Der Kurator Band 1 - Arno Wulf - E-Book

Der Kurator Band 1 E-Book

Arno Wulf

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Beschreibung

Beirut in nicht allzu ferner Zukunft. Unter dem Eindruck einer sich zuspitzenden politischen Krise, durch die der Libanon vernichtet zu werden droht, lernen sich zwei Studenten an der American University of Beirut kennen. Im Laufe der Zeit entdeckt der Libanese Mouad, dass sein neuer Kommilitone Ahmad in jeder Hinsicht über bemerkenswerte Fähigkeiten verfügt, die deutlich über diejenigen eines gewöhnlichen Menschen hinausgehen. So gelingt es seinem Freund, Mouad mehrmals in brenzlichen Situationen zur Seite zu stehen. Während sich beide näher kommen, mehren sich die Hinweise auf einen möglicherweise unmittelbar bevorstehenden atomaren Schlagabtausch zwischen den Großmächten Terras. Schließlich spitzt sich die innenpolitische Lage in der Levante dermaßen zu, dass Mouad und seiner Familie nur noch die Flucht in den vermeintlich sicheren Norden des Libanons bleibt. Doch der Libanese wird während der ersten Kriegshandlungen von seinen Eltern getrennt. Da der Rückweg versperrt ist, bleibt ihm nur noch die Flucht zu seinem Geliebten, den er in dessen Beiruter Wohnung vermutet. Gezeichnet von den apokalyptischen Erlebnissen während seiner Odyssee trifft er dort tatsächlich auf Ahmad. Wird Ahmad es zulassen, mit seinem Freund aus dem kriegsversehrten Libanon zu fliehen? Gelingt es seinem libanesischen Freund überhaupt, hinter Ahmads geheimnisumwitterte Maskerade zu blicken? Hat ihre Beziehung somit überhaupt eine Zukunft?

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Der Kurator

von

Arno Wulf

Band 1: Sol III

Der Kurator

Band 1: Sol III

Copyright: ©2014 Arno Wulf

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-9254-1

Image - Galaxy NGC 5263 (M83) - Front Cover: Copyright©Australian Astronomical Observatory/David Malin

Inhaltsverzeichnis

PrologCoup d′´Etat1 Sol IIIBeirutDie Amerikanische Universität in BeirutErster KontaktKennen lernenSpannungenDer AnschlagStudentenbudeErstsemesterbegrüßungNach dem AttentatAm StrandQornet es-SaoudaDas geheime TreffenLebenMouads ElternSemesterendeEin gemütlicher AbendDer Schatten des IslamPrivate EinblickeDer TraumDer GartenAhmad und MouadÜberlebender des AtomkriegsPolitikDie letzte Nacht

Prolog

Prolog

Coup d′État

Glühende Hitze - fast 343 Kelvin. Zwei Sonnen tauchen die Landschaft in ein surreales, orangerotes Dämmerlicht. Eine von ihnen wird bald das Stadium eines Roten Riesen erreichen. Der Zivilisation bleiben nur noch wenige Jahrzehnte. Werarga steht mit ihren Soldaten auf dem Scheitelpunkt einer etwa 100 Meter hohen Dünenreihe, die sich - scheinbar endlos - von Horizont zu Horizont zieht. Sie befehligt eine Quincenta - 500 der besten Kämpfer der imperialen Streitkräfte. Ihr Blick wandert über die regelmäßige Anordnung der imposanten Sicheldünen: Dutzende weitere Quincentas haben sich hinter ihnen in Angriffsposition formiert.

Kurz vor Einbruch der Dämmerung hatte man die flüchtenden Sklaven zum letzten Male gesehen - zwei Dünenketten entfernt in Richtung Norden. Es sind so viele, dass der Staat der Narenna ausblutet, wenn man die Arbeitskräfte einfach so ziehen lassen würde. Deshalb hatte der Imperator schon vor Wochen ihre Verfolgung befohlen. Fußspuren zeigten dem kaiserlichen Heer, welcher Weg einzuschlagen wäre. Es bleiben nur noch sechs Stunden bis zum Einbruch der Nacht. Der Herrscher treibt die Truppen zu immer größerer Eile an. Es ist aber schwierig, eine Schlachtordnung aufzustellen, weil das sandige Gelände dafür denkbar ungeeignet ist. Schon seit geraumer Zeit quälen sich die Soldaten die steil aufragenden Hänge hoch und stürzen die abschüssigen, fast senkrechten Luvseiten häufig unter Lebensgefahr hinab.

Werarga bemerkt seit einigen Minuten westlich ihrer jetzigen Position einen Schatten am Horizont, der erst langsam, dann immer schneller emporwächst. Sie erkennt eine bräunliche Wand, deren vorquellende, undurchsichtige Ausstülpungen alles unter sich zu verschlingen drohen. Angst steht den Kriegern ins Gesicht geschrieben. Der Wind nimmt zu. Dann - leises Zischen, als die ersten Böen Sandteppiche aufwirbeln, die Werarga bis zu ihren Knien reichen. Sie blickt hinüber zur kaiserlichen Garde, die vom Imperator selbst befehligt wird. Ihre gold- und silberbeschlagenen Rüstungen funkeln im letzten Licht der zwei Sonnen.

Der Kaiser achtet nicht auf die Warnzeichen des aufziehenden Coriolisorkans. Er ist ein unbarmherziger Feldherr und befiehlt einen Sturmangriff. Seine Vasallen hetzen die Hänge hinunter und den gegenüberliegenden Steilanstieg hinauf. Erste Truppenteile erreichen den schmalen Sandgrat.

Von hier erblicken sie ihre Opfer - es sind Hunderte von Menschen - ehemalige Sklaven. Werarga wundert sich. ,Wozu dieser enorme militärische Aufwand für die wenigen Flüchtlinge? Wo sind denn die Millionen Sklaven, deretwegen die gesamte kaiserliche Militärmaschinerie in Bewegung gesetzt worden war?’ Werarga wartet auf das ihr geltende Signal zur Attacke. Der Wind hat inzwischen Sturmstärke erreicht. Aufgewirbelte Staub- und Sandmassen des hereinbrechenden Böenkragens behindern immer stärker die Sicht. Ein Hagel von scharfkantigen Körnchen bombardiert die Angreifer - verklebt Nase, Mund und Augen.

Ohne noch weiter zu zögern gibt Werarga den Angriffsbefehl. Die Soldaten stürmen den Abhang hinab - und werden von den nachrutschenden losen Sandmassen beinahe begraben. Der wütende Sturm hat inzwischen volle Orkanstärke erreicht. Die Kraft des Windes ist so stark, dass Schilde und Speere, schließlich sogar die Kleidung, fortgerissen werden. Werarga sieht nichts mehr. Verzweifelt hält sie sich ein Stück Uniformstoff vor Mund und Nase. Die Kriegerin kann kaum noch atmen, glaubt zu ersticken. Sie verliert das Bewusstsein.

Völlige Dunkelheit. Werarga versucht, ihre Augen zu öffnen. Es gelingt ihr nicht. Kein Muskel scheint ihrem Willen zu gehorchen. „Wie ist die Gesamtsituation der Narenna?” Eine warme, sympathische Männerstimme. Jedoch nicht ohne Autorität. „Sire, das war sehr knapp” - eine Frauenstimme. Saubere Intonation, absolut präzise in ihrer Wortwahl, klare Beschreibung der Lage. „Wenige Minuten länger für die Rettungsmission, und wir hätten nur noch Skelette bergen können.” „Wie viele Menschen sind es?” „Insgesamt 18,257 Millionen.” ,Eine Wissenschaftlerin’, schießt es Werarga durch den Kopf. „Damit dürfte das Imperium der Narenna am Ende sein.” Die unbekannte Gesprächspartnerin antwortet nicht. Werarga stellt sich vor, dass sie Zustimmung signalisiert. „Somit konnte diese Sklavengesellschaft vollkommen unblutig beseitigt werden”, stellt erneut die sympathische Stimme - vielleicht die eines Kommandanten - zufrieden fest. „Das war eine Meisterleistung. Aber wie geht es jetzt weiter, Sire?” „Die Einwohner werden in einer allmählichen evolutionären Herangehensweise auf die neue technologische Hochkultur der Borennon vorbereitet. Ziel ist es, diesen Planeten in wenigen Jahren auf absolut friedlichem Wege mit der anderen Rasse zu vereinigen. Und sie müssen sich einem Kontakt mit einer vollkommen fremdartigen Kultur stellen. Auf diesen Staat wartet zudem eine noch viel größere Herausforderung - die gewaltfreie Erforschung des Weltraums. Die ersten Schiffe haben sensationelle Entdeckungen gemacht - sie sind auf weitere völlig friedfertige Hochkulturen gestoßen.” „Nessral, jetzt begreife ich endlich auch, warum in wenigen Wochen so aufwändige Staatsfeiern stattfinden werden”, sagt die Frauenstimme. Ihre Freude ist unüberhörbar.

Teil 1

Sol III

Beirut

Die Amerikanische Universität in Beirut

„Der nächste bitte.” Die Frauenstimme klang etwas überfordert. So viele Studenten wie heute hatten sich noch nie ins Erstsemester eingeschrieben. Aber dieser Ansturm hätte sie auch gleichzeitig beruhigen müssen: Es war nämlich der erste deutliche Beleg einer allmählichen Normalisierung der Lebensumstände im Libanon. Denn nachdem die Amerikanische Universität in Beirut bei mehreren Bombenangriffen der israelischen Luftwaffe vor nunmehr fünf Jahren beinahe völlig zerstört worden war, sich der nachfolgende Wiederaufbau über fast viereinhalb Jahre hinzog und die Wunden des letzten Waffenganges zwischen der Hisbollah und dem Judenstaat an der Universität mühsam verheilt waren, begann sich jetzt endlich auch der Lehrbetrieb zu normalisieren. In Anbetracht dieses gar nicht so lange zurückliegenden, verheerenden Ereignisses betrachteten viele Libanesen, die es sich finanziell leisten konnten, ihre studierwilligen Sprösslinge an diesen Ort des unpolitischen Know-hows zu schicken, den Wiederaufbau als Zeichen der Normalisierung der gesellschaftlichen Lage. Viele gebildete, aufgeklärte Menschen hatten auch angesichts des zurückliegenden Chaos von Religion und Politik erst einmal die Nase voll, so dass zum Beispiel die MINT-Fächer äußerst beliebt waren. Diese Universität verfügte zudem auch über die Grenzen der Levante hinaus einen so hervorragenden Ruf, dass sogar aus den anderen Teilen der arabischen Welt wissbegierige, junge Menschen hierher strömten: Denn hier war es noch, in einer der wenigen verbliebenen unpolitischen Einrichtungen, möglich, ,reine’ Wissenschaften zu studieren, ohne politischer oder religiöser Indoktrination der zahllosen Fraktionen ausgesetzt zu sein, die um Macht und Einfluss seit jeher im Zedernstaat stritten.

Ahmad Johar nahm sich - trotz der Hektik um ihn herum - die Zeit, das Innere des Gebäudes, das er soeben betreten hatte, näher in Augenschein zu nehmen. Er stand vor einem langen, das ganze lichtdurchflutete Erdgeschoss teilenden, aus hellem Zedernholz gebauten Tresen, der die sich neu Einschreibenden vom Personal der Universitätsverwaltung trennte. Der ringsherum verglaste, über acht Meter hohe Raum, eröffnete einen prächtigen Ausblick auf die mediterrane Flora: Blühende Mandel-, Kirsch- und Orangenbäume sowie Oleander- und Hibiskussträucher, die um das Zentralgebäude herum neu angepflanzt worden waren. Zudem strukturierten, ordentlich und symmetrisch wie die Soldaten einer Kompanie aufgestellt, drei Reihen von zum Teil meterhohen Säulenkakteen den Raum: Die niedrigeren Exemplare befanden sich auf den beiden ausgedehnten, in der Längsrichtung des Raumes verlaufenden, durchgehenden Fensterbänken und die anderen auf dem Boden entlang des hölzernen Raumteilers, wobei die Abstände zwischen den bis zu vier Meter hoch aufragenden Pflanzen so gewählt waren, dass die Universitätsangestellten nicht Gefahr liefen, von den Dornen, Haken und Dolchen verletzt zu werden. Viele junge Erstsemester, die sich hier anmeldeten, drängten sich an diesem sonnigen Morgen im Einschreibungsbüro. Ahmad traf auf aufgeschlossene, hellwache Gesichter. Sie kamen aus allen Regionen des Landes und den angrenzenden Regionen des Nahen- und Mittleren Ostens. Die meisten der Bewerber an der Hochschule waren westlich gestylt; einige jedoch zogen es vor, sich nach den Traditionen ihrer jeweiligen Heimatländer zu kleiden. Es herrschte ein babylonisches Sprachgewirr. Alle möglichen arabischen Dialekte konnte Ahmad unterscheiden, daneben aber auch Englisch und Französisch, selbst Farsi sowie Indonesisch identifizierte er nach einiger Zeit durch aufmerksames Zuhören.

„Bitte.” Die Stimme wurde durchdringender. Ahmad richtete seinen Blick auf die Mitarbeiterin vor ihm. Eine Mittvierzigerin mit schwarzem Haar, blaugrünen Augen - was auf europäische Vorfahren schließen ließ - und einer ziemlich breiten Nase. Ihre Mundwinkel waren etwas nach unten gezogen und mit zartrotem Lippenstift zusätzlich betont. Das dezent geschminkte, leicht gebräunte Gesicht, machte einen energischen Eindruck wie jemand, der sich durchzusetzen wusste. Die Dame trug zudem ein elegantes, zweiteiliges, dunkelblaues Hosenkostüm, welches ihr zusätzliche Autorität verlieh. „Entschuldigung”, murmelte er in fast akzentfreiem Englisch. Es wurde nachdrücklich darauf Wert gelegt, dass alle Studenten schon bei ihrer Bewerbung mit dieser Sprache vertraut waren, da sämtliche Veranstaltungen in diesem Hause ausschließlich in dieser Kommunikationsform geführt wurden. Ahmad übergab der Frau den Anmeldebogen, seinen Pass, Lichtbilder, das Abschlusszeugnis und einen handgeschriebenen Lebenslauf. Sie prüfte die Dokumente sorgfältig, ergänzte einige Angaben auf dem Formular und verglich sie mit den Daten der Aufnahmeprüfung, die in ihrem Computer gespeichert waren. „In Ordnung, Ahmad. Sie haben die Zulassungsprüfung mit ,gut’ abgelegt. Damit können Sie sich für die Fächer Geologie und Journalistik einschreiben. Es fehlt nur noch der Nachweis, dass Sie in geordneten finanziellen Verhältnissen leben.” Ahmad legte ihr einen Auszug seines Kontos vor, das eine für das Studium ausreichende Deckungssumme aufwies. Gleichzeitig übergab er die für die Immatrikulation erforderliche Gebühr. Er zahlte in Gold, und zwar gleich den Betrag für die nächsten beiden Semester. Sie stutzte: „Wieso alles in dieser Währung? Nicht, dass wir diese Devisen nicht akzeptieren würden, aber normalerweise wird in diesem Land in US-Dollar abgerechnet. Mit Gold hat in diesem Einschreibungsbüro bisher noch niemand bezahlt.” „Nun, meine Eltern und ich haben überlegt, wie mein Studium langfristig gesichert werden könnte. Da aber das Libanesische Pfund und der US-Dollar in der Vergangenheit zeitweise erheblichen Inflationsgefahren und dem damit verbundenen Wertverlust ausgesetzt waren, fiel die Wahl auf diese in den letzten Jahren doch sehr stabile Währung.” „Eine hervorragende, vorausplanende Entscheidung. Ich hoffe, sie zahlt sich für Sie auch durch einem guten Abschluss aus.” Mit diesen Worten stempelte die Angestellte einen Sperrvermerk in das Anmeldeformular. „Ich erinnere Sie daran, dass wir für die nächsten fünf Jahre diese Summe” - sie deutete mit einem Stift auf den zutreffenden Passus in den Einschreibeunterlagen - „auf dem Konto Ihrer Verfügung entziehen, die Sie nur mit einer entsprechenden Bescheinigung von uns bei Ihrer Bank abheben können, um sie bei der Universitätskasse in zweisemestrigen Abständen einzuzahlen. Für das kommende Studienjahr haben Sie ja schon den notwendigen Betrag bereitgestellt.” Sie reichte ihm ein entsprechendes Formular, worin die Studienbedingungen noch einmal aufgelistet waren. „Bitte links unten unterschreiben und das Dokument mit dem heutigen Datum versehen.” Ahmad überflog den Text, dessen Inhalt ihm bereits geläufig war, und setzte seine Unterschrift an die dafür vorgesehene Stelle. Er reichte ihr das Blatt zurück. „In Ordnung. Denken Sie bitte auch daran, dass zu Semesterbeginn die offizielle Begrüßung der neu eingeschriebenen Studenten durch den Rektor der Universität und die Professoren stattfindet.” Sie übergab ihm noch zusätzliches Informationsmaterial über den Studienverlauf und reichte ihm zum Abschied die Hand. „Viel Erfolg bei Ihrer Ausbildung.” „Danke”, entgegnete Ahmad und wandte sich um. „Der nächste bitte”, ertönte eine nun schon vertraute Stimme hinter ihm.

Ahmad schob sich durch die wartende Menge zurück zum Ausgang. Dabei traf sein Blick auf ein dunkelhäutiges, sehr ebenmäßiges, etwas längliches, wohlproportioniertes und fast schon weiches Gesicht eines attraktiven, jungen Mannes mit dunklen, fast schwarzen Augen. Fast identisch zur Augenfarbe präsentierte sich trotz Rasur sein kräftiger, dichter und intensiv schimmernder Bartwuchs an Kinn, Wangen und um seine Lippen. Die Mundwinkel waren ein wenig nach oben gebogen, was seine insgesamt lebensbejahende Ausstrahlung noch unterstrich. Er unterhielt sich mit einer jungen Frau rechts neben ihm. Der junge, schätzungsweise 20 Jahre alte, angehende Student, schien ein lebhaftes, fröhliches Wesen zu haben. Als Ahmad sich ihm näherte, schien er sich über irgend etwas köstlich zu amüsieren und lachte. Er war hochgewachsen, bestimmt 1,85 Meter groß, schlank und machte einen sportlichen Eindruck. Dazu trug er einen hellblauen Jeansanzug, wobei die hautenge, seine Körperproportionen betonende Jeanshose Ahmad besonders faszinierte. Zudem war er mit einem blaukarierten Hemd bekleidet, das ihm besonders gut stand und seine fröhliche Art unterstrich. Ahmads Gegenüber erwiderte kurz seinen Blick und sah ihm dabei tief in die Augen. Dabei schien er leicht in seine Richtung zu nicken, bevor er den Blick von ihm abwandte.

Erster Kontakt

Ahmad schlenderte über den neu gestalteten Campus. Er betrachtete die im rötlichen Morgenlicht schimmernden Fassaden der vor wenigen Monaten fertig gestellten Gebäude aus Chrom, Aluminium und Glas. ,Wieso verwenden die Architekten keine Solarzellen oder andere intelligente Baumaterialien, um eine bessere Energieeffizienz zu erzielen?’, dachte er. ,Das alles hier ist doch nur wieder lediglich auf ein protziges Äußeres ausgelegt. So, wie um zu zeigen: Wir sind im Libanon wieder wer, wir können uns alles leisten.’ Ahmad setzte sich auf eine Bank, die Entwürfen aus dem viktorianischen England des späten 19. Jahrhunderts nachempfunden war. Auf ihrer gusseisernen Rückenlehne und Sitzfläche quollen florale Elemente üppig empor die - dank ihres weißen Anstriches - grell in der Sonne leuchteten. Er ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Die Universität lag auf einer Anhöhe über Beirut, das von zwei Seiten vom Mittelmeer umgeben war. Hinter ihm hörte er in der Ferne das Geräusch der startenden und landenden Maschinen auf dem Flughafengelände. Der Lärm des morgendlichen Autoverkehrs in der libanesischen Hauptstadt und das Stimmengewirr der Passanten und Pendler drang zu ihm herauf. Rechts, mehr als fünf Kilometer Luftlinie von seinem Standort entfernt, hinter der Skyline der Innenstadt, stiegen die auf ihrer Oberseite sanft abgerundeten Hügel oberhalb der Küstenstraße unvermittelt aus dem azurblauen Meer auf, mit einem gelblich - rötlichen Schimmer der blühenden Zitronen - und Orangenbäume überzogen. Ganz in der Ferne war das strahlend weiße Libanongebirge deutlich zu sehen. Seine bis zu drei Kilometer hohen, zugleich seltsam abgerundeten Wände und Grate, die auf halber Höhe in sanftere Hänge übergingen, wurden immer noch vom Winter beherrscht. Ein warmer Südwind aus dem Sinai ließ die zartrosa blühenden Zweige eines Mandelbaumes über ihm langsam hin und her schwanken. Er untersuchte die beiden Studienverlaufspläne genauer. Was ihn am meisten interessierte, waren die Exkursionen, die in beiden Fächern schon ab dem ersten Semester angeboten wurden. Schon deshalb war er sich sicher, einen guten Überblick über dieses Land, seine Bewohner und hoffentlich auch über das politische Tagesgeschäft zu erlangen. Besonders begrüßte er die Aussicht auf kleine Studiengruppen, die, so hoffte er, individuell betreut würden. Und die daher die Assistenten des Lehrstuhlinhabers in die Lage versetzen sollten, flexibel auf die Wünsche der Teilnehmer einzugehen. So manchen der aktuellen politischen Brennpunkte dieser Region könnte er dann detailliert und damit inkognito erkunden.

Nach der flüchtigen Begegnung mit dem sympathischen jungen Mann, die nur wenige Minuten zurücklag, begann er zu ahnen, dass es trotz aller im Vorfeld seines Studiums angestellten, zum Teil minutiös ausgearbeiteten Überlegungen viele unbekannte Herausforderungen geben würde, die ihn daran hinderten, rasch zu guten Ergebnissen seiner Mission zu kommen. Seine eigene analytische Nüchternheit und präzise Beobachtungsgabe komplexer Zusammenhänge, die er sich jahrelang antrainiert hatte, prädestinierten ihn zwar für eine genaue und zugleich distanzierte Beobachtung der politischen Situation der Levante. Aber er musste vor sich selbst eingestehen: Die größte Unbekannte waren seine menschlichen Schwächen. Ahmad war sich nämlich nach den Erfahrungen, die er im Verlaufe seiner zurückliegenden Missionen gesammelt hatte, inzwischen absolut sicher, dass noch so manche gefühlsmäßige Aufwallung seine Objektivität beeinträchtigen würde. Zwar besaß er ein ungeheures Maß an Selbstdisziplin, die es ihm ermöglichte, eigene Schwächen und Gefühlsregungen zu überspielen. Aber wie stark war diese Maskerade wirklich? Wie lange konnte er seinen inneren Gefühlen widerstehen, wenn er die Bewohner dieses Landes näher kennenlernen würde? Denn eine sorgfältige Analyse dieser Region der Erde war eben nicht nur auf die rein rationale Seite beschränkt. Mit Menschen in Kontakt zu treten verlangte von ihm viel mehr: Einfühlungsvermögen, Mitmenschlichkeit, Wärme - und somit Verhaltensweisen, die seine Objektivität behindern oder sogar vollends zunichte machen würden. Er verspürte einen leichten Schauder bei diesen Gedanken. Dank intensiver Vorarbeiten hatte er von Dritten viel über libanesische Höflichkeit gelernt; und diese Formalien und Floskeln erschienen ihm wie ein rettender Anker. Sie waren für ihn Anlass genug, zu intensiven Kontakten in Zukunft aus dem Weg zu gehen. Aber seine Feuerprobe hatte dieser Verhaltenskodex, der zugleich die Grundlage für den Informationsaustausch bildete, ja noch zu bestehen; wie gut sie die vor ihm liegende Aufgabe tatsächlich vereinfachen würde, lag zu diesem Zeitpunkt noch völlig im Ungewissen. Aber wenn er wirklich menschliche Nähe erfahren würde... Er hoffte, dass er niemals in die Versuchung käme, Gefühle zeigen zu müssen.

Seine Gedankengänge wurden jäh unterbrochen, als plötzlich ein Schatten auf ihn fiel. Er blickte überrascht auf und erkannte den jungen Studenten, der ihm vorhin im Einschreibungsbüro aufgefallen war. Ahmad machte eine nervöse, zugleich jedoch einladende Handbewegung. Er wies auf den freien Platz auf der Bank neben sich. „Setz dich neben mich, wenn du magst. Ich heiße Ahmad Johar”, sagte er freundlich, aber mit etwas Verunsicherung in der Stimme, und reichte ihm die Hand. Sein Gegenüber ergriff sie sofort und lächelte dabei. Ahmad war völlig perplex, denn dieser rasche Kontakt mit einem Einheimischen kam für ihn völlig unerwartet. Libanesen sind üblicherweise gegenüber Fremden sehr zurückhaltend, trotz aller in der Öffentlichkeit zur Schau gestellten arabischen Freundlichkeit. „Mouad Bribire.” Er schien Ahmads Verunsicherung nicht wahr zu nehmen, zumindest ließ er sich nichts anmerken. Dennoch musterte er Ahmad genau: Dessen dunkelblondes, kurz geschnittenes Haar verlieh ihm eine jugendliche Ausstrahlung, die durch den drahtigen, durchtrainierten Körper noch betont wurde. Seine bronzefarbene Haut, möglicherweise ein Ergebnis einer ganzen Reihe von Vorfahren aus den verschiedensten Regionen dieses Planeten, gab ihm die Ähnlichkeit mit einem arabischen Athleten, der aus einer Phantasieerzählung aus Tausendundeiner Nacht entsprungen sein könnte. Die dunkelbraunen Augen schauten sein Gegenüber durchdringend an. Dieser Eindruck wurde noch durch die scharfgeschnittene Nase und einen energischen Mund unterstrichen. Ein kurz geschnittener, dunkelblonder Bart umrahmte seine Gesichtszüge. Jedoch kontrastierte dieser längst nicht so stark mit seiner Haut wie derjenige von Mouad. Ahmad schien zudem eine Vorliebe für Outdoorbekleidung zu haben: Er trug eine olivfarbene Hose mit mehreren, durch Druckknöpfe verschließbaren Außentaschen sowie ein sandfarbenes Hemd, das zwei große Brusttaschen hatte und ausgezeichnet zur Hose passte. Mouad setzte sich neben ihn. „Was willst du denn studieren?”, begann dieser zwanglos. „Geologie und Journalistik”, entgegnete Ahmad, wobei er darauf achtete, möglichst distanziert und desinteressiert zu wirken. „Ich auch”, antwortete der junge Libanese freundlich. Ahmad erwiderte zunächst nichts. Er begann sich in seiner Haut unwohl zu fühlen. Wieso interessiert sich dieser Mann eigentlich für so etwas Belangloses? Er ordnete dieses Frage- und Antwortspiel in die Rubrik ,Annäherungsversuche von Terranern’ ein. So etwas musste unbedingt verhindert werden, jedoch nicht mit brüskem Verhalten. „Das ist aber ein doch recht großer Zufall”, begann er schließlich abwägend in sachlichem Tonfall. Er wollte so neutral wie möglich auftreten. Aber sein Gegenüber schien seine verhaltene, abweisende Art nicht als solche zu interpretieren. „Du hast mich schon durchschaut”, meinte Mouad, wobei er ihn schelmisch von der Seite anlächelte. Ahmad versuchte, die Distanz weiter aufrecht zu erhalten. Aber es gelang ihm einfach nicht. Denn sein Gegenüber schien gelöst und entspannt zu sein. „Ich wusste es nicht genau”, fuhr er halb amüsiert fort, „habe aber gehört, was die Sachbearbeiterin dir bei der Einschreibung erläutert hatte. Da habe ich die Fächer mal eben nachgetragen.” „Aber du warst doch verpflichtet, so eine weitreichende Studierentscheidung schon weit vor dem Aufnahmetest sorgfältig zu planen.” „Nicht aber, wenn du den mit ,sehr gut’ bestanden hast.” „Na schön, du Superhirn”, meinte Ahmad etwas spitz, „jetzt erläutere mir doch mal bitte die wahren Gründe, warum du dieselbe Fächerkombination wie ich belegst.”

Mouad war durch diese Reaktion auf einmal etwas kurz ab: „Mein Vater hat bei mir das Interesse für Geologie geweckt.” Mehr war allerdings nicht aus ihm herauszubekommen - und auch nicht, warum er sich für Journalistik interessierte. Beide schwiegen einige Minuten, wobei Mouad - offensichtlich aus Nervosität - seine Finger knetete. Ahmad meinte schließlich, da er nicht so recht wusste, wie er mit dieser Situation umgehen sollte: „Was hältst du davon, wenn wir uns zusammen mal die Fakultäten anschauen? Wobei sich laut Plan ja beide Fachbereiche im selben Gebäude befinden.” Nach kurzem Zögern ergänzte er: „Wir könnten ja dann anschließend in die Innenstadt gehen und noch eine Kleinigkeit essen oder trinken.” „Einverstanden”, kam es knapp zurück.

Sie wanderten durch das parkähnliche Gelände und beobachteten einige Arbeiter, die noch letzte Stauden und Sträucher in die frisch aufgeworfene Erde pflanzten. Am Ende des Weges, dessen Belag aus leeren Muschelschalen aufgebaut war, die in großen Mengen bei der Filterung des Sandes unterhalb des Corniches anfielen, erkannten sie den neuen rundlichen Aluminium-Glasturm, den sie schon auf dem Lageplan in der Verwaltung gesehen hatten. Sie erreichten den Eingangsbereich. Eine von außen vergoldete automatische Schiebetür öffnete sich vor ihnen. ,Was für ein aufwendiger Luxus für ein Land, dessen politische Stabilität immer noch mit dem Schicksal von Millionen Flüchtlingen insbesondere aus Syrien und dem Irak verknüpft ist’, dachte Ahmad. Gedämpftes Licht fiel von oben durch eine Glaskuppel in den zylinderförmigen Zentralschacht in der Mitte des Gebäudes. Grünpflanzen und Ranken hingen über die Geländer der verschiedenen Etagen. Die Luft war angenehm feucht und kühl. Neben dem Liftzugang lasen sie: ,Studieninformation Geologie: 2. Etage.’ Sie wählten den Weg über die Treppe. Dabei hatten sie links einen herrlichen Blick auf die zum Teil schon in voller Blüte stehenden Hängegeranien, die für zusätzliche, freundliche Farbtupfer im gesamten Gebäude sorgten. Schließlich erreichten sie einen Rundlauf im zweiten Geschoss. Von diesem führten die Räume radial nach außen. Eine große Wandtafel veranschaulichte die Theorie der Kontinentalplattenwanderung Alfred Wegeners. „Dies scheint hier richtig zu sein”, bemerkte Mouad sachlich. Vor einer Glastür hielten sie einen Moment inne. ,Geologisches Institut, Professor Dr. Mansouri, Lehrstuhl für Mineralogie, Geologie und Tektonik’, war auf einem Schild neben der Tür zu lesen. Sie klopften und wurden durch ein freundliches „Herein” aufgefordert, einzutreten. „Guten Tag”, wurden sie von einer älteren, etwas rundlichen Dame begrüßt. Sie trug eine dicke Nickelbrille auf ihrer fleischigen Nase. Ihr Gesicht war ein wenig aufgequollen. Bräunliche Schminke und ein knallroter Lippenstift waren etwas zu intensiv aufgetragen. Ein schwerer Parfümgeruch erfüllte den Raum. „Was kann ich für Sie tun?” „Wir haben uns für die Studiengänge Geologie und Journalistik entschieden und uns vor ’ner halben Stunde eingeschrieben. Da wir in unserem Studium zügig vorankommen wollen, möchten wir uns schon einmal vor Beginn der Lehrveranstaltungen informieren, wie wir uns vorbereiten können”, erklärte Mouad. Die Frau schmunzelte: „Na, dann sind Sie ja die ersten Bewerber in diesem Semester, die bei mir vorstellig werden. Ein besonders großes Interesse scheint die Geologie ja bei den Studenten nicht zu haben. Ich schau mal, ob der Professor Zeit für Sie hat.”

Sie hatte dies kaum ausgesprochen, da wurde plötzlich die Tür zum Nachbarbüro aufgestoßen. Ein aus dunkelbraunen Augen streng blickender, hochgewachsener Mann mit Schnäuzer und gestutztem Kinnbart trat auf sie zu, vorschriftsmäßig in einen dunkelblauen Zweireiher, graue Flanellhose, weißes Hemd und weinrote Krawatte gekleidet. „Aha”, meinte er knapp, wobei seine etwas piepsige Fistelstimme so gar nicht zum selbstbewussten Auftreten dieses Mannes passte. „Seit langer Zeit mal wieder Studenten, die schon vorab mit ihrem Dozenten in Kontakt treten wollen. Ich bin Professor Mansouri”, stellte er sich vor, „und Sie sind... ?” „Mouad Bribire. Und dies hier ist Ahmad Johar.” Sie schüttelten einander die Hände. „Nun, Neugierde sollte man nicht unbefriedigt lassen. Ich zeige Ihnen die wichtigsten Einrichtungen dieses Instituts. Bitte folgen Sie mir.”

Sie verließen das Vorzimmer, betraten den Rundlauf und bogen diesmal aber nach rechts ab. Der Professor öffnete eine Tür, hinter der sich ein weiterer, lichtdurchfluteter Raum befand. Sie begaben sich in einen etwa zwei Meter breiten Mittelgang, von dem über drei Meter hohe Regalreihen abzweigten, die in regelmäßigen Abständen den Blick auf schmale, dunkle, mit Büchern vollgestopfte Gänge freigaben. Rollbare Metallleitern ermöglichten es den Besuchern, auch bis an die ganz oben gelagerten Buchbestände heranzukommen. „Dies ist die Bibliothek. Ich erwarte von meinen Studenten, dass sie sich stets auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes befinden und somit gut informiert sind. Schon ganz am Anfang der Ausbildung sollten Sie wissen, über welche wichtigsten wissenschaftlichen Monografien, Magazine und sonstigen Nachschlagewerke dieses Institut verfügt. Sie sollten stets auch auf der Höhe des aktuellen Forschungsstands sein. Eine Teilnahme an meinen geologischen Exkursionen in den Libanon, möglicherweise auch, abhängig von der politischen Lage, nach Syrien und Jordanien, ist verpflichtend. Ich schätze übrigens besonders fachübergreifendes Wissen. Deshalb sollten Sie sich schon vorab einmal in die jeweils letzten Jahrgänge der wissenschaftlichen Magazine Nature und Science einarbeiten, die auch in elektronischer Form in den Rechnerarbeitsräumen eingesehen werden können. Dieses Studium dient als Basis für Ihre - hoffentlich erfolgreiche - wissenschaftliche Laufbahn; es wird Ihnen daher sehr viel abverlangt werden. Aktualität, interdisziplinäres Arbeiten und Kontakte zu den weltweit führenden geologischen Institutionen sind Kernvoraussetzungen für das Arbeiten auf höchstem fachlichen Niveau.” Der Professor sah dabei seine beiden künftigen Studenten durchdringend an, um ihre Reaktionen zu prüfen und durch diesen ersten Gesamteindruck Rückschlüsse auf die Ernsthaftigkeit ihres Vorhabens ziehen zu können. Mouad sah ihn etwas verunsichert an und murmelte ein leises „o.k.”. Ahmad hingegen zeigte keinerlei Reaktionen und blickte den Professor sorgsam abschätzend an. „Sie sollten übrigens, falls Sie Fragen haben, jederzeit zu mir kommen, sofern ich im Hause erreichbar bin. Darüber hinaus müssen Sie meine Vorlesung besuchen; nur wenn Prüfungen oder Exkursionen im zweiten Fach abgehalten werden, dürfen Sie meinen Veranstaltungen ausnahmsweise fernbleiben. Aber stehen Sie bitte in ständigem Kontakt mit mir, sonst könnte es nämlich Ärger geben. Ich scheue nicht davor zurück, Studenten bei unbotmäßigem Verhalten von der Universität zu verweisen.” Beide nickten. In diesem Augenblick klingelte das Mobiltelefon des Professors. „Ja, in Ordnung. Ich komme sofort.” Er wandte sich wieder den beiden zu. „Ich muss dringend mit jemandem etwas besprechen, das keinen Aufschub duldet. Sehen Sie sich ruhig in den hier ausliegenden Fachzeitschriften und Monographien um. Ich komme gleich wieder und führe Sie dann weiter im Institut herum.”

Ahmad ging zielstrebig zu einem, durch farbliche Markierungen besonders gekennzeichneten Buchstandort und blätterte rasch einige der dort präsentierten geologischen Grundlagenwerke durch. Anschließend wühlte er scheinbar gelangweilt in verschiedenen Zeitschriften herum, ging dann die Buchreihen entlang, entnahm hie und da eine Monographie, überflog rasch deren Seiten und stellte sie danach wieder an ihren Platz zurück. Mouad hingegen lief erst einmal an den Regalreihen entlang und versuchte, zunächst das Ordnungsprinzip der Buchbestände zu begreifen. Nach wenigen Minuten setzte sich Ahmad an einen Rechnerarbeitsplatz. Mouad wunderte sich über die enorme Geschwindigkeit, mit der Knuds Finger über die Tastatur flogen.

Nach einer knappen Stunde kehrte Professor Mansouri zurück und setzte seine Führung fort. Sie erblickten Labore, vollgestopft mit Messgeräten und Versuchsapparaturen und wurden dabei zugleich kurz von ihm in deren Funktionsweise eingewiesen. Auf ihrem weiteren Rundgang stellte der Dozent Ahmad und Mouad zudem zwei Mitarbeitern des Lehrstuhls vor. Sie erfuhren, dass der Hochschullehrer ein Faible für Edel- und Halbedelsteine hatte und ferner die Auswirkungen tektonischer Spannungen entlang des geologischen Grabenbruchs untersuchte, der durch das Tote Meer lief und seine Fortsetzung im Bekaa Tal hatte. „So”, meinte er schließlich nach einer weiteren Stunde zum Abschluss der Tour, „ich hoffe, Ihr Interesse für dieses Forschungsgebiet ein wenig geweckt zu haben. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich jederzeit engagiert mit dieser Materie auseinandersetzen.” „Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit für uns genommen haben.” „Nun, das gehört zu meinen Aufgaben und übrigens: Für konstruktive Kritik habe ich immer ein offenes Ohr.”

„Das Institut für Journalistik und Medien befindet sich im vierten Stockwerk dieses Gebäudes. Sollen wir da auch noch vorbeischauen?”, fragte Mouad etwas unschlüssig seinen Kommilitonen, noch ganz unter dem Eindruck der Informationsflut, die sie soeben überspült hatte. „Nur zu. Wenn die Motivation des Dozenten in diesem Fachbereich, sich um seine zukünftigen Studenten intensiv zu kümmern, auch so groß wie diejenige des Lehrstuhlinhabers der geologischen Fakultät ist, wird dies sicherlich eine interessante und lehrreiche Zeit.”

Es wurde unangenehm laut, als sie den Rundlauf - zwei Ebenen oberhalb des geologischen Fachbereichs - erreichten. Viele Studenten probierten, sich bereits auf den Fluren in die auf lose Blätter gedruckten Teilnehmerlisten für Praktika, Exkursionen und Seminare einzutragen. Völlig entgeistert waren die beiden, als sie dem Grund für den Lärm gewahr wurden - chaotischem Gedränge vor dem Zimmer des zuständigen Dozenten, eines ,Herrn Dr. Schulte’, wie die Vorzimmerdame immer wieder betonte, aus Deutschland. Eine barsche, kommandierende Stimme fauchte: „Tragen Sie sich gefälligst heute hier in die Listen ein und kommen Sie in der nächsten Woche zu meiner Eröffnungsvorlesung. Dann werden Sie in Gruppen eingeteilt. Denn den besten Journalismus lernt man vor Ort. Live erlebte Situationen sind das A und O für einen guten Reporter.” Dieser Kasernenhofton gehörte zu einem dicken Mann, der fast schon wie ein Catcher aussah. Er hatte blaue Augen, abwärts herabhängende Mundwinkel, einen schwarzen, nach unten abgewinkelten Oberlippenbart, der seine unangenehme Ausstrahlung noch verstärkte und eine dicke Knubbelnase. Der Kopf war von Hektik und Anstrengung hochrot verfärbt. Schweißtropfen glänzten auf seiner Stirn. Sein khakifarbenes Hemd spannte so stark über den Bauch, dass die Knöpfe beinahe abplatzten. „Ich glaube, wir kommen für nähere Informationen erst morgen wieder”, meinte Mouad enttäuscht, als er sich das Durcheinander und die unfreundliche Behandlung der Studenten eine Weile angesehen hatte. Nachdem die beiden es geschafft hatten, sich durch das Gewühl zum Aushang im Vorzimmer des Dozenten durchzukämpfen, um sich dort so ziemlich als Letzte der Teilnehmer einzutragen, machten sie sich auf den Rückweg. „Dieser Typ war das Musterbeispiel eines hässlichen Deutschen”, bemerkte Mouad. „So eine arrogante, selbstherrliche Figur, die offensichtlich keine Anstalten macht, sich für die Belange der Studenten zu interessieren. Wieso läuft solch eine Niete an dieser renommierten Institution frei herum?” ,Der ist aber sehr rasch mit seinen Urteilen’, dachte Ahmad. ,Ich vermutete zwar auch das Gleiche, aber vielleicht sollte man Menschen nicht ganz so schnell und für Mouad offensichtlich irreversibel in moralische Schubladen einsortieren.’ Aber eine Bemerkung konnte er sich dennoch nicht verkneifen: „Ich wette mit dir”, entgegnete Ahmad nachdenklich, nachdem er das Verhalten des neuen Dozenten eine Weile scheinbar teilnahmslos beobachtet hatte und ohne auf die von seinem zukünftigen Kommilitonen zuletzt gestellte Frage präzise einzugehen, „dass, sobald es irgendwelche Probleme in diesem Land gibt, er der Erste sein wird, der auf gepackten Koffern sitzt und das Weite sucht.”

Sie schlenderten durch die ausgedehnten botanischen Gärten der Universität, die nach dem Vorbild der Kew Gardens in London angelegt worden waren. Jahrhundertealte Zypressen und Zedern boten immer wieder denjenigen Besuchern schattenspendende Ruheinseln, die der stechenden Sonne abgeneigt waren. Stets aufs Neue standen sie vor ihnen unbekannten Pflanzen und lasen interessiert die auf kleinen, metallischen Schildchen verfassten Erklärungen über Name, Herkunft, Verbreitungsgebiet und Besonderheiten dieser botanischen Raritäten. „Komm, lass uns in die City gehen und was essen”, meinte Mouad nach einiger Zeit, „ich habe nämlich allmählich Hunger.”

Kennen lernen

Ahmad betrachtete seine Umgebung genauer. Die Fassade des Straßencafés war sehr ansprechend gestaltet: Etwa sechs Meter vor der doppelflügligen, durch vergoldetes gusseisernes Rankenwerk verzierten Eingangstür, wurde die sich über die Tische wölbende neugotisch-stuckverzierte Decke durch eine Reihe - dem korinthischen Baustil nachempfundenen - Säulen abgestützt. Diese Arkaden boten Schutz vor der Witterung und erstreckten sich entlang einem knappen Dutzend eleganter Geschäfte, zu denen auch dieses mit französischem Ambiente ausgestattete Etablissement gehörte. Hohe, tönerne Blumenkübel, mit saisonal wechselnder, schattenliebender Bepflanzung, unterteilten den zur Verfügung stehenden Raum in weitere rechteckige Bereiche, die den Gästen des Cafés eine gewisse Privatsphäre vermitteln sollten. Man erhielt so das Gefühl, geschützt und geborgen zu sein. Auf Ahmad hingegen erzeugte diese oberflächliche Ausstrahlung von Gemütlichkeit eine ganz andere Wirkung: Hinter jeder Ecke des Raumes könnte ein Beobachter lauern, der, vor den Gästen unsichtbar verborgen, sämtliche Besucher laufend überwachen und ausspionieren könnte. Denn er wusste, dass diese Region weiterhin ein Pulverfass war: Der jahrelange Kampf der schiitischen Hisbollah auf Seiten Assads mit massiver Unterstützung Irans hatte zu einer weiteren Stärkung dieser Religionsfanatiker in der Levante geführt. Dieses Training hatte den Israelis einen so mächtigen Gegner an ihrer Nordgrenze aufgebaut, dass sie über einige Jahre davon absahen, den Libanon als Schlachtfeld für ihre Hegemonialpolitik einzusetzen. Aber um diese Lage weiter zu verkomplizieren, hatte sich in den letzten Jahren zusätzlich zu den bestehenden Regionalmächten Israel, Iran und Türkei ein religionsfaschistisches Großreich (IS für islamischer Staat) etabliert, das sich inzwischen über große Teile Syriens und den Irak erstreckte, dessen Einfluss inzwischen aber auch weit nach Jordanien und in den Nordteil Saudi-Arabiens reichte. Zudem waren intensive Untergrundaktivitäten von Geheimdiensten jeglicher Couleur in diesen Tagen in Beirut an der Tagesordnung.

Eine Bedienung trat zu ihnen an den Tisch. Ihr ganzer Körper wurde durch einen braunen Tschador verhüllt. Ahmad fühlte sich sogleich unwohl in seiner Haut. Die Augen der wahrscheinlich hübschen jungen Dame sahen die beiden zwar ruhig und gelassen an. Auch Mouad überkam trotzdem ein ungutes Gefühl ob dieser Frau. Er glaubte nämlich, eine Spur aufmerksame Verschlagenheit in ihrem Gesichtsausschnitt zu erkennen. Er vermied es deshalb, um kein Aufsehen zu erregen, sie zu intensiv zu mustern. Das braune Tuch vor ihrem Gesicht war zudem etwas nach unten verrutscht. Mouad glaubte, in dem zu großen, von schwarzem Stoff umrahmten Gesichtsausschnitt, die obere Hälfte eines verkniffenen, unfreundlichen Mundes zu erkennen, der sein Misstrauen unbewusst gegenüber der jungen Frau noch verstärkte. Ihm fielen Gerüchte ein, die er von seinem Vater über gut getarnte Geheimdienstmitarbeiter aus dem Iran, Syrien und der IS erhalten hatte, die als Schläfer an unverdächtigen Orten agierten. Ahmed wusste zudem: Den Libanon, den es bis ungefähr 2013 gab, existierte praktisch nicht mehr. Die Bevölkerung hier hatte sich nämlich aufgrund des jahrelangen Bürgerkrieges in Syrien und der Errichtung eines ultrareligiösen Kalifats mehr als verdoppelt. Alle Konfliktparteien hatten Aktivisten respektive Untergrundkämpfer in die Levante eingeschleust - und dadurch entwickelte sich der Libanon mehr und mehr zu einem Pulverfass, dessen Lunte immer schneller abbrannte. Die ständig zunehmenden und immer gewaltsamer ausgetragenen Scharmützel zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen waren ein untrügliches Zeichen davon.

Ahmad schrak aus seinen Gedankengängen auf: „Was möchten die Herren essen oder trinken?”, fragte die Bedienung sehr zurückhaltend. Mouad glaubte, einen Hauch von Schärfe in Ihrer Stimme zu spüren. Er war sich aber nicht völlig sicher. Ahmad besaß die besondere Gabe, dass er geringfügigste menschliche Verhaltensabweichungen registrieren konnte. Leiseste Lautungereimtheiten, die für die meisten normalen Menschen vermutlich nicht wahrnehmbar wären. Rasch beschlich Ahmad deshalb unterschwellig das Gefühl, dass er und Mouad gerade intensiv überwacht wurden - wenn es auch zunächst nur eine Vermutung war. Nach einer Weile war er sich jedoch vollkommen sicher: Diese Frau war definitiv dafür ausgebildet worden, die Blicke und die Verhaltensweisen von Menschen äußerst aufmerksam, aber zugleich auch sehr diskret, zu verfolgen. Und jetzt waren sie es, zwei harmlose junge Männer, die observiert wurden. Mouad sah Ahmad immer wieder verstohlen von der Seite an. Denn auch ihm war die subjektiv gefühlte, intensive Supervision nicht entgangen. Er konnte einfach nicht begreifen, warum gerade ihnen gegenüber eine so große Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. Ahmad schätzte die ganze Situation inzwischen als ziemlich brenzlig ein. Er wünschte sich, dass sie sich einfach in Luft auflösen könnten und sich jegliche Erinnerungsspuren bei dieser Frau auslöschten. Innerlich schalt er sich einen Dummkopf: Wieso hatten sie überhaupt diese Lokalität dermaßen leichtsinnig aufgesucht? Mussten sie sich hier unbedingt an so zentraler Stelle in der Öffentlichkeit präsentieren? Aber einfach aufstehen und gehen, würde auch keine Lösung sein - dass würde erst recht zusätzliche Aufmerksamkeit hervorrufen. „Such dir was aus”, meinte Ahmad schließlich zu seinem Kommilitonen so ruhig wie möglich, um diesen nicht zu beunruhigen, „ich lade dich ein.” „Vielen Dank, sehr nett von dir.” „Ich hätte gerne ein Stück Feigen-Dattelcreme Torte und ein großes Glas schwarzen Tee - gesüßt bitte.” „Das ist eine gute Wahl. Ich nehme das Gleiche.” „Möchten Sie Sahne zum Kuchen?”, kam die höflich-distanzierte Frage.

Die Frau hatte sich diesmal völlig in ihrer Gewalt. Nicht die Spur von Misstrauen oder Verunsicherung war noch herauszuhören. Ahmads Unterbewusstsein übermittelte ihm dennoch weiterhin das Gefühl, dass der Situation auf keinen Fall Normalität innewohnte. Aus dieser prekären Situation heraus manifestierte sich in ihm die beunruhigende Erkenntnis, dass endgültig jeder jedem in diesem Staat misstraute, und dass in diesem Restaurant unter der Oberfläche von vorbildlichem Kundenservice möglicherweise ein - wenn auch winziges - Element eines weit gespannten Überwachungsnetzes installiert war. Das würde auch zu seiner politischen Einschätzung passen, dass religiös-konservative in- und ausländische Mächte in naher Zukunft, trotz aller nach außen zur Schau gestellten politischen Normalität, den relativ liberalen Zedernstaat vollständig unter ihre Knute zwingen wollten.

„Nein, danke”, kam es fast gleichzeitig von beiden zurück. Die Kellnerin leitete die Bestellung weiter und wandte sich anderen Gästen zu. Ahmads eine Gehirnhälfte beschäftigte sich immer noch damit, wie man aus dieser Situation, ohne all zu viel Aufsehen zu erregen, herauskommen könnte. Aber wie er die Lage auch drehte und wendete: Letztendlich blieb ihnen doch keine andere Wahl, als einfach sitzen zu bleiben. ,Schließlich weiß sie absolut nichts über mich’, versuchte er sich zu beruhigen.

Nach einer Weile nahm Mouad den Gesprächsfaden wieder auf: „Da wir uns gerade erst kennen gelernt haben, sollte jeder vielleicht ein bisschen von sich erzählen.” Ahmad nickte zustimmend. „Ich fang dann einfach mal an.” Ahmads betrachtete Mouads Überlegungen durchaus zwiespältig: ,Der muss aber auch noch lernen, seine Umgebung und vor allen Dingen seine Mitmenschen sehr genau zu beobachten. Seine Gesprächigkeit könnte ihm noch zu einem späteren Zeitpunkt den Kopf kosten!’ Aber dann zwang er sich, den Ausführungen von Mouad seine Aufmerksamkeit zu schenken.

Mouad war 19 Jahre alt und lebte noch bei seinen Eltern in Alayh. Dieser Ort liegt hoch über Beirut und der Meeresbucht, die sich nördlich der Hauptstadt nach Osten erstreckt. Er hatte einen Bruder namens Elias, der ein Jahr jünger war als er und noch das Gymnasium in der zwölften Klasse besuchte. Sein Vater war Professor für experimentelle- und theoretische Physik, ebenfalls an der Amerikanischen Universität. Seine Mutter besaß einen kleinen Lebensmittelladen im Dorf. Ein Haus in diesem Ort gehörte ihnen zwar und war zudem schuldenfrei. Aber aufgrund der galoppierenden Inflation erhielt sein Vater seit einigen Jahren so wenig Gehalt, dass dieses allein nicht zum Leben reichte. Seine Mutter verdiente deutlich besser, da sich dank der vielen Flüchtlinge im Land der Vertrieb von Nahrungsmitteln rentierte. Darüber hinaus konnte sie die Produkte für den privaten täglichen Bedarf erheblich günstiger über den Großhandel und private Erzeuger vor Ort beziehen. Zusätzlich entlastete der Anbau von Obst und Gemüse im eigenen Garten das Budget der Familie erheblich. Nur auf Grund dieser finanziell abgesicherten Lebensumstände konnte Mouad überhaupt studieren. Aber dies reichte bei weitem noch nicht aus: Es bedurfte der Fürsprache seines Vaters bei der Universität und eines mit mindestens 18 von 20 Punkten absolvierten Aufnahmetests, damit er an der AUB überhaupt beginnen konnte. Vier Stipendiensemester zur Erlangung des Masters, die er jedoch erst nach einem mindestens mit 17 Punkten benoteten Bachelorabschluss antreten durfte, waren eine zusätzliche Motivation für ihn, sich intensiv mit dem Studium auseinanderzusetzen. Ahmad merkte rasch, dass Mouad seine Eltern dank dieses Engagements ihm gegenüber sehr schätzte. Denn nicht viele libanesische Familien waren gegenüber einer so teuren und politisch kritischen Ausbildung für ihre Sprösslinge so aufgeschlossen. Hinzu kam, dass Mum und Dad für libanesische Verhältnisse ausgesprochen tolerant und weltoffen zu sein schienen.

Von beiden unbemerkt hatte sich die verschleierte Bedienung inzwischen erneut ihrem Tisch genähert und vorsichtig die bestellten Köstlichkeiten abgesetzt. Allmählich drang es in Ahmads Bewusstsein ein, dass, während er den Ausführungen Mouads gefolgt und ihn dabei beobachtet hatte, sich in seiner Umgebungswahrnehmung fortwährend ein schwarzer Schatten abzeichnete. Mouad war jedoch so auf Ahmad fixiert, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht die Spur einer Ahnung zu haben schien, was sich um ihn herum ereignete.

Mouad interessierte sich offensichtlich für alles Naturwissenschaftliche, hatte sich früh als Kind bereits mit Astronomie und geologischen Grundlagen auseinandergesetzt. Aus diesem Grunde waren Chemie und Physik auch seine Lieblingsfächer am Gymnasium. Ferner bewies er schon damals ein Händchen dafür, als Reporter für die Schulzeitung auf so manche Missstände und Probleme im laufenden Betrieb hinzuweisen, wie zum Beispiel den wachsenden Einfluss der fundamentalistischen Glaubensfanatiker aller Religionen auf den Unterricht. Diese Aktivitäten hatten ihm schließlich viel Ärger eingebracht: Kurz vor seinem Abitur hatten er und seine Eltern sogar Todesdrohungen erhalten. Nächtliche Hassanrufe und Schmierereien an der Hausfassade hatten gezeigt, wie vorsichtig man in Beirut mit gesellschaftlichen Fragen umgehen musste. An diesem Punkt griffen seine Erziehungsberechtigten dann doch ein und verboten ihm, an der Schule noch irgend etwas in Bezug zu Religion oder Politik zu äußern.

Glücklicherweise hatte sich die Bedienung um andere Gäste zu kümmern; denn Ahmad war drauf und dran, Mouad das Wort abzuschneiden. Aber er ließ ihn dennoch gewähren: Nach dem Schulabschluss waren seine Eltern bereit, ihm ein naturwissenschaftliches Studium zu ermöglichen. Das zweite Fach, Journalistik, konnte er jedoch erst nach langen und hitzigen Diskussionen gegenüber seinem Vater durchsetzen. „Somit war es ursprünglich dein Plan, diese beiden Fächer zu studieren, lange bevor wir aufeinander trafen”, bemerkte Ahmad. „Ich denke schon.” „Hast du eigentlich Freunde oder Bekannte?”, fragte Ahmad weiter. „Nein. Ich habe privat immer sehr zurückgezogen gelebt und mich fast ausschließlich in meine Wissenschaften vertieft. Zu der Zeit, in der ich in der Schulredaktion arbeitete, hatte ich mehr persönliche Kontakte. Aber nach den gerade von mir erwähnten religiösen Querelen mieden mich dann alle.” „Wer war denn die junge Dame, mit der du bei der Einschreibung gescherzt hattest?” „Eine Cousine von mir. Sie studiert Medizin.” „Hattest du denn schon mal etwas mit einer Freundin?” Mouad wurde verlegen: „Nein, noch nie.” Eine Pause folgte. Mouad stocherte nervös in seinem Kuchen herum. Dann schaute er plötzlich Ahmad durchdringend an. Knapp fragte er: „Und jetzt du. Was machst du so, woher kommst du? Und erzähl mir auch von deinen Eltern.”

„Ich bin ein uneheliches Kind. Meinen Vater kenne ich nicht und meine Mutter hatte mich in ein Kinderheim gesteckt. Ich hatte jedoch das Glück, dass die meisten Erzieherinnen ausgesprochen nett zu mir waren. Als ich 16 war, bekam das Heim eine neue Leitung. Da diese Frau die Entscheidung traf, ich könne ab jetzt selbst für mich sorgen, wurde ich hinausgeworfen und in die Obhut von Pflegeeltern gegeben. Die habe ich mir einen halben Tag angeschaut und dann beschlossen, dass ich mich selber durchschlagen müsste. Durch den Verkauf von Obst und Gemüse von einem Bauern, dessen Adresse mir noch eine Erzieherin zugesteckt hatte, habe ich mich dann, ähnlich wie deine Mutter es mit ihrem Garten managt, über Wasser gehalten. In Abendkursen parallel dazu habe ich mich dann noch auf das Abitur an einem Gymnasium in Tyros vorbereitet und mit Erfolg absolviert. Im übrigen bin ich ein Jahr älter als du.” „Hast du denn schon einmal eine Freundin gehabt?” „Nein. Ich bin da genauso unbedarft wie du.”

Mouad sah ihn mit unbewegtem Gesichtsausdruck an. Man konnte meinen, dass er Ahmad einem Verhör unterzog, um zu prüfen, ob die Wahrheit auf den Tisch kam. Ahmad bestellte sich noch ein Stück Kuchen - Mouad jedoch lehnte ein weiteres Glas Tee ab. Eine Mauer schien langsam zwischen beiden zu wachsen. Er spürte, dass Mouad ihn mit allen Sinnen testete und prüfte. Ahmad trocken: „Ich gehe davon aus, dass sich durch das Studium meine Kenntnis über dieses Land und diese Weltregion vertiefen und erweitern wird. Dieser Ansatz macht das Fach Journalistik - zumindest für mich - sehr interessant. Das sollte uns auch in die Lage versetzen, die gesellschaftlichen Strömungen und politischen Probleme in der Levante detaillierter kennen zu lernen und auch in gewissen Grenzen vorherzusagen - was auch unserem eigenen Schutz, unserer eigenen Sicherheit dient. Zudem kommt man ja durch so ein Studium ziemlich weit herum - vielleicht auch bis nach Europa oder sogar Israel.” Mouad: „Was willst du denn da? Weißt du denn nicht, dass Israel für uns verbotenes Terrain ist?” Ahmad: „Ich lege Wert darauf, mich umfassend zu informieren über all das, was sich im Nahen und Mittleren Osten politisch ereignet. Dies bedeutet, dass ich auch zu den so genannten Todfeinden reisen möchte, egal ob das nun der jüdische Staat ist, der vom Bürgerkrieg zerrissene ,failed state’ Syrien, der Iran oder das Kalifat Baghdadis.” Mouad - optimistisch: „Jetzt lass uns erstmal in das Studium eintauchen und die ersten Semester hinter uns bringen.” Ahmad entgegnete erst einmal nichts darauf. Ihm fiel auf, dass die Gespräche an den Nachbartischen in beinahe flüsterndem Tonfall geführt wurden - wieder so eine eigenartige Beobachtung, die ihn stutzig machte. Zu Mouad gewandt sagte er: „Ich wäre mir da nicht so sicher, ob uns dies auch gelingt. Denn der Zedernstaat hat schon so viele Krisen und Kriege über sich ergehen lassen müssen, dass ich nur inständig hoffe, dass wir das Studium hier auch tatsächlich zu Ende bringen können. Was mir über Schulen an Intoleranz, Fanatismus und religiös begründetem Hass zu Ohren gekommen ist, lässt nichts Gutes für die Zukunft des Libanons und seiner Bevölkerung erahnen.” Mouad saß wie versteinert. Leise flüsterte er: „Das Schlimme daran ist, dass du wahrscheinlich mit deinen Prognosen richtig liegen dürftest. Ich will es mir zwar nicht eingestehen... Aber ich denke, dass wir schon in wenigen Monaten mit einem politischen Desaster konfrontiert werden. Und...”, er unterbrach sich und erbleichte, als er bemerkte, dass die Bedienung zwei Nebentische weiter verdächtig langsam eine Rechnung schrieb und auf Fragen der Gäste, die sie bediente, falsch und unzusammenhängend antwortete. Sie schien in ihre Richtung zu lauschen. „Entschuldige! Ich bin zu vertrauensvoll und zu redselig. Ich sollte vielleicht in der Öffentlichkeit besser meinen Mund halten. Ich kenne dich ja eigentlich gar nicht.” Ahmad erwiderte darauf beinahe unhörbar: „Vorsicht ist weise und gut. Aber in diesem Fall hast du wohl dein Herz sprechen lassen. Nimm das, was du gerade getan hast, als guten Vorsatz für unsere Zukunft. Ich versichere dir: Ich bin weder ein syrischer Spitzel, noch habe ich etwas mit religiösen Fanatikern zu tun. Ich bin auch kein Spion Amerikas oder irgend eines anderen Landes. Ich würde dich niemals an irgend jemanden verraten. Weder jetzt, noch in Zukunft. Aber du hast recht”, wobei er einen warnenden Blick in Richtung der verschleierten Bedienung aussandte. „Wir sollten an diesem Ort besser nicht weiter über solch heikle Themen sprechen.”

Eine längere Pause folgte. Mouad wusste nicht, ob er Ahmad tatsächlich vertrauen konnte, obwohl er vom Gefühl her mit dem vorsichtigen Verhalten seines Gegenübers einverstanden war. Ihm waren schon viele Berichte von Verrat und Hinterlist - auch unter Studenten und an seiner ehemaligen Schule - zu Ohren gekommen. Denn unter den Flüchtlingsmassen aus dem kriegsversehrten Nachbarland befanden sich unzählige Ultrareligiöse, die ihre orthodoxen Ansichten auch mit Gewalt durchzusetzen pflegten. Er hatte schon so einiges über Salafisten, Mitglieder der Nusra-Bewegung, Al-Qaida- und ISIS-Kämpfer sowie Hisbollah-Aktivisten gehört. Mouad wurde nervös. Sein Vater hatte ihn ebenfalls immer wieder ermahnt, seine wahren Gefühle niemals in der Öffentlichkeit zu zeigen und gegenüber Fremden äußerste Vorsicht walten zu lassen. Mouad schalt sich innerlich einen Idioten, diese einfachen Vorsichtsmaßnahmen außer Acht gelassen zu haben. Jetzt war auch er sich absolut sicher, dass sie bereits seit geraumer Zeit observiert wurden. „Zahlen, bitte”, wandte sich Ahmad an einen jungen Kellner, als dieser gerade mit mehreren Tellern, auf denen sich köstlich aussehendes Gebäck stapelte, zwischen den Tischreihen durchbalancierte.

Als sie anschließend wiederum in das Menschengewühl der City eintauchten, schlug Ahmad vor: „Zeige mir doch Beirut, wenn du magst. Ich kenne diese Stadt fast gar nicht.” „Okay. Aber ich wundere mich trotzdem über deine Äußerung. So groß ist der Libanon doch nun auch wieder nicht, um von Tripoli aus nicht mal eben in die Hauptstadt zu fahren.” „Ich hatte in der Vergangenheit wirklich genug andere Probleme, wie ich dir gerade erläutert habe. Zudem hatte ich bis jetzt weder Zeit noch Geld, um mich hier näher umzuschauen.” Mouad dachte: ,Irgend etwas stimmt hier nicht. Hatte er nicht bei der Einschreibung heute morgen von seinen Eltern erzählt, die ihn dazu gedrängt hatten, das Geld für das Studium in einer sicheren Währung anzulegen? - Wer weiß, wer er wirklich ist. Im Nahen Osten vertraut niemand seinem Gegenüber. Ich muss unbedingt versuchen, wieder unauffällig eine größere Distanz zu ihm zu bekommen.’ Laut meinte er: „Ich zeige dir die schönsten und wichtigsten touristischen Highlights der Stadt: Parlamentsgebäude, Sitz des Premierministers und die vielen Straßenzüge, die frisch nach dem letzten Kampf Israels gegen die Hisbollah und den jahrelangen innerlibanesischen Auseinandersetzungen während des syrischen Bürgerkrieges renoviert oder wiederaufgebaut wurden.” So schlenderten sie den ganzen Tag durch Beirut. Genossen von der Uferpromenade den Ausblick aufs Meer, betrachteten die spätrömischen Tempelruinen, an deren Fuße Archäologen jüngere Bodenschichten analysierten und schauten in die aufgemotzten Auslagen von Armani, Dior und Gucci. Ahmad war dabei nicht ganz bei der Sache. Er war immer noch mit der Analyse dieser eigenartigen, von Misstrauen überschatteten Situation beschäftigt.

Mouad erzählte dennoch, so wie in einer Art Kontrastprogramm zu den bombastischen Schaufensterfronten, wie er als kleiner Junge den letzten Krieg erlebt hatte. Er war bei seinem Bericht immer wieder hin- und hergerissen zwischen seinem Misstrauen und einer unerklärlichen Zuneigung gegenüber seinem Freund. Seine Eltern waren damals in ihr Haus - hoch über Beirut - geflohen und mussten hilflos mit ansehen, wie fast die gesamte Infrastruktur des Landes in voller Absicht von Israel und gleichzeitig von der Hisbollah systematisch zerstört wurde. Denn die Krieger Gottes betrachteten den gesamten Libanon als mobile Abschussbasis für ihre 50 000 Raketen, mit denen sie den jüdischen Staat massiv attackierten. Letzterer holte auch immer wieder zu massivsten Militärschlägen aus, um die Raketenbasen zu vernichten. Dazu kam, dass die libanesische Bevölkerung sich gegen die Benutzung ihrer Häuser, Gärten, Tiefgaragen und Innenhöfe als getarnte Abschussanlagen auflehnte. Aber die Hisbollah reagierte darauf mit gnadenloser Härte. Tausende Zivilisten wurden von den Religionsfaschisten grausam massakriert. Insbesondere fürchtete die Familie Bribire damals die Nächte, die durch Stromausfälle stockfinster waren und nur sporadisch von dem scharlachroten Lichtschein der Explosionen und Brände erhellt wurden. Sie wussten, dass sie in ständiger Todesgefahr schwebten, da es keinerlei Warnzeichen vor angreifenden Hubschraubern und Flugzeugen gab. Und dann waren da ja noch die Kämpfer Nasrallahs... Die Erinnerung an die nicht enden wollende Todesangst war das Schrecklichste, was Mouad, Elias und seine Eltern jemals zu ertragen hatten. Der militärische Schlagabtausch endete zwar nach knapp einem Jahr. Aber auch die Zeit danach glich nicht gerade einer Rückkehr zur Normalität. Denn nun gerieten mehr und mehr die Schiiten und die sunnitischen Religionsfaschisten der IS aneinander. Ihr persönliches Leid wurde durch die nachfolgenden, martialischen öffentlichkeitswirksamen Großdemonstrationen der verschiedenen religiösen Gruppen nur noch unerträglicher. Die dabei aggressive zur Schau Stellung ihrer Macht wirkte auf ihre psychische Verfassung abstoßend und furchteinflößend. Und ein Frieden lag in weiter Ferne: Das Auftreten der verschiedenen politischen Fraktionen artete nämlich sehr häufig in massiven Gewaltausbrüchen gegenüber der Zivilbevölkerung mit immer wieder hunderten von Toten aus.

Sie gingen in Richtung Busbahnhof. Ahmad glaubte plötzlich, die auffällige Bedienung aus dem Café auf der anderen Straßenseite erspäht zu haben. Mouad wollte unbedingt mit dem nächsten Bus nach Alayh zurückfahren. Dicht gedrängte Menschenfluten strömten ihnen entgegen. Ahmad und Mouad ließen sich jedoch von ihrem Ziel nicht abbringen und behielten die von ihnen eingeschlagene Richtung zunächst bei. Sie machten jedoch augenblicklich kehrt, als sie erfuhren, dass die Hisbollah wieder einmal im Zentrum Beiruts zu einer spontanen Demonstration gegen die Regierung aufgerufen hatte. Mouad schien sich Sorgen zu machen. „Wie komme ich jetzt nach Hause? Muss ich etwa 15 Kilometer laufen?” „Du solltest dir ein Taxi bestellen. Busse sind, so denke ich, zumindest in dieser Situation, zu unsicher.” Mouad nickte, grüßte kurz, wandte sich ab und führte sein Mobiltelefon ans Ohr, während er an dem hochaufragenden Uhrturm am Parlamentsplatz vorbei hastete. Ahmad schaute ihm lange nachdenklich nach. ,Eigentlich war es doch unverantwortlich, ihn bei diesem Chaos nach Hause zu schicken. Ich hätte ihm doch eigentlich anbieten müssen, zu mir in meine Wohnung mitzukommen, bis sich die Lage entspannt hätte.’ Aber zugleich spürte er, dass dies im Widerspruch zur Obersten Direktive dieser Mission stand - sich nicht mit der ansässigen Bevölkerung in irgend einer Weise einzulassen. Er setzte sich auf eine Bank, besah sich die vorbeihetzenden, verunsicherten Menschen und schüttelte den Kopf. Ahmad seufzte.

Spannungen

Wieder einmal schien das politische Klima im Libanon umzuschlagen - wie dies so häufig in der Geschichte der Levante der Fall war. Immer von Neuem war diese Region Spielball fremder Interessen gewesen. Einer Blüte unter den Phöniziern, einem erneuten Aufstieg nach einem langen Dornröschenschlaf unter Alexander dem Großen folgte ein weitere wirtschaftlicher Höhepunkt unter römischer Oberherrschaft. Dann vernichtete ein Erdbeben der Stärke 9,2 im 6. Jahrhundert Beirut vollständig. Unter byzantinischer Herrschaft erlebte das Land noch einen gewissen Wohlstand, ehe arabische Heere und Kreuzritter, Mamelucken, Seldschuken und Mongolen in den folgenden Jahrhunderten um die Macht in Vorderasien kämpften. Danach wurde dieses Gebiet jahrhundertelang Bestandteil des Osmanischen Reiches, bis es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, der Zerschlagung des damaligen türkischen Imperiums und Neugründung der Republik unter Atatürk unter französische Protektion gestellt wurde. Aber auch dem 1920 entstandenen Staate Libanon war danach kein dauerhafter Friede gegönnt. Die blutige Gründung Israels in unmittelbarer Nachbarschaft, die sich direkt daran anschließenden bewaffneten Konflikte um diese neue politische Ordnung und eine sich verschärfende innerlibanesische Entfremdung der verschiedenen religiösen Gruppen führten ab 1975 nach kurzem wirtschaftlichem Wohlstand in den sechziger Jahren zu einem fünfzehnjährigen Bürgerkrieg, der das Land vollends zerrüttete. Unerträgliche Grausamkeiten der verschiedenen Bürgerkriegsfraktionen an der Zivilbevölkerung mit etwa 95 000 Toten, weit über 100 000 Verletzten und die unzähligen politischen und militärischen Interventionen von außen machten das Leben in der Levante in dieser Zeit untragbar. Beirut, das ehemalige Paris des Nahen Ostens, existierte praktisch nicht mehr. Und selbst danach war ein Ende der Gewalt nicht absehbar: Israel und das mit dem Iran auf das innigste gepaarte Syrien stritten mit aller Gewalt um Macht und Einfluss um diesen schmalen Landstrich am östlichen Mittelmeer.

Weitere Spannungen entstanden nach dem gewaltsamen Einmarsch der USA in Afghanistan und den Irak, was die gesamte Region weiter destabilisierte, obwohl es zunächst, nach der katastrophalen Bush-Ära, unter Präsident Obama nach einer Beruhigung der Lage aussah. Aber auch der neue oberste Repräsentant Amerikas war Anfang des 21. Jahrhunderts nicht in der Lage, die sich damals bereits am Horizont abzeichnende verheerende Wirtschaftskrise, die schließlich über die Welt hereinbrach, auf Dauer zu neutralisieren und die Abhängigkeit vom Öl, trotz zunächst vielversprechender Ansätze im Bereich der regenerativen Energien, langfristig zu lindern. Zu groß waren die Einflussmöglichkeiten der amerikanischen Ölindustrie auf die Politik des Weißen Hauses. Zu stark das Interesse der iranischen und Saudi-Arabischen Hardliner, die Industrieländer vom Öl technologisch und finanziell abhängig zu halten.

Obendrein verstand es der Westen nicht, den Einfluss der islamischen Fundamentalisten zurückzudrängen, da das Mittel - Krieg - den Hass der arabischen Welt auf alles Westliche immer weiter entfachte. Und das Kalifat des IS hatte es meisterhaft verstanden, die Bevölkerung, die unter ihrer Terrorherrschaft stand, für sich einzunehmen. Denn der westlichen Koalition konnte es nicht gelingen, allein durch Luftschläge, ohne den Einsatz von Bodentruppen, die Terroristen zurückzudrängen. Im Gegenteil: Durch ihre Einsätze auf syrischem Gebiet unterstützten sie gerade diejenigen, die für ein jahrelanges sinnloses Gemetzel verantwortlich waren - die Familie Assad, die nicht daran dachte, auch nur einen Millimeter ihrer Macht abzugeben. Sie hatten dadurch jetzt vielmehr den Rücken frei, um die Opposition gegen ihre Herrschaft noch brutaler zu unterdrücken. Zudem kam noch hinzu: Der Iran hatte es zudem geschafft - trotz der religiösen Differenzen zwischen Schiiten und Sunniten - seinen Einfluss immer weiter auszudehnen und politische Allianzen zu schmieden, die früher undenkbar waren. Es hatte sich nämlich inzwischen ein fragiles Bündnis aus ultrakonservativen religiösen Staaten, ausgehend von Afghanistan, Pakistan und einigen zentralasiatischen - ehemals sowjetischen - Republiken über den nuklear bewaffneten Iran bis hinüber zum Süden des Iraks und Ägypten etabliert.

Der Bürgerkrieg in Syrien katalysierte zudem die rasche Ausbreitung von religionsfaschistoidem Gedankengut, was immer größere Teile der arabischen Welt in einen rechtsfreien Raum verwandelte. Denn nicht nur im Nahen- und Mittleren Osten hatte sich ein ultrareligiöse Terrorregime etabliert, sondern auch der gesamte Sahararaum war auf diese Weise okkupiert worden. Durch die weltweite Wirtschaftskrise, die 2008 ihren Anfang nahm und mit massiver Überschuldung einherging, war der Westen nicht mehr in der Lage, die allmähliche Entstehung dieses Machtblocks zu verhindern. Nur Israel und Libanon sowie ein politisch sehr instabiles Jordanien bildeten noch einen Fremdkörper in diesem Ozean konservativen Glaubens, wobei letzteres 2025 fast unter religiösen Infiltrationen seiner Nachbarn Syrien und Saudi-Arabien kollabiert wäre.

Und dies war somit auch das Ende des politischen Frühlings, der 2011 und 2012 durch viele arabische Länder wehte und in den darauf folgenden Jahren durch Terror, Bürgerkriege und religiösen Fundamentalismus rasch wieder eingedämmt wurde. Die Uhr der Freiheit wurde sogar noch viel weiter zurückgedreht: Die Repression durch den religiösen Faschismus war viel schlimmer, als dies zuvor unter den alten Machthabern der Fall gewesen war. Fanal dieses Machtkampfes war daher zunächst das brutale Vorgehen des Bashar-al-Assad gegenüber seinem eigenen Volk mit der Folge der Gründung eines faschistischen Religionsstaates, dessen Grenzen nicht mehr greifbar und im Fluss waren. Und der Westen, gepaart mit Russland, denen es nur um Profit ging und dem Eindämmen des Flüchtlingsstroms aus Afrika und Asien oberste Priorität einräumten, nahmen das Abschlachten und die Vertreibung eines Großteils der Gesamtbevölkerung dieses vorderarabischen Landes in den nachfolgenden Revolutionswirren weitgehend achselzuckend zur Kenntnis. Eigeninteresse der Staaten und Profitgier der Wirtschaft waren nun einmal wichtiger als Moral und humanistische Ideale. Diese politische Konstellation im Nahen und Mittleren Osten hinterließ auch im alltäglichen Miteinander im Libanon seine Spuren: Man ging extrem distanziert und misstrauisch miteinander um. Niemand konnte mehr absolut sicher sein, auch angesichts von dreieinhalb Millionen Flüchtlingen aus dem Nachbarland, dass der andere nicht Spitzel, Verräter oder sogar Attentäter war - darauf aus, das politische System zu unterminieren. Dazu kamen wachsende soziale Spannungen auf Grund eines nur noch astronomisch zu nennenden Unterschieds der Entlohnung zwischen miserabel bezahlten Syrern und mehr als zehnmal zu teuren libanesischen Fachkräften. Zudem tobte auch in Beirut bereits ein weiterer, unsichtbarer Krieg, der auch in allen anderen Teilen der Welt geführt wurde: Die Geheimdienste des Westens, Irans und China setzten alles daran, sich in eine möglichst günstige strategische Ausgangsposition im weltweit immer weiter eskalierenden globalen Machtpoker zu begeben.

Ahmad und Mouad zogen es zunächst vor, diese unübersichtliche politische Gemengelage nicht weiter zu beachten. Beide gewöhnten sich allmählich an das studentische Leben und gaben ihrem Tagesablauf eine feste Struktur. Ahmad war ein Frühaufsteher. Bereits um halb fünf Uhr begann er, den Vorlesungs- und Seminarstoff zu rekapitulieren. Viel Neues lernte er dabei nicht, denn er besaß bereits fundierte und sehr detaillierte Kenntnisse in Geologie. Zudem hatte er ein gutes Gedächtnis und war ziemlich rasch in der Lage, große Informationsmengen zu behalten, zu analysieren und zu bewerten. Bereits weit vor dem Beginn der regulären Veranstaltungen an der Amerikanischen Universität wühlte er sich bis spätabends durch die Fachliteratur. Trotzdem hielt er sich mit seinen Fähigkeiten gegenüber anderen Studenten zurück. Er wollte unbedingt vermeiden, sich als eine Art Superhirn bei den anderen in den Vordergrund zu drängen, um nicht Neid und Missgunst zu schüren. Überdies warf er, wann immer es die Zeit zuließ, sein Augenmerk auf weitere Fachbereiche - wie Religion, Politik, Geschichte und Wirtschaft - um zusätzliche fundierte Kenntnisse über diese Region zu erlangen.