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Andreas Gruber

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Beschreibung

Ein Mystery-Thriller zum Gruseln: Wo Exorzismus und Ritualmorde an der Tagesordnung sind … Kommissar Alex Körner wird mit seinem Ermittlerteam in das abgeschiedene Dorf Grein geschickt. Dort wurde eine verstümmelte Mädchenleiche entdeckt, der mehrere Rückenwirbel fehlen. Schon bald stoßen die Ermittler auf weitere vergleichbare Fälle. Doch ehe die schreckliche Wahrheit ans Licht kommen kann, droht der naheliegende, dank Dauerregen stark angeschwollene Fluss das Dorf von der Außenwelt abzuschneiden. Und das Morden geht weiter …

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Andreas Gruber

Der Judas-Schrein

Roman

für Heidemarie

Karte von Grein am Gebirge

1. TeilDie Rückkehr

Montag, 8. September

1. Kapitel

Das Landesgendarmeriekommando im dritten Wiener Gemeindebezirk sah aus wie eine abgemusterte Kaserne. Der düstere Koloss wuchs mit rotbraunen Ziegeln und vergitterten Fenstern aus dem Beton der Stadt. In dem alten Gemäuer befanden sich seit Jahren die Büros der Kriminalabteilung für Niederösterreich. Winzig prangte das Emblem des Morddezernats auf der klobigen Holztür.

Die Menschen liefen unter ihren Schirmen versteckt daran vorbei, durch die Pfützen zum nächsten Taxistand, zu den Linienbussen und Straßenbahnen, von deren Oberleitung Funkenbögen in den grauen Himmel schossen. Seit Tagen hingen schwarze Regenwolken über der Stadt, es goss ohne Unterlass. Auf einen milden Altweibersommer wagte niemand mehr zu hoffen, zu kalt und nass war das Wochenende verklungen und hatte die neue Woche begonnen ... und für Alexander Körner begann die düsterste von allen.

Körner warf sich den nassen Mantel über den Arm. Wie ein schneidiger Wolf zog er durch die dritte Etage des Landesgendarmeriekommandos. Hier roch es nach Kalk, feuchtem Holz und eisiger Kälte. Das Quietschen seiner Schuhe hallte im Treppenhaus wider. Wie er diesen Weg hasste! Es war wie der Gang zum Scharfrichter – falsch, es war der Gang zum Scharfrichter.

Die letzten Tage hatten an seinen Nerven gezerrt. Er hatte zu wenig gegessen, zu viel gearbeitet und war abgemagert. Seine Hose flatterte an den Knien und wurde lediglich durch den eng gezogenen Gürtel gehalten. Daran änderte nicht einmal der schwarze Pullover etwas, den er sich in den Hosenbund gestopft hatte. Um seine miserable Erscheinung wettzumachen, war er frisch geduscht und rasiert, immerhin musste er einen guten Eindruck machen, bei dem, was auf ihn zukam. Im Lauf des gestrigen Abends hatte er sein Leben und seine Karriere verpatzt, mit einer Panne, die nicht einmal einem Anfänger passieren durfte – und schon gar nicht ihm.

Hastig blickte er auf die große Wanduhr über dem Eingang des Reviers: 8.25 Uhr. Er war spät dran. Die Kollegen vom Morddezernat hatten die Einsatzbesprechung bestimmt schon hinter sich. Jetzt konnten sie sich auf ihn konzentrieren. Gleich würden sie wie blutrünstige Hyänen über ihn herfallen und an seiner Seele nagen. Körner nestelte am Sakko, stopfte die Hand in die Hosentasche und stieß die Tür auf. Im Büro roch es nach Kaffee und Zigaretten.

»Da ist er«, flüsterte jemand, danach war es augenblicklich still. Nur ein Funkgerät knackte. Schwaiger und Kretschmer waren über Schubladen gebeugt und schauten auf, Breitner legte das Schulterholster an, Sedlak schob einen Stapel Akten zusammen ... im selben Moment hielten sie in der Bewegung inne und starrten ihn an.

»Na, Körner, hast du deine Glock dabei?« Verhaltenes Raunen!

»Oder kann man deine Knarre schon am Schwarzmarkt kaufen?«

Schon ging es los! Er ignorierte die Kommentare und ging grußlos zwischen den Schreibtischen hindurch, am Kopiergerät und an den Flipcharts vorbei. Einige Beamte wichen seinem Blick aus, doch gab es andere, für die er leichte Beute war und die sich keine Gelegenheit entgehen ließen, auf ihn loszuhacken. Kretschmer war einer von ihnen.

»Streckst du neuerdings alle deine Verdächtigen mit einem Handkantenschlag nieder, Körner?«

»Wenn du deinen Partner loswerden willst, steckst du ihn am besten zu Körner ins Team, dort hat er gute Chancen, eine Kugel ins Bein zu bekommen.« Breitner zog den Holstergurt straff. Seine Worte klangen veralbernd, doch seine stechenden Augen sprachen einen anderen Ton. Wollte er ihn provozieren oder bloß Dampf ablassen?

Körner wollte es nicht herausfinden. Er ließ die Hyänen hinter sich und ging auf Jutta Korens Büro zu. Erst als seine Hand auf der Klinke lag, fühlte er den kalten Schweiß seiner Finger. Mit den Beamten des eigenen Reviers auf Kriegsfuß zu stehen war schlimmer, als mit der Dienstmarke auf die Brust geheftet im Zellenblock für Schwerverbrecher zu stecken. Er merkte, wie er die Nerven verlor, dabei hatte der Psychoterror gerade erst begonnen.

Er atmete tief durch und betrat das Büro seiner Vorgesetzten. Auch in diesem winzigen Raum mit den hohen Wänden roch es nach Holz und feuchtem Kalk, dazwischen lag der Duft von Damenparfum, eine angenehme Abwechslung in den Trakten dieser alten Kaserne. In den Regalen stapelten sich die Aktenordner, auf dem Schreibtisch standen drei Telefone, und an jedem klebten gelbe Spickzettel. An der Wand hingen die gerahmten Fotos von Korens Vorgängern. Sie selbst bildete den Abschluss in einer langen Reihe grauer Herren im dunklen Nadelstreif.

»Schließen Sie die Tür, Körner. Setzen Sie sich!« Jutta Koren wandte ihm den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. Der Regen tränte über die Scheiben, und im grauen Einerlei des Straßenverkehrs blitzten die Autoscheinwerfer und die Neonreklamen der Kaufhäuser.

Körner blieb stehen. Er sah sein Spiegelbild im Fenster, das kantige Gesicht und das zurückweichende Haar, das er sich mit der Maschine so kurz wie möglich stutzte. Er war knapp einundvierzig Jahre alt, die Geheimratsecken machten ihn interessant, wie er fand. Doch sein raues Äußeres, die stechenden braunen Augen und das Lächeln, das er zuweilen zustande brachte, würden ihm jetzt nicht viel nützen. Jutta Koren würde ihn zur Schnecke machen, so viel war sicher. Die Frage lautete nur: Welche Konsequenzen zog es nach sich? Die Zweifel zermürbten ihn und hatten ihn die halbe Nacht wach liegen lassen.

Die Grande Dame der Kriminalpolizei ließ sich Zeit. Sie neigte den Kopf und blickte immer noch stumm aus dem Fenster. Koren war zehn Jahre älter als er, verdammt attraktiv und sportlich, hatte einen dunklen Teint und war stets perfekt geschminkt. Wie immer machte sie eine elegante Figur. Seine Vorgesetzte trug einen grauen Hosenanzug, hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und bohrte mit einem ihrer Pfennigabsätze auf dem Parkett, als denke sie darüber nach, ob sie gemäßigt oder aufgebracht beginnen sollte.

»Seit fünf Jahren leite ich das Mord-, Betrugs- und Entführungsdezernat«, sagte sie leise, als rede sie mit sich selbst, während sie der Straßenbahn nachblickte. »Ich habe einen Sechzehn-Stunden-Tag, siebenmal in der Woche. In dieser von Männern dominierten Arbeitswelt darf ich mir keinen Fehltritt leisten. Seit ich diesen Job erfülle, versuche ich mich von meinen männlichen Kollegen abzuheben: Ich arbeite hart, versuche fair zu sein und lasse mich auf kein Intrigenspiel ein. Das ist der Grund, weshalb in diesem Haus von allen Seiten gegen mich gearbeitet wird. Bisher konnte ich mich aus zwei Gründen halten: ein gutes Team und herausragende Leistungen. So läuft das Spiel.« Also ging sie es sanft an, überlegte Körner. Die harte Tour wäre ihm lieber gewesen, denn in der vermeintlichen Sanftheit lauerte die Gefahr. Doch wozu die Ansprache? Worauf wollte sie hinaus?

»Ich sage es Ihnen ehrlich.« Sie wandte sich um und musterte ihn mit kalten Augen. Ihre Stirn lag in Falten, von ihrem gewohnten Lächeln war nichts übrig. Sie richtete den Zeigefinger auf ihn.

»Ihr Fall könnte mir das Genick brechen«, wisperte sie drohend.

»Das Landesgendarmeriekommando wartet nur darauf, mich aus diesem Büro zu jagen. Dennoch versuche ich, Sie so lange wie möglich zu decken.«

»Ich habe ...«

»Seien Sie still!« Das Haar fiel ihr mit grauen Strähnen in die Stirn. »Und jetzt setzen Sie sich endlich!«

Körner warf den Mantel über die Stuhllehne, blieb aber stehen. Er senkte den Kopf und starrte das Narbengewebe auf seinem Handrücken an. Der Rest der alten Wunde war durch den Pullover und das Sakko verdeckt.

Koren ignorierte seine Sturheit. Im gemäßigten Ton sprach sie weiter. »Novak war ein alter Fuchs, die graue Eminenz im Morddezernat. Viele haben auf seinen Posten spekuliert. Als Novaks Nachfolger sind Sie einer der jüngsten Chefinspektoren des Morddezernats. Und was machen Sie bei Ihrem ersten Fall als Chefinspektor? Sie rücken mit entsicherter Dienstwaffe aus!«

Die verdammte Waffe! Ja, er hatte geahnt, dass dieser Vorwurf kommen würde. Gestern Abend – er führte Verhandlungen mit einem mutmaßlichen Mörder, den sie in der achten Etage eines Hochhauses gestellt hatten. Die Glock steckte entsichert im Holster, er trug das Sakko offen und beugte sich zu dem Verdächtigen vor. »Ich habe ...«

»Sie waren eine Gefahr für das gesamte Team! Sie haben dem Verdächtigen ihre Waffe unter die Nase gehalten. Er wäre ein Idiot, hätte er nicht danach gegriffen. Bilanz: ein schwer verletzter Mittelsmann, ein angeschossener Beamter aus dem Bombenteam, und Doktor Sonja Berger aus Ihrer Gruppe wurde ebenfalls verwundet. Aber das Schlimmste: Sie haben dem Mann mit der Faust den Adamsapfel zertrümmert. Er liegt im Koma – Herrgott! Sein Anwalt hat heute Morgen Verbindung mit der Presse aufgenommen.«

»Was sollte ich machen? Der Kerl hat das Feuer eröffnet, während er in der anderen Hand den Bombenauslöser hielt. Er hatte fünf Geiseln in seiner Gewalt, das gesamte Haus war vermint und ...«

»Das ist der nächste Punkt. Wo sind die Zünder?«

»Im Kofferraum meines Wagens sichergestellt. Das habe ich in meinem Bericht erklärt.«

»Ich weiß, der verdammte Bericht.« Sie wehrte den Gedanken mit den Händen ab. »Ihre Aussage liegt seit gestern 22.00 Uhr beim Landesgendarmeriekommando. Das nächste Mal sprechen Sie sich mit mir ab, bevor Sie eine Erklärung abgeben, falls es überhaupt ein nächstes Mal gibt«, seufzte sie. »Sie haben nicht nur eine Disziplinaranzeige am Hals, sondern Landesgendarmeriekommandant Bejk wird ein Verfahren einleiten; er will das gesamte Programm gegen Sie durchziehen. Sie können sich denken warum, oder? Er war nicht glücklich darüber, dass ausgerechnet Sie Novaks Nachfolger wurden. Der Kommandant hätte lieber seinen Protegé auf dem Posten des Chefinspektors gesehen. Seit gestern Abend hat er etwas in der Hand gegen Sie, das ist sein gefundenes Fressen. Offensichtlich läuft es darauf hinaus, dass Sie zu einer Anhörung vor Gericht geladen werden. Ich werde sehen, was sich machen lässt. Der Kommandant fordert, dass ich Sie bis dahin vom Dienst suspendiere. Aber das ist immer noch meine Entscheidung. Ich erklärte dem Kommandanten, dass ich Sie zurzeit brauche, weil Sie an einem brisanten Fall arbeiten.« Koren verschränkte die Arme hinter dem Rücken und musterte Körner mit lauerndem Blick.

Er schluckte. »Aber ich habe keinen Fall.«

Sie holte tief Luft. »Ab jetzt schon!« Sie griff in die Lade und knallte eine dünne Mappe mit Faxpapieren vor ihm auf den Tisch. »Ist gerade reingekommen. Eine Leiche. Ein dreizehn bis vierzehnjähriges Mädchen, brutal verstümmelt.«

Sie wartete einen Moment, doch Körner rührte sich nicht. Stumm starrte er auf den blassgrünen Deckel der Flügelmappe und die gerollten Papiere, die daraus hervorsahen.

»Ein Mord in einer Provinzdiskothek. Das sind die Fotos. Na los, machen Sie die Akte auf und schauen Sie es sich an!«

Weshalb suspendierte sie ihn nicht einfach? Breitner, Schwaiger oder Kretschmer konnten den Fall übernehmen, zur Not auch Sedlak. Als er durch die Fotos blätterte, versteifte sich sein Rückgrat. Mit einem Mal wusste er, weshalb sie ausgerechnet ihn am Tatort haben wollte. Auf den lausigen schwarzweißen Kopien der Faxrolle war die Fassade einer Diskothek zu erkennen, mit einem Vordach aus Schindeln, Holzstehern und verbarrikadierten Fenstern. Der Putz blätterte von der Wand, und das Regenwasser sammelte sich in einer Mulde unter der Fensterbank. Den Digitalziffern am Rand des Bildes entnahm er, dass die Aufnahme erst eine halbe Stunde alt war. Weitere Fotos zeigten die Innenräume einer Bar: Tische, Stühle, einen Tresen, speckige Holzbohlen und dunkle Querbalken mit einer Lichterkette aus Glühbirnen. Die Leiche war nur undeutlich zu erkennen. Sie lag auf dem Bauch, mit dem Gesicht nach unten. Ihre Bluse war zerrissen, der Rücken freigelegt. Neben der Leiche glaubte er, den Schatten eines Eisengestells auszumachen. Es wirkte wie das geschweißte Stahlgerippe eines Aktionskünstlers, mit einer Sitzbank, Seilen und Flaschenzügen. Stutzig blätterte er zum ersten Foto zurück und betrachtete noch einmal die Außenaufnahme der Diskothek.

»Wo?«, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte. Sein Gaumen war staubtrocken.

Koren setzte sich und stützt die Ellenbogen auf den Schreibtisch. »In einem Ort an der niederösterreichisch-burgenländischen Grenze, im Rosaliengebirge.« Sie musterte ihn, er bemerkte es aus dem Augenwinkel.

»Ich kenne diese Diskothek«, murmelte er gedankenverloren.

»Ich weiß. Das ist die Gaslight Bar in Grein am Gebirge.« Körner versuchte zu schlucken, doch seine Kehle schnürte sich immer enger zusammen. Er schloss die Akte und legte sie beiseite.

»Suspendieren Sie mich! Dorthin gehe ich nicht.« Er wollte es gleichgültig klingen lassen, doch die Worte kamen nur stockend heraus. Unwillkürlich blickte er auf das hellrote Narbengewebe auf seinem Handrücken. Wie auf Befehl begann die alte Brandwunde zu pochen, als sei sie nie geheilt.

»Körner, um Himmels willen! Seien Sie vernünftig! Sie sind mein bester Mann. Soll ich etwa Breitner und Kretschmer in den Ort schicken? Sie kennen die Einheimischen, Sie kennen die Gegend. Sie sind dort aufgewachsen.«

»Ich war seit siebenundzwanzig Jahren nicht mehr dort.«

»Dann frischen Sie Ihre alten Bekanntschaften auf. Bringen Sie mir die ersten handfesten Ergebnisse, zeigen Sie dem Landesgendarmeriekommando, was Sie draufhaben!«

Seufzend nahm er die Faxrollen zur Hand und blätterte sie ein weiteres Mal durch. »Die Bilder sehen merkwürdig aus.« Er drehte die Faxrolle und betrachtete die Digitalanzeige am Bildrand.

»Wer hat die Fotos gemacht?«

»Ein Pressefotograf von der Rundschau. Er war mit einer Reporterin am Tatort.«

Körner runzelte die Stirn. »Wie konnten die so schnell dort sein?«

»Ich vergaß zu erwähnen, die Reporterin hat die Leiche entdeckt.«

»Aha ... die haben die Leiche entdeckt und sofort alles fotografiert. Haben die etwa auch schon den Mörder vernommen?«

»Körner, sparen Sie sich Ihren Sarkasmus.«

Er wurde wieder ernst. »Was hat eine Journalistin in diesem gottlosen Nest zu suchen?«

»Keine Ahnung. Finden Sie es heraus! Rolf Philipp von der Spurensicherung ist schon auf dem Weg dorthin! Ich habe ihm Kralicz samt seinem kompletten Kameraset mitgeschickt. Ich schlage vor, Sie setzen sich sofort in Bewegung. Beeilen Sie sich! Wenn Sie jetzt losfahren, sind Sie um zehn Uhr dort.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Heute Abend möchte ich die ersten Ergebnisse sehen.«

Heute Abend? Verdammt! Er hatte geahnt, es würde ein mieser Tag werden – aber nicht derart schrecklich. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen. »Ich brauche so bald wie möglich ein gerichtsmedizinisches Gutachten. Wer hat gerade Dienst?« Körner überflog die grünen Linien auf dem Tischkalender.

Koren schmunzelte, es war die blanke Schadenfreude. »Jana Sabriski.«

»Oh Gott, nein!«

»Was haben Sie gegen Frauen?«

»Nichts!« Körner hob abwehrend die Hand. »Heute ist nicht mein Tag«, murmelte er. »Ich meine nur, wir sollten ...«

»Hören Sie mal!« Korens Stimme bekam einen siebensüßen Ton. »Wir können auch darauf bestehen, Kurt Seiser oder Günter Marks für diesen Fall zu bekommen, aber ich sage Ihnen etwas: Jana Sabriski ist die Beste. Wir können froh sein, dass heute Morgen ihr Vierundzwanzig-Stunden-Dienst begonnen hat. Nur weil Sie mal mit ihr geschlafen haben, heißt das noch lange nicht, dass Sie nicht gemeinsam an einem Fall arbeiten können.« Körner stockte der Atem, er fühlte die Röte in sein Gesicht schießen. Woher zum Teufel wusste sie davon? »Ich ...«

»Ich gebe Ihnen einen Rat, nicht als Ihre Vorgesetzte, sondern als Freund: Trennen Sie Berufliches und Privates. Dann schlittern Sie nicht in so einen Schlamassel.«

Körner ballte die Hand in der Hosentasche zur Faust. »Sie schicken mich an den Ort zurück, in dem ich als Kind aufgewachsen bin, dann hängen sie mir noch meine Ex-Lebensgefährtin als Gerichtsmedizinerin an den Hals.«

Koren lächelte ihn an. Wie er diesen siegessicheren Gesichtsausdruck hasste!

