Der Kurator, Band 2 - Arno Wulf - E-Book

Der Kurator, Band 2 E-Book

Arno Wulf

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Beschreibung

Mouad sieht sich einer phantastischen neuen Realität gegenüber. Sein Freund Knud ist Vertreter einer außerirdischen Macht, der sogenannten Magellanschen Föderation, die auf eine Jahrzehntausende alte ungestörte kulturelle Entwicklung zurückblicken kann. Er erkennt, dass Sol III zumindest seit dem Anbeginn der menschlichen Geschichte von Kundschaftern dieser kosmischen Macht überwacht wird. Mouad erfährt, dass die Menschheit schon seit geraumer Zeit in höchster Gefahr schwebt, sich selbst zu vernichten. Es sieht jedoch leider nicht danach aus, dass sich das politische Establishment der Föderation im Problemkreis Terra in besondere Weise engagieren wird. Vorbehalte gegenüber den Bewohnern von Sol III, eine gerade gelungene Integration und Assimilation unzähliger fremder Rassen in den Föderationsraum sowie Festhalten am Status Quo lassen ein direktes militärisches Eingreifen als eher unwahrscheinlich erscheinen. Mouad erkennt, begreift und versteht allmählich auch die Ursachen für diese Zurückhaltung - es ist eine Frage der kosmischen Perspektive. Zu seiner Überraschung stellt er jedoch fest, dass man sich bei den föderalen politischen Entscheidungsträgern vor Ort sehr wohl für die Schicksale von einzelnen Individuen interessiert: Eine größere Gruppe von Flüchtlingen wird nicht einfach einer ungewissen Zukunft überlassen. Geht die Erde einem ähnlichen Armageddon entgegen wie auf Warendula, einem Milliardenvolk, dessen Regierungen diese Welt in einem thermonuklearen Feuersturm untergehen ließ? Gibt es überhaupt noch Hoffnung für Terra? Wird die Welt der Menschen weiter existieren?

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Der Kurator

von

Arno Wulf

Band 2: Im Weltraum

Der Kurator

Band 2: Intrepid

Copyright: ©2014 Arno Wulf

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-1238-1

Image - Small Magellanic Cloud - Front Cover: Copyright©Australian Astronomical Observatory/David Malin

Inhaltsverzeichnis

2 Im WeltraumIntrepidDas RaumschiffDie KrankenstationZurück an BordDie KonferenzNeue RealitätEin glückliches WiedersehenKnud LarssenKrwysnogghDas ArboretumBackflashDas RestaurantAbflugBegegnungenEvaluationEnde einer OdysseeMeinungsaustauschSchicksaleEin neuer MorgenAstridErinnerungen I: DaodaDer FehlerMahmoud Asgari und Ayaz MarhoniDie erste NachtEpsilon Eridani IVAnflugDas Geheimnis des Ozeanplaneten

Teil 2

Im Weltraum

Intrepid

Das Raumschiff

Die Geschwindigkeit des Zyklopen verringerte sich merklich. Mouad und Knud blickten vor dem kristallklaren, tiefschwarzen, mit Gaswolken, Sternen und dem Milchstraßenband angefüllten Firmament auf eine zunächst etwa vollmondgroße, diskusförmige, im Sternenlicht schwach metallisch glänzende, grauschwarze Scheibe. Endlich konnte Mouad die ersten Details des Schiffes ausmachen: An den ansonsten strukturlosen, zur Schiffsmitte konisch zulaufenden Ober- und Unterseiten, befanden sich jeweils im Zentrum zwei kreisförmige, parallel übereinander verlaufende Lichterketten, die sich als Reihen kolossaler Beobachtungsfenster entpuppten. Sie waren so angeordnet, dass eine völlig freie Sicht auf die über ihnen liegende Raumhemisphäre oberhalb der jeweiligen Ober- und Unterseite des Diskus möglich war. Dort befanden sich die Kommandobrücken, von denen allerdings immer nur eine als Befehlszentrale genutzt wurde. Am häufigsten wurden jedoch beide zugleich als Forschungs- und Beobachtungseinrichtungen genutzt, sodass insgesamt eine ungestörte 360 Grad Rundumsicht ermöglicht wurde. Jede von ihnen wurde durch eine funkelnde Metallkugel gekrönt, den Coronorfeld-Emittern, die ein undurchdringliches Kraftfeld erzeugten und das Schiff praktisch unverwundbar machten. Entlang der Außenkante des Schiffes befanden sich unzählige Tore, Schleusen und Andockhalterungen. Dazwischen befanden sich weitere Feldemittoren, mit denen man die Zugänge zum Inneren abriegeln konnte. Immer weiter näherten sie sich der Intrepid. Das scheinbare Wachstum des Raumfahrzeuges schien kein Ende zu nehmen. Mouad starrte auf die für ihn immer bedrohlicher wirkende Masse des Schiffes, die schließlich die Sicht aus den Cockpitfenstern vollständig dominierte. Er fühlte, dass er wie in Zeitlupe mehr und mehr die Kontrolle über seinen Geist, seine Psyche verlor. Die Empfindungen, die ihn überwältigen, waren kaum in Worte zu fassen. Vielleicht war es eine Mischung aus ungläubigem Erstaunen gepaart mit Faszination und Neugierde - einerseits. Andererseits aber auch Unsicherheit, Furcht vor dem Unbekannten, Angst um seine Zukunft, seine eigene Existenz. Und dann kam noch der vollkommene Zusammenbruch seines Weltbildes hinzu, all das, woran er geglaubt hatte, seine Ideale und Träume. Alles erschien ihm mit einem Male unbedeutend, belanglos, vollkommen unwichtig. Denn er war sich inzwischen absolut sicher, dass dieses Schiff nicht von der Erde stammen konnte. Allein schon der schätzungsweise über 15 Kilometer betragende Durchmesser dieses Fluggeräts sprengte alle Dimensionen der auf der Erde verfügbaren Technologie.

