Gemeinden zu stellen, die er unterstützte – Forderungen, denen nicht alle nachkommen wollten. Es kam zum großen Bruch, er kehrte ihnen den Rücken und gründete seine eigene Sekte.«

»Gottes Licht«, murmelte Fredrik.

»Er nennt sich sogar Pastor.«

Fredrik sah an den Fassaden der Fachwerkhäuser am Christiania torv hinauf. Hier standen einige der ältesten Bauwerke der Stadt. Sie waren von Leuten mit viel Geld errichtet worden. Heute wusste niemand mehr, wer sie gewesen waren.

Der Asphalt vibrierte unter ihren Füßen, als eine Straßenbahn schwerfällig an ihnen vorbeiratterte.

»Ich erinnere mich noch an Gottes Licht – es muss jetzt elf, zwölf Jahre her sein, als sie massiv auf die Straße gingen, oder nicht?«

»Stimmt genau. Gegen eine Gesellschaft, die sich angeblich im moralischen Verfall befand«, sagte Wetre. »Damals demonstrierten sie gegen den Bau von Moscheen. Sie demonstrierten vor Krankenhäusern, in denen Abtreibungen vorgenommen wurden. Sie tauchten bei gleichgeschlechtlichen Hochzeiten auf, machten Radau, auch vor Kirchengemeinden mit Pfarrerinnen. Gott werde uns bestrafen, sagten sie, und dass das Jüngste Gericht bevorstehe … Irgendwann beruhigte es sich wieder, und sie verschwanden von der Bildfläche. Ich dachte damals ehrlich gesagt, die Sekte hätte sich aufgelöst.«

Vor dem Parlament, in dem Kari Lise Wetre einen Großteil ihres Erwachsenenlebens verbracht hatte, blieben sie stehen, um sich voneinander zu verabschieden. Sie war immer schon eine Person des öffentlichen Lebens gewesen. Er fragte sich, wie es wohl sein mochte, eine Mutter zu haben, die das ganze Land kannte. War dies der Grund für Annettes Verschwinden? Die verspätete Rebellion eines Politikerkindes?

»Warum bezeichnen Sie sie als Sekte?«

»Weil sie genau das sind. Sie beanspruchen die Wahrheit für sich. Haben einen starken Anführer. Dann die Isolation auf diesem Hof. Die Aussicht auf das Jüngste Gericht.« Wetre zählte die Argumente an den Fingern ab. »Das ist doch wie aus dem Lehrbuch – oder finden Sie, dass sich das nach einem Ort anhört, an dem ein Kind aufwachsen sollte?«

Statt seine Antwort abzuwarten, streckte sie die Hand aus.

»Also dann, ich muss eine Wahl gewinnen. Danke, dass Sie uns helfen. Wir wissen das sehr zu schätzen, mein Mann und ich.«

Sie lächelte – wie im Fernsehen.

5

Der Gestank fauliger Erde vermischte sich mit dem Duft kross gebratenen Specks.

Fredrik schob die Balkontür auf. Blinzelte auf den kleinen Hof hinunter. Kalte Sommerluft umarmte ihn, und seine Brustwarzen wurden hart. Er lehnte sich über das Geländer und hievte die schwankenden Blumenkästen auf den Betonboden. Stinkende braune Flüssigkeit sickerte daraus hervor und lief ihm zwischen die Zehen. Die Blumen, die sich in Violett und Rot zur Sommersonne hin recken sollten, hingen schleimig über die Ränder. Es war Anfang Juli.

Sein Blick streifte sein Spiegelbild in der Balkontür. Eine helle Jeans war alles, was er trug. Sowie er die Kästen herübergehoben hatte, hatte sein Knie angefangen wehzutun, und er hinkte leicht. Sein Gesicht war schmal, mit markanten Wangenknochen. Den dünnen Bart, der zu den Mundwinkeln hin auslief, hatte er seit seiner Jugend. Ein paarmal hatte er ihn abrasiert, sich aber nie mit dem Anblick anfreunden können. Üppige Augenbrauen bogen sich über den schmalen Augen. »Du hast den Blick eines alten Labradors«, hatte sie zu ihm gesagt, als er sich erneut zu ihr gelegt hatte. »Dir kann man einfach nichts abschlagen.« Er wusste, dass sie Hunde mochte. Aber er wollte nicht daran erinnert werden, dass er sich wie einer aufführte.

Auf der Schwelle zur Küche blieb er stehen. Es war lange her, seit er so dagestanden hatte. Wie ein Gast in seiner eigenen Wohnung. Er lebte allein, trotzdem war es keine klassische Junggesellenbude. Die Arbeitsplatte war sauber, die Spülmaschine voll beladen, und die meisten leeren Flaschen steckten in Plastiktüten. Die Wände waren weiß geblieben, nur die Fliesen über dem Kühlschrank waren rot und orange. Leuchtend rot, schrill orange. Es war ihre Idee gewesen. Als sie auszog, hatte er die Poster vom Eiffelturm und der rauchenden Katze mit Zwicker abgehängt und stattdessen eigene aufhängen wollen: die gelb-schwarze Replik vom Rolling-Stones-Konzert 1969 auf dem Altamont. Das Poster vom Kalvøyafestival 1977 – Smokie als Headliner und ein vom Himmel stürzender deutscher Doppeldecker. Doch dazu war es nie gekommen. Stattdessen war sie hier. Wieder.

Groß und nackt stand sie am Kühlschrank. Er ließ den Blick auf den blassen, breiten Pobacken ruhen, die eine noch immer leicht gerötet. Über diesem sicheren, runden Ankergrund erhob sich ihr schönster Körperteil: der anatomisch perfekte Bogen des Kreuzbeins, der die Taille in Richtung Zentrum zog und ihr die Kontur eines Cellos verlieh. Die Jahre und die Schwangerschaften hatten an ihr gezehrt, sie rundlicher gemacht und Spuren hinterlassen. Wie Wellen in einem geschliffenen Feuerstein. Eine reife Frucht, dachte er, als er sie mit zusammengekniffenen Augen betrachtete.

»Was starrst du denn so?« Sie warf den zerzausten Pferdeschwanz über die Schulter und sah ihn misstrauisch an. »Woran denken Sie, Herr Beier?«

Er grinste. Sie hielt eine Bratpfanne in der Hand. Und ganz nackt war sie nicht. Sie hatte sich seine Küchenschürze um den Hals gehängt. In Höhe der Brüste war ein gelber Streitwagen auf den weißen Stoff gedruckt, darunter ein grauer Dorschkopf. Womöglich irgendein Logo. Für was, wusste er nicht.

Zufriedenes Schweigen senkte sich herab. Brotkrümel, Bratfett, Reste von Eigelb und Tomaten hatten auf den Tellern Spuren hinterlassen. Fredrik nahm einen Schluck von seinem lauwarmen Kaffee und blätterte in der Dagens Næringsliv, ohne wirklich hinzusehen. Auf der Stereoanlage im Wohnzimmer lief immer noch Diana Krall. Die Playlist zusammenzustellen hatte sich am Vorabend bezahlt gemacht.

»Das Leben sollte nur aus solchen Samstagen bestehen«, stellte Alice fest, beugte sich leicht vor, schrieb ihre SMS fertig und fuhr dann fort: »Der Flieger geht in ein paar Stunden. Ich muss allmählich los.«

Sie hob den Blick und grinste ihn keck an.

Sie hatte sich ein weites, rotes Oberteil übergeworfen, das ihre Figur umspielte. Jetzt würde sie also wieder nach Hause fliegen, nach Tromsø, zu Erik. Ihrem neuen Mann. Um ihre grünen Augen bildeten sich zarte Lachfältchen. Auf dem Nasenrücken konnte er vage Sommersprossen erahnen.

»Er hat keine Ahnung, dass du hier bist …«

»Und mit dir schlafe? Ich glaube, so was würde er sich nicht mal in seinen kränksten Fantasien ausmalen.«

»Hast du noch einen anderen?«

Alice kniff die Augen zusammen. »Bestimmt nicht, Fredrik.« Und nach einer Weile: »Irgendwo muss es ja Grenzen geben.« Einen Augenblick lang sah sie ihn prüfend an. »Und wie steht’s mit … ihr …«

»Bettina? Mit Bettina ist alles in Ordnung.«

»Trefft ihr euch noch?«

»Das tun wir.«

»Schlaft ihr miteinander?«

»Yes.«

»Prima. Ist es was Ernstes?« Ihre Stimme klang um einen Halbton höher.

»So lala.«

»Was macht sie noch mal? Irgendwelches Polizeizeug, oder nicht?«

Er lächelte sie an. Er wusste genau, dass sie es wusste. »Sie arbeitet für den Polizeipräsidenten.«

»Richtig, das war es, ja.«

Er schob den Küchenstuhl nach hinten. Stand auf und trug die Teller zur Spüle. Er wollte über etwas anderes reden.

»Wusstest du übrigens, dass dieser Hof hier Heineckegården heißt? Er wurde nach dem Architekten benannt, der ihn entworfen hat. Georges Heinecke.«

Alice sah ihn überrascht an. »Seit wann interessierst du dich für Architektur?«

»Schöne Sachen hab ich schon immer gemocht«, sagte er und nickte in Richtung ihres Oberkörpers. Sie reagierte nicht darauf. »Hat mir der Polizeipsychologe erzählt.«

Auf Alices Stirn bildete sich eine Furche, die ihm nicht gefiel. Warum hatte er ihr nichts davon erzählt? Verdammt, aber er erzählte es ja jetzt.

»Es ist nichts Ernstes. Ich hatte nur wieder ein paar Anfälle. Angst, meint der Typ.« Er grinste schief. »Er meint, es wäre ›stressbezogen‹. Ich hab die Order, weniger zu arbeiten. Da passt es doch gut mit den Ferien. Ich freu mich, die Kinder zu sehen.«

Alice warf ihm diesen Blick zu, den sie immer hatte, wenn sie sich überlegen fühlte, und der ihm sagte: Ich kenne dich. Ich kenne dich besser als die meisten anderen. Besser als alle anderen. Ich weiß genau, was in dir vorgeht.

»Wie ist der Psychologe?«

»Keine Ahnung. Ich war nur da, um mir den Stempel abzuholen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Einer der Chefs macht sich wohl Sorgen um mich. Da brauchte ich den Stempel, um weiter draußen arbeiten zu dürfen.«

Alice schlüpfte in ihren teuren, durchsichtigen Regenponcho, und er folgte ihr in den Flur.

»Du verstehst hoffentlich, dass ich nicht mit zu der Beerdigung kommen kann. Die Reise wäre für mich und die Kinder zu lang, und Jacob und Sofia kannten sie ja kaum.«

»Ich hab gar nicht damit gerechnet. Ich schaff es schon, sie allein unter die Erde zu bringen.«

Sie legte ihm die Hand an die Wange. »Kommt Bettina?«

Er nickte.

»Fein. Dann ist sie vielleicht doch nicht ganz so schlimm.«

Sie lächelte ihn gekünstelt an, und sie umarmten sich kurz.

»Pass auf dich auf, Fredrik. Die Kinder freuen sich. Sie vermissen ihren Vater, weißt du. Sorg dafür, dass sie sich wohlfühlen.«

»Na klar«, antwortete er und gab ihr einen Klaps auf den Hintern.

Er hatte gerade eine Dose Carlsberg aufgemacht, als das Handy klingelte. Er ließ die Mailbox rangehen. Trank erst gemächlich sein Bier aus, bevor er ins Schlafzimmer schlenderte und das Handy vom Nachttisch nahm.

Es war Synne Jørgensen gewesen. Seine Vorgesetzte, eine der Leiterinnen der Abteilung für Gewalt- und Sexualdelikte bei der Osloer Polizei.

»Fredrik, ruf mich an. Es gab ein Massaker … bei dieser Sekte auf Solro. Ich schick einen Wagen, um dich abzuholen.«

6

Dicke Regentropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer peitschten hin und her. Er konnte kaum die Äcker um ihn herum erkennen.

Erst als sie an der Ruine der Margaretakirche vorbei waren, die am Nordufer des Maridalsvannet emporragte, stellte der junge Kollege am Steuer das Blaulicht aus und drosselte das Tempo. Es war gerade mal zwei Wochen nach Johannis, und trotzdem dämmerte es schon. Nicht ein einziger schlammbespritzter Rennradfahrer weit und breit.

Sie bogen von der Hauptstraße ab. Ein Stück weiter wichen die Felder dichtem Nadelwald, den ein Schotterweg zerteilte. Minuten später waren die Bäume vor ihnen in blinkendes Rot und Blau getaucht.

Sie hielten am Ende einer langen Kolonne aus Streifenwagen und Rettungswagen an.

»Danke fürs Mitnehmen«, sagte Fredrik und nahm seine Regenjacke vom Rücksitz.

Die Luft war kalt, und der Regen dämpfte den Geruch von nasser Erde und Moos.

Eine kleine Gestalt mit blondem, steif gegeltem Haar winkte ihn unter einen dichten Nadelbaum. Es war Polizeidirektorin Synne Jørgensen.

»Guten Abend«, japste sie.

Ein Feuerzeug flammte auf, sie richtete sich gerade auf und nahm einen tiefen Zug. Die Zigarette knisterte. Das runde Gesicht mit der kleinen, flachen Nase und den ungeschminkten Augen wirkte für einen Moment fast schon zufrieden. Dann fingerte sie an ihrer Regenjacke nach der Tasche, um die Zigaretten sicher zu verstauen.

»Ist es wirklich ein guter Abend?«, fragte er süffisant.

Sie rümpfte die Nase.

»Das da ist richtig heftig, Fredrik. Wir haben fünf Tote. Mit mehreren Schüssen auf kurze Distanz getötet – der eine noch im Pyjama im eigenen Schlafzimmer hingerichtet. Keine Verletzten. Aber eben auch keine Überlebenden.«

Endlich hatte sie die Tasche ertastet.

»Ist Annette Wetre unter …«

»Nein«, fiel Synne ihm ins Wort. »Alles Männer. Aber wir haben noch keine Namen.«

»Und du bist dir sicher, dass das hier Solro ist? Wo ist dann der Rest dieser Glaubensgemeinschaft?«

Sie presste die Zunge gegen die Piercingnarbe in der Unterlippe. »Es steht mit großen Buchstaben ›Solro‹ über dem Eingang des Haupthauses, insofern bin ich mir einigermaßen sicher. Aber hier ist keine lebende Seele mehr. Der Rest der Gemeinde ist schlicht und einfach verschwunden.«

Mit drei Zügen hatte sie die halbe Zigarette geraucht. Jetzt brach sie die Spitze ab, angelte die Schachtel wieder hervor und ließ den Stummel hineinfallen, ehe sie erneut nach der Jackentasche tastete.

»Komm mit.« Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und stiefelte hinaus in das Unwetter.

Ein schmaler, matschiger Pfad führte durch den Wald zu einer abschüssigen Lichtung, auf der es im blauweißen Licht kräftiger Scheinwerfer von Polizisten in Regenkleidung nur so wimmelte. Die Fläche entsprach etwa der Größe eines Basketballfeldes, und am rückwärtigen Waldrand standen ein weißes Landhaus und links davon eine kleine rote Scheune. Auf dem Gehweg zur Scheune errichteten zwei Polizisten über zwei leblosen Körpern hektisch ein Zelt.

In der Mitte der Rasenfläche lagen zwei weitere Leichen: die eine auf dem Rücken, die andere mit ungelenk verdrehten Beinen auf der Seite. Teile des Gesichts hatte die Kugel zerfetzt.

»Wann ist das passiert? Wer hat es gemeldet?«

Synne führte ihn in einem Bogen um die Leichen herum hinauf zum Haupthaus. »Der Anruf ging um 12.56 Uhr in der Notrufzentrale ein. Anonym. Angeblich handelt es sich um eine Art Rache. Im Namen Allahs.« Sie warf einen Blick über die Schulter. »Es hat eine Weile gedauert, bis wir den Ort gefunden hatten. Solro ist nicht der offizielle Name …«

»Ich weiß«, murmelte Fredrik. »Als du angerufen hast …«

»… hatte ich es gerade geschafft, mir einen ersten Überblick zu verschaffen. Sebastian ist auch schon unterwegs. Wir haben Großalarm geschlagen.«

Über der hölzernen Eingangstür hing ein breites Brett, auf das jemand in großen Lettern »Solro« geschrieben hatte. Drinnen hatte die Spurensicherung bereits eine Kiste mit Schuhüberziehern, Latexhandschuhen und Mundschutze bereitgestellt. Die Längswand zierte ein riesiges Gemälde von Jesus in einer Tunika, der aus einer glühenden Sonne herauszutreten schien.

»Rache. Im Namen Allahs«, wiederholte Fredrik langsam und streifte sich die Regenjacke ab. »Es sollte also eine Art religiöse Abrechnung sein?«

»Hast nicht du gesagt, diese Glaubensgemeinschaft sei dem Islam gegenüber ziemlich kritisch eingestellt? Und habe gegen Moscheen und so demonstriert?«

»Ja, klar, aber Demos und Fünffachmord sind schon noch zwei Paar Schuhe.«

»Da sagst du was«, murmelte Synne.

Welche Art von Wahnsinn führte bitte schön dazu, dass jemand eine Glaubensgemeinschaft mitten in einem Wald aufsuchte? Und fünf Gemeindemitglieder hinrichtete? Fredrik fragte sich, was der Mörder … oder die Mörder sich wohl gedacht hatten, als sie hier in diesem Flur standen. Als sie die unordentliche Reihe von Kleiderhaken vor sich sahen. Namensschilder mit krakeligen Druckbuchstaben, hingekritzelt von unbeholfenen Kinderhänden. Hatten sie innegehalten und die Namen gelesen? Da, ein leerer Holzknauf mit dem Namen Annette. Oder der daneben, an dem eine Schirmmütze mit Tierpark-Logo hing. Knapp einen Meter über dem Boden. William.

Mucksmäuschenstill musste es gewesen sein, als sie sich hineinschlichen. Womöglich hatten sie einen kurzen Blick ins Spielzimmer geworfen und gesehen, dass alles Spielzeug dort ordentlich in einer Kiste lag. In der Küche dürften sie den Geruch von Schmierseife wahrgenommen haben. Waren sie durch die Nähstube geschlichen, wo Strickzeug in Körben lag und die Plastikabdeckungen über die Nähmaschinen gestülpt worden waren, damit keine kleine Hand zu Schaden kam, sollte einer der Jungen oder Mädchen auf die Idee kommen, vor den Erwachsenen aufzustehen? Spätestens an der Treppe hinauf zum ersten Stock hatten sie begriffen, dass noch alle schliefen, dass sie vollkommen wehrlos waren. Trotzdem waren die Täter weitergegangen. Hatten sich nach oben geschlichen. Dorthin, wo sich die anderen aufhielten.

Im Treppenaufgang hing ein weiteres Jesusbild. Ein Porträt von beinahe anderthalb mal anderthalb Metern Größe: Christus mit Dornenkrone, offener Wunde auf der Stirn und Blutspuren über der Wange. Das überdimensionierte Gesicht weckte in Fredrik starkes Unbehagen. Das Gesicht war so detailgetreu gemalt, dass jede Pore, jede kleine Unreinheit ihm förmlich entgegenzuschreien schien.

Doch es war nicht nur das Gefühl, jemandem zu nahe zu kommen. Es war mehr als das. Es war die Absicht desjenigen, der entschieden hatte, dass das Bild dort hängen sollte. Es stand für das Letzte, was die Bewohner dieses Hauses allabendlich getan hatten: Bevor sie zu Bett gegangen waren, hatten sie sich die Leiden Jesu vor Augen geführt. An jedem Abend und an jedem verfluchten Morgen. Sie hatten es womöglich nicht einmal geschafft, sich die Zähne zu putzen oder aufs Klo zu gehen, ehe sie auch schon an die Niedertracht der Welt erinnert worden waren.

Der breite Flur, der sich oberhalb der Treppe anschloss, wies Anzeichen eines Handgemenges oder einer überstürzten Flucht auf. Sämtliche Türen standen offen, überall war Kleidung und Spielzeug verstreut, eine gerahmte Luftaufnahme des Hofs war von der Wand gefallen und das Glas zerbrochen.

»Hat sich die Presse schon gerührt?«, fragte er.

»Nein. Und hoffentlich bleibt es fürs Erste dabei. Ich will den Tatort erst unter Kontrolle bringen, bevor Fotografen hier herumschwirren.«

»Gut. Ich muss Kari Lise Wetre informieren, bevor die Zeitungen bei ihr anrufen.«

Langsam bewegten sie sich auf das letzte Zimmer am Ende des Flurs zu. Der Raum war klein und altmodisch eingerichtet. Vor dem Fenster hingen weiße Spitzengardinchen, auf der Fensterbank stand eine blühende Begonie. Die Bettdecke war zu Boden gerutscht, und der Bewohner des Zimmers kniete vor seinem Bett. Ein kleiner, bleicher Mann in einem blau-weiß gestreiften Schlafanzug. Die Wange auf dem Laken. Weit aufgerissene Augen starrten ins Leere.

»Pastor Alfsen«, stellte Fredrik fest.

»Wer?«

»Bjørn Alfsen junior. Er hat die Glaubensgemeinschaft geleitet.«

Fredrik beugte sich vor und studierte das Gesicht des Toten. Sein Schädel war teils kahl, die verbliebenen Haare grau und kurz geschnitten. Den Henriquatre-Bart erkannte er von den Bildern wieder, die Wetre ihm geschickt hatte. Direkt über dem rechten Ohr des Pastors klaffte ein kleines rotschwarzes Loch. Blut hatte die Matratze dunkel gefärbt.

»Beim Nachtgebet hingerichtet«, konstatierte Synne trocken. »Und guck mal hier.«

Sie zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche und hob damit das zerknitterte Laken an.

Die kurzen Finger des Pastors waren angeschwollen, weil ein grüner Seidenschal straff um beide Handgelenke geknotet worden war. Synne richtete den Kugelschreiber auf den Schal. Fredrik kniff die Augen zusammen, um sich die zierliche weiße Aufschrift genau anzusehen.

»Arabisch.«

7

Als die Techniker eintraten, stand Fredrik immer noch in Bjørn Alfsens Schlafzimmer. Er hatte die Zeit genutzt, um den Inhalt der Bücherregale zu inspizieren. Ganz unten lagen haufenweise alte Notizblöcke, stapelweise Ausdrucke von Internetseiten und kopierte Texte, die zum Gefecht gegen die gottlose Kloake aufriefen, die sich nach Ansicht der Glaubensgemeinschaft über das Land ergoss. Allerdings waren auch Kochrezepte, Psalmen und Aufzeichnungen für die Predigten darunter. Und ein verstaubtes Mobiltelefon.

Die vier mittleren Regalfächer waren bemerkenswert aufgeräumt. In jedem standen zwei Fotografien. Fredrik hatte sie genau in Augenschein genommen.

Auf sämtlichen Fotos war der Pastor zu sehen, nur die Personen, mit denen er posiert hatte, variierten. An einem augenscheinlich schönen Sommertag hatte er vor dem leuchtend weißen Haus gestanden, in dem er jetzt ermordet worden war. Sein rot gestreiftes Hemd war bis zur Brust aufgeknöpft gewesen, und Alfsen hatte in die Sonne geblinzelt. Unappetitlich braun – seine Haut sah aus wie die eines alten Mannes. Auf den Fotos waren Kinder zu sehen. Zwei Männer in den Dreißigern. Ein Mann und eine Frau. Annette und William. William schien auf dem Bild vielleicht zwei, drei Jahre alt zu sein, insofern stammte die Fotografie wohl aus dem vergangenen Jahr. Mit einem Lächeln im Gesicht hatte der kleine blonde Junge vor Alfsen Position bezogen. Er trug eine grüne Shorts und ein viel zu großes T-Shirt mit dem Aufdruck »Der Herr ist mein Hirte«. Alfsens braune Hände ruhten auf den Schultern des Jungen, während die Mutter auf einem Stuhl daneben saß und eine Hand des Sohnes im Schoß hielt. Fredrik wusste, dass sie nicht älter als siebenundzwanzig war, aber an der Seite des autoritären Pastors wirkte sie fast schon mädchenhaft. Ihr Blick war offen und klar, und die Sonne, die den beiden anderen zuzusetzen schien, ließ sie augenscheinlich unbeeindruckt. Die markante Nase warf einen Schatten über die schmale untere Gesichtspartie. Das lange blonde Haar fiel ihr locker über die Schultern, und sie trug ein weißes Kleid. Die Knie hatte sie sittsam aneinandergedrückt, die Füße waren nackt. Sie war wirklich außerordentlich hübsch. Eine junge, blonde Version ihrer Mutter.

Religiöse Nachschlagewerke, Psalmenbücher und ein paar Bibeln stapelten sich im obersten Regalfach. Eine stach hervor – eine Bibel mit goldenen Lettern auf dem abgegriffenen Buchrücken. Behutsam zog Fredrik sie aus dem Regal und schlug sie auf. In einer altmodischen Handschrift hatte jemand auf Deutsch auf die Innenseite des Umschlags geschrieben: »Von der Wiener Gesellschaft für Rassenpflege dem Professoren E. Brinch. In tiefster Dankbarkeit. Wien 1936.«

Fredrik drehte sich zu der Technikerin um, die gerade Alfsen untersuchte. Sie schien seinen Blick im Nacken zu spüren.

»Er ist auf jeden Fall schon länger als zwölf Stunden tot«, erklärte sie und drückte die Fingerkuppen vorsichtig auf seine Haut. »Schuss aus nächster Nähe. Kein Hautkontakt zur Waffe. Ich tippe auf einen Abstand von fünf bis fünfzehn Zentimeter.« Sie nahm eine Pinzette zur Hand und zupfte ein paar Rußpartikel von der Einschussstelle. »Kleines Kaliber, aber ausreichend, um den Schädel zu durchschlagen.«

Trotz des Schutzoveralls hatte er sie von früheren Tatorten wiedererkannt, aber er kam nicht auf ihren Namen.

»Es wird eine Weile dauern, bis ich ihn umdrehen und die Austrittsöffnung untersuchen kann. Wenn Sie also etwas anderes zu tun haben …«

Therese. Therese Grøfting. Ursprünglich Rechtsmedizinerin, den Gerüchten zufolge aber mit derart morbiden Neigungen, dass sie sich zur Kriminaltechnikerin hatte umschulen lassen. Mitte vierzig, Leiterin der Spurensicherung, alleinerziehende Mutter eines Sohns im Teenageralter.

Er ging über ihre Aufforderung hinweg. »Sprechen Sie Deutsch?«

»Ja … in der Tat.«

Sie mühte sich durch die Widmung auf dem Bibelumschlag, übersetzte sie und stellte dann mit einem Räuspern fest: »Eine komische Antiquität für einen Pastor.«

»Finde ich auch.«

Als Fredrik das Landhaus verließ, war es draußen stockfinster. Wie idyllisch es hier hätte sein können! Ein lauschiger Sommerabend auf einer Lichtung mitten im Wald, kühlender Schatten, der schwere Duft von Harz und Pilzen und der Geruch von gemähtem Gras, Himbeeren und frischem Johannisbeersaft. Er konnte das Kinderlachen, das Gackern der Hühner im Schuppen, das gedämpfte Klappern aus der Küche des Haupthauses hinter sich förmlich hören – auch wenn im Augenblick bloß Generatoren dröhnten.

Der Regen war in einen kalten Niesel übergegangen, der wie eine nasse Folie an ihm klebte. Über den Leichen auf dem Rasen war schon vor Stunden ein Zeltdach gebaut worden. Zusätzlich hatte man vor der Scheune in einem weiteren Zelt eine Kommandozentrale errichtet. Warum nur waren diese Leute hier draußen erschossen worden? Warum hatten sie nicht wie der Pastor in ihren Zimmern gelegen?

Er war bereits auf dem Weg zu den Leichen auf dem Rasen, als aus dem Kommandozelt der Klang einer wohlbekannten Stimme zu ihm herüberdrang. Sebastian Koss war eingetroffen.

Im Dezernat für Gewalt- und Sexualdelikte des größten Polizeireviers Norwegens gab es drei Götter. Der allmächtige Vater höchstselbst war Polizeipräsident Trond Anton Neme. Nicht dass er häufig öffentlich in Erscheinung trat; trotzdem schien er beständig über ihnen zu schweben und alles zu sehen. Mitunter ließ er die größten Schnitzer unkommentiert, schlug dann aber bei der kleinsten Unachtsamkeit zu.

Neme mochte es nicht, sich die Finger schmutzig zu machen. Dafür hatte er zwei Untertanen auserkoren – zum einen Synne Jørgensen. In ihrer blauen Uniform hatte sie sämtliche unteren Dienstgrade durchlaufen und stand inzwischen fast ganz oben auf der Karriereleiter.

Der andere war Sebastian Koss.

Der hochgewachsene Jurist machte keinen Hehl daraus, dass er der Polizei lediglich ein paar Jahre seines Lebens lieh. Seine Berufung schienen Macht, Geld und Einfluss zu sein. Sein Körper war durchtrainiert, er hatte fast schon buttergelbes glattes Haar, ein schmales, schier makelloses Gesicht – und einen messerscharfen Verstand. Sein Internet-Nickname lautete Legolas.

Zusammen ging das ungleiche Paar der hoch profilierten Arbeit nach, Morde, Gewaltakte und diverse andere von Bürgern und Besuchern Oslos begangene Boshaftigkeiten zu durchleuchten.

Einer Sache konnte sich Polizeipräsident Neme sicher sein. Die beiden Polizeidirektoren würden sich niemals gegen ihn zusammentun. Außerdem waren sie wie Yin und Yang. Superman und Lex Luthor.

»Jørgensen!«, dröhnte es tief und volltönend aus dem Zelt. »Was zur Hölle macht Fredrik Beier hier? Wir können verdammt noch mal an diesem Tatort keine tickende Zeitbombe brauchen. Ich dachte, ich hätte ihn hinter einem Schreibtisch in Grønland geparkt?«

Fredrik blieb in der Zeltöffnung stehen und durchbohrte Sebastian Koss’ anzugbekleideten Rücken mit dem Blick. Mit zwei Sätzen hätte er ihn überwältigt.

»Damit eins klar ist«, fuhr Synne Koss aggressiv an, obwohl sie dem Mann gerade bis zur Brust reichte. »Fredrik ist meine Verantwortung. Er hat mein Vertrauen. Also hast du verdammt noch mal …«

Ein lautstarkes Räuspern ließ sie innehalten. Auch Andreas hatte wie die meisten Kollegen im Zelt Zuflucht gesucht, stand in der Ecke neben ein paar großen Thermoskannen und grinste schief in Richtung des hereinstapfenden Fredrik.

»Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Koss«, brummte Fredrik finster.

Der Polizeidirektor antwortete mit einem Knurren.

»Na super«, murmelte Synne in sich hinein. »Alle raus – Fredrik, du bleibst. Und Sebastian …« Sie sah ihn streng an.

Widerwillig trotteten die Kollegen an Fredrik vorbei hinaus in die Nacht. Nur Andreas begegnete seinem Blick. »Das Arschloch«, murmelte er gerade laut genug, dass Koss es hören konnte.

Fredrik und Koss ließen sich an einem abgewetzten Campingtisch nieder. Irgendjemand hatte einen Penis mitsamt Hoden in die Tischplatte geritzt. Fredrik zog mit dem Finger über die Furche und starrte ins Leere, während Synne großzügig Pulverkaffee in drei Becher schaufelte und kochendes Wasser aus einer Thermoskanne darübergoss, wohl wissend, dass Koss Tee bevorzugte.

»Du weißt, dass ich ihn vollkommen orientierungslos in einem unserer Vernehmungsräume über einen Mülleimer gekrümmt gefunden hab.« Koss schien regelrecht durch ihn hindurchzublicken. »Kapierst du das nicht, Synne? Die anderen zerreißen sich doch schon das Maul. Wir müssen jederzeit wissen, wo der andere steht. Und wir waren uns einig, dass wir Beier aus den großen Sachen raushalten, die … ihn aus der Bahn werfen könnten. Dem hat er zugestimmt, soweit ich mich erinnere.« Koss lehnte sich auf dem wackligen Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Wir können an einem Ort mit einem halben Dutzend Leichen niemanden brauchen, der instabil ist.«

»Du redest so verdammt viel Scheiße, Sebastian …« Synne schüttelte den Kopf. »Fredrik ist wieder gesundgeschrieben. Das weißt du genau.« Sie wandte sich an Fredrik. »Willst du etwas dazu sagen?«

»Du hast mich gebeten herzukommen. Ich bin gekommen. Ich hätte nichts einzuwenden gehabt gegen einen ruhigen Sommer« – er sah zu Koss hinüber – »hinter einem Schreibtisch in Grønland. Mit meinem Vermisstenfall. Das Problem ist nur, dass die Frau und das Kind, nach denen ich suche, hier gewohnt haben. Insofern ist es in gewisser Weise zu meinem Fall geworden.«

Koss sah misstrauisch zu Synne hinüber, und sie nickte nachdrücklich.

»Solro ist Sitz von Gottes Licht, und Annette gehört dieser Glaubensgemeinschaft an.«

»Ihr meint die Tochter von KrF-Wetre? Verdammt.«

Zehn Minuten später trafen sich Fredrik und Andreas vor dem Zelt wieder. Grinsend berichtete Fredrik, wie ein leichenblasser Koss den Polizeipräsidenten angerufen hatte, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass die Tochter und das Enkelkind einer der profiliertesten Politikerinnen des Landes spurlos verschwunden waren. Die Neuigkeit war nicht gerade auf Begeisterung gestoßen.

»Geschieht dem Idioten recht«, knurrte Andreas leise und steuerte auf das weiße Zelt in der Mitte des Grundstücks zu.

Darin knieten zwei Rechtsmediziner am Boden. Die Leiche mit dem zerfetzten Gesicht lag immer noch mit verdrehten Beinen wie ein zertretenes Uhrwerk da. Einer der Mediziner stand auf und kam auf sie zu.

»Zwei Männer, beide Mitte dreißig, erschossen aus verhältnismäßig kurzem Abstand mit einer automatischen Waffe. Einer von ihnen hat nur eine Kugel abgekriegt, der andere drei – und da ist noch nicht die Kugel eingerechnet, die ihm diesen freien Geist verschafft hat.«

»Verstehe.«

Über die Wortwahl ging Fredrik geflissentlich hinweg. Er beneidete die Kollegen nicht um ihren Job. Die beschisseneren Tage überlebten sie wahrscheinlich nur mit Galgenhumor. Er sah flüchtig zu den Leichen hinüber. Beide waren ohne Strümpfe in ihre Schuhe geschlüpft und trugen Jogginghose und T-Shirt. Körper und Kleidung waren triefnass.

»Aber das werdet ihr vermutlich interessant finden«, fuhr der Mediziner fort und nickte in Richtung zweier durchsichtiger Plastiktüten, die an der Zeltwand befestigt worden waren.

Die eine enthielt ein Pfefferspray, die andere eine Elektroschockpistole. Die stromführenden Projektile, die einen potenziellen Angreifer hätten unschädlich machen können, waren nicht ausgelöst worden. Fredrik und Andreas sahen einander an. Derlei Selbstverteidigungswaffen waren in Norwegen verboten. Warum in aller Welt hatten sich Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft, die fernab des nächsten Ortes lebten, so etwas angeschafft?

8

»Fredrik Beier? Ist hier jemand namens Fredrik Beier?«

Die Zeltwand wurde zur Seite geschoben, und ein Mann mit runter Brille im weißen Overall der Spurensicherung steckte den Kopf herein.

»Das bin ich.«

»Kommen Sie mal mit.«

Der Techniker eilte über den Rasen auf die Scheunenzufahrt zu und blieb erst stehen, als sie in dem zweiten Zelt unmittelbar neben den beiden toten Körpern angekommen waren. Der Anblick war widerlich. Andreas rang nach Luft.

Der Mann vor ihnen lag mit dem Oberkörper quer über der Kante der Zufahrt … oder vielmehr nahm Fredrik an, dass es sich um einen Mann handelte. Nie zuvor hatte er einen derart übel zugerichteten Körper gesehen. Knochen, Haut und Gewebe waren regelrecht zerrissen. Der zerfetzte Kapuzenpullover schwamm förmlich in blutigem Brei. Von einem Gesicht war nichts mehr übrig.

»Mindestens zwanzig Treffer. Kurze Entfernung, automatische Waffe, hohes Aggressionspotenzial«, stellte der Techniker nüchtern fest.

Fredrik vermochte schier nicht, den Blick von dem malträtierten Körper abzuwenden.

»Herrgott …«

Dann schielte er verstohlen zu Andreas hinüber. Der Kollege stand blass da und starrte ebenfalls auf die Leiche hinab.

Unter dem Oberschenkel des Toten lag eingeklemmt eine zweite Elektroschockpistole. »Wurde die abgefeuert?«

Der Techniker zögerte.

»Ich bin mir nicht sicher. Wir sind noch nicht mit dem Fotografieren fertig.«

Fredrik ging neben den blutigen Beinen in die Hocke. Die Elektroschockpistole war abgefeuert worden. Er sah zu den beiden anderen hoch, während der Typ mit der Brille einen langen Schritt über die zweite Leiche hinweg machte.

»Kommen Sie mal mit rüber. Da ist noch etwas, was ich Ihnen zeigen will.«

Er sprang hinunter ins Unkraut neben der Scheunenzufahrt. Dann stemmte er mit beiden Händen ein Stück des Betonfundaments zur Seite. Die massiven Metallscharniere gaben keinen Ton von sich, als die schwere Konstruktion aufglitt. Die Luke war mit Steinen verkleidet, sodass sie entlang der Zufahrt kaum erkennbar gewesen war. Sie war vielleicht dreißig Zentimeter dick, beinahe einen Meter breit und mannshoch.

»Was zum Teufel ist das?«, fragte Andreas von oben herab, und der Techniker sah die beiden fragend an.

»Tja. Was zum Teufel ist das hier?«

Hinter der schweren Betontür befand sich eine weitere Tür. Aus glänzendem Stahl. Fredriks Blick begegnete seinem eigenen befremdlichen Spiegelbild. Der Stahl war makellos glatt, ohne jeden Kratzer. Statt einer Klinke befand sich in der Mitte der Tür eine Vertiefung im Metall. Darin blinkten auf einem kleinen Display sechs grüne Sterne.

»Ist sie offen?«

»Scheint so«, antwortete der Techniker.

Fredrik streifte sich Latexhandschuhe über. Nachdem nirgends irgendein Griff oder eine Klinke zu sehen war, versuchte er, die Tür mit der flachen Hand nach innen aufzuschieben. Sie rührte sich nicht. Womöglich …

Ein leichter Druck der Fingerspitzen auf die Vertiefung reichte aus. Jenseits der Stahltür stöhnte ein Kolben auf, und die Tür glitt sanft beiseite.

Der Raum dahinter war kreisförmig, knapp einen Meter im Durchmesser. Doch es gab keinen Boden. Stattdessen war an der weiß gestrichenen Betonwand eine Aluminiumleiter befestigt, die hinunter in die Dunkelheit führte. Darüber hing eine zerschmetterte Leuchtstoffröhre.

»Nimm die …«

Andreas reichte Fredrik eine Taschenlampe. Er leuchtete hinab in die Finsternis. Irgendwo dort unten meinte er, den Boden auszumachen.

»Ich geh runter.«

Fredrik steckte sich die Taschenlampe in den Mund. Nach einer Handvoll Sprossen hörte er nur mehr erstickte Geräusche von oben und den hellen Gesang, den die Metallleiter unter seinen Tritten von sich gab. Doch je weiter er hinabstieg, umso mehr änderte sich das Klangbild. Erst war es ein leises metallisches Dur, dann ein Klicken, das Quietschen komprimierter Luft. Die Sequenz wiederholte sich in einem Intervall von zehn, elf Sekunden. Noch ein paar Sprossen. Dann fester Boden unter den Füßen.

Intuitiv ging er in die Hocke. Nahm die Taschenlampe wieder in die Hand und leuchtete um sich herum. Es waren ungefähr sechs Meter hinauf zu den Gesichtern über ihm. Rechts von ihm befand sich eine Öffnung in der Betonwand, und dahinter führte ein schmaler Gang in die Dunkelheit. Von dort war die Geräuschsequenz gekommen.

Auf den Gedanken, dass dort der Keller einer Scheune lag, kam er gar nicht erst. Keine Spur von erdigem Geruch, Dünger oder Schimmel. Es roch vielmehr … klinisch. Wie in einem Krankenhaus. Die Luft war trocken. Es war mindestens zwanzig Grad warm.

Ehe er den Korridor betrat, schaltete er die Taschenlampe aus. Sie hätte ihn ansonsten womöglich zu einer Zielscheibe gemacht. Er musste darauf vertrauen, dass sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten.

Nach zehn, zwölf Schritten beschrieb der Gang eine scharfe Kurve. Er lauschte auf Geräusche, spähte vorsichtig um die Ecke. Dahinter war es pechschwarz – mit Ausnahme eines senkrechten Lichtstreifens. Wie von einer angelehnten Tür.

Er wartete. Es schien fast, als würde das Licht dort hinten im Takt der Geräuschsequenz pulsieren. Die gerade Linie aus Licht wurde immer wieder kaum merklich unterbrochen. Fredrik fasste einen Entschluss. Er stürzte nach vorn.

Das Geräusch schien aus dem Gasdruckkolben des Schließsystems zu kommen. Der Mechanismus ächzte, weil irgendetwas ihn behinderte. Irgendetwas lag im Weg, ein Bündel … ein Mensch. Wieder und wieder schlug die schwere Metalltür, die nicht zugehen wollte, gegen einen blutigen Kopf.

Fredrik tastete vorsichtig hinter dem Türspalt herum und bekam schließlich eine schlaffe Schulter zu fassen. Zog mit aller Kraft und schleifte den Körper zu sich heran. Der Mechanismus seufzte erneut – und plötzlich herrschte Dunkelheit. Er lehnte sich ein Stück nach vorn, tastete herum und lauschte.

Verdammt!

Er knipste die Taschenlampe an und eilte zurück zur Leiter.

»Schickt sofort den Notarzt runter! Hier liegt ein Überlebender!«

9

Ohne ein Wort zu verlieren, machten sich die Sanitäter an die Arbeit. Zusammen mit zwei uniformierten Kollegen – jeder mit Maschinenpistole und Helm – bildeten Fredrik und Andreas einen Kreis um den reglosen Mann am Boden. Sie hatten ihre Taschenlampen auf die Hände der Sanitäter gerichtet.

Der Verletzte war nicht wie die anderen Opfer gekleidet. Die Opfer draußen waren barfuß in ihre Schuhe geschlüpft, schienen sich ihre Kleidungsstücke in aller Eile übergeworfen zu haben. Dieser hier hatte sich die Schnürsenkel zugebunden, trug eine Jeans mit festgezogenem Gürtel und einen dünnen Pullover mit V-Ausschnitt über einem Hemd. Womöglich war er noch wach gewesen, als die Täter auftauchten. Doch was hatte das zu bedeuten? Hatten sie einander gekannt?

Hinter dem gelb gekleideten Rücken des Rettungssanitäters konnte Fredrik den Kopf des Mannes nicht sehen. Doch während er dessen Luftwege offen gehalten und auf Hilfe gewartet hatte, hatte er ihn hinreichend betrachten können. Die Lider waren geschlossen, die Lippen leicht geöffnet und glänzend von rot-weißem Schaum. Die blonden Haare waren blutverschmiert. Lediglich ein leises, unregelmäßiges Gurgeln hatte ihm verraten, dass noch Leben in dem Körper war. Bei dem Gedanken, wie lange er so dagelegen haben musste, während die Metalltür Haut, Gewebe, Schädel deformiert hatte, wurde Fredrik schlecht.

Der menschliche Lebenswille war extrem. Das hatte er früher schon erlebt. Misshandelte Körper an blutigen Tatorten. Zusammengekauert und still hatten sie dagelegen wie Tote. Doch dann hatte sich ganz unverhofft und plötzlich offenbart, dass tief dort drinnen, im Innersten eines zusammengekrümmten Menschen, immer noch ein zartes Lichtlein gebrannt hatte.

Ob es wert war durchzuhalten?

Einigen dieser Menschen war er später wieder begegnet. Im Zeugenstand. In der Reha. Transplantierte Haut und Narben hatten davon gezeugt, wie der Körper langsam wieder zurechtgerückt worden war – mittels Stahldraht und Schrauben. Aber die Augen. Die leisen, unkontrollierten Stimmen. Das Zittern. Das verzweifelte Mitleid von Familie und Freunden. Das Sabbern, der Uringestank, der von den Windeln aufstieg. Keine Ahnung … Keine Ahnung, ob es das wert war. Keine Ahnung, ob es das wirklich wert war, so etwas zu überleben.

»Was glauben Sie?«

Fredrik versuchte, den Blick des Sanitäters aufzufangen, während sie gemeinschaftlich die Gurte der Rolltrage festzogen. Er antwortete nicht. Stattdessen presste er die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.

»Wir untersuchen den Rest des Raums. Bewaffnet – Anweisung von Synne.«

Andreas reichte ihm das Holster mit der halb automatischen Heckler & Koch. Der feste Kunststoff lag schwer in seiner Hand. Fredrik kontrollierte das Magazin und streifte sich eine schusssichere Weste über den Kopf. Er schwitzte. Bis jetzt war er nicht unruhig gewesen. Erst die Waffe hatte ihn nervös gemacht. Er mochte weder das Gewicht der Pistole am Oberschenkel noch das Gefühl, sie in den Händen zu halten. Und das Unbehagen machte ihn zu einem schlechten Schützen.

Er spürte Andreas’ Blick auf sich. Den Psychologenblick. Jeden Moment würde der Kollege ihn fragen. Deshalb kam Fredrik ihm zuvor.

»Alles okay.«

Die beiden uniformierten Kollegen nahmen draußen auf dem Gang zu beiden Seiten der Tür Position ein. Schoben die Visiere vor die Gesichter und warteten auf sein Signal.

Er hörte lediglich ein schwaches Klicken, als die Tür ganz aufschwang. Das Licht von drinnen blendete. Unwillkürlich kniff er die Augen zusammen, ehe er sich dazu zwang, sie wieder aufzumachen. Die zwei Uniformierten waren bereits drinnen – leicht vorgebeugt waren sie mit angelegten Waffen an der Wand entlanggestürmt. Andreas stand inzwischen mit der Pistole im Anschlag in der Tür.

Der Raum hatte etwa die Größe eines Klassenzimmers. Wände und Decke waren in gleißendem Weiß gestrichen. Das Licht kam von zwei Reihen unverkleideter Leuchtstoffröhren unter der Decke. Auf dem grauen, blank polierten Linoleum am Boden zeichnete sich die Blutlache hinter der Tür gleich umso deutlicher ab. Entlang der Seitenwände standen Labortische mit Reagenzgläsern, Pipetten, Pinzetten, Plastikstativen und allerhand anderer wissenschaftlicher Ausrüstung. In den Schränken darüber standen Kolben, Gewichte, durchsichtige Plastikgefäße und noch mehr Reagenzgläser in Plastikständern. Unter die Tische waren mehrere Kühlschränke und Gaskartuschen geschoben worden.

Ein medizinisches Labor. Das Chaos deutete darauf hin, dass es durchsucht worden war. In der Rückwand des Raums war eine Tür angelehnt. Im Handumdrehen waren die Uniformierten hineingestürmt.

»Sauber!«, brüllte einer von ihnen.

Fredrik streifte die Weste wieder ab. Er hatte grässlichen Durst. Das Herz hämmerte in seiner Brust, und sein Atem ging kurz und schnell. Er schwitzte.