»Sie haben Ihren vorigen Fall gründlich vermasselt. Vergessen Sie nicht: Diese Ermittlung bewahrt Sie vor der Suspendierung. Mehr kann ich nicht für Sie tun. Entweder Sie fahren dorthin und bringen mir die ersten Hinweise, oder Sie geben mir Ihre Marke und Ihre Waffe, räumen Ihren Schreibtisch, und wir sehen uns am Montag vor Gericht.«

Körner schwieg. Er kramte die Fotos zusammen, packte seinen Mantel und ging zur Tür.

»Körner! Vergessen Sie nicht, die beschlagnahmten Zünder im Spurensicherungsbüro abzuliefern. Dworschak wartet darauf, er muss seinen Bericht schreiben.«

»Ja, heute Abend.« Er verließ grußlos das Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Draußen lauerten die Hyänen. Sie glotzten ihn erwartungsvoll an.

»He, Körner! Suspendiert?«, fragte Kretschmer. Körner schüttelte den Kopf. »Schlimmer!«

Er verließ das Gebäude.

Der Nieselregen legte sich wie ein schmieriger Film auf die Pflastersteine der Garnisongasse. In den Lachen spiegelte sich die Neonbeleuchtung aus den Fenstern des fünfzehnstöckigen Gebäudes aus Glas, Stahl und Beton. Körner steuerte den schwarzen Audi in eine Parklücke und ließ die Scheibe herunter. Ein grässlicher Montagmorgen. Kälte strömte in den Wagen, und Regenwasser tropfte auf den Beifahrersitz. Aus dem Radio trällerte eine Popmusik, die nicht zum Wetter passte. Körner ließ den Motor laufen und blickte zur Auffahrtsrampe des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien. Drei Rot-Kreuz-Wagen hielten mit Blaulicht vor der Notaufnahme. Die Schiebetüren standen offen, die Pfleger hievten mehrere Personen auf Krankentragen in das Gebäude. Gestern Abend, nachdem die Geiselnahme in einem Fiasko geendet hatte, mussten sich ähnliche Szenen abgespielt haben. Körner verdrängte die Erinnerung.

Er bemerkte die junge Frau im blauen Parka, die am Geländer Halt suchend von der Rampe über die geschwungene Treppe zur Straße lief. Er blinkte sie mit der Lichthupe an. Sie schlug den Kragen auf, zog die Schultern hoch und rannte zwischen den Pfützen auf ihn zu. Er öffnete ihr die Tür. Prustend ließ sie sich in den Sitz fallen.

»Guten Morgen.« Sie zog den Zipp des Parkas auf, schüttelte das blonde Haar aus und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. »Herrliches Herbstwetter. Der Regen schmeckt nach Blei.« Dr. Sonja Berger hatte vor Jahren die Ausbildung zur Kriminalpsychologin abgeschlossen. Seit Körner vor drei Wochen zum Chefinspektor ernannt worden war, arbeitete sie in seinem Team, aber wegen seines Missgeschicks war sie gestern angeschossen worden – zum ersten Mal in ihrer Laufbahn.

Körner wusste, dass sie neben dem Job bei der Kripo Vorlesungen an der Uni Wien hielt und gelegentlich Artikel für die Fachpresse schrieb. Ihre Aufgabe war die Erstellung psychologischer Täterprofile – und das machte sie nicht schlecht, auch wenn sie sich für seinen Geschmack zu intensiv in die Arbeit steigerte. Kretschmers Meinung nach war sie mit ihren dreißig Jahren zu jung und hatte bisher zu wenige verstümmelte Leichen gesehen, um genauso zynisch zu werden wie all die anderen Beamten auf dem Revier. Körner hoffte, dass es so weit nicht zu kommen brauchte und sie ihren frischen Elan behielt. Doch er fürchtete, dass sich ihr Enthusiasmus bald einbremsen würde, wenn sie erkannte, dass die kriminalpolizeiliche Ermittlung kein spannendes Spiel, sondern eine traurige Notwendigkeit war. Wie die meisten ihrer älteren Kolleginnen würde sie die Konsequenz ziehen: den Unterricht als Uni-Dozentin reduzieren und ihren Schwerpunkt auf die Arbeit bei der Kripo verlagern. Dann war sie eine von ihnen: aus der Spur geraten, verbittert und paranoid. Er hoffte, dass es nicht ausgerechnet dieser Fall war, der ihr das Genick brach.

»Was haben Sie?«

»Nichts.« Er schüttelte den Kopf. Ihr sonst so perfektes Make-up war in den Augenwinkeln verschmiert und ihr schulterlanges Haar auch nicht so schick und flott gestylt wie sonst. Sie machte den Eindruck, als habe sie sich die Nacht im Krankenhaus um die Ohren geschlagen. Der blitzblaue, erfrischende Glanz ihrer Augen, den er so mochte, war einem erschöpften Blick gewichen. Sie lächelte ihn müde an. Er lächelte zurück und sah flüchtig auf das zerfetzte Schulterteil ihres Parkas. Der Stoff war aufgerissen und das Futter versengt. Offensichtlich war sie über Nacht wirklich nicht zu Hause gewesen. »Wie geht es Ihnen?«

Sie verzog das Gesicht. »Es ist halb so schlimm. Nur ein Streifschuss. Die haben die Wundränder gereinigt und vernäht. Nach zwei Tagen kann ich den Verband runternehmen und ein Duschpflaster draufkleben.«

Sie hielt ein schmales Lederetui hoch, das sie in der Jackentasche verschwinden ließ.

»Es pocht höllisch.« Sie drückte eine schmerzstillende Pastille aus einem Tablettenstreifen und schluckte das Mittel. »Die Fäden kommen in acht Tagen raus.«

Körner setzte den Blinker, scherte aus der Parklücke und reihte sich in den morgendlichen Verkehr ein. »Es tut mir leid.«

»Machen Sie sich keine Gedanken, ich hab es überlebt. Es ist eine neue Erfahrung, angeschossen zu werden, vielleicht schreibe ich einen Artikel darüber.« Sie versuchte zu lächeln, doch dann wurde sie ernst. »Ich habe für nächste Woche Montag eine gerichtliche Vorladung. Ich werde nicht gegen Sie aussagen, ich wollte nur, dass Sie das wissen. Meiner Meinung nach haben Sie richtig gehandelt.«

»Danke.« Süßholzgeraspel, das ihm nichts brachte! Es würden sich andere finden, um gegen ihn auszusagen. Wenigstens eine seiner Kolleginnen fand es richtig, was er getan hatte. Ob es das Gericht auch für richtig halten würde, dass er dem Geiselnehmer die Kehle zertrümmert hatte? Er sah die Schlagzeile der Boulevardpresse bereits vor sich: Chefinspektor Körner stellte den mutmaßlichen Mörder und führte die Verhandlung mit entsicherter Dienstwaffe. Als der Geiselnehmer das Feuer eröffnete, überwältigte der Kripobeamte den Täter mit bloßen Händen. Für einige im Team kam diese Maßnahme zu spät ...

Körner griff auf den Rücksitz und legte Berger eine braune Tüte in den Schoß. »Cappuccino und Nusskipferl«, sagte er.

Sie riss die Packung auf und stellte die Papptassen in die Becherhalter des Audis. Auf einmal roch es nach Kaffee und frischem Gebäck. »Das Essen im Krankenhaus ist unter jeder Würde.«

»Ich dachte mir, dass Sie Hunger haben würden.« Zaghaft nahm sie ein Kipferl und biss hinein.

Körner überholte einen Lieferwagen und wechselte auf den Autobahnzubringer, der aus Wien hinaus führte. Berger sah aus dem Fenster: Graz, Prag und Klagenfurt stand auf den Tafeln angeschrieben.

»Wohin fahren wir eigentlich? Das Revier liegt ...«

»In einen Ort fünfzig Kilometer südlich von Wien. Wir haben einen neuen Fall.«

Sie wollte vom Becher nippen und hielt in der Bewegung inne.

»Das heißt, Sie sind nicht suspendiert?«

»Vorerst nicht. Ein junges Mädchen wurde in einer Bar ermordet aufgefunden. Hier sind die Fotos.« Er deutete auf die Flügelmappe im Seitenfach der Beifahrertür.

Rasch packte sie das Nusskipferl weg, leckte sich den Zucker von den Fingern und blätterte durch die Faxrollen. Aufmerksam studierte sie die Fotos. Offensichtlich entging auch ihr die digitale Zeitangabe am Rand der Fotos nicht, da sie auf die Uhr am Armaturenbrett blickte. »Eine Stunde alt«, murmelte sie.

Im gleichen Moment ertönte die Kennmelodie der 9.00-Uhr-Nachrichten aus dem Radio.

»Grein am Gebirge! In den frühen Morgenstunden wurde in einem Ort an der niederösterreichisch-burgenländischen Grenze die Leiche eines Schulmädchens gefunden«, begann der Nachrichtensprecher.

»Ist das etwa unser Fall?«, platzte Berger heraus. Er nickte und schaltete das Radio aus.

»Was? Wir hören uns das gar nicht an?«

»Wir machen uns selbst ein Bild davon, sobald wir am Tatort sind.«

Enttäuscht ließ sie die Schultern sinken. »Warum sind die Medien schon informiert?«

»Eine Reporterin hat die Leiche entdeckt. Das sind übrigens keine Kripofotos«, informierte er sie. »Die hat der Pressefotograf dieser Reporterin gemacht.«

Sie runzelte die Stirn. »Hoffentlich zertrampelt uns niemand die Spuren. Bis die örtliche Polizei alles gesichert hat ...«

Er lächelte. In ihrem Alter war er genauso eifrig gewesen.

»Keine Sorge, wir haben Rolf Philipp als Spurensicherer. Der braucht zwar doppelt so lange wie andere, dafür findet er jeden Kuchenkrümel auf dem Boden. Wenigstens brauchen wir uns nicht zu beeilen. Bevor er nicht jedes Staubkorn in eine Tüte gesteckt und nummeriert hat, lässt er uns ohnehin nicht ran.«

Mittlerweile rasten sie über die Südautobahn. Zu dieser Zeit herrschte nicht mehr viel Verkehr auf der Straße. Körners Blick verlor sich hinter den Hügeln am Horizont.

»Sie kennen Philipp aus früheren Jahren, nicht wahr?«, fragte sie.

Aus früheren Jahren! Wie das klang! Als sei er ein steinalter Mann. Körner lächelte, als ihm einige Erinnerungen in den Sinn kamen. »Philipp, Basedov und ich waren Mitte der achtziger Jahre in der Gendarmerieschule in Mödling und anschließend am Gendarmerieposten Mödling stationiert. Wir waren jung und ziemlich verrückt. Ich spielte Saxophon in einem Jazzkeller, Philipp und Basedov genossen freien Eintritt, und wenn Philipp nicht gerade sein gesamtes Geld beim Billard verspielte, versoff er es an der Bar mit den neuen Rekruten aus der Kaserne. Wir waren jeden Abend so stockbetrunken, dass wir am nächsten Morgen eher in die Ausnüchterungszelle gehört hätten als auf Streife. Novak war unser Boss. Der graue Fuchs hat uns geschunden, das können Sie sich nicht vorstellen. Ein Wunder, dass er uns damals nicht rausgeworfen hat.«

»Ich hatte nie das Vergnügen, ihn kennenzulernen.«

»Ihr Glück!«

Sie dachte einen Moment nach. »Der Kripofotograf heißt doch Kralicz –« Sie verhaspelte sich. »Weshalb nennen ihn alle Basedov?« Körner schmunzelte. »Erstens geht es uns genauso wie Ihnen: Wir können seinen Namen nicht aussprechen. Und zweitens ...

haben Sie ihn schon einmal gesehen?« Sie schüttelte den Kopf.

»Dachte ich mir. Warten Sie es ab, bis wir am Tatort sind und Sie ihn kennenlernen, dann wissen Sie Bescheid.«

»Aha.« Mehr sagte sie nicht, stattdessen hielt sie die Faxrolle schief. »Was ist das für eine merkwürdige Bar? Gaslight? Klingt wie ein Lokal in einem Provinznest.«

»Ein ziemlich heruntergekommener Schuppen«, murmelte Körner. Plötzlich war seine gute Laune verflogen. Er merkte, wie sich seine Schultern versteiften und er das Lenkrad so fest umklammert hielt, dass die Knöchel weiß hervortraten. So konnte es verdammt noch mal nicht weitergehen. Er atmete tief durch und versuchte die Schultern zu lockern. Wie würde er sich erst in einer Stunde verhalten, wenn er sich schon jetzt so anstellte?

»Provinznest ist noch untertrieben. Grein am Gebirge ist eine Fünfhundert-Seelen-Gemeinde. Dort gibt es außer einer Pizzeria und diesem Lokal keine Möglichkeit, um auszugehen.«

Sie rutschte auf dem Beifahrersitz herum. »Sie kennen den Ort?«

»Bin dort aufgewachsen.«

Plötzlich bekam sie große Augen. »Erzählen Sie.«

Er schwieg und starrte auf die regennasse Fahrbahn. Seit er die Fotos in Jutta Korens Büro gesehen hatte, war sein Unterbewusstsein aufgewühlt. Stück für Stück krempelten sich seine verschütteten Erinnerungen um und platzten hervor, wie verstaubte Kartons, die von der Dachbodentreppe polterten und am Fußboden des Wohnzimmers auseinanderbrachen. Er wollte nicht sehen, was sich darin befand, doch je näher sie Grein kamen, desto mehr Kartons purzelten herunter. Irgendwie wurde er nicht damit fertig, sie alle rechtzeitig wieder zu verstecken.

»Grein ist ein ehemaliger Bergwerksort«, begann er zu erzählen.

»Warum das Bergwerk vor über sechzig Jahren geschlossen wurde, weiß niemand. Damals wanderten die meisten Einwohner fort; zurück blieben die Bauernhöfe, Viehställe, Heuschober, die Heurigenlokale und ein paar Lebensmittelläden. Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater arbeitete in der Nachbargemeinde als Bauleiter. Ich wurde ‘62 geboren und verbrachte meine Kindheit in diesem Nest. Das alte Bergwerk war unser Spielplatz, die meisten Abenteuer trugen sich dort zu. Dann waren da noch die Traktorenhalle, wo wir uns als Jungen herumtrieben, die Gärtnerei, die stillgelegte Mühle, der alte Friedhof, der Wald am Fuß des Hohen Gschwendts und die Aulandschaft entlang der Trier. Mehr gab es nicht. Insgesamt eine trostlose Gegend für ein paar Jugendliche.«

Sie verließen die Autobahn und nahmen die Bundesstraße Richtung Rosaliengebirge. Die Straße wurde unmerklich steiler, und weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu sehen. Nebel zog auf. Der Nieselregen tippelte gegen die Scheibe, und die Wischblätter hinterließen einen schmierigen Film auf dem Glas.

»Es war im September, drei Tage vor meinem vierzehnten Geburtstag, an einem ähnlich kalten, nebeligen Tag wie heute. In jenem September ‘76 brannte unser Haus vollständig nieder. Ich saß bis zum Abend vor den verkohlten Grundmauern, doch Vater und Mutter kamen nicht mehr aus den Flammen.«

Berger räusperte sich. Mit einem Mal schien sie nicht mehr so interessiert. Was hatte sie erwartet? Etwa einen lustigen Bericht aus seiner unbeschwerten Kindheit? Berger brachte nicht einmal das obligatorische Tut-mir-Leid hervor, das an dieser Stelle für gewöhnlich kam, und Körner war dankbar dafür. Schweigen war besser als oberflächliches Gerede. Zumindest hatte er es die letzten siebenundzwanzig Jahre so gehandhabt. Er wusste auch nicht, weshalb er seiner Kollegin das alles erzählte. Ausgerechnet ihr, die er zwar schon seit drei Wochen kannte, aber die so distanziert war, dass sie sich noch immer förmlich mit Sie ansprachen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Berger die Erste war, mit der er über die Ereignisse von damals gesprochen hatte. Warum nur? Befreite es ihn? Fühlte er sich erleichtert? Oder legte die Fahrt nach Grein alles frei?

Seine rechte Hand lag auf dem Lenkrad. Er bemerkte, wie sie auf seinen Handrücken starrte. Die Ärmel von Pullover und Sakko waren heruntergerutscht, und das rosafarbene Narbengewebe war bis zum Gelenk sichtbar, ohne Haare, nur ein Strang aus Knoten und Falten.

»Eine Erinnerung an den Brand«, sagte er knapp.

»Entschuldigen Sie bitte.« Sie wandte den Blick ab.

»Schon gut. Der gesamte Arm sieht schlimm aus, besser Sie bekommen ihn nie zu sehen.« Er kniff die Augen für einen Moment zusammen. »Ich wollte meine Mutter aus den Flammen retten. Sinnloser Versuch, aber probieren Sie das mal einem Vierzehnjährigen beizubringen.«

Wenn er die Augen schloss, sah er noch heute das Feuer. Aber die Flammen waren nicht rot oder gelb, wie man es kannte – sie waren weiß! Noch heute spürte er die Hitze auf seinem Gesicht, die Glut auf den Wangen und den Lippen, roch den Gestank verbrannter Haare und versengter Haut, hörte das Knacken der Holzmöbel und das Schmelzen des Kunststoffbodens.

Da wurde die Scheibe vom roten Schein zweier Bremslichter ausgefüllt.

»Achtung!«

Körner riss das Lenkrad herum. Reifen quietschten.

Berger saß steif wie ein Brett im Sitz. Ihre Rechte umklammerte den Haltegriff über der Tür.

Sein Herz pochte, er nahm den Fuß vom Gaspedal und überholte den Lastwagen, auf den er beinahe aufgefahren war.

Berger stieß die angehaltene Luft aus. »Das war knapp.«

Für den Rest der Fahrt schwiegen sie. Die Wischblätter kämpften gegen den zunehmenden Regen an. Im Wagen wurde es frostig, und die Kälte kroch Körner vom Boden herauf in die Hosenbeine. Als er merkte, wie Berger sich die Handflächen rieb, drehte er die Heizung höher. Die Bundesstraße wurde steiler und die Kurven enger. Bald betrug die Sicht nur noch wenige Meter, und bis zum Rosaliengebirge war es noch ein langes Stück.

2. Kapitel

Die Trier war ein schmutzig grauer Fluss, der in dem nach ihr benannten Tal kilometerlang neben der Bundesstraße verlief. Der anhaltende Regen hatte das sonst sieben Meter breite Gewässer zu einem reißenden Strom anschwellen lassen. Die dramatischen Regenfälle waren ungewöhnlich für diese Jahreszeit; übers Wochenende hatte es so viel geregnet, wie sonst in vier Monaten. Seit Freitagabend gingen schwere Gewitter nieder, und sie hörten nicht auf. Lokale Überschwemmungen und Murenabgänge waren die Folge, die Freiwillige Feuerwehr war im Dauereinsatz. Oberhalb des Trieracher Stausees vereinten sich die Wassermassen der Trier und der Göll, sodass die Schleusen für mehrere Stunden geöffnet werden mussten. Das Flussbett wurde ausgeschwemmt, das Geröll talwärts getragen, und der Fluss führte mittlerweile siebenundzwanzigmal so viel Wasser wie an normalen Tagen. Zwischen der Trier und dem Hohen Gschwendt, dem ersten Berg des Rosaliengebirges, lagen die beiden Dörfer Grein am Gebirge und Heidenhof wie in eine Mulde gebettet. Sonst war die Gegend, von einigen Bauernhöfen abgesehen, so gut wie nicht besiedelt.

Das Schild Grein am Gebirge war im Regen kaum auszumachen. Körner lenkte den Audi von der Bundesstraße und bog auf einen holprigen Forstweg, der nach wenigen Metern an einer Brücke endete. Der Wagen rumpelte über die Bodenschwellen und ratterte über die Holzbalken der Brücke. Bald würden sie den Ort erreicht haben. Augenblicklich versteifte sich Körners Rückgrat, und er atmete so heftig, dass die Seitenscheibe beschlug. Er öffnete das Fenster. Kühle Luft strömte in den Wagen, es roch nach Schnee, die klirrende Kälte biss förmlich in der Nase. Sonja Berger, die bis dahin entspannt im Sitz gelehnt hatte, fuhr erschrocken hoch.

»Wir sind bald da«, beruhigte Körner sie.

Er blickte aus dem Fenster. Unvorstellbare Wassermassen schossen unter der Brücke hindurch. Äste, Büsche, Plastikfolien, Holzbohlen und mannsdicke Baumstämme trieben in der grauen Flut. Vor dem Brückenpfeiler, der mitten im Fluss stand, bildeten sich Strudel, die das Geröll für einen Moment einfingen und verschwinden ließen. An anderer Stelle tauchte es wieder auf und wurde von der Gewalt der Strömung mitgerissen.

Auch Berger ließ ihre Seitenscheibe einen Spalt breit herunter. Fasziniert starrte sie den Flusslauf hinauf, der nach einigen Windungen im Nebel verschwand. Am künstlich errichteten Deich standen mehrere Leute in Regenmänteln und Gummistiefeln und starrten auf das trübe Wasser. Sie gestikulierten wild mit den Armen. Körner konnte nicht hören, worüber sie sprachen. Scheinbar machten sie sich Sorgen über den Wasserstand. Als die Männer den Wagen bemerkten, hörten sie auf und beobachteten das Fahrzeug.

»Hier kommen zwar Traktoren und Mopeds, aber selten Autos vorbei, stimmt’s?«, fragte Berger.

»Zumindest keine mit Wiener Kennzeichen.«

Sie holperten von der Brücke und fuhren den Forstweg entlang. Nach wenigen Minuten wandelte sich die trostlose, ländliche Gegend in besiedeltes Gebiet. Sie kamen zur Ortstafel, und unmittelbar dahinter stand die gelbe Hütte einer Bushaltestelle am Wegesrand. Gegenüber lag eine winzige Tankstelle mit nur einer Zapfsäule. Wegen Regen geschlossen! stand auf eine Pappschachtel gekritzelt, die unter dem Vordach hing. Der Karton weichte im Regen auf, und die Farbe der Buchstaben begann zu verrinnen. Der Forstweg ging in eine asphaltierte Straße über, ein Bürgersteig allerdings fehlte, und am Wegrand steckten Eisenstangen in der Erde, an denen verhungerte Weinreben hingen. Die meisten Häuser gruppierten sich längs der Dorfstraße.

»Hier ist Ihre Pizzeria.« Berger lächelte, als sie das schiefwinkelige grüne Gebäude mit dem Gastgarten und den wild wuchernden Hecken sah. Scheinbar amüsierte sie die Tatsache, dass Körner den Ort so treffend beschrieben hatte.

Sie kamen an einem Fußballplatz vorbei, dessen Rasen unter Wasser stand, an der Volksschule, einigen Bauernhöfen, Viehställen und einstöckigen Wohnhäusern, deren Dachschindeln längst einer Erneuerung bedurften. Diffuse Kindheitserinnerungen drängten sich in Körners Gedächtnis. Plötzlich sah er eine russische Fellmütze vor sich, mit Ohrenschützern, die ihm bis in den Nacken reichten. Er erinnerte sich an den winterlichen Fußmarsch entlang der Straße, vom Haus seiner Eltern bis zur Schule, einem einfachen Gebäude mit nur einer Klasse, in der alle Sechs- bis Zehnjährigen unterrichtet wurden.

»Ich war seit meiner Jugend nicht mehr hier, doch nichts hat sich verändert.«

Und schließlich war es so weit. Langsam fuhren sie an einem verkohlten Gebäude vorbei, das einmal ein Einfamilienhaus gewesen sein mochte. Das schwarze Gerippe des Daches war schon längst eingestürzt. Bloß die Grundfestung und eine Mauer standen noch, die Fenster waren ausgebrannte Löcher, die Ziegel schwarz. Körner ballte die Hand ums Lenkrad. Seine Brandwunde begann zu pochen, als rebelliere sie gegen den Anblick, der sich ihnen bot.

Nachdem sie den Ort zur Hälfte durchquert hatten, gelangten sie zum Hauptplatz. Körner parkte den Wagen an den Randstein, und sie stiegen aus. Die örtliche Polizei hatte den Hauptplatz mit einem gelben Plastikband abgeriegelt. Der Wind zerrte an dem Band und ließ es schnalzen. Vor der Absperrung drängten sich einige Männer und Frauen, die sich unter ihren Schirmen dicht aneinander kauerten. Einheimische waren das nicht, dachte Körner, und schon brach das Blitzlichtgewitter los.

»Kein Kommentar.« Körner wedelte abwehrend mit der Hand. Mehr sagte er nicht. Er hob das Band, und Berger und er schlüpften durch die Absperrung.

Sie marschierten quer über den Hauptplatz, der leicht bergauf führte. Das Regenwasser schnellte ihnen zwischen den Rillen der Pflastersteine in Rinnsalen entgegen. Körners Magen krampfte sich zusammen. Hier hatte sich nichts verändert. Auf einer Anhöhe über dem Platz thronte die Kirche, ein verwinkeltes Gebäude mit Erkern und einer zugebauten Sakristei auf einem verwucherten Hügel, der von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben war und wohl immer noch einen Garten darstellen sollte. Der Kirchturm war ein gedrungener Klotz aus rohen, unverputzten Ziegeln. In seiner Kindheit war Körner das Gebäude viel größer erschienen, mächtiger und unheimlicher, und der sonntägliche Gang zur Messe war für ihn stets der Ausflug in eine von Weihrauch geschwängerte und von tropfenden Wachskerzen erhellte Dunkelheit gewesen. Doch jetzt hatte die Kirche nichts mehr von dem Flair vergangener Tage, sie war lediglich ein altes, verkommenes Gebäude – weiter nichts. Der Zeiger der Kirchturmuhr sprang mit einem lauten Klack! um: zehn Uhr. Augenblicklich begannen die Kirchenglocken zu läuten.

Mitten auf dem Dorfplatz stand ein riesiger Springbrunnen, der mit seiner Höhe eher an eine Pestsäule erinnerte. Aus den Gefäßen der Marmorengel sprudelte das Wasser, welches von ovalen Becken aufgefangen wurde. Ein junger Setter mit verfilztem, rotbraunem Fell trottete heran und schnüffelte an der Steinbalustrade. Rechts von der Skulptur lag die Lebensmittelhandlung, ein schmuddeliger Krämerladen, den es schon vor dreißig Jahren gegeben hatte, und zu der ihn seine Mutter dreimal die Woche mit dem Fahrrad geschickt hatte, um einzukaufen. Mit Milch, Obst, Wurst, Käse und einem Laib Brot im Korb war er durch den Ort geradelt, bei strahlendem Sonnenschein und ebenso bei einem Sauwetter wie heute. Er erinnerte sich an die in buntem Papier eingewickelten Schlecker mit dem Brausepulver – und plötzlich spürte er den prickelnden Cola-Geschmack im Mund. Wie hartnäckig Erinnerungen doch waren!

Linker Hand, gegenüber dem Laden, befand sich der Braune Fünfender, oder auch Kirchenschenke genannt, jenes Gasthaus, in dem sich die Bauern auf einen Schnaps trafen, die Feuerwehrleute ihre Kartenspiele austrugen und die Mitglieder des Kirchenchors nach den Proben ihr Bier tranken. Als Jugendlicher hatte er das Gasthaus so gut wie nie von innen gesehen, denn weder seine Mutter noch sein Vater zählten zu den Stammgästen. Im oberen Stockwerk des Wirtshauses lagen die Fremdenzimmer, welche unter der Bezeichnung Frühstückspension vermietet wurden. Doch schon damals hatten sich nie viele Gäste nach Grein verirrt, und so stand auch jetzt noch die ausgeblichene Tafel Zimmer frei im Fenster.

Auf einer Holzbank unter dem Vordach saßen drei alte Männer mit breiten Hutkrempen und dicken Steppmänteln. Er kannte die Alten, es waren Bauern aus Heidenhof. Einer von ihnen bewirtschaftete sogar die Viehställe neben dem Wohnhaus, in dem Körners Exfrau wohnte. Vor den Männern plätscherte das Regenwasser vom Dach und lief das Gefälle hinunter. Da verstummten die Kirchenglocken, und Körner hörte das Gemurmel der Greise.

»Der Exmann der Schabinger Marli.«

Natürlich! Das hätte er sich denken können! Wenn er den Namen Marli schon hörte, krampfte sich ihm der Nacken zusammen. Seine Ex hieß Marla, doch jeder in den beiden Orten nannte sie Marli – die kleine Marli, und das würde sie für immer bleiben, auch wenn sie mittlerweile vierzig Jahre alt war.

»Woher kennen die Ihre Exfrau?«

Körner zuckte zusammen. Seiner Kollegin war der Kommentar der Alten also nicht entgangen.

»Sie wohnt im Nachbarort.« Er nickte die Straße entlang, über die sie gekommen waren, die zum Hauptplatz führte und sich danach zwischen den Häusern verlor. »Einige Kilometer flussaufwärts, in Heidenhof.«

»Sie scheinen hier nicht beliebt zu sein«, stellte Berger fest.

»Wer ist hier schon beliebt? Schauen Sie sich die Kerle an!« Er deutete auf die alten Männer, die auf der Bank saßen, als habe man sie an die Rückenlehne genagelt. »Die sind doch wie Schiffbrüchige, die nie aus dem Ort herauskommen! Die behandeln alle anderen wie Eindringlinge.«

Berger lächelte. »Sie übertreiben.«

»Sie haben keine Ahnung.« Dabei beließ er es. Sie würde es noch früh genug merken. Der Scheidungsrichter hatte vor Jahren festgelegt, dass er seine Tochter einmal im Monat besuchen durfte. Wegen seines Jobs bei der Kripo hatte er nicht jeden Monat die Möglichkeit, doch wenn er nach Heidenhof kam, fuhr er nie durch Grein. Er blieb auf der Bundesstraße, raste neben der Trier entlang, ließ Grein links liegen und nahm die nächste Brücke nach Heidenhof. Keine zehn Pferde hätten ihn je in dieses Dorf gebracht. Bisher hatte er die Erinnerung an den Ort seiner Kindheit erfolgreich verdrängt, wie ein Buch mit schrecklichen Bildern, das man zuschlug, unter dem Bett versteckte und nicht mehr hervorkramte. Doch jetzt kroch es heraus und blätterte sich von allein auf. Plötzlich sah er aberwitzige Parallelen: Immer wenn er zu Marla kam, um die Kleine abzuholen, saß seine Ex aufrecht und steif in der Küche, ähnlich wie die drei Alten, als habe man auch sie an die Rückenlehne der Bank genagelt. Das musste an der Gegend liegen, vielleicht am Kalkgehalt des Brunnenwassers oder weiß Gott woran. Jedenfalls hielt er sich nie lange bei ihr auf, schnappte Verena und verschwand mit ihr so schnell es ging in eine Pizzeria, in einen Tiergarten, ins Kino, oder einfach nur in die Einkaufsparks der nächstgrößeren Stadt, nach Neunkirchen. Das Mädchen hatte sich nie darüber beschwert – obwohl, klein war sie bei Gott nicht mehr. Verena reichte ihm bis zur Schulter. Früher hatte er sie Vreni genannt, doch seit drei Jahren fand sie das uncool. Jedes Mal, wenn er sie so nannte, stieg ihr eine peinliche Röte ins Gesicht, besonders vor ihren Schulkollegen. Jetzt war sie knapp vierzehn, rauchte heimlich, hatte ein Piercing unter der Lippe und wollte sich sogar ein Celtic-Tattoo in die Schulter stechen lassen. So viel er wusste, hörte sie Offspring und Puddle of Mudd, mit ein Grund, weshalb sie zu den Außenseitern des Ortes gehörte. Vielleicht lag das auch daran, dass sie in Neunkirchen zur Schule ging und ein wenig Abstand zu den Dorfgewohnheiten gewann. Bestimmt saß sie auch jetzt in der Schule und ahnte nicht, dass ihr Vater im Nachbarort in einem Mordfall ermittelte.

»Die Diskothek sieht verkommener aus als auf dem Foto.« Berger wischte sich das Regenwasser aus dem Gesicht.

Sie folgte Körner quer über den Platz, zu einem unscheinbaren, schwarzen Holzschuppen, dem letzten Gebäude, das den Hauptplatz umsäumte: die Gaslight Bar. Ein Pressefahrzeug stand vor der Tür, doch rannten keine Presseleute herum, wie es sonst üblich war. Eine ungewohnte Ruhe lag über dem Platz. Daneben parkten ein weinroter Kastenwagen mit Wiener Kennzeichen, das Auto von Rolf Philipp, dem Spurensicherer, und ein Rettungsfahrzeug. Die beiden Hecktüren standen offen, und im Ambulanzbereich brannte Licht. Körner erhaschte einen Blick in das Innere des Sanitätsautos, wo eine Frau mit schwarzem Lockenschopf und hochgekrempeltem Ärmel auf der Liege kauerte. Ein Mann saß ihr gegenüber und bereitete eine Injektion vor. Mit der freien Hand malte sie auf einem Papierblock. Körner hörte sie schluchzen. War das die Reporterin, welche die Leiche entdeckt hatte? Falls ja, würde er sich später um sie kümmern. Zuerst wollte er den Tatort sehen.

Sie kamen unter dem Vordach der Diskothek zum Stehen, da ihnen ein Mann in grüner Uniform und Dienstmütze den Weg versperrte. Er war an die fünfzig, hatte dichte Augenbrauen, einen treuseligen Hundeblick und eine Knollnase. Er sah aus, wie die Dorfgendarmen in dieser Gegend eben aussahen, als hätte er genauso gut auf einem Traktor den Maisacker pflügen können. Mit einer Hand lehnte er an einem Holzsteher und starrte Berger unverhohlen auf die Brüste. Erst jetzt bemerkte Körner, dass seine Kollegin den Parka offen trug, die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatte und das Kreuz durchstreckte, damit sie größer wirkte. Sonja Berger war eine kleine, stramme Person, sie war nicht größer als Körners Tochter, doch hatte sie eine tolle Figur, die man selbst unter dem Parka erkennen konnte. Auf Männer wirkte sie eben nicht wie eine Profilerstellerin der Kripo.

»Sie sind die Ermittler von St. Pölten?«

»Vom Landesgendarmeriekommando Wien«, korrigierte Berger. Sie stellte Körner und sich selbst vor.

Der Gendarm schnalzte mit der Zunge. »Mein Name ist Friedl, ich bin der Postenkommandant von Grein. Wobei ...« Er lächelte.

»Posten ist übertrieben, ich bin allein für die beiden Orte verantwortlich. Ich habe Unterstützung vom Gendarmerieposten Neunkirchen erhalten. Der liegt nur fünfzehn Kilometer entfernt von hier, die Männer waren gleich zur Stelle. Die örtliche Polizei hat alles abgeriegelt. Die Beamten suchen in einem Radius von fünfhundert Metern nach Spuren.« Er machte eine Pause und musterte Körner. »Stimmt es, dass das Haus vermint war und Sie den Geiselnehmer mit bloßen Händen überwältigt haben?«

Im ersten Moment war Körner sprachlos. Er hätte alles erwartet, nur das nicht. Mittlerweile schien es jeder zu wissen; sogar bis zu einem Nest wie Grein hatte sich die Geschichte durchgesprochen.

»Dehnen Sie den Radius auf eintausend Meter aus«, antwortete er kühl.

Der Gendarm stieg von einem Bein aufs andere. »Ich denke fünfhundert genügen. Wenn wir nichts finden, können wir immer noch ...«

Körner kam näher auf ihn zu und fixierte ihn. »Leiten Sie die Ermittlungen?« Er wartete keine Antwort ab. »Wie wollen Sie einen zu klein festgelegten Sperrbereich nachträglich vergrößern, ohne dass Spuren verloren gehen! Und jetzt machen Sie schon, bevor uns der Regen alles wegspült!«

Er ging um den Gendarmen herum, schlüpfte unter dem gelben Plastikband hindurch und betrat die Bar. Berger folgte ihm. Zunächst fiel ihm auf, dass in der schweren Holztür das Schloss fehlte. Es war fachmännisch aus der Vertiefung entnommen worden. Körner fasste jedoch nichts an, sondern notierte das Detail in Gedanken. Wie er schon auf den Fotos gesehen hatte, war der Raum dunkel. Der Boden bestand aus speckigen Holzbohlen, über die bestimmt schon literweise Bier geflossen war, die Wände waren ebenfalls mit Brettern verkleidet, und unter der Decke verliefen schwere Holzbalken, um die ein Kabel mit Glühbirnen geschlungen war – die behelfsmäßige Ausstattung, um das Flair einer Diskothek zu erzeugen.

In dem Raum roch es nicht nur nach Bier und kaltem Zigarettenrauch, wie er es von den Tatorten in Diskotheken kannte, sondern auch nach Eisen. Doch das war nicht alles. Darüber lag der penetrante Geruch verfaulter Eier, wie im Schwefelbad eines Seniorenheims. Von der Leiche konnte der Gestank nicht stammen. Leichen rochen anders!

»Puuuh«, stöhnte Berger.

»Passen Sie auf!« Körner deutete auf den Weg, den die Spurensicherung für die Ermittler gelegt hatte. Winzige Zapfen stecken im Boden, an denen Schnüre gespannt waren. Berger folgte ihm entlang der Wegführung, ohne einen Schritt über die Markierung zu setzen. Sie kamen zu den Barhockern. Der Tresen war alles andere als blank poliert, Bierdeckel lagen herum und Reste von Kerzenwachs klebten am Holz. Durch den großen Spiegel hinter der Bar wirkte der Raum doppelt so groß. Von dem Deckenaufbau hingen die Gläser und Portionierer der Bourbon- und Barcadiflaschen. Körner hatte als Jugendlicher nie in dieser Bar herumgelungert, die es damals schon gegeben hatte. Zigaretten, Schnaps und Frauen waren für ihn tabu gewesen. Wie er jetzt bemerkte, hatte er mit diesem Schuppen nicht viel versäumt.

Entlang mehrerer Holzsäulen und Balustraden, an denen Plakate von Livebands und Showevents hingen, gelangten sie zur Tanzfläche. Der enge, kreisrunde Platz wurde von Tischen und Stühlen umrahmt, dahinter befand sich das Podest für die Band.

Eine Elektroorgel stand darauf, Mikrofonständer, Boxen und lose Kabel lagen herum.

Basedov hatte auf Stative montierte Scheinwerfer um die Tanzfläche gestellt, um den letzten Winkel des Tatorts ausleuchten. Er selbst war nicht zu sehen. Hinter einem Paravent aus Alufolie flammten Blitzlichter auf. Offensichtlich war er schon bei der Leiche angelangt.

Vor dem Paravent kroch Rolf Philipp auf allen Vieren; er trug Plastiküberzieher an Händen und Schuhen. Mit seiner Statur wirkte er wie ein Bär, der mit seinen Tatzen in einem Dekontaminierungsanzug steckte. Von Beginn an hatte jeder gewusst, dass er der geborene Spurensicherer war. Nach der Eignung am Gendarmerieposten Mödling waren sie zur Erprobung nach Erdberg gekommen, in den dritten Wiener Gemeindebezirk, und damit hatte festgestanden: Philipp ging zur Spurensicherung, Basedov wurde Kripofotograf und er selbst wechselte zum Morddezernat. Manchmal arbeiteten sie gemeinsam an einem Fall ... heute war so ein Tag.

Philipp drehte ein dunkel schimmerndes Objekt zwischen den Fingern.

»Fragment des dritten oder vierten Lendenwirbels«, murmelte er in das Diktafon, das er sich dicht vor den Mund hielt. »Vier Zentimeter, elf Gramm. Entfernung zur Leiche ...« Er las die Ziffern auf einem Maßband ab, das unter dem Paravent verschwand. »Drei Meter vierzig. Nummer siebzehn.«

Er packte den Teil in eine Folie, nummerierte sie mit einem Stift und markierte den Fundort mit einer Steckfahne. Danach legte er die Folie zu einem Berg von Tüten, der sich hinter ihm angesammelt hatte. Zuletzt fotografierte er den Platz.

»Der intensive Eisengeruch rührt von der hohen Blutmenge und den Knochenbrüchen der Wirbelsäule«, murmelte er in das Diktafon. »Auffällig ist jedoch der starke Schwefelgeruch. Möglicherweise ist die Wunde des Opfers mit Fluimucil versetzt.«

Körner und seine Kollegin beobachteten ihn fasziniert bei der Arbeit. Er hatte ihr Eintreten nicht bemerkt. Da knirschte Körner mit dem Schuh, Philipp schaute kurz hoch und beendete die Aufzeichnung. »Die Kavallerie ist da«, sagte er ironisch.

Philipp richtete sich vollends auf. Er war annähernd so groß wie Körner, nur sah er stämmiger aus und hatte gut den doppelten Brustumfang, ohne dabei dick zu wirken. Er hatte buschige Augenbrauen, einen dichten Kinn- und Oberlippenbart und eine Halbglatze, wodurch die hohe Denkerstirn voll zur Geltung kam. Dennoch trug er das nach hinten gekämmte Haar schulterlang und wirkte dadurch wie ein Künstler, der die Öffentlichkeit mit seinem unangepassten Auftreten schockieren will.

Als er Körner erkannte, hellte sich sein Blick auf. »He, du bist da? Dir hat Koren den Fall übertragen? Unglaublich! Ich hätte drauf wetten können, dass dich der alte Drachen suspendiert.«

Körner ging nicht darauf ein. Er war es leid, über den gestrigen Abend zu sprechen, dazu würde er noch früh genug die Gelegenheit haben. Körner deutete auf die Tanzfläche. »Fehlt etwas?«

»Kann ich zaubern?« Philipp breitete die Arme aus. »Ich bin gerade mal eine Stunde hier. Ich muss erst alles einsammeln und ins Labor bringen. Zieh dir Handschuhe an und hilf mir!«

»Danke! Wenn der Killer ein Stück von der Leiche als Andenken mitgenommen hat, möchte ich das wissen.«

»Du bist der Erste, der es erfährt.«

»Ist dir schon aufgefallen, dass das Türschloss fehlt?«, fragte Körner.

Philipp schüttelte den Kopf, als habe er es mit einem Dilettanten zu tun. »Schlaumeier! Ich habe das Zylinderschloss ausgebaut und werde es der Kriminaltechnik schicken. Ich glaube, jemand hat daran rumgefummelt.«

»Sonst noch etwas gefunden?«

»Ja! Das Ausweisetui des Mörders«, fauchte Philipp. »He, was glaubst du, was ich hier mache? Es gibt nichts Schrecklicheres als eine Spurensicherung in einer Diskothek: Hunderte frischer Fingerabdrücke am Geländer und an den Gläsern, Stofffasern an den Stühlen, Hunderte von Fußabdrücken. Finde da mal raus, welche zur Tat gehören und welche nicht.«

»Ja, ja, ich habe verstanden: Wir lassen dich in Ruhe arbeiten.« Körner hob beschwichtigend die Hände. »Das ist übrigens Dr. Sonja Berger. Sie ...«

»Guten Morgen.« Berger nickte knapp.

»Lady! Sie sind diese junge Kriminalpsychologin an der Seite unseres Helden.« Philipp setzte ein charmantes Lächeln auf.

»Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: Passen Sie gut auf sich auf, wenn Sie in seiner Nähe sind. Ich habe gehört, er reicht seine Waffe öfter mal an verdächtige Personen. Um so eine attraktive, intelligente Frau wie Sie wäre es verdammt schade.«

Berger rümpfte die Nase. »Ich weiß sehr wohl, dass ich auf dem Revier Psychotante genannt werde, auch von Ihnen. Sparen Sie sich also Ihre Schmeicheleien.«

Körner schluckte und starrte betroffen zu Boden. Schlagartig herrschte ein frostiges Klima im Raum.

»Sie haben mich ertappt, Psychotante. Eins zu null für Sie.« Philipp widmete sich wieder seiner Arbeit, ihn schien Bergers Vorwurf nicht wesentlich aus der Fassung zu bringen. Körner nahm ihm das sogar ab. Philipp war abgebrüht genug – und mit Frauen hatte er sowieso kein Problem: Entweder konnte er schamlos mit ihnen flirten, oder er beleidigte sie, und dann war der Fall für ihn erledigt.

Körner wandte sich ab und ging den markierten Weg entlang.

»Zertrampel mir bloß keine weiteren Spuren. Ein Hund ist vorhin in die Bar gelaufen. Der Köter hat wichtige Spuren verwischt«, rief ihm Philipp nach.

»Ja, ja! Ich muss mir ansehen, wie der Killer den Tatort arrangiert hat. Wenn man den Künstler verstehen will ...«

»... muss man sein Werk betrachten. Ich weiß, das ist ein alter Hut.« Philipp deutete auf die ausgesteckte Wegführung. »Aber nur da entlang, du Kunstkenner!«

Berger folgte ihm nicht, sie blieb zurück und plauderte mit Philipp. Er hörte nicht, worüber sie sprachen, doch am Tonfall merkte er, dass Berger interessiert Fragen stellte. Auch wenn Philipp ein Ekel war, beruflich konnte man einiges von ihm lernen. Möglicherweise renkte sich die Beziehung zwischen den beiden wieder ein. Er war es gewöhnt, dass Philipp die Menschen bei seiner ersten Begegnung vor den Kopf stieß. Er war wie ein Großwesir, man musste sich seine Gunst hart erarbeiten, und wenn Berger ein wenig von ihrer kühlen, distanzierten Art ablegte, würden die beiden sogar miteinander zurechtkommen.

Körner ging auf den Paravent zu und war auch schon am Ende des Raums angelangt. Durch einen Torbogen führte nur noch ein Gang an den Toiletten vorbei und endete in einem Hinterhof mit Parkplatz, wie er vermutete. Jede Bar hatte einen! Schließlich mussten sich die Jugendlichen irgendwo heimlich treffen, um Tabletten zu tauschen und mit den Mädchen auf den Autorücksitzen zu fummeln.

Hinter der Alufolie, die Kralicz, genannt Basedov, zum Erhellen des Raumes verwendete, zuckte noch immer das Blitzlicht. Wie eine Supernova flammte es auf, und Körner sah für einen Moment nur grell blitzende Sterne. Basedov stand hinter der Nikon und presste das Auge an den Sucher der Kamera. Er hantierte am Blitzlicht und betätigte den Auslöser. Wenn man ihm bei der Arbeit zusah, glaubte man, er blicke mit einem Auge in den Sucher, während er mit dem anderen Auge einen selbst mustere. Sein basedofscher Blick sah noch schlimmer aus, als habe man einen Frosch mit der Fahrradpumpe aufgeblasen, zumindest behauptete das Philipp immer, wenn er über Basedov scherzte. Der Fotograf war ein netter Kerl; offensichtlich war das der Grund, weshalb er die ständigen Witze auf seine Kosten erduldete. Er trug das kurze Haar exakt gescheitelt und wirkte so bieder wie ein Familienvater, der tagsüber beim Finanzamt die Eingangspost stempelt. Der Spitzname Basedov war letztendlich eine von Philipps Kreationen, Basedow mit russischem Akzent gesprochen – geprägt an jenem Tag, als Basedov eine Ukrainerin heiratete, mit der er mittlerweile zwei Kinder großzog. Körner hatte den Spitznamen nie besonders geschmackvoll gefunden, doch auf dem Revier hatte er wie ein Blitz eingeschlagen und war seitdem nicht mehr wegzudenken gewesen.

Basedov glotzte Körner an. »Morgen, Alex. Wieder mal vereint, wie in den alten Zeiten in Mödling.«

»Ja, war eine tolle Zeit ...«

»Wir waren schon damals ein einmaliges Team«, brüllte Philipp jenseits des Paravents. »Seitdem hat sich nicht viel verändert, stimmt’s?«

»Du hattest mehr Haare«, konterte Basedov.

»Schnauze!«

Basedov verstummte. Er besaß nicht die Nerven, sich mit Philipp auf niveaulose Wortgefechte einzulassen.

»Warten wir es ab, ob wir diesmal auch so gut sind. Basedov, ich wollte ...«

Das Blitzlicht flammte auf, und Körner stockte. Das Eisengestell, welches er bereits auf dem Foto gesehen hatte, stand wie ein Gerippe an der Wand. In dem Gerät befand sich tatsächlich eine eingeschweißte Sitzbank. Auf den ersten Blick sah es wie das Trainingsgerät eines Fitnessstudios aus, doch mit den Seilen, Flaschenzügen und Lederriemen wirkte die Konstruktion befremdend und ließ keinen Sinn erkennen. Noch nicht! Die Jungs im Labor würden sich darum kümmern. Neben dem Gestell lag die Leiche auf dem Bauch: ein Mädchen in Jeans, in Bluse und Turnschuhen, Arme und Beine von sich gestreckt. Basedov hatte eine Kreidelinie um den Leichnam gezeichnet. Unschwer ließ sich erkennen, woran sie gestorben war. Jetzt wusste er, weshalb die Wirbelteile auf der gesamten Tanzfläche verstreut lagen. Körner ging in die Hocke und betrachtete die Leiche, die rund zwei Meter von ihm entfernt lag. Philipps Wegmarkierung ließ ihn nicht näher heran, doch diese Distanz reichte vollkommen aus.

Der Tatort war sauber arrangiert worden, wie für das Ermittlerteam inszeniert, und wirkte, als sei ein Serienkiller am Werk gewesen, der an der Grenze seines Verstandes experimentierte – und der Gefallen an seinem Spiel hatte. Was wollte ihnen der Mörder mit seiner Inszenierung mitteilen? Hallo Leute, das ist mein erstes Opfer. Weitere folgen in Kürze!

Das Mädchen lag mit dem Gesicht nach unten, als wollte der Mörder vermeiden, seinem Opfer in die Augen zu sehen. Vermutlich kannte er die Tote, war vielleicht benachbart oder sogar mit ihr verwandt. Die Bluse war am Rücken in zwei Hälften zerrissen und hing ihr über die Schultern. Der Anblick ihres Rückens wirkte auf Körner verstörend. Wie oft musste der Killer mit dem Messer in ihren Rücken gehackt haben, um so eine Wunde zu bewirken? Warum war es ausgerechnet so passiert und nicht anders? Warum war der Mord ausgerechnet an dieser Stelle in diesem Lokal passiert und nicht woanders? Warum hatte der Killer von allen Mädchen aus der Umgebung ausgerechnet dieses Opfer ausgewählt und kein anderes? Körner betrachtete ihr blondes, zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar. Ich finde es heraus, Kleine. Er glaubte nicht an Zufälle. Er war davon überzeugt, dass der Killer genau wusste, was er tat. Nur musste er hinter den Plan des Wahnsinnigen kommen. Er musste das Muster erkennen.

Das Eisengestell, das wie ein düsteres Omen neben der Leiche emporragte, gab ihm das nächste Rätsel auf. Körner erhob sich aus der Hocke. »Hat sich schon jemand überlegt, wozu dieses Gerät dient?«

»Ich hab es noch nicht ausprobiert.« Philipp lachte obszön. Sein Kommentar war wie immer deplatziert. Vielleicht war Sarkasmus Philipps Art, mit dem Schrecken umzugehen, den sie tagtäglich sahen. Jeder hatte seine Masche: Jana Sabriski ging Tiefseetauchen, Basedov war mit Leib und Seele Familienvater, und Körner selbst konnte abschalten und sich am besten entspannen, wenn er durch den Wienerwald joggte, am Sandsack trainierte oder in der Küche stand und kochte. Am ärmsten waren jene dran, die noch keine Methode gefunden hatten, den Schrecken auf Distanz zu zwingen.

»Oh, Gott!« Plötzlich stand Berger neben ihm und starrte mit offenem Mund auf die Leiche.

»Ziemlich schräg«, kommentierte Körner. »Das ist Basedov, unser Fotograf«, fügte er rasch hinzu, um sie abzulenken. Er bemerkte, wie sie mit einem Mal weiß im Gesicht wurde, als erleide sie einen heftigen Migräneanfall. Keine Tausend Fotos konnten jemanden darauf vorbereiten, wie es war, wenn man das Opfer eines wahnsinnigen Mörders tatsächlich vor sich sah. In der Realität war es immer anders. Sie versuchte zu schlucken, aber der Kloß in ihrem Hals saß zu fest. Im Moment würgte sie bestimmt eine grässliche Magensäure hoch. Er kannte das, jedem passierte es beim ersten Mal. Es war nicht nur der Anblick, sondern auch der entsetzliche Geruch und der Geschmack im eigenen Mund, die ihr Übriges dazu beitrugen. Alles zusammen rief unglaubliche Assoziationen hervor. Wie gebannt starrte Berger auf das tote Mädchen und konnte sich nicht losreißen. Er stupste sie an. »Das ist Basedov! Unser Fotograf!«, wiederholte er. »Und das ist Doktor Sonja Berger, sie erarbeitet Täterprofile und verfasst Artikel für psychologische Fachzeitschriften. Sie sind ziemlich gut darin, habe ich recht?«

Sie blickte auf. Endlich war der Bann gebrochen. »Guten Morgen. Ja, ich erstelle Profile.« Ihre Stimme war ein heiseres Krächzen. »Vor drei Wochen war ich noch in Kretschmers Team, aber so etwas habe ich noch nicht gesehen ...«

»Ich habe noch nichts von Ihnen gelesen. Sie müssen mir mal ein paar Ihrer Artikel zukommen lassen.« Basedov lächelte sie scheu an. Körner ahnte, dass auch der Fotograf versuchte, sie auf andere Gedanken zu bringen.

»Gern.« Geistesabwesend wandte sie den Blick weg und betrachtete das Eisengestell.

Basedov trat einen Schritt zur Seite und deutete auf die Sitzbank.

»Meiner Meinung nach hat das Gerät nur einen Sinn: Jemand setzt sich drauf und wird mit den Lederfesseln über diese Stange nach vorne gebeugt, sodass sein Rücken nach oben durchgebogen wird.«

»Und wozu?«

»Können wir gleich an Basedov ausprobieren«, rief Philipp hinter dem Paravent.

Körner deutet auf das zerfetzte Rückgrat des Mädchens. »Und dann passiert so etwas ...«

»Eine schöne Sauerei.« Philipp raschelte mit den Plastiktüten.

»In Krems ´96 hatte ich einen ähnlichen Fall. Der Mörder hatte einem jungen Burschen die Wirbelsäule freigelegt.«

Berger presste ihre Lippen zu einem weißen Strich aufeinander.

»Aber es kommt noch schlimmer«, sprach Philipp weiter. »Zwei Jahre darauf hat Basedov in Gmunden annähernd gleiche Fotos von einer jungen Frau geschossen. Das war ein Schlamassel! Erzähl es ihnen!«

»Ich erinnere mich«, muckste Basedov. »Aber ich will nicht darüber ...«

»Es reicht!« Körner wandte sich an seine Kollegin. »Lassen Sie sich von dem Burschen nicht aufziehen. Atmen Sie tief durch.«

Da flog die Hintertür der Diskothek auf. Der Wind pfiff durch das Lokal, Regen klatschte auf die Pflastersteine, und ein kühler Luftzug strömte ins Innere. Jana Sabriski stand im Türrahmen, vollgepackt mit Boxen und Tragetaschen.

»Oh nein, der Hund!«, rief sie.

Ein verfilzter Setter mit triefend nassem Fell schlüpfte zwischen ihren Beinen hindurch und jagte den Gang entlang, an den Toiletten vorbei auf die Tanzfläche. Körner wollte das Tier am Halsband packen, doch es stürzte an ihm vorbei, setzte über die Bodenmarkierung hinweg und schlitterte mit den Krallen über den Parkettboden. Dann warf es beinahe das Kamerastativ mitsamt dem Paravent um und sprang neben dem Eisengestell an der Wand hoch. Es winselte und jaulte und schabte mit den Krallen über die Holzverkleidung. War das etwa der Hund, den sie am Hauptplatz gesehen hatten?

»Da ist der verfluchte Köter wieder! Schafft das Mistvieh weg, sonst erschieße ich es.« Philipp raste hinter dem Paravent hervor. Er war rot im Gesicht und fuchtelte mit den Armen herum. »Der Drecksköter verliert überall Haare und sabbert alles voll!« Er warf Sabriski einen bissigen Blick zu.

Die Gerichtsmedizinerin stand neben Körner und stellte ihre Taschen zu Boden. »Tut mir leid, aber ich habe den Hund nicht gesehen. Was jetzt?«

Basedov zog die Schultern hoch und machte einen Schritt zurück, als wolle er dem Tier nicht zu nahe kommen. »Der Hund schleicht ständig vor der Wand herum und beschnuppert alles. Er ist mir schon zweimal ins Bild gelaufen«, erklärte er. »Wir haben ihn vor einer Stunde mit Mühe und Not aus der Bar gelockt.«

Sonja Berger stieg kurzerhand über die Absperrung und näherte sich dem Tier von hinten. »Braver Hund«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Du bist ein süßer Hund.«

»Ja, süß!«, brauste Philipp auf.