Der Kommissar und der Tod auf Cotentin - Maria Dries - E-Book
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Der Kommissar und der Tod auf Cotentin E-Book

Maria Dries

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Beschreibung

Monsieur le Commissaire ermittelt in einer Mordserie.

An einem Apriltag erhängt sich eine junge Frau in ihrer Zelle in der Haftanstalt von Cherbourg. Ein halbes Jahr später stürzt Kommissar Ludovic Cleroc von der Steilküste – ein Anschlag, den er nur mit viel Glück überlebt. Er bittet seinen Freund, den ehemaligen Elitepolizisten Philippe Lagarde, um Hilfe. Bald darauf wird die Halbinsel Cotentin von einer Mordserie erschüttert. Eine Richterin und eine junge Frau werden ermordet, ein Anwalt überlebt einen weiteren Anschlag nur knapp. Lagarde ist überzeugt, dass es einen Zusammenhang gibt. Kann er seinen Freund schützen? 

Philippe Lagarde ermittelt im Wettlauf gegen die Zeit auf der Halbinsel Cotentin mit ihren atemberaubenden Naturschönheiten.

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Über das Buch

An einem wolkenverhangenen Apriltag erhängt sich die vierunddreißigjährige Charline Lebreton in ihrer Zelle in der Haftanstalt von Cherbourg. Ein halbes Jahr später wird auf Kommissar Ludovic Cleroc an der Steilküste von Cap Lévi ein Anschlag verübt, der ihn beinahe das Leben kostet. Er bittet seinen Freund, Kommissar Philippe Lagarde, um Hilfe bei der Suche nach dem Täter, doch ihre Ermittlungen geraten ins Stocken. Als weitere Verbrechen geschehen, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Etwa zur gleichen Zeit bezieht ein Mann den alten Leuchtturm von Gatteville, der sich als alter Freund von Philippe Lagardes Verlobter entpuppt –, und den ein dunkles Geheimnis umgibt.   

Über Maria Dries

Maria Dries wurde in Erlangen geboren. Seit sie mit siebzehn Jahren das erste Mal an der Côte d’Azur war, damals noch mit einem alten Käfer Cabrio, kehrt sie immer wieder nach Frankreich zurück. Jedes Jahr verbringt sie dort längere Zeit, um für ihre Kriminalromane zu recherchieren, die französische Küche auszukosten und das unvergleichliche Lebensgefühl zu genießen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Fränkischen Schweiz.

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Maria Dries

Der Kommissar und der Tod auf Cotentin

Philippe Lagarde ermittelt

Kriminalroman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Zitat

Prolog — April 2021

November 2021 — Je vais t’aimer

Erster Tag — Le phare, der Leuchtturm

Zweiter Tag — Cap Lévi

Dritter Tag — Das Viadukt von Fermanville

Vierter Tag — Im Nebelwald von Tourlaville

Fünfter Tag — Die Schmetterlingsbucht

Sechster Tag — Wintercamping an der Nez de Jobourg

Siebter Tag — Die alte Eiche von Gatteville-le-Phare

Achter Tag — Das Stelzenhaus am Zöllnerpfad

Neunter Tag — Sturmflut

Zehnter Tag — Les Adieux

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

Für Herbert B.

Eine Geschichte, niedergeschrieben in einer magischen Zeit

Die Finsternisse

In Höhlen unerforschter Traurigkeit, Wohin mich die Geschicke feindlich stiessen, Wo niemals rosige Strahlen sich ergießen, Wo nur die mürrische Nacht mir Freundschaft leiht,

Nur manchmal strahlt und wächst aus tiefer Nacht Ein Wesen, das aus Glanz und Duft gedichtet; Wenn in des Ostens träumerischer Pracht

Es sich zu ganzer Höhe aufgerichtet, Hab’ ich das holde Rätsel schnell enthüllt: Sie ist es! Dunkel, und doch glanzerfüllt.

Charles Baudelaire »Die Blumen des Bösen« (»Les Fleurs du Mal«)

Prolog

April 2021

Die Haftanstalt von Cherbourg lag etwas außerhalb der Stadt auf einem Hügel. Von dort aus hatte man einen schönen Blick auf die äußere Reede mit den halbkreisförmigen Molen, die den Hafen vor den tückischen Stürmen des Ärmelkanals schützte. Über den Himmel zogen Wolkengebirge, die der Wind vor sich hertrieb. Der Ozean war aufgewühlt. Meterhohe Wellen mit weißen Schaumkronen brachen donnernd an den Klippen der Steilküste. Darüber erhob sich kreischend ein Schwarm Sturmmöwen und flog gen Norden auf das Meer hinaus. Die Luft war erfüllt von dem Geruch nach Fisch und Tang. In einer kleinen Marina lagen Fischerboote, Motoryachten und Segler, deren Masten sich im Wind wiegten wie silbrige Ähren auf einem bleiernen Feld. Dahinter erhoben sich nebelverhangene Pappeln, deren Blätter von Böen zerzaust wurden.

Das in die Jahre gekommene, dreistöckige Gebäude war aus roten Backsteinen gebaut, auf dem Dach erhoben sich graue Kamine. Die Fenster, die wie dunkle trostlose Augen wirkten, verfügten über graue Laibungen, deren Farbe abblätterte.

Charline Lebreton stand auf Zehenspitzen an dem winzigen quadratischen Fenster ihrer Zelle im ersten Stock, die Hände umklammerten kalte rostige Gitterstäbe. Ihr Sichtfeld war durch einen doppelten Zaun, auf dem aufgerollter Stacheldraht entlangkroch, und eine hohe Mauer, die das Gefängnis umgrenzte, sehr eingeschränkt. Sie konnte einen der vier Wachtürme sehen, der düster in den Himmel ragte. Schemenhaft waren die Wachen darin zu erkennen, die auf jeden schießen würden, der versuchte, aus diesem Vorhof der Hölle zu fliehen. Der Blick durch die vergitterte Scheibe war das einzige bisschen Freiheit, das der jungen Frau noch geblieben war.

Sie war schlank und hatte ein ovales Gesicht mit einer zarten Nase und sinnlichen Lippen, das von großen braunen Augen mit einem dichten schwarzen Wimpernkranz dominiert wurde. Die blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug einen blauen Trainingsanzug und Sportschuhe mit Klettverschluss. Schmuck und Kosmetika waren verboten.

Schließlich wandte sie den Blick ab und setzte sich auf das Bett, über das eine kratzige karierte Wolldecke gebreitet war. Seit vier Jahren war diese drei mal vier Meter kleine Zelle ihr Aufenthaltsort. Es gab einen Tisch mit zwei Stühlen, ein Kreuz aus Holz und ein Regal, auf dem sich einige Bücher reihten, die sie aus der Gefängnisbücherei ausgeliehen hatte und bei deren Lektüre es ihr hin und wieder gelang, für kurze Zeit ihr Schicksal zu verdrängen. In einer gekachelten Ecke befanden sich die Toilette und das Waschbecken. An der Decke war an einem Haken eine Glühbirne befestigt. Morgens um sieben Uhr, kurz vor dem kargen Frühstück, wurde sie eingeschaltet, um zweiundzwanzig Uhr erlosch sie erbarmungslos auf die Sekunde genau. In der Zelle roch es nach Schweiß, Schimmel und Angst, und es war immer kalt.

Plötzlich öffnete sich die Klappe in der Stahltür und ein Tablett wurde hereingereicht. Es war achtzehn Uhr. »Abendessen«, ertönte eine tiefe Stimme. Sie gehörte einem der freundlicheren Wärter. »Sie müssen etwas essen, Madame, damit Sie bei Kräften bleiben.«

Wozu?, dachte Charline. Sie stand auf, nahm es entgegen, murmelte ein »Merci« und stellte es achtlos auf dem Tisch ab: zwei Käsebrote mit Gurke, ein Apfel, eine Tasse Pfefferminztee. Sie verspürte keinen Hunger. Seit sie hier eingesperrt war, hatte sie einige Kilo abgenommen. Das merkte sie am Gummizug der Trainingshose. Wenn sie im Duschraum einen kurzen Blick in den Spiegel werfen konnte, erschrak sie jedes Mal. Ihr einst leicht gebräuntes lebensfrohes Gesicht war bleich geworden, die Wangen eingefallen, die Augen, die ihren Glanz verloren hatten, waren geschwollen vom vielen Weinen. Was sie besonders beunruhigte, war ihr Gesichtsausdruck. Sie hatte das Lächeln verlernt und sah angespannt aus, nein, viel schlimmer, regelrecht versteinert. Als hätte sich die Hoffnungslosigkeit wie ein stetiger Tropfen in ihr Antlitz gegraben.

Charline versuchte, aus dem Gefühl der Trostlosigkeit und der Verzweiflung aufzutauchen, und dachte an den Nachmittag zurück. Johnny war sie besuchen gekommen. Er kam regelmäßig einmal im Monat, meistens am letzten Wochenende, musste jedes Mal vorher eine schriftliche Erlaubnis beantragen und durfte, nachdem er einen Metalldetektor passiert hatte und von einem Justizvollzugsbeamten abgetastet worden war, zehn Minuten mit ihr sprechen. Dabei trennte sie eine Panzerglasscheibe, da sie als gemeingefährlich galt. Während der Gespräche legten sie immer die Handflächen, getrennt durch das kühle Glas, aufeinander und sahen sich in die Augen. Er hatte sich nach ihrem Befinden erkundigt und von seinem Alltag erzählt, dann war die Besuchszeit auch schon wieder vorbei. Ein Aufseher hatte ihn mit barscher Stimme aufgefordert, zu gehen. Johnny hatte ihr ein letztes Lächeln geschenkt und war durch die schwere Stahltür verschwunden, ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Wärter holte sie ab und führte sie in die Zelle zurück. Bevor er die Tür versperrte, überreichte er ihr die Geschenke von Johnny. Er hatte ihr aus dem Automaten im Besucherraum zwei Flaschen Orangina und eine Tafel Schokolade gezogen. Mehr war nicht erlaubt.

Sie sank auf die Matratze und rieb sich aufgewühlt die Wangen. So sehr bedauerte sie es, dass es ihr heute Morgen nicht gelungen war, das Messer, das sie während ihres Küchendienstes unter einem Schrank entdeckt hatte, schnell in ihrer Schürzentasche zu verstecken. Die Küchenchefin hatte sie beobachtet und ihr das Messer sofort abgenommen. Die Frau hatte Charlines Beteuerungen, dass sie den Fund selbstverständlich korrekt abgeben wollte, keine Beachtung geschenkt und ihr für eine Woche den täglichen einstündigen Freigang im Gefängnishof gestrichen. Die einzige Beschäftigung, die ihr ein wenig Freude bereitete, konnte sie doch den Geruch des Meeres einatmen und die Frische des Windes auf ihren Wangen spüren.

Sie begann, das fadenscheinige Bettlaken zu untersuchen, und entdeckte eine ausgefranste Stelle. Entschlossen riss sie eine Stoffbahn ab. Sie war etwa zwei Meter lang und fünfundzwanzig Zentimeter breit. Danach stellte sie den Stuhl unter die Glühbirne, erhöhte die Sitzfläche, indem sie Bücher darauf stapelte, stieg hinauf und knotete den improvisierten Strick zunächst am Haken fest, dann schlang sie ihn eng um ihren Hals. »Adieu, Johnny«, flüsterte sie mit heiserer Stimme und stieß mit den Füßen die Bücher vom Stuhl.

November 2021

Je vais t’aimer

Etwa ein halbes Jahr später, an einem kalten stürmischen Novemberabend, saß ein Mann in einem Sessel und betrachtete durch ein Panoramafenster die tosende See. Auf dem nachtschwarzen Himmel zeichnete sich das riesige Sternbild des Pegasus ab, das Herbstviereck mit einem glitzernden Stern in jeder Ecke. Gemächlich zog ein Schlepper vorbei, ein grünes und ein rotes Positionslicht leuchteten. In der Ferne ertönte ein Nebelhorn.

Im Salon prasselte ein Feuer im Kamin, das Holz knackte, die Flammen loderten schwefelgelb. Nachdenklich zog er an seiner Zigarette und trank einen Schluck Calvados aus einem bauchigen Kristallglas. Aus den Lautsprechern der Stereoanlage erklang die unvergleichliche Stimme des Chansonniers Michel Sardou, der mit der wunderschönen Lara Fabian das von ihm komponierte Lied »Je vais t’aimer« interpretierte, indem sie sich mit dem Text abwechselten.

Je vais t’aimer comme on ne t’a jamais aimée

Je vais t’aimer plus loin que tes rêves ont imaginé

Je vais t’aimer, je vais t’aimer

Je vais t’aimer comme personne n’a osé t’aimer

Je vais t’aimer comme j’aurai tellement aimé être aimé

Je vais t’aimer, je vais t’aimer

Ich werde dich lieben, wie dich noch nie jemand geliebt hat

Ich werde dich mehr lieben, als deine Träume es sich jemals vorgestellt haben

Ich werde dich lieben, ich werde dich lieben

Ich werde dich lieben, wie niemand es gewagt hat, dich zu lieben

Ich werde dich lieben, wie ich so sehr gerne geliebt worden wäre

Ich werde dich lieben, ich werde dich lieben

Als das Lied verklungen war, hatte der Mann einen Entschluss gefasst. Er trank aus, erhob sich aus dem Sessel, stocherte in der Glut des Kaminfeuers und ging zu Bett. Lange Zeit konnte er nicht einschlafen und wälzte sich unruhig hin und her. Als ihm endlich die Augen zufielen, wurde er von feuerspeienden Dämonen gejagt.

Erster Tag

Le phare, der Leuchtturm

Im Norden der normannischen Halbinsel Cotentin mit seinen schroffen Steilküsten konnte man den direkten Einfluss des Meeres und des Windes spüren. Das Cotentin war geprägt von fruchtbaren Marschlandschaften, ausgedehnten Sandstränden und malerischen Ortschaften.

Das kleine Fischerdorf Barfleur lag an der Nordostspitze und galt als einer der schönsten Orte Frankreichs. Nahe der Hafenausfahrt wachte die Kirche Saint-Nicolas mit ihrem zinnengekrönten Vierungsturm über das Dorf. An der Promenade reihten sich mehrstöckige Granitsteinhäuser, auf deren Schieferdächern rote und steingraue Kamine saßen. Die weißen Sprossenfenster, Dachluken und Türen gaben den Häusern, die Restaurants, Cafés und Souvenirläden beherbergten, einen freundlichen und einladenden Anstrich.

Am Pointe de Barfleur erhob sich der fünfundsiebzig Meter emporragende Leuchtturm von Gatteville, der zweithöchste Frankreichs. Von seiner Aussichtsplattform aus hatte man einen großartigen Blick über die Îles Saint-Marcouf und die Baie des Veys. Das erheblich kleinere alte Leuchtfeuer stand direkt daneben. Muschelbänke mit den berühmten goldenen Muscheln von Barfleur sowie Austerngärten zogen sich die Küste entlang, so weit das Auge reichte.

Der ehemalige Elitepolizist Commissaire Philippe Lagarde wohnte ein Stück außerhalb von Barfleur in einem alten Granitsteinhaus, das ihm seine Großmutter vererbt hatte. Das einstöckige Haus befand sich auf einem Dünenkamm, die Fensterlaibungen waren aus roten und grauen Backsteinen gemauert und die Fensterläden hellblau lackiert. Über die Fassade rankten sich auf Spalieren Rosen, die nun im Herbst verblüht waren. Die Terrasse bot einen atemberaubenden Ausblick auf den Küstensaum und den Ärmelkanal. Ein schmaler gewundener Pfad, der durch ein Seekiefernwäldchen führte, verband den Garten mit einer kleinen henkelförmigen Bucht, die von schroffen Felsen umgeben war. Seevögel, insbesondere Basstölpel, benutzten die Felsnasen gerne als Rastplatz.

Philippe Lagarde, ein mittelgroßer kräftiger Mann mit breiten Schultern, saß in seinem Büro am Schreibtisch und arbeitete am Laptop. Ab und zu nahm er einen Schluck von seinem Milchkaffee und fuhr sich nachdenklich durch die kurz geschnittenen dunklen Haare. Nachdem ihm bei einem Polizeieinsatz in die linke Schulter geschossen worden war, und er dabei schwer verletzt wurde, hatte er sich schweren Herzens entschlossen, in den Ruhestand zu gehen. Da er jedoch seinen Beruf liebte, verbrachte er einen Teil seiner Freizeit damit, Anwärter an der Polizeiakademie von Rennes zu unterrichten. Die Arbeit mit den jungen, engagierten Studenten bereitete ihm viel Freude. Seine Spezialgebiete waren Deeskalationstechniken, Personenschutz bei politischen Großveranstaltungen und die Koordination der Einsätze bei Geiselnahmen. Aus diesem Grund wurde er sowohl in Frankreich als auch in der Europäischen Union auf Fachtagungen eingeladen, um Vorträge zu halten und mit den Teilnehmern zu diskutieren. Momentan arbeitete er an einem Konzept für ein Seminar in Lyon zum Thema »Sprengstoffanschläge auf Flughäfen und andere Großobjekte«, das nächsten Monat stattfinden sollte. Hin und wieder wurde er als Berater bei Ermittlungen hinzugezogen, bei denen die Aufklärung der Verbrechen von großem öffentlichem Interesse war, und die Politik sowie die Medien zunehmenden Druck ausübten. Als vor einiger Zeit ein Bogenschütze an der Loire sein Unwesen getrieben und mehrere Menschen getötet hatte, war er um Mithilfe bei der Aufklärung gebeten worden.

In seiner Freizeit trieb er viel Sport und war aufgrund der kaputten Schulter vom Rudern auf das Rennradfahren umgestiegen. Er mochte es, lange Touren durch das hügelige Marschland und entlang der Küste zu unternehmen. Am liebsten jedoch fuhr er mit seinem Motorboot auf das Meer hinaus, um sich den Wind um die Nase wehen zu lassen, zu angeln und weit draußen die Stille und die Freiheit zu genießen. Wenn seine Verlobte Odette Lust und Zeit hatte, ihn zu begleiten, war er sehr glücklich darüber. Außerdem kochte er gerne und bewunderte die Poesie von Charles Baudelaire.

Lagarde beendete das Manuskript für die Veranstaltung in Lyon, speicherte es und fuhr den Computer herunter. Er war bis auf einige Hintergrundrecherchen fertig und mit dem Ergebnis recht zufrieden. Rasch warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass ihm bis zu seinem Besuch bei Odette nicht mehr viel Zeit blieb. Nach einer heißen Dusche entschied er sich für einen anthrazitgrauen Anzug, ein weißes Hemd, eine weinrot-silber gestreifte Krawatte und schwarze Lederschuhe. Als er sich auf den Weg machte, dämmerte es bereits.

Das Restaurant von Odette, das Mirabelle, lag einige Kilometer landeinwärts nordwestlich von Barfleur. Es war ein weit über den Ort hinaus bekanntes und beliebtes Feinschmeckerrestaurant, das mit einer Kochhaube von Gault Millau ausgezeichnet worden war. Nun strebte Odette mit Leidenschaft und kulinarischer Raffinesse die zweite Haube an.

Als Lagarde auf den Parkplatz des Mirabelle einbog, stand dort nur der Mercedes von Odette. Heute war Ruhetag. Ein gepflasterter Weg, der mit schneeweiß und azurblau leuchtenden Glaskugeln geschmückt war, führte zwischen Blumenbeeten an einem lang gestreckten Gebäude vorbei. Gegenüber befand sich das ockerfarbene Haupthaus, an das sich ein runder Turm mit einer roten Kappe schmiegte. Dort wohnte Odette. Im Haus waren vier von ihr individuell gestaltete Gästezimmer untergebracht. Das Restaurant befand sich in einem runden, aus flachen Granitsteinen geschichteten Bau mit einem kegelförmigen Dach, der früher Schafe beherbergt hatte. Gegenüber, auf der Terrasse, über die der Westwind Kastanienblätter trieb, waren die Möbel bereits weggeräumt worden. Hinter dem Anwesen erstreckte sich ein weitläufiger Apfelgarten.

Lagarde klingelte an der Haustür, und kurz darauf öffnete Odette und strahlte ihn an, wobei ihre großen braunen Augen vor Freude funkelten. Sie trug die langen dunklen Haare offen, so wie er es am liebsten mochte. Die sinnlichen vollen Lippen hatte sie brombeerrot geschminkt. An ihren Ohren glitzerten Brillantstecker, die er ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte. »Bonsoir, Philippe.«

»Bonsoir, ma Chérie.«

Sie umarmten und küssten sich liebevoll auf den Mund. »Du siehst toll aus«, sagte er. Sie trug ein olivgrünes Strickkleid mit einem schwarzen Gürtel, das ihre schlanke, wohl geformte Figur betonte, elegante Stiefel und eine Lederjacke. »Merci bien, mon Cher.«

Zärtlich drückte er sie an sich. Für ihn war sie die schönste begehrenswerteste Frau auf der ganzen Welt, und er war glücklich, mit ihr zusammen zu sein. »Lass uns gehen«, forderte sie ihn auf. »Ich habe schrecklichen Hunger.«

»Wohin gehen wir zum Dîner?«, erkundigte er sich.

»In ein neu eröffnetes Restaurant im Cour Sainte- Catherine in Barfleur. Es heißt Le Phare und soll eine vorzügliche Küche haben.«

Er legte den Arm um sie. »Na, dann los. Ich habe auch großen Hunger.«

Als sie zu seinem Wagen gingen, hängte sie sich bei ihm ein. »Ich habe den ganzen Nachmittag an der Buchhaltung gesessen, grässlich. Jetzt freue ich mich auf einen schönen Abend mit dir.«

Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich freue mich auch.«

Das Restaurant Le Phare befand sich in einem vanillegelben Haus mit lavendelfarbenen Klappfensterläden direkt neben einem fast vollständig erhaltenen Gebäude aus dem Mittelalter, das über eine bogenförmige Durchfahrt, ein massives Eichenportal mit einem Messingklopfer in Form einer Auster und eine mit Ornamenten versehene Außentreppe verfügte. Odette hatte telefonisch reserviert, nun wurden sie von einem Kellner in weißem Hemd, schwarzer Fliege und purpurroter Weste an ihren Tisch geführt, der an einem Fenster stand und festlich eingedeckt war. Von ihrem Platz aus konnten sie auf den kopfsteingepflasterten, von Laternen in sanftes gelbes Licht getauchten Hof blicken. In dieser mittelalterlichen Kulisse würde sich niemand wundern, wenn plötzlich aus dem Nebel eine Pferdekutsche auftauchte, aus der elegante Damen in Reifröcken und distinguierte Herren mit Zylindern ausstiegen.

Der Kellner brachte die Speisekarten und erkundigte sich, ob sie einen Aperitif wünschten. Sie bestellten Pastis und eine Karaffe Eiswasser, dann vertieften sie sich in das Studium der Karte. Schließlich entschieden sich beide für das gleiche Menü:

*

Muschelsuppe mit Weißwein und Schalotten

*

Seezunge an Mandeln und Pistazien

*

Crêpe mit Vanillecreme und Erdbeeren

*

Dazu wählten sie einen Muscadet aus einer Lage in der Nähe von Nantes. Während sie auf die Vorspeise warteten und den Petit Jaune genossen, unterhielten sie sich über das Ambiente des Lokals. Odette interessierte sich immer brennend für die Ausstattung und die Küche der Konkurrenz. »Das ist eine schlichte saubere Bistro-Atmosphäre«, sagte sie.

Lagarde nickte. »Dein Restaurant hat Charakter, eine eigene Note zum Wohlfühlen.«

Sie nickte zufrieden. »Genau, du sagst es.«

»Aber sieh mal, die Kunst an der Wand. Es sind alte Stiche, die das harte Leben der Fischer von Barfleur in früheren Zeiten darstellen. Das ist sehr passend.«

Sie sah sich um. »Ja, es ist hübsch hier. Du hast schon recht.«

Während sie die Suppe aßen, die Odette als beinahe gelungen, aber ein wenig zu salzig einstufte, erkundigte sich ihr Verlobter nach der weiteren Gestaltung des Abends. »Nach dem Dîner besuchen wir eine Lesung?«

»Ja, ich habe Karten für uns zurücklegen lassen.«

»Das ist eine tolle Idee, ich war schon ewig bei keiner Lesung mehr. Wer liest denn?«

Sie lächelte. »Ein ganz berühmter Autor. Er heißt Sébastien Gautier und liest aus seinem zuletzt erschienenen Roman ›Les Adieux‹, Abschied.«

»Worum geht es in dem Buch?«

»Das weiß ich nicht genau, lassen wir uns überraschen. Ich weiß nur, dass er für dieses Werk den Literaturpreis der Bretagne verliehen bekommen hat.«

»Er hat einen Preis bekommen?«

»Ja, eine Auszeichnung.«

»Ich bin beeindruckt.«

Sie probierten den Fisch, der durchaus delikat schmeckte – das musste auch Odette zugeben. »Es fehlt nur ein Hauch Limettensaft«, stellte sie fest. »Vielleicht auch ein wenig fein gehackter Koriander.«

Lagarde grinste. »Das wollte ich auch gerade kritisieren.«

Sie legte den Kopf schief und musterte ihn. »Willst du dich über mich lustig machen?«

»Im Leben nicht, meine Liebste.« Er hob sein Glas, und sie stießen an. »Trinken wir auf unseren schönen gemeinsamen Abend.«

Odette sah ihn nachdenklich an.

»Worüber machst du dir Gedanken?«, wollte er wissen.

»Ich möchte dir etwas erzählen.«

»Ja?«

»Ich kenne Sébastien Gautier von früher.«

»Tatsächlich? So einen berühmten Autor?«

»Ja.«

»Woher kennst du ihn?«

»Ich habe damals als Sous-Chefin im Café de France im angesagten Viertel Montparnasse in Paris gearbeitet. Mein Chef de Cuisine war der berühmte Patrice Burnel, der bereits mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet worden war. Er war ein Kochkünstler, ein Genie in der Küche. Ich als seine rechte Hand habe viel von ihm gelernt und ihn sehr bewundert.«

»Ich kann mich erinnern, dass du manchmal von dieser Zeit erzählt hast.«

»Das stimmt, aber von Sébastien habe ich nichts gesagt.«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Er kam manchmal zum Essen in das Restaurant, so haben wir uns kennengelernt. Denn eine meiner Aufgaben war es, den Gästen die Menüs zu erklären und einen dazu passenden Wein zu empfehlen. Pierre hielt sich lieber in der Küche auf, er war nicht besonders kommunikativ.«

»Ich verstehe.«

»Eines Abends nach Dienstschluss, es war schon beinahe Mitternacht, hat Sébastien vor dem Café de France auf mich gewartet. Er hat mir eine Rose geschenkt und gefragt, ob er mich auf ein Glas Wein einladen dürfe. Ich willigte ein. Er war ein sehr sympathischer gut aussehender Mann, er gefiel mir. Also gingen wir in eine Bar und tranken etwas. Wir haben uns gut unterhalten und viel gelacht. Es war ein toller Abend.«

Lagarde schenkte Wein nach und sah sie interessiert an. »Wie ging es weiter?«

»Als wir uns verabschiedeten, erkundigte er sich, ob ich Lust hätte, an meinem freien Tag einen Spaziergang mit ihm im Jardin du Luxembourg zu machen.«

»Und dann?«

»Nun, wir trafen uns und gingen spazieren. Wir haben uns an den Händen gehalten und uns geküsst. Die Anziehungskraft zwischen uns war gewaltig, wie bei zwei extrem starken Magneten.« Sie schwieg für einen Moment und schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Mit leiser Stimme fuhr sie fort. »Beim Abschied fragte ich ihn, wann wir uns wiedersehen würden. Daraufhin berichtete er, dass er für die nächsten vier Wochen auf Geschäftsreise sei. Danach würde er mich gerne zu Hause besuchen.«

»Wo hast du damals gewohnt?«

»In der Nähe des Friedhofs von Montparnasse.«

Er nickte. »Das Grab von Charles Baudelaire befindet sich dort.« Dann kam er auf ihr Gespräch zurück. »Hat er dich besucht?«

»Oh, ja. Nach vier Wochen, so wie er es angekündigt hatte, stand er vor meiner Wohnungstür. Er war sehr leidenschaftlich und hat mich verführt. Es war wie ein Feuerwerk. An diesem Abend habe ich mich in ihn verliebt.« Sie lächelte wehmütig. Er nahm ihre Hand und streichelte sie. »Was ist?«

Odette trank einen Schluck Wein. »Er kam etwa alle drei, vier Wochen, wir liebten uns, dann verschwand er wieder. Schließlich sprach ich ihn darauf an und sagte ihm, dass ich sehr gerne mehr Zeit mit ihm verbringen möchte. So wie es Paare tun, die eine Beziehung aufbauen wollen. Ich dachte an einen Kinobesuch, eine Vernissage, einen Ausflug mit Picknick am Wochenende, solche Unternehmungen eben. Nichts Besonderes.«

»Wie hat er reagiert?«

»Er stimmte zu.«

»Das wundert mich nicht, bei einer so schönen anziehenden Frau wie dir.«

»Warte ab, Philippe. Er hat sein Versprechen nicht gehalten, wir haben nie etwas zusammen unternommen. Nur die Rendezvous bei mir haben regelmäßig stattgefunden.«

Ihr Verlobter nickte verstehend. »Er wollte eine Affäre, keine Beziehung.«

»Der Gedanke kam mir auch irgendwann. Daraufhin machte ich den Vorschlag, eine gemeinsame Reise zu unternehmen.«

»Lass mich raten, sie hat nicht stattgefunden?«

»Nein. Aber einmal, als er bei mir war, hat er erzählt, dass er mit Freunden einen Segeltörn entlang der korsischen Küste unternommen habe. Das hat mich sehr verletzt.«

»Das kann ich mir vorstellen. War er verheiratet?«

»Er sagte nein.«

»Wie ging es weiter mit euch?«

»Ich habe seinetwegen meine Familie und meinen Freundeskreis vernachlässigt. Immer wenn er sich kurzfristig ankündigte, habe ich Verabredungen abgesagt. Manche guten Freunde haben sich zurückgezogen. Als ich nach etwa einem Jahr an Weihnachten alleine zu Hause saß und mir die Augen ausweinte, habe ich beschlossen, beim nächsten Treffen Schluss zu machen. Das habe ich dann auch getan. Er hat meine Entscheidung widerspruchslos akzeptiert. Das hat richtig wehgetan. Danach hat er sich nicht mehr bei mir gemeldet. Die Amour fou war vorbei.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Wir sind nicht ein einziges Mal zum Dîner ausgegangen. Nicht einmal das.«

»Du hast nie mehr von ihm gehört?«

»Doch, ich habe gehört, dass er geheiratet hat. Ab und zu stand etwas über ihn in der Zeitung. Immer dann, wenn ein neues Buch von ihm erschienen war. Es fanden keine persönlichen Treffen mehr statt. Weißt du, Philippe, für mich war es die große Liebe, für ihn nur ein Verhältnis.«

»Ich dachte immer, ich sei deine große Liebe.«

Sie strahlte ihn an. »Das bist du auch, mein Liebster. Meine zweite große Liebe.«

»Warum hast du nie von ihm erzählt?«

»Es ist schon so lange her, über zwanzig Jahre.«

»Das ist eine traurige Geschichte. Es tut mir sehr leid für dich.«

Sie winkte ab. »Das muss es nicht, es ist Schnee von gestern.«

»Jetzt bin ich aber gespannt auf diesen Schriftsteller.«

»Ich auch.«

Inzwischen waren sie beim Dessert angelangt. Odette fand nichts daran auszusetzen und merkte nur an, dass man die Erdbeeren mit ein paar Blättchen marokkanischer Minze hätte verfeinern können. Während sie den Mokka tranken, warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Wir sollten uns auf den Weg machen.«

Lagarde bat um die Rechnung.

Die Lesung von Sébastien Gautier fand im alten Kino von Barfleur statt, das sich am Place du Général De Gaulle befand. Dort hatte bereits 1987 die Premiere der erotischen Komödie Le Diable rose, Die teuflische Rose, stattgefunden. Viele Literaturliebhaber wollten den Autor hören und standen geduldig an der Kasse an. Als sie an der Reihe waren, bezahlte Lagarde die Karten, und sie betraten den Saal. Die meisten Plätze waren bereits besetzt, und sie setzen sich in die vorletzte Reihe. Odette sah sich um und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. An den unverputzten rauen Wänden waren Kandelaber angebracht, in denen weiße Kerzen steckten, die im ganzen Raum ein gedämpftes weiches Licht verströmten und bizarre Schatten warfen. Die Bühne wurde von zwei steinernen Bögen flankiert und von Lichtspots angestrahlt. In der Mitte auf einem Podium gab es einen Tisch mit einem Mikrofon, einer Flasche Wasser, einem Glas und einer Vase mit einem Strauß bunter Löwenmäulchen sowie einen Stuhl. Der schwere geschlossene Stoffvorhang dahinter glänzte kobaltblau. Linker Hand befand sich die lang gezogene Theke der Bar. Vor der indirekt beleuchteten verspiegelten Fläche reihten sich auf Regalbrettern Spirituosen. Einige Barhocker waren besetzt. Auf einem saß Sébastien Gautier, der Starautor. Odettes Herz schlug schneller, und ihr Atem beschleunigte sich für einige Sekunden, als ihr tausend Bilder dieser Affäre durch den Kopf schossen und dort wild herumwirbelten. Er hatte sich kaum verändert. Lässig saß er auf dem Stuhl, breitbeinig, die Füße auf den Streben. Sein blondes Haar war modisch kurz geschnitten und ein bisschen verstrubbelt. Er trug ein weißes, am Kragen offenes Hemd und eine Jeans. Vor ihm stand ein Glas Rotwein. Er unterhielt sich angeregt mit einer Frau, die auf dem Hocker neben ihm saß und ihn regelrecht anhimmelte. Dann sah sie auf ihre Uhr, legte die Hand auf seine Schulter und sagte etwas zu ihm. Schließlich stand sie auf, stieg über zwei Stufen hinauf auf die Bühne und wandte sich dem Publikum zu. Sie verbeugte sich und stellte sich den Zuhörern als Julie Abel vor. »Ich leite seit vielen Jahren den Literaturkreis von Barfleur, und es ist uns eine große Ehre, den berühmten Autor Sébastien Gautier bei uns im alten Kino begrüßen zu dürfen. Darüber freuen wir uns sehr und sind stolz darauf, dass er es trotz seines vollen Terminkalenders geschafft hat, zu uns zu kommen, um uns sein neues Buch vorzustellen. Ein Buch, das vor einigen Tagen mit dem Literaturpreis der Bretagne ausgezeichnet wurde.« Sie wandte ihren Blick zur Theke und streckte einen Arm einladend aus. »Lieber Sébastien, bitte kommen Sie zu mir auf die Bühne.«

Der Schriftsteller stand auf und ging mit einem Buch in der Hand zu ihr auf das Podest. Dabei erklang tosender Applaus, der nicht enden wollte. Als er neben Madame Abel stand, verbeugte er sich mit einem charmanten Lächeln. »Merci beaucoup, Mesdames et Messieurs! Herzlichen Dank für die Einladung! Ich freue mich sehr, bei Ihnen sein zu dürfen.«

Nachdem die Leiterin des Literaturkreises die Bühne verlassen hatte, setzte er sich an den Tisch, schaltete das Mikro ein und schlug das Buch auf. Dann wandte er sich an das Publikum, das ihn wohlwollend musterte. Einige lächelten ihn erwartungsvoll an. Im Licht der Steinwerfer strahlten seine dunklen Augen in dem attraktiven Gesicht mit dem schön geformten Mund und dem kantigen Kinn.

Als er begann, mit seiner weichen melodischen und ein wenig rauen Stimme zu lesen, hätte man im Saal eine Stecknadel fallen hören können. Die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer lag ganz bei ihm. Auf irgendeine schwer zu beschreibende Weise ging eine Faszination von ihm aus, der man sich kaum entziehen konnte.

Nach seiner Lesung bedankte er sich bei seinen Zuhörern. Langsam, als müsste sich das Publikum aus seinem Bann lösen, setzte verhaltener Beifall ein, der sich steigerte und gar nicht enden wollte. Vereinzelt ertönten anerkennende Pfiffe. Die meisten applaudierten im Stehen. Auch der Künstler erhob sich und verbeugte sich dankend vor dem Publikum. Madame Abel überreichte ihm einen Präsentkorb mit regionalen Spezialitäten als kleine Anerkennung. Sein Lesehonorar hatte er für die Kindertagesstätte von Barfleur gespendet. Eine Fotografin der örtlichen Presse schoss ein Bild nach dem anderen.

»Wie hat dir die Lesung gefallen?«, fragte Odette.

»Eine Urlaubslektüre ist das nicht gerade.«

»Nein, aber es war großartig. Wie er den unermesslichen Schmerz dieser Frau beschrieben hat, war ergreifend.«

Inzwischen hatte der Austausch mit den Zuhörern begonnen. Sébastien Gautier beantwortete alle Fragen geduldig, auch die am häufigsten gestellte, woher er seine Ideen nehme. Allerdings weigerte er sich, zu verraten, ob Liliane diesen Roadtrip überlebte. Anschließend standen die Leute Schlange, um sich ihr Exemplar von »Les Adieux« signieren zu lassen. Als Odette an der Reihe war, sah er sie völlig überrascht an. Ein freudiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Odette, was machst du denn hier? Das ist ja unglaublich!«

»Ich wohne in der Nähe und habe aus der Zeitung von deiner Lesung erfahren. Da bin ich neugierig geworden. Die Geschichte ist wunderbar, sie gefällt mir sehr.«

»Merci bien. Ich bin gleich fertig mit dem Signieren. Wollen wir etwas zusammen trinken? Was hältst du davon?«

»Das ist eine wunderbare Idee. Dort drüben ist ein freier Tisch, treffen wir uns in ein paar Minuten.«

»Einverstanden!«

Als er das letzte Buch signiert und der Fotografin ein kurzes Interview gegeben hatte, kam er an den Tisch, an dem Odette und Lagarde saßen. Sie lud ihn mit einer auffordernden Geste ein, sich zu ihnen zu setzen. Dann stellte sie die Männer einander vor. »Sébastien, das ist mein Verlobter Philippe Lagarde. Philippe, das ist ein alter Freund von mir, Sébastien Gautier.«

Die Männer schüttelten sich die Hände. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Monsieur Gautier«, sagte Lagarde. »Das war eine sehr eindrucksvolle Lesung.«

»Danke, wollen wir uns nicht duzen?«

»Gerne.«

Der Schriftsteller winkte nach der Bedienung, die sofort eifrig heraneilte. »Was trinken wir?«, fragte er. »Ich habe mit Rotwein angefangen.«

»Dann lasst uns ein Glas Rotwein zusammen trinken«, schlug Odette vor und bestellte, als die Männer nickten, einen Bordeaux aus dem Médoc.

Nachdem der Wein und eine Schale mit Pistazien serviert worden waren, stießen sie an. Odette sah Sébastien neugierig an. »Wie kommt es, dass ein so berühmter Autor im kleinen Fischerdorf Barfleur am Ende der Welt liest?«

»Ich wohne hier.«

»Was?«

»Erst seit ein paar Wochen. Ich habe den alten Leuchtturm von Gatteville gekauft.«

»Du warst das«, stellte Lagarde verblüfft fest. »Im Dorf ist viel darüber geredet worden, wer wohl der neue Besitzer sein würde? Aber genau wusste niemand Bescheid.«

»Ja, ich war das. Mein Rechtsanwalt hat in meinem Auftrag ein Angebot abgegeben, und ich habe den Zuschlag bekommen. Der Gemeinderat hatte mit Einwilligung der Denkmalschutzbehörde beschlossen, das maritime Bauwerk zu verkaufen, bevor es irgendwann verfallen würde. Solche Kleinode müssen erhalten bleiben. Das historische Leuchtfeuer war gar nicht so teuer. Es ist stark renovierungsbedürftig, und es steht, wie gesagt, unter Denkmalschutz. Das heißt, es dürfen äußerlich kaum Veränderungen vorgenommen werden. Im Innenbereich schon. Es ist viel Arbeit, und ich bin noch lange nicht fertig. Wisst ihr, die handwerklichen Tätigkeiten sind ein toller Ausgleich zum Schreiben. Dabei schalte ich ab und komme auf neue Ideen. Es wird sehr schön. Ihr müsst mich mal besuchen kommen und es euch anschauen.«

Lagarde prostete ihm zu. »Unbedingt, das interessiert mich sehr. Heute Morgen habe ich von meinem Boot aus die erleuchtete Glaskuppel bemerkt und mich gefragt, was da los ist.«

Sébastien lachte. »Sie wird in Zukunft oft leuchten.«

»Herzlich willkommen in dieser rauen Ecke der Normandie.«

»Danke!«

»Darf ich fragen, was dich bewogen hat, hierher zu ziehen?«, erkundigte sich Odette. »Ich meine, wie findet sich jemand, der in Paris gelebt hat und diesen ganzen Trubel gewohnt ist, hier zurecht?«

»Du darfst mich alles fragen. Ich habe gar nicht so lange in Paris gewohnt. Kurz nachdem wir uns aus den Augen verloren hatten, lernte ich meine zukünftige Frau Sylvie kennen. Sie wollte unbedingt am Meer wohnen, und so verkaufte ich meine Eigentumswohnung in Paris und erwarb ein Haus in Cabourg. Leider war die Ehe nicht besonders glücklich. Sylvie verliebte sich nach drei Jahren in einen norwegischen Touristen und zog zu ihm nach Oslo. Unser gemeinsamer Sohn David blieb bei mir. Meine Frau wollte für ihre neue Liebe frei sein.«

»Das tut mir leid«, sagte Odette und versuchte einfühlsam das Thema zu wechseln. »Du hast die Trauer deiner Romanfigur Liliane so authentisch beschrieben, wie hast du das nur hinbekommen?«

Ein Schatten huschte über sein Gesicht, die Augen verdunkelten sich. Odette erschrak. »Habe ich etwas Falsches gesagt? Entschuldige bitte!«

Er legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Es ist schon gut! Du weißt es nicht, Odette. Der Roman ist deshalb so authentisch und überzeugend, weil es meine Geschichte ist, die ich geschrieben und verschlüsselt habe.«

»Das verstehe ich nicht.«

Er lächelte sie an. »Das kannst du auch nicht. Ich erzähle euch, was passiert ist. Mein Sohn David ist vor einem Jahr ertrunken. Er hat mit seinen Freunden in einer einsamen Bucht in der Nähe von Cabourg eine Party anlässlich seines achtzehnten Geburtstages gefeiert. Irgendwann in der Nacht war er verschwunden. Alle suchten ihn, seine Freunde, ich, die Polizei und die Seenotrettung. In dieser Nacht haben wir ihn nicht gefunden. Zwei Tage lang habe ich gehofft, dass er betrunken irgendwo seinen Rausch ausschläft und dann wieder nach Hause kommt, bis ihn ein Fischer auf einer Sandbank fand. Deshalb habe ich mein Haus in Cabourg verkauft. Ohne David konnte ich es nicht mehr ertragen, dort zu leben. Die Erinnerungen an ihn hätten mich zerstört.«

»Es tut mir so leid für dich«, flüsterte sie. »Niemand sollte sein Kind verlieren.«

Lagarde nickte. »Was für ein entsetzlicher Schicksalsschlag.«