Der Inselvogt von Memmert - Enno Janßen - E-Book

Der Inselvogt von Memmert E-Book

Enno Janßen

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Beschreibung

Wer träumt nicht vom Leben auf einer einsamen Insel? Enno Janßen ist Der Inselvogt von Memmert, einer kleinen Insel im Wattenmeer zwischen Borkum und Juist. In diesem Buch erzählt Enno Janßen von seinem so einsamen wie erfüllten Leben auf der Nordsee-Insel und seiner spannenden Arbeit als Inselvogt und Vogelwart. Zwischen Anfang März und Ende Oktober ist er der einzige Mensch auf der Vogelschutzinsel mitten im Wattenmeer. Und nur schweren Herzens kehrt er für den Winter auf das Festland zurück, denn seine Liebe gehört der unberührten Natur, dem Tosen der Brandung und der faszinierenden Vogelwelt Memmerts. Sobald die Winterstürme vorbei sind, geht es los. Dann schnürt der groß gewachsene Mann mit dem Pferdeschwanz seinen Rucksack und setzt mit seinem kleinen Boot von der Nordseeinsel Juist aus über. Es ist seine einzige Verbindung zur Zivilisation, denn die Insel darf von anderen Menschen nur im Ausnahmefall betreten werden. Internet und E-Mail gibt es auf der Insel nicht, dafür ein reetgedecktes Häuschen, in dem er Inselvogt wohnt. Seine Nachbarn sind die Vögel. Memmert beherbergt knapp 60 Vogelarten, viele davon Zugvögel, die hier zum Brüten Zwischenstation machen und die Enno Janßen gewissenhaft zählt und beobachtet. Wenn die Brutsaison lange vorbei ist und viele der Vögel schließlich gen Süden weitergezogen sind, macht Enno Janßen sich daran, die Vogelschutzinsel und sein kleines Wohnhaus winterfest zu machen. Ende Oktober wird es dann auch Zeit für ihn, ans Festland zurückzukehren. Dann fährt er nach Hause zu seiner Familie – mit seinem kleinen Motorboot und gepacktem Rucksack.

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Seitenzahl: 228

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Über dieses Buch

Wer träumt nicht vom Leben auf einer einsamen Insel? Für Enno Janßen aus Ostfriesland ist das jeden Sommer Alltag. Er ist der Inselvogt von Memmert, einem kleinen Nordsee-Eiland zwischen Borkum und Juist. Zwischen Anfang März und Ende Oktober ist er der einzige Mensch auf der Vogelschutzinsel mitten im Wattenmeer. Und nur schweren Herzens kehrt er für den Winter auf das Festland zurück, denn seine Liebe gehört der unberührten Natur, dem Tosen der Brandung und der faszinierenden Vogelwelt Memmerts, wo jedes Jahr 100000 Zugvögel Station machen. In diesem Buch erzählt Enno Janßen von seinem so einsamen wie erfüllten Leben inmitten der Natur und seiner spannenden Arbeit als Inselvogt und Vogelwart.

Inhaltsübersicht

1. Strand ja. Strandbar nein2. So nah und doch so fern3. Flach, menschenleer, fast baumlos – und weiter?4. Mein Wüstenplanet5. Wandernde Inseln6. Im Vorleben Indianer, wochenlang7. Alle Zeit der Welt auf einer Handvoll Erde8. Auge in Auge mit meinem ersten Adler9. Der Kuckuck, die Nachtigall und der ganze, große Rest10. Vorhang auf, Bühne frei – Einzug der Gladiatoren11. Was mache ich hier?12. Das Schweigen der Löffler13. Gibt es Leben auf Kachelot?14. Der Inselvogt in diplomatischer Mission15. Frühe Jahre eines Glückskinds16. Durststrecke mit Lichtblicken17. Von Menschen und Mäusen auf Memmert18. Klavierkonzert auf einer Vogelinsel19. Die Allerheiligenflut20. Die Gedanken sind frei21. Rote, schwarz gesprenkelte Eier22. Nur Fliegen ist schöner23. Das große Staunen24. Vögel verstehen25. Vom Glück der Leichtigkeit26. Krawall auf Memmert27. Bedrohtes Paradies28. Kapitel für alles, was bisher übersehen wurde29. Abschied von MemmertTafelteil
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1Strand ja. Strandbar nein

Es gibt hinreißendere Inseln als meine?

Mag sein.

Wir sind hier nicht in der Karibik. Palmen haben wir nicht, Traumstrände auch nicht. Nicht einmal eine Strandbar.

Aber was heißt »wir«? Ich, müsste es heißen. Ich bin es, der keine Palmen, keinen Traumstrand und keine Strandbar hat. Immerhin habe ich ein Boot, das mich in einer halben Stunde nach Juist bringt, wenn die Vorräte aufgezehrt sind, denn, wie gesagt: keine Strandbar, auch kein Pizzaservice, nichts dergleichen. Das Boot liegt am Rand der Fahrrinne drüben an der Nordküste, und je nach Wasserstand ist gar nicht so leicht dranzukommen, weil ich auch keinen Hafen habe; womöglich dümpelt es weit draußen, und ich muss hinwaten, bis zur Hüfte im Wasser. Ab Windstärke 6 überlege ich mir ohnehin zweimal, ob ich fahren soll, es ist nämlich ein kleines Boot und – lieber hungern als kentern, wenn sich die Frage schon stellt. Ich hab’s übrigens ausprobiert. Das ist schon eine Weile her, aber damals habe ich sechs Tage hintereinander ohne Nahrung ausgehalten. Es geht … Also lieber hungern.

Die Sache ist nämlich die: Ich bin allein auf dieser Insel. Wobei allein nicht ganz das richtige Wort ist. Sagen wir lieber: Ich bin hier der einzige Mensch. Und wo ich schon dabei bin, die Verhältnisse klarzustellen: Natürlich ist es nicht meine Insel. Sie gehört mir nicht. Und eigentlich habe ich hier auch nichts verloren. Nichts verloren und nichts zu suchen – jedenfalls nach Ansicht meiner Mitbewohner, von der sie auch nach siebzehn gemeinsamen Jahren nicht abrücken. Sie wollen sich nicht an mich gewöhnen, sie weigern sich strikt, mich anzuerkennen, sie behandeln mich nach all der Zeit noch immer als lästigen Fremdkörper. Jedenfalls komme ich ihnen grundsätzlich ungelegen.

Bis zu einem gewissen Grad verstehe ich sie sogar. Es ist nämlich ihre Insel, und zwar wahrscheinlich schon seit über zweihundert Jahren. Sie reklamieren diese Insel also für sich, und da ich unübersehbar bin, fast immer die höchste Erhebung hier – eine Erhebung auf zwei zügig voranschreitenden Beinen obendrein –, entdecken sie mich regelmäßig schon von Weitem und fliegen unverzüglich auf, schimpfen, zetern und schlagen Krach oder verdrücken sich lautlos: hinter die Dünen, hinaus aufs Meer, in jedem Fall verärgert.

Damit ist es heraus. Ich bin – wenn wir die Kaninchen und Mäuse einmal beiseitelassen – der einzige Nicht-Vogel auf dieser Insel und massiv in der Unterzahl. An manchen Tagen bringen sie es auf 30000, an anderen auf 100000 … fast hätte ich gesagt: Exemplare, aber ich würde von meinen Mitbewohnern niemals als »Exemplare« sprechen. Übrigens sind sie sich auch untereinander nicht unbedingt grün, eine verschworene Gemeinschaft bilden sie auf keinen Fall. Aber was meine Person angeht, sind sie sich überraschend einig: Mensch bleibt Mensch, und wenigstens hier, wenigstens auf ihrer Insel wollen sie davon verschont bleiben.

Natürlich respektiere ich ihren Wunsch, so gut es geht, muss aber anmerken, dass auch Vögel nicht immer recht haben. Dass ich hier nichts zu suchen hätte, beruht zum Beispiel auf einem Irrtum. In Wirklichkeit können sie froh sein, jemanden wie mich zu haben, so wie ich meinerseits über ihre Anwesenheit täglich aufs Neue hocherfreut bin.

Und damit komme ich auf die Frage zurück, ob es hinreißendere Inseln gibt.

Nein. Nicht für mich. Klar, keine Palmen, keine Traumstrände, keine Strandbars, alles zugegeben, alles richtig, stattdessen struppiger Bewuchs, etwas Buschwerk, ansonsten Disteln, Grasbüschel, Salzwiesen, Priele, Bodenunebenheiten, die nur für das liebende Auge eine Hügellandschaft bilden (na ja, warten Sie ab …), und Dünenriegel, die einem das Meer vom Hals halten, wenigstens am Westrand der Insel (anderswo hat die Sturmflut jederzeit freien Zutritt). Und sogar Sandstrand (aber kein Vergleich mit Juist) sowie ein Haus, ein einziges Haus, nämlich mein Haus. Mithin alles eher karg und ziemlich wild, alles in einem permanenten Übergangsstadium, aber – welche andere Insel bietet ein vergleichbares Schauspiel? Hier leben Vögel aller Art und jeder Größe, vom Rotschwanz bis zum Seeadler, Schwimmvögel, Watvögel, Seevögel, Greifvögel, Singvögel, die in riesigen Kolonien oder auch ganz für sich ihre Nester haben, ihre Eier legen und ausbrüten, später rastlos ihre Küken päppeln, noch später dem Nachwuchs mit Engelsgeduld Flugunterricht erteilen und zu guter Letzt in hellen Scharen aufbrechen, nach Süden, einige im Formationsflug, andere in großen schwarzen Schwärmen. Ganz von denen abgesehen, die ihre Reise hier mehr oder weniger kurz unterbrechen, um sich für den Weg in die Arktis (oder nach Afrika) zu stärken, auf meiner, ihrer, sagen wir ruhig: unserer Insel in der Nordsee. Und ich habe das unverschämte Glück, dabei und mittendrin zu sein. Die ganze Zeit. Als einziger Mensch. Als Inselvogt von Memmert.

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2So nah und doch so fern

Memmert … Sie werden nie hier gewesen sein. Auch ich habe mich von Memmert wohlweislich ferngehalten, als ein anderer noch Inselvogt war und ich von meinem jetzigen Dasein nicht mal zu träumen wagte. Denn über der legendären Vogelinsel schwebte ein großes, wenn auch unsichtbares Betreten-verboten-Schild, und das ist bis heute so. Memmert ist tabu, für Urlauber und Freizeitkapitäne, aber auch für meine nächsten Nachbarn auf Borkum und Juist.

Die Situation ist recht bizarr, das gebe ich zu. Juist ist zum Greifen nah, Borkum ebenfalls in Sichtweite, und des Nachts empfange ich die Lichtsignale des einen wie des anderen Leuchtturms. Um mich herum, am Himmel, auf dem Wasser, auf den Nachbarinseln, herrscht also normales Leben. Hubschrauber überfliegen Memmert auf dem Weg zu den Windkraftanlagen draußen im Meer, Tanker und Frachter ziehen in einiger Entfernung vorbei, und was die Yachthäfen am Festland und auf den Inseln an Booten fassen, das schwimmt früher oder später auch hier vorüber. Dazu kommen die alteingesessenen Insulaner, die Memmert genauso zu ihrem Revier rechnen wie das Wattenmeer und die offene See. Und sie alle, deutsche Touristen, holländische Touristen, Einheimische von der Küste und Ureinwohner der Inseln, freiheitsliebend oder unternehmungslustig, wie sie sind, sollen bis zu ihrem Lebensende von diesem geheimnisvollen Eiland gleich vor ihrer Haustür ausgeschlossen bleiben?

Das wurmt den einen oder anderen. Was gibt es auf der verbotenen Insel zu sehen, was keiner sehen darf (außer mir)? Und wie kommt der Inselvogt eigentlich so zurecht? Ist der Mann vom ewigen Meeresrauschen und Vogelkreischen nicht längst verrückt, trunksüchtig, zumindest wunderlich geworden oder führt er – immerhin auch möglich! – eine beneidenswerte Existenz? Solche Fragen können nach einer Woche Ferien quälend werden, und dann rücken sie doch an: Neugierige wie die beiden holländischen Motorbootfahrer, die ich bei Niedrigwasser im Watt vor Memmert entdeckte. Sie hatten sich trockenfallen lassen, und praktisch denkend, wie unsere niederländischen Nachbarn sind, waren sie prompt darangegangen, ihren Bootsrumpf zu lackieren – sechs Stunden Wartezeit sollten nicht ungenutzt verstreichen.

Solche Leute nehme ich mir vor. Nicht, weil ich ungestört sein will (Na gut, das auch. Ungestörtsein ist eins der Privilegien des Inselvogts.). Aber wir befinden uns hier, verflucht noch mal, im Nationalpark. Wir befinden uns hier sogar in der hochsensiblen Ruhezone 1. Obendrein ist hier alles Weltnaturerbe, das Wattenmeer steht für die UNESCO mit sensationellen Landschaften wie dem Grand Canyon auf einer Stufe. Da gibt es Spielregeln, und ich bin weit und breit der Einzige, der Unheil von diesem einmaligen Fleckchen Erde abwenden kann.

Was mich freut: Meine Sportsfreunde da draußen sitzen auf dem Trockenen, die können nicht fliehen. Ich laufe also los, die Dünen runter über den Strand und raus ins Watt. Die sollen mich kennenlernen … Noch nie was von Weltnaturerbe gehört? Welt-Natur-Erbe? Na, klingelt da was bei euch? Oder wollt ihr mir weismachen, davon stehe in eurer Seekarte nichts drin? Mein Vorgänger wäre jetzt jedenfalls in die Vollen gegangen, der war ein streitbarer Mensch.

Doch der Weg zieht sich, und da passiert’s: Mein anfänglicher Groll verfliegt. Aber zeigen muss ich mich. Wenn sich herumsprechen würde, dass der Inselvogt ungebetene Gäste verschläft, kämen sie über kurz oder lang mit einer kleinen Armada zurück. Dann würden die Gewässer ringsum zum Eldorado für Sportschiffer, und auf Memmert wäre Party. Sie kämen aus allen Richtungen und würden hier Grillfeste veranstalten. Bloß nichts einreißen lassen. Am Ende verfallen auch die zwei da vorne auf die Idee, am Strand ein Feuerchen zu machen und den Gettoblaster anzuwerfen, wenn sie mit ihrem Bootsanstrich fertig sind. Die sollen wenigstens wissen, dass sie hier im Watt jederzeit unter Beobachtung sind. Aber gut, versuchen wir’s zunächst auf die freundliche Tour; zusammenfalten kann ich sie immer noch.

Aha, meine holländischen Freunde verstehen kein Wort Deutsch. Große Augen, verständnislose Mienen, kalte Schultern. Schön, ich kann auch Plattdeutsch reden, und einen Holländer, der mein Platt nicht versteht, den gibt es nicht; folglich werde ich jetzt doch etwas strenger. »Komisch. Ich kann euch verstehen – und ihr wollt mir erzählen, dass ihr mich nicht versteht?«

Jedes Wort verstehen sie. Und langsam tauen sie auf. Werden zugänglich. »Ihr wisst, dass ihr hier nicht liegen dürft? Bitte schön, sobald das Wasser kommt, habt ihr zu verschwinden.« Das kennen sie eigentlich, in den Niederlanden ist es nämlich strengstens verboten, sich im Watt trockenfallen zu lassen. Der niederländische Naturschutz fährt sogar mit Patrouillenbooten rum, und wer sich erwischen lässt, für den wird’s richtig teuer. »Ich behalte euch im Auge, und wenn die halbe Tide erreicht ist, zieht ihr weiter.«

Was sie dann auch getan haben.

So wie alle anderen, die ich in den letzten Jahren erwischt habe. Viele waren es, offen gesagt, nicht, und wenn, stellten sie sich als Auswärtige aus den großen Hafenstädten an der Küste heraus, aus Cuxhaven, aus Hamburg oder Bremen. Segler und Motorbootfahrer, denen vielleicht gar nicht klar war, dass Memmert tabu ist. Es gab sogar Jahre, in denen es zu keiner einzigen Störung des Inselfriedens gekommen ist.

Grundsätzlich setze ich auf Diplomatie und freundliche, wenn auch deutliche Worte.

 

Mein Vorgänger, wie gesagt, betrieb eine andere Außenpolitik. Der lag mit vielen in Fehde. Aber die Zeiten waren auch andere. Der musste kämpfen, um den Nationalpark durchzusetzen, und damals traf Dickschädel auf Dickschädel. Zur großen Verstimmung kam es dann so: Schutzgebiet war die Insel schon lange, wegen der Vögel, aber im Lauf der Jahre gesellte sich Titel zu Titel: 1907 wurde Memmert zur Vogelfreistätte erklärt, in den Zwanzigerjahren zum Naturschutzgebiet, dann zum Biosphären-Reservat, und 1986 schließlich kam der Nationalpark hinzu, und zwar in seiner verschärften Form, das heißt: als Ruhezone 1. Nun war fast alles verboten, und jetzt stelle man sich vor: Nicht allein Memmert kam in den Genuss der strengsten Regeln, auch das Wattenmeer als Ganzes, selbst bestimmte Teile von Juist.

Die Freude darüber hielt sich in engen Grenzen, denn die Insulaner waren nicht gefragt worden. Die Einteilung ihres Lebensraums in Schutzzonen – und zum Lebensraum der Inselbewohner gehört natürlich auch die Zwischenwelt des Wattenmeeres – war über ihre Köpfe hinweg geschehen. Nun sind die Insulaner von allen freiheitsliebenden Ostfriesen die freiheitsliebendsten. Diese Menschen nehmen es seit Menschengedenken mit unerbittlichen Gewalten auf, mit höheren Gewalten jedenfalls als einer Landesregierung, nämlich mit Sturm und Meer, und jetzt sollten sie nicht mal mehr Herren der eigenen Insel sein? Jetzt sollten sie sich in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken und vorschreiben lassen, wo sie herumlaufen durften und wo nicht? Man kann sich ihre erste Reaktion denken: Empörung und Ablehnung. Müssten sie jetzt alle Badegäste in der Ferienzeit an die Leine legen? Und wer wollte sie wohl daran hindern, mal eben nach Memmert rüberzufahren? Dazu würde man nicht mal ein Motorboot brauchen, dass ließe sich auch rudernd mit jedem Kahn bewerkstelligen …

Nun, ganz einfach: der Inselvogt von Memmert hinderte sie. Mein Vorgänger. Der nämlich kämpfte – für die Vögel, für den Nationalpark und gegen alle Versuche, Gewohnheitsrecht auf Kosten des Tierschutzes durchzusetzen. Er war mit Memmert verwachsen und setzte die neuen Regeln rigoros durch. Er war mein Vorkämpfer, und ich werde von diesem großartigen Mann später mehr erzählen. Für den Augenblick aber möchte ich zum besseren Verständnis der eigentümlichen Mentalität eines Inselvogts Bilder aus der Vergangenheit von Memmert beschwören. Bilder, die jedem Inselvogt in den Sinn kommen, wenn er ungebetener Gäste ansichtig wird. Es sind abstoßende Bilder.

Vor mehr als hundert Jahren war Memmert nämlich alles andere als ein Vogelparadies. Es diente als Ausflugsziel für schießwütige Einheimische und Badegäste. Zur allgemeinen Belustigung setzte man an schönen Tagen von Juist aus über, mit Vorliebe in der Brutzeit, jeder mit einer Flinte ausgerüstet, und schoss dann nicht selten auch auf brütende Vögel in ihren Nestern, auf Möwen und Seeschwalben in der Luft, auf die Kaninchen am Boden. Tote und verletzte Vogelkörper wurden achtlos liegen gelassen, man plünderte Nester und zertrümmerte Eier. Allenfalls riss man geschossenen Vögeln ein paar Schwanzfedern aus, um sie sich an den Hut zu stecken.

Heute, wo ein ganz anderes Verständnis für die Einzigartigkeit der Vogelwelt Memmerts herrscht, ist eine solche Freizeitbeschäftigung unvorstellbar – aber damals waren eben andere Zeiten, und die Menschen hatten mit Naturschutz noch nicht viel im Sinn. Auch später noch, in den Fünfzigerjahren, wollten Fischer, Schiffer und Inselbewohner nicht von der lieb gewordenen Gewohnheit lassen, auf Memmert Möweneiner zu sammeln und Kaninchen zu schießen – und wo man schon dabei war, auch mal ein paar Enten. Ja, selbst in den Achtzigern noch trafen sich aufgebrachte Sportbootfahrer, die sich ihre Strandpartys vom Inselvogt nicht nehmen lassen wollten, vor Memmert und versuchten, die Insel einzukreisen, als Protestaktion, als Drohgeste. Man versteht jetzt: Die idyllischen Verhältnisse, unter denen ich hier lebe, mussten der Ignoranz und dem Amüsierbedürfnis abgetrotzt werden. Es sind solche überlieferten Erzählungen der Zerstörung, die einen Inselvogt in Alarmbereitschaft halten, solche Erinnerungen, solche Zustände – und wer kann sagen, dass sie unwiderruflich vorbei sind?

Nein, ich bleibe wachsam. Wenn ich einen Eindringling entdecke, gehe ich raus, auch dann, wenn ich mich nach einem anstrengenden Tag in den Salzwiesen gerade vor dem Fernseher niedergelassen habe. Sollen sie ihre Neugier noch etwas bezähmen. Sollen sie sich gedulden, bis wir August haben, bis der September kommt – in diesen Monaten nämlich darf man sich an einigen Tagen ganz offiziell auf Memmert umschauen. Dann werde sie mich von meiner gastfreundlichen Seite kennenlernen und nebenbei wohl auch die Frage beantwortet finden, ob ich vom ewigen Meeresrauschen und Vogelgeschrei nicht längst verrückt, trunksüchtig, zumindest wunderlich geworden bin, oder ob ich – immerhin auch möglich! – eine beneidenswerte Existenz führe.

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3Flach, menschenleer, fast baumlos – und weiter?

Was ist auf Memmert eigentlich los?

Gute Frage. Sehr wenig und sehr viel, würde ich sagen, und beides gleichzeitig. Wenn ich im Abendlicht aus dem Fenster meiner Dienstwohnung schaue, ist höchstwahrscheinlich gar nichts los. Bei Flut legt sich ein dünner blauer Kranz von Wasser um meine Insel, bei Niedrigwasser scheint sie von Horizont bis Horizont zu reichen, und alles, was ich sehe, strahlt Frieden, Einsamkeit und Stille aus. Keine Bewegung, es sei denn, der Wind peitscht die wenigen Bäume. Vielleicht sitzen zwei Graugänse auf dem Damm, der das Haus vor den schlimmsten Sturmfluten schützt, und drei Austernfischer mit spitzen, roten Schnäbeln leisten ihnen nach einem langen Tag im Watt Gesellschaft. Vielleicht steht sogar ein junger Fischreiher unschlüssig auf dem gepflasterten Weg vorm Haus herum, und wahrscheinlich sitzt wieder die einzelne Möwe auf dem Gedächtniskreuz des allerersten Inselvogts, möglicherweise von ihrer Kolonie abgeordnet, von dort oben ein wachsames Auge auf die Umgebung zu haben, man weiß ja nie … Schließlich lebt da unten einer, der nicht zu ihnen gehört.

Ansonsten tut sich nichts. Mit ein paar Schritten bin ich auf der nächsten Anhöhe und kann beinahe die ganze Insel überblicken. Ihre Abstammung aus der Familie der Sandbänke kann Memmert bis heute nicht verleugnen, so flach, wie diese Handvoll Land ist. Aber da sich meine Insel nun schon seit geraumer Zeit wacker gegen die See behauptet, bringt der ehemalige Sandboden eine Vielzahl von Pflanzen hervor, und in der Abendsonne strahlt sie auf: das Gebüsch in silbrigem Grün, die Dünengräser wie von Goldfäden durchzogen, in der Ferne aber auch in einem intensiven Rotviolett, mit glitzernden Wasserflächen von Tümpeln und Prielen dazwischen.

Das Violett kommt vom Strandflieder, der in den Salzwiesen im Osten der Insel weite Flächen fast lückenlos bedeckt: an sonnigen Tagen ein traumhafter Anblick. Im Süden wiederum gibt es ein ganzes System von Prielen, die wie Flüsse zusammenlaufen und sich zu einem Hauptstrom vereinigen, der sich ins Watt entwässert, der sein Wasser allerdings auch von dort erhält – im Grunde nichts anderes als eine Reminiszenz an den einstigen Meeresboden, der von ebendiesen Prielen durchzogen war.

Und am östlichen Rand der Insel kommt man in den sonderbarsten Teil, die untere Salzwiese. Ist das noch Wattenmeer, ist das schon Land? Schwer zu entscheiden. Der Rand der Salzwiese stellt den jüngsten Teil der Insel dar, ganz frisch, ganz neu, seiner Identität noch nicht ganz sicher und dem Meeresboden immer noch verwandt – man sieht schon Land, aber man ahnt noch die See. Zentimeter um Zentimeter wächst hier die Insel aus dem Meer heraus, unter tätiger Mithilfe der ersten, primitiven Vegetation. Denn Pflanzen lassen sich nicht lange bitten. Kaum besteht Aussicht darauf, dass sich ein paar Quadratmeter Wattboden von der Herrschaft des Meeres befreien, schon siedelt sich da und dort der Queller an, kommt dem entstehenden Land zu Hilfe und stabilisiert es. In diesem Übergangsbereich bietet sich das faszinierende Bild einer leicht gewellten, gelbgrün schimmernden, immer noch feuchten Urlandschaft, von Lagunen und Pfützen durchsetzt – ein Stück Meeresboden auf dem beschwerlichen Weg zu festem Land.

Und näher zum Haus hin gibt es Bodenwellen: bewachsene Dünen, die sich am Westrand zu einem regelrechten Dünenriegel zusammenschließen, gerade dort, von woher die größte Gefahr droht. Die See greift bei Sturmflut ja am heftigsten von Nordwesten an, und ganz sicher kann man nie sein, aber ich vertraue meinen Dünen. Und dort, an der Nord- und der Westküste, habe ich tatsächlich richtigen Strand, wie auf Juist und Norderney oder den anderen Inseln, nur etwas bescheidener.

 

Ist das jetzt Gelände, oder kann man das schon als Landschaft bezeichnen? Mir fallen drei mögliche Antworten ein. Wer zum ersten Mal am Strand von Memmert an Land geht, wird nach einem kurzen Rundblick vermutlich denken: Ganz schön eintönig hier. Alles flach, alles von einem struppigen grünen Teppich überzogen, nach spätestens zwei Tagen würde ich mich hier langweilen … Sodann könnten wir die Antwort der Vögel einholen, die ungefähr folgendermaßen ausfallen würde: Memmert? Ideal! Wir sind ja extrem wählerisch. Von uns gibt es hier hundert Arten und mehr (es sind bis zu hundertsechzig Brut- und Rastvögel, die vorkommen können, Anm. d. Autors), und jede ist anders, jede von uns hat ihre eigene Vorstellung von einem optimalen Brutplatz. Die einen brauchen Deckung, die anderen offene Landschaft, einige legen ihre Eier direkt am Strand, andere bauen ihre Nester am Rand der Priele, wieder andere brüten sogar im Kaninchenbau. Manche lieben die Geselligkeit riesiger Kolonien, manche sind sehr auf ihre Privatsphäre bedacht und sondern sich ab, und dennoch … Obwohl unsere Ansprüche und Vorlieben unterschiedlicher nicht sein könnten, findet jeder auf Memmert einen Brutplatz nach seinem Geschmack. Also gar keine Frage: So stellen wir Vögel uns eine abwechslungsreiche Landschaft vor.

Und dann gibt es noch die Ansicht des Inselvogts, und der findet: Man vertue sich nicht! Klein und eintönig wirkt Memmert allenfalls aus der Luft. 1,5 Kilometer laufe ich von meinem Haus bis zum Strand im Norden, 3 Kilometer sind es bis zur Südspitze, und für mich, der ich die Insel manchmal von morgens bis abends durchstreife, wechselt die Landschaft ständig – jedes Mal fallen mir Veränderungen auf, zu jeder Jahreszeit zeigt sie ein anderes Gesicht, denn Memmert ist Landschaft im ursprünglichsten Sinne. Es ist eine der wenigen ganz und gar urwüchsigen Landschaften Deutschlands, eine Wildnis ohne das kleinste Einsprengsel von Zivilisation – wenn man von meinem Haus und dem Schuppen absieht. Aber es gibt keine Reklametafeln, keine Werbeplakate, keine Handymasten, keine Strommasten, auch keine sonstigen Eingriffe von Menschenhand in die Gestalt oder das Wachstum der Insel. Wo sonst in Deutschland gibt es das noch: Natur, die tun und lassen darf, was sie will? Die sich nicht unterordnen muss, die weder benutzt noch gebändigt noch verschandelt wird? Memmert ist nach wie vor einzig den unkalkulierbaren Kräften der Natur ausgesetzt; nur Wind, Wetter, Sturmfluten und Gezeiten arbeiten am Gesicht dieser Insel – wobei …

An dieser Stelle ist ein Geständnis fällig. Einmal habe ich doch nachgeholfen. Ein ganz kleines bisschen und mit aller gebotenen Zurückhaltung. Nämlich nach der gewaltigsten Sturmflut, die ich auf Memmert erlebt habe, der Allerheiligenflut des Jahres 2006, von der ich bei Gelegenheit noch ausführlicher erzählen werde.

Memmert hatte damals gelitten, aber überlebt. Zum Glück hatte der Dünengürtel am Westrand einigermaßen gehalten, aber an einer Stelle hatte die Wucht der Sturmflut ihn doch durchbrochen, und nun klaffte dort eine Lücke. Jetzt war ich gespannt: Was würde an dieser Stelle beim Zusammenspiel von Wind, Sand und Vegetation herauskommen? So oft es sich einrichten ließ, ging ich vorbei, sah mir die allmählichen Veränderungen an der durchbrochenen Stelle aus der Nähe an und stellte fest: Der Wind beschleunigte sich in dieser Lücke. Sie wirkte wie ein Trichter, in dem der Wind noch einmal richtig Fahrt aufnahm. Dabei transportierte er natürlich Sand, der sich aber im Rücken der Dünenkette gleich wieder ablagerte, weil er sich in den Gräsern verfing. Nach kurzer Zeit hatte sich dort bereits ein neuer kleiner Hügel gebildet.

Nun hatte ich ja irgendwann verstanden, wie eine Düne entsteht: Herangewehter Sand verfängt sich in Grasbüscheln und verschüttet diese Büschel mit der Zeit, wächst über sie hinaus. Die alten Gräser bilden sich dann zu den Wurzeln neuer Gräser um, in denen sich neuer Sand verfängt, wenig später schon sprießt wieder frisches Strandgras auf allen Seiten, und so wächst die anfängliche Babydüne immer weiter und immer höher. Peu à peu würde sich die Lücke in meiner Dünenkette also ganz von selbst schließen – und genau das musste unbedingt verhindert werden!

Denn mir schwebte etwas viel Gewaltigeres als eine normale Düne vor. Mir schwebte die höchste Erhebung auf Memmert vor. Ein Berg! Und ich wusste auch, wie ich vorzugehen hatte: Dieser Trichter musste offen bleiben. In dieser Lücke durfte kein Gras wachsen, sonst würde sich der Trichter schließen und die Windgeschwindigkeit abnehmen. Also habe ich die Öffnung von Bewuchs freigehalten, sodass der Düseneffekt erhalten blieb und der Sand weiterhin ungehindert durchgeblasen wurde. Und tatsächlich: Jahr um Jahr wuchs diese rückwärtige Düne höher. Dreizehn Jahre später ist sie längst die höchste Erhebung von Memmert. Ich habe mir erlaubt, diese Riesendüne mit einem Anflug von Stolz Mount Memmert zu nennen.

Mein Berg ist ein prachtvoller Anblick. Das Wahrzeichen von Memmert, gleich imposant von der Seeseite wie von der Landseite (oder bilde ich mir das ein?). Bisweilen beunruhigt mich die Vorstellung, die nächste größere Sturmflut könnte meinem Berg dermaßen zusetzen, dass seine Pracht dahin wäre; im Übrigen aber bin ich einfach glücklich, dass mein Plan aufgegangen ist. Dieses Dünenexperiment war ja nichts als eine Liebhaberei, ein Privatvergnügen, dem ich nach Feierabend nachgegangen bin, wenn ich zufällig vorbeikam oder auf dem Rückweg von der Strandsäuberung war. In diesem Fall hatte ich sowieso einen Spaten dabei, also wurden schnell ein paar Grasbüschel entfernt, und schon konnte das Spiel weitergehen. Seither weiß ich jedenfalls, wie man unter freundlicher Mithilfe von Sand, Wind und Gras mit einem Spaten und zwei, drei Sandfangzäunen ausgewachsene Sandberge erzeugt.

Memmert wird mir diese harmlose Verschönerungsmaßnahme verzeihen. Ansonsten respektiere ich ja, dass meine Insel in Ruhe gelassen werden möchte. Es sind nämlich nicht nur die Vögel, die ungestört bleiben wollen, es ist dieser kleine Flecken Erde selbst, der darauf besteht, unbehelligt zu bleiben.

Sicher auch deshalb, weil er intensiv mit sich selbst beschäftigt ist. Denn hier tut sich was, ununterbrochen. Hier ist richtig was los. Selbst Spektakuläres tut sich, aber es geschieht nach den Gesetzen des Universums, das heißt: selten mit Getöse, fast immer diskret, unmerklich, still und leise. Klar, für jähe Veränderungen haben die meisten Menschen ein Auge, aber wer auf Dramatisches spekuliert, wird auf Memmert enttäuscht. Die Kreativität der Erde äußert sich fast immer in einem lautlosen, allmählichen Wandel, und wer den mitbekommen will, muss sich umstellen. Er muss zum Beispiel sein Zeitgefühl von Uhrzeit auf Tages- und Jahreszeit umstellen. Er sollte auch alle Ambitionen des modernen Menschen vergessen. Und er sollte sich vor allem von dem zwanghaften Bedürfnis befreien, ständig und überall eingreifen zu müssen. Er muss sich, mit einem Wort, vom rastlosen Macher in einen staunenden Beobachter verwandeln.

Ich fühle mich in der Rolle des staunenden Beobachters wohl. Sie entspricht meiner Natur und meinen Wünschen. Deshalb bin ich hier. Und daher weiß ich auch: In Wahrheit ist in meiner kleinen Inselwelt alles ununterbrochen in Bewegung.

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4Mein Wüstenplanet

Memmert bewegt sich. Memmert wächst. Und ringsumher wächst und bewegt es sich ebenfalls, denn Memmert ist nicht allein. Genaugenommen haben wir hier nämlich ein kleines Archipel, das als Ganzes sich selbst überlassen ist, und wenn mich nicht alles täuscht, bahnen sich hier Verschiebungen und Verschmelzungen an, die im Endeffekt zur Geburt einer neuen, großen Insel führen werden.

Aber stellen wir diese Vermutung einstweilen zurück. Fürs Erste sollte ich meinen direkten Nachbarn im Westen vorstellen: die Kachelotplate. Ein seltsamer Name? Wohl wahr. Wahrscheinlich ist sogar beides, Plate wie Kachelot, erklärungsbedürftig. Also, zum besseren Verständnis: Unter Plate versteht man eine Sandbank, die den Meeresspiegel so weit übersteigt, dass sie bei regulärem Hochwasser nicht mehr überspült wird. Gewöhnliche Sandbänke tauchen im Rhythmus der Gezeiten auf und unter, Seehundbänke zum Beispiel verschwinden mit jeder Flut, aber Platen tun das nicht; sie weisen Flächen auf, die auch bei Hochwasser trocken bleiben – ein erster Sieg über das Meer.

Übrigens hat auch Memmert so angefangen. In den Küstenkarten des 17. Jahrhunderts ist die Insel als Sandbank weit draußen im Trichter der Emsmündung zwischen Borkum und Juist verzeichnet. Bis Ende des 19. Jahrhunderts hat sie sich dann zur Plate gemausert, mit ersten kleinen Dünen und einer robusten Pflanzenwelt im Inneren, viel Gras und etwas Gebüsch. Und 1923 war es dann so weit – seither ist Memmert ganz offiziell eine Insel.