Sie erreichten die kolossale Diskuskante. Ihre Außenseite war schätzungsweise 4 000 Meter hoch. Mouad erkannte zahllose Raumschotts und Einflugbereiche ohne sichtbare Trennung vom Weltraum, hinter denen grell erleuchtete Hangars und Landebahnen tief ins Schiffsinnere führten. Aber was für Raumschotts das waren! Ihr eigenes Vehikel war ein Staubkorn im Vergleich zu diesen Kolossen, die eine Höhe von mehreren 100 Metern aufwiesen. Jeder Hangarzugang wurde an der Schiffsaußenseite mit Positionslichtern markiert, die den Zugang regelten: Rot für Einflug gesperrt, grün erlaubte die Landung und blau signalisierte Wartungsarbeiten.

Für einen unvorbereiteten Reisenden wie Mouad verursachte die Landung in einem der Hangars auf der Intrepid eine heftige Kontroverse mit seiner bisherigen Realität. Denn er glaubte - wie in Trance - hinter zahllosen beleuchteten Fenstern, die sich auf beiden Seiten der titanischen Hallen scheinbar in unermesslich große Höhen wölbten, Details der fremdartigen Technologie ausmachen zu können:

Laboratorien, in denen Wissenschaftler ihren Experimenten und Auswertungen nachgingen,

ausgedehnte Werkstätten, in denen Besatzungsmitglieder und Roboter defekte Raumschiffe reparierten und Ersatzteile anfertigten,

Kontrollräume mit großen Steuerungspulten, hinter denen Flugüberwachungspersonal saß, um an Hand holographischer Anzeigen die Starts und Landungen zu koordinieren,

ringsherum verglaste Räume, die zur Untersuchung und Quarantäne von fremdartigen Lebewesen dienten und zur Not mit Kraftfeldern hermetisch abgeriegelt werden konnten,

und schließlich Balustraden, von denen Föderationisten eine hervorragende Übersicht auf das geschäftige Treiben haben konnten. In zwei Hangars schien es sogar Restaurants, von deren Balkons aus allerlei Neugierige den Start- und Landebetrieb verfolgen konnten, zu geben.

Ähnliche Transportfahrzeuge, wie das, in dem sie sich gerade befanden, steuerten zeitgleich zu ihrem Anflug auf die Intrepid die Landebahnen an, die sich vor ihnen wie nimmersatte, gähnende Mäuler auftaten.

Der Kampf zwischen seiner Ratio, die verzweifelt versuchte, die Beobachtungen auf rationale Ursachen zurückzuführen und den einstürmenden, fremdartigen Impressionen, spitzte sich immer mehr zu. In Mouad kam das Gefühl auf, nur noch ein absolut irrelevantes, marginales Etwas zu sein. Er begann jetzt endlich zu erahnen, ja zu begreifen, warum Knud sich vor wenigen Tagen so schwer damit getan hatte, ihn aus dem vom Krieg verheerten Libanon zu retten und an diesen futuristischen Ort zu bringen. Für diese Zivilisation mussten die in seiner Heimat sich voller Hass bekämpfenden Menschen den Eindruck primitiver und zugleich ordinärer Barbaren hinterlassen. Es stand für ihn inzwischen außer Zweifel, hier mit einer Hochkultur konfrontiert zu sein, die in ihrer technologischen und auch geistigen Blüte stand und der Erde in jeder Hinsicht auf Grund von äonenlanger friedlicher Evolution um Jahrzehntausende voraus war. Aber trotz dieser letzten rein von der Logik geprägten Überlegungen: Mouad gelang es nicht, diese neue Realität zu akzeptieren.

Er blickte unverwandt zu Knud hinüber, der sich auf die Anflugsequenz konzentrieren musste. Aber dieser würdigte ihn keine Blickes. Mouad überkam urplötzlich das Gefühl vollkommender Verlassenheit, dem hilflosen Ausgeliefertsein einer fremden Macht, der er absolut nicht gewachsen war. All das, was Knud für ihn getan hatte, all seine Fürsorglichkeit gegenüber seinem libanesischen Geliebten: Dies löste sich in Mouads Empfindungen spurlos auf.

Vor ihnen öffnete sich ein Raumschott, das aus Segmenten aufgebaut war, die von ihrer Anordnung einer Blende in einem Photoapparat glichen. Im dahinter liegenden ausgedehnten Hangar befanden sich zahllose andere Raumschiffe verschiedenster Form und Größe. Einige waren von länglicher Form und mit vielen Fenstern - wobei sich Mouad zugleich fragte, wozu man die denn hier noch bräuchte. Denn er hatte schon registriert, dass einer der hier verwendeten Baustoffe scheinbar aus einem Metall in ein reflektionsfreies Glas transformiert werden konnte. Sie wiesen daher eine starke Ähnlichkeit mit irdischen Flugzeugen auf. Andere wiederum waren wesentlich kompakter gebaut und erinnerten ihn an Kampfflugzeuge, da sie mit Fortsätzen ausgestattet waren, die Ähnlichkeit mit Kanonen oder Maschinengewehren aufwiesen. Bei der Passage des Schotts durchquerte ihr eigenes Zubringerschiff einen bläulichen Lichtvorhang. Dieser diente zur Dekontamination der Außenhülle der einfliegenden Flugobjekte und verhinderte zugleich das Ausströmen der Luft aus dem Hangar in die Leere des offenen Weltraums. Auf dem Boden der Halle schienen Menschen ziellos hin und her zu eilen, die von Transportmaschinen und sogar Robotern unterstützt wurden.

Mouads innere Zerrissenheit verschlimmerte sich. Er war sich absolut sicher, in einem Realität gewordenen Albtraum gefangen und dem Ende seiner eigenen Existenz hilflos ausgeliefert zu sein. Schockstarr und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, blickte er mit weit aufgerissenen Augen minutenlang auf diese Szenerie. Seine Gedanken rasten. Wie in einem Kaleidoskop flirrten die Erinnerungen von dem, was er in der letzten Zeit durchgemacht hatte, mit irrsinniger Geschwindigkeit an seinem inneren Beobachter vorbei. Einige dieser Bruchstücke schienen zu passen und mehrere von Knuds seltsamen Verhaltensweisen zu erklären. Andere wiederum verursachten nur noch ein größeres Chaos in seinem Gehirn. Aber an manchen Stellen dieses gefühlsmäßigen Irrsinns flackerte dann doch noch einmal seine Logik, seine Neugierde auf. Einer der Hauptfragen lautete zum Beispiel: ,Wie ist es möglich, dass Menschen in einem so fortschrittlichen Staat lebten?’ Er wusste aus seinen astrobiologischen Büchern, dass die Chance, damit sich auf einem anderen Planeten nochmals Humanoide entwickeln könnten, wesentlich geringer war, als ein bestimmtes Atom unter allen Atomen des Kosmos zu finden. Aber diese Erleichterung war für ihn nur von kurzer Dauer. Schließlich führte die Flut an einstürmenden neuen Impressionen dazu, dass in ihm etwas zerbrach. Aber er war nicht mehr in der Lage, diesen eigenartige inneren Zwiespalt näher zu spezifizieren. Erst jetzt bemerkte Knud, dass bei seinem Mann irgend etwas völlig aus dem Ruder lief. Er sah seine Anspannung, sein verzerrtes, bleiches Gesicht, seinen Angstschweiß. Er wusste aus den Erfahrungen früherer Einsätze, dass Mouad drauf und dran war, die Kontrolle über seinen eigenen Körper und Geist zu verlieren Mouads Lippen bebten, als Knud ihn zum Ende des Flugmanövers endlich wieder anschaute.

Der Zyklop setzte sanft auf dem Hangarboden zwischen Lichtkreuzen, die als Positionsmarkierung dienten, auf. „Willkommen an Bord der Intrepid”, sagte Knud leise, erhob sich und fasste seinen Freund zärtlich an der Hand. „Du bist in Sicherheit, hier gibt es keinen Krieg.”

Mouad war nicht mehr im Stande auch nur noch einen Ton hervorzubringen; er wirkte inzwischen sogar völlig apathisch. Die warmen Worte seines Freundes registrierte er gar nicht - sie erreichten noch nicht einmal sein Bewusstsein. Das Schott des Zyklopen öffnete sich. Zwei in beigefarbene Uniformen gekleidete Männer kamen mit einer Trage auf sie zu. Das Äskulapsymbol auf den Schulterklappen identifizierte sie als Schiffsärzte. Sie untersuchten Aischa kurz, hoben sie vorsichtig an und transportierten sie rasch hinaus. Aber auch dies bekam Mouad nicht mehr mit. Knud umschlang seinen Freund, drückte ihn liebevoll an sich, küsste ihn zärtlich auf den Mund. Aber trotz all dieser Bemühungen - Mouad war vollkommen indisponiert, als würde er die Kontrolle über seine eigene Existenz verlieren.

Knud fühlte Panik in sich aufsteigen: „Mouad, mein geliebter Mouad - tu mir das jetzt nicht an! Du darfst dich nicht aufgeben!” Fassungslos führte Knud seinen Freund wie ein willenloses Wesen aus dem Cockpit. Vorbei an der seltsamen Ladung aus Goldbarren und Ölfässern. Eine freundliche Frauenstimme ertönte und gab einige Erklärungen. Unmittelbar danach strömte aus allen Wänden des Schiffes ein intensives blaues Leuchten auf sie ein. „Dekontamination, wie vorhin beim Einflug in das Hangar”, versuchte Knud seinen Freund erneut anzusprechen, nochmals zu beruhigen. Aber dieser zeigte immer noch keine Reaktion. Mouad schien sich wie in Trance zu bewegen.

Sie schritten auf die Außenluke des Zyklopen zu. Und wieder sprach die Stimme etwas für Mouad Unverständliches. Die Tür schwang auf. Gleißendes Licht der Hangarbeleuchtung empfing sie. Saubere Luft, die leicht metallisch roch, stieg ihnen in die Nase. Das betriebsame, leise Sirren von Motoren, ein babylonisches Stimmengewirr, das das Gefühl von Hektik aufkommen ließ und das Trappeln unzähliger Füße drang an ihre Ohren. Eine gigantische Halle wölbte sich über ihnen. Die Decke war in fast 500 Metern Höhe über ihnen aus wabenförmigen Segmenten aufgebaut, um die enormen Kräfte, die auf das Schiff wirkten, abzufangen. Der überwältigende Gesamteindruck wurde noch durch die zwei Kilometer Tiefe und über einen Kilometer Breite des Raums verstärkt. Bekannte irdische Bauwerke wie der Petersdom in Rom oder die Pyramiden von Gizeh wirkten geradezu winzig im Vergleich zu diesen kolossalen Abmessungen des Hangars. Eine Unzahl von Türen, die zu Dekontaminationsräumen, Aufzügen, Werkstätten und Mannschaftsquartieren führten, bildeten den Übergang zwischen Wand und Landungsboden.

Mouad wankte benommen die Treppe hinab und blickte ungläubig zu dem gigantischen Raumschott hinüber, das sie soeben passiert hatten. Ein aerodynamisch geformtes, blau-metallisch schimmerndes Fluggerät schwebte gerade hinein, das einer Concorde nicht unähnlich war. Es war extrem wendig. Ein leises Zischen - und die Maschine setzte im hinteren Teil des Hangars zur Landung an. Hunderte, auf diese Entfernung winzig erscheinende Figuren, stiegen aus und verschwanden in Lifttüren, die zu den Räumen des medizinischen Check-Ins führten. Mouad probierte seinen Blick gleichzeitig in alle Richtungen zu lenken, was ihm aber auch nach mehreren Anläufen nicht gelang. Er war mit der Gesamtsituation vollkommen überfordert, nahm seine nächste Umgebung nicht einmal mehr wahr und stolperte. Knud fing ihn auf und zwang ihn sanft, nach vorn zu blicken.

Am Fuß der Treppe warteten eine Frau und ein dunkelhäutiger Mann - in dunkelblaue Militäruniformen gekleidet. Beide waren hochgewachsen und schlank. Sie hatte dunkelgrüne Augen, mit denen sie die Neuankömmlinge durchdringend musterte. Ihr Gesicht zeigte leicht asiatische Züge, hatte zudem eine gelbliche Hautfarbe. Ihre scharfgeschnittene Nase unterstrich ihren energischen, aber in keiner Weise bedrohlichen Eindruck. „Willkommen - Sire. Wir sind froh, Euch wieder an Bord zu haben”, sprach sie in einem melodischen Singsang. Ihre Augen strahlten dabei. Knud merkte sofort, dass sie sich sehr zusammennehmen musste, um nicht eine ironisch - spitze Bemerkung loszulassen. Knud war nämlich vor den beiden Offizieren in Unterwäsche erschienen - und Mouad steckte in der Uniform eines Kundschafters. Die Frau sprach Mouad in französisch an, weil sie wusste, dass dies eine der Amtssprachen im Libanon ist. Aber man merkte deutlich, dass sie diese Kommunikationsform nicht besonders gut beherrschte. „Auch an Sie Herr...?” „Bribire, Mouad Bribire”, sprang Knud ihr bei. „Auch an Sie ein herzliches Willkommen.” Mouad blickte sie schweigend - sogar scheinbar emotionslos an. Der Mann, ein älterer weißhaariger Herr mit stark afrikanischen Zügen, begrüßte die beiden freundlich, wenn auch das Französische noch schwerer verständlich war als das von Astrid. Er hatte sehr dicke, wulstige Lippen und eine ziemlich breite Nase. Sein Gesicht war mit unzähligen Lachfältchen durchzogen. Die Haarbüschel, in typisch schwarzafrikanischer Kräusel- und Lockenform, wuchsen an vielen Stellen wirr in die Höhe. Wie ein zerstreuter Professor aus einem Schwarzweißfilm der neunzehnhundertzwanziger Jahre wirkte dieser Mann. Nur die Hautfarbe stimmte nicht. „Das ist meine Schwester - Admiral Astrid Larssen, Kommandantin dieses Schiffes. Und dies hier ist Commander Youness Moluh, der erste Offizier,” stellte Knud Mouad die beiden vor. Als Zeichen ihres Ranges trug Astrid auf der Schulter vier winzige Brillanten, der erste Offizier nur drei. Auf der Uniform war das Emblem mit den Magellanschen Wolken aufgestickt. Es war identisch mit dem Symbol, das Mouad bereits auf der Außenseite des Zyklopen identifiziert hatte.

Mouad zeigte jedoch noch immer keine Reaktion. Auf seiner Stirn bildeten sich erneut Schweißperlen. Sein ganzer Körper rebellierte. Er versuchte vergeblich, seine Fassung zurückzuerlangen. Astrid sprach Knud jetzt in UniKaL energisch an, der universellen Kommunikationsform in der Magellanschen Föderation. „Führe Mouad so rasch wie möglich in dein Quartier. Lass ihn erstmal zur Ruhe kommen. Dein Freund ist noch jung - und diese Flut an neuen, ihn überwältigenden Eindrücken ist für ihn wie ein Schock - das ist nicht zu übersehen. Sollen wir Krwysnoggh, den Bordarzt informieren?” Knud schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, dass er von selbst in der Lage ist, aus dieser geistigen Notsituation herauszufinden. Aber gegen eine medizinische Fernsupervision habe ich nichts einzuwenden.” „Lass ihn auf keinen Fall für längere Zeit aus den Augen”, fügte Youness besorgt hinzu „dass er sich ja nichts antut.” „Ich weiß”, entgegnete Knud. „Er hat seit mehreren Nächten auf seiner Flucht zu meiner Beiruter Wohnung und während unseres gemeinsamen, lebensgefährlichen Höllenritts aus dem libanesischen Hexenkessel nicht oder nur wenig geschlafen. Mouad hat apokalyptische Szenen miterleben müssen, die auch ich bis jetzt nur bruchstückhaft in Erfahrung bringen konnte. Schon bei dem ersten Teil seiner Flucht ist er lebensgefährlich verletzt worden. Nur der Zellaktivator, den ich ihm in meiner, bereits unter Beschuss stehenden Wohnung, injiziert hatte, rettete ihm das Leben. Und bei einem Unfall vor wenigen Stunden hat er viel Blut verloren.” „Wenn du Hilfe brauchst, Knud, so zögere nicht, mich zu rufen. Im Moment hält sich nämlich mein Arbeitspensum in Grenzen. Ich komme in zwei Stunden noch einmal bei euch vorbei und werde nachsehen, ob es Mouad besser geht.” „Vielen Dank, Astrid.” Die Erleichterung über ihr Entgegenkommen war Knud deutlich anzumerken. „Dieses fürsorgliche Angebot kann ich jetzt gut gebrauchen, denn auch ich bin inzwischen so ziemlich am Ende meiner Kräfte.” „Und, denke daran,” fuhr Astrid mitfühlend fort, „wenn der Computer es gutheißt, sorge dafür, dass Mouad im Schlaf UniKaL lernt. So aufgeweckt und interessiert, wie er nach deinen Schilderungen seines Wesens zu sein scheint, dürfte es ihm nicht schwer fallen, rasch neue Kontakte zu Föderationisten aufzubauen. Ich bringe bei meinem Kurzbesuch auch noch einen Neuronenaktivator mit.” „Gut”, meinte Knud, „auch wenn ich mich zu diesem Zeitpunkt bereits zur Nachtruhe zurückgezogen haben sollte, zögere nicht, ihm den Aktivator aufzusetzen.” Astrid nickte. „Ich selbst werde auf Grund meiner Erschöpfung vermutlich erst in ungefähr 24 Stunden in der Lage sein, Sie beide über die sehr brenzlige politische Lage im Nahen Osten zu informieren. Einen Termin für ein Meeting der Führungsoffiziere gebe ich später bekannt”, erwiderte Knud auf die fragende non-verbale Kommunikation der beiden Offiziere.

Ein Schluchzen ertönte neben ihm. Mouad stöhnte und sank fast besinnungslos in sich zusammen. Die Trauer um den Verlust seiner Eltern, die seelische und körperliche Überanstrengung während seiner zweifachen Flucht, die Auswirkungen der erlebten Todesangst, der Kulturschock über die neue Zivilisation: All dies konnte er nicht mehr bewältigen. Knud trug ihn mit raschen Schritten aus dem Hangar hinaus. Astrid stutzte, überlegte einen kurzen Moment und holte Knud wenige Meter vor der Schleuse ein, die zum schiffsweiten Transportsystem führte. Sie holte tief Luft: „Ich habe noch eine, hoffentlich diesmal für dich positive Nachricht. Mary hat auf deinen Wunsch hin, so berichtete sie mir vor geraumer Zeit, einen Professor Bribire, seine Frau Fatima und einen Jungen mit dem Namen Elias hierher gebracht. Der Professor ist sehr schwer verwundet. Er liegt in einem medizinischen Sarg, einem medizinischen Roboter. Der Mann hat ein Bein verloren und seine Lunge ist perforiert.” Knud fiel ein Stein vom Herzen. Er wusste, dass sich sein Gesundheitszustand nach einer Behandlung mit dieser Apparatur erheblich verbessern würde. Vielleicht würde er sogar keinerlei Folgeschäden davontragen. Seine Augen strahlten. „Das ist die beste Nachricht, die ich seit langem gehört habe.” „Seine Angehörigen waren zu dem Zeitpunkt, als Mary sie auffand, nervlich völlig am Ende. Leider wird eine endgültige Diagnose, ob der Professor wieder vollständig genesen wird, erst in ungefähr acht oder neun Stunden vorliegen. Das jedenfalls teilte mir der Schiffsarzt vor wenigen Minuten mit. Eine Aussage über bleibende Schäden kann erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.” „Danke, Schwester. Trotz der Einschränkungen über den Gesundheitszustand bin ich überaus glücklich, dies von dir zu hören!” „Ich kann übrigens inzwischen ein wenig mehr nachvollziehen, warum du die Menschen gerettet hast. Moluh und Mary haben mir einiges von dem, was sich auf Terra in letzter Zeit zugetragen hat, berichtet.” Knud wirkte etwas erleichtert. „Danke, das beruhigt mich ein wenig. Aber was ist mit dem kleinen Mädchen?” Astrid holte einen Kommunikator zum Vorschein und sprach leise hinein, während sie weiter voran hasteten. Astrid stellte dabei fest, wie ausgelaugt ihr Bruder war: Dunkle Ränder unter den Augen und eine gewisse Nervosität in seiner Stimme verrieten es. Knud versuchte zwar, sich unter Kontrolle zu halten, aber es gelang ihm dennoch nicht vollständig. Astrid - nach einer Weile: „Ihr Überleben steht auf Messers Schneide. Sie scheint wohl erhebliche innere Verletzungen davongetragen zu haben.” Knud blieb abrupt stehen. Seine Augen schimmerten feucht. „Ist es wirklich so schlimm?”, flüsterte er. „Du magst die Kleine, nicht wahr?” „Sie ist mir so ans Herz gewachsen, als wäre sie meine eigene Tochter.” „Diese Reaktion ehrt dich. Du wärest bestimmt auch ein guter biologischer Vater geworden.” „Ich habe ihr geschworen, dass ich mich wie die eigenen Eltern um sie kümmern werde.” „Was ist mit ihnen?” „Bitte frag nicht weiter. Sie haben beide ihren eigenen Körper als Schutzschild benutzt, damit sie überleben kann. Mouad hat dies sofort gesehen und dem Kind das Leben gerettet, nachdem wir sie unter den Leichnamen ihres Vaters und ihrer Mutter herausgezogen haben.” „Das... das wusste ich nicht”, stammelte Astrid. „Nicht, dass wir uns missverstehen: Ich werde dir niemals Vorwürfe machen dahingehend, dass du mich während der letzten Tage der Mission nochmals an die föderalen Grundprinzipien der Vorgehensweise von Beobachtern auf fremden Planeten erinnert hast. Aber du kannst dir sicher sein: Ich habe nicht irgendwen leichtherzig oder gar leichtfertig mitgenommen. All die Terraner, die ich an Bord des Schiffes geholt habe, sind mir ans Herz gewachsen, sind kostbar für mich. Denn sie sind eine Zierde ihrer Art.” „Ich kann dir jedenfalls versichern, dass die Ärzte alles nur denkbar Mögliche tun werden, um Aishas und Wahids Leben zu retten.”

„Eine Frage muss ich dir aber noch unbedingt stellen. Warum genau hast du die Bribires eigentlich hierher gebracht?” „Der Professor hat die Grundgleichungen des Coron-Antriebs entwickelt.” Astrid schaute ihn entgeistert an, blieb abrupt stehen. „Das... das ist ja unglaublich. Ein solches Wissen existiert auf Sol III?”, entfuhr es ihr. Sie konnte es einfach nicht fassen. Knud blickte sie aus schmalen Augen an: ,Astrid, ich weiß, was du denkst, auch wenn du nicht alles sagst.’ „Dies ist natürlich ein Grund, den ich absolut akzeptiere. Der Mann muss ja richtig gut sein.” „Brillant, Schwester, wäre der bessere Ausdruck.”

Die Transportkabine stoppte. Sie betraten ein Gangsystem, in dem unzählige Menschen, Vertreter anderer Rassen sowie Roboter entlangliefen. Rechts und links vom Hauptgang zweigten Gänge zu den Labors der Astrophysiker ab. Zwischen den Türen befanden sich spektakuläre Aufnahmen von verschiedenen Welten der Föderation und setzten faszinierende optische Akzente auf die ansonsten eintönig metallisch schimmernden Wände, die ansonsten die Funktion eines riesigen Touchscreens hatten. Nur durch bloßes Berühren mit seiner Hand und der Eingabe eines bestimmten Passwords konnte jedermann, je nachdem, welche Nutzungsrechte ihm zugewiesen worden waren, Kommandos eingeben, Informationen abrufen oder Daten über das schiffsweite Kommunikationssystem versenden. Das System war darüber hinaus in der Lage, fast jede denkbare multimediale Eigenschaft anzunehmen, so zum Beispiel die Funktion eines Eingabepanels an jedem beliebigen Ort des Schiffes, als Kunstobjekt, um Aufnahmen zu präsentieren, als Whiteboardersatz, um Formeln oder Berechnungen anzuschreiben oder auch um Filme zu präsentieren. Dazu musste lediglich über den Intercom der richtige Befehl mit dem passenden Password eingegeben werden, um die vollständigen Funktionen des Brückenzentralrechners an jeden beliebigen Ort zu verlegen. Dies war ein Vorteil des Biometallpolymers, aus dem große Teile des Schiffs aufgebaut waren. Seine atomare Struktur war mit geeigneten Steuerungsbefehlen beliebig zu variieren. Dadurch waren auch seine physikalischen Eigenschaften veränderbar: Im Notfall konnten die Wände verschoben und in ihrem molekularen Aufbau dahingehend verändert werden, um bei Schäden an der Außenhülle gefährliche Strahlungen aus dem Kosmos zu absorbieren. Dadurch war man in der Lage, die Besatzung vor gesundheitlichen Risiken zu bewahren. Auch vor Geschossen aller Art, wie schnell fliegenden Meteoriten oder gar Asteroidenbruchstücken, bot das Material absoluten Schutz.

Mouad bekam von all dem jedoch nichts mehr mit. Und Knud hatte keine Zeit, die phantastischen, fremdartigen Panoramen zu bewundern. Aber er kannte die Ansichten aus eigener Anschauung, da er viele dieser Welten schon früher bereist hatte. In exakt der Reihenfolge, wie sie ausgestellt waren, konnte ein Besucher die folgenden fesselnden Panoramen bewundern:

Einen titanischen Wasserfall, der in einen kilometertiefen Abgrund hinab donnerte und dabei vom Licht mehrerer Monde angestrahlt wurde. Dies war eine nur wenigen Besuchern bekannte, weit entfernte Welt mit dem Namen Asiwadran VIII. Sie besaß bei Wissenschaftlern für ihre geographisch-geologischen Extreme einen legendären Ruf. Die Gischt dieses Kataraktes wurde durch das verschiedenfarbige Licht der Monde sowie durch Gasscheiben, die diese Trabanten umgaben, in irisierende Haloerscheinungen verwandelt.

Einen Planeten, der von einem Ringsystem umgeben war und von dem man bereits aus der Umlaufbahn - aus mehreren 100 Kilometern Höhe - erkennen konnte, dass diese Welt eine einzige, planetenumspannende Riesenstadt bildete. Sogar ausgedehnte zyklische Stadtstrukturen, kolossale, viele Kilometer hohe Bauwerke, Brücken und Raumhäfen konnte man aus dieser Entfernung ausmachen. Besonders faszinierend war der Tag-Nacht-Übergang, der scheinbar auf das Raumschiff zuraste: Auf der Nachtseite erstrahlten die Bauten in künstlichem Licht. Von diesem grell erleuchteten Zentrum führten verschieden gefärbte Speichen von je über 1 000 Kilometern Länge, die Transportsysteme repräsentierten, radial nach außen. Sie endeten in einem gewaltigen Kreis aus Trabantenstädten. Ungeheure, ausgedehnte, schachbrettartig angeordnete Linienmuster der Luftschiffstraßen und geometrische, an Polygone erinnernde Strukturen der photovoltaischen Anlagen, die die Sonnenstrahlung zur Energieerzeugung nutzten, schufen überdies ein grandioses Feuerwerk in diesem planetenweiten, künstlichen Lichtermeer.

Rasiermesserscharfe, ockerfarbene Felsnadeln ragten aus einer Sandwüste heraus. Nur durch einen schmalen Streifen violetten Himmels von der Spitze einer besonders imposanten Erosionsskulptur getrennt, beherrschten zwei Sonnen - eine tiefrote und eine gelborange, die sehr dicht aneinander lagen - die Landschaft. Die Silhouetten der kilometerhohen, durch titanische Naturkräfte über Jahrmillionen entstandenen natürlichen Wolkenkratzer, erzeugten tiefschwarze Schatten im bräunlich-gelben Sandmeer.

Mouad jedoch lag regungslos in Knuds Armen. Knud folgte der Flurlinie, wartete vor einer weiteren Lifttür und wurde freundlich von einigen der Vorbeieilenden begrüßt. Auf die fragenden Blicke der Freunde in Richtung Mouad und seine eigenartige Bekleidung antwortete er nur mit einem hektisch wirkenden: „Später, später.” Knud betrat eine weitere, hellerleuchtete Kabine, deren Wände mit ebenso phantastischen Aufnahmen planetenweiter Wasserwelten mit unglaublich hohen Wellengebirgen, die durch titanische Winde erzeugt wurden, geschmückt waren und die sich unmittelbar nach ihrem Eintreten sanft in Bewegung setzte. Der Aufzug stoppte. Auf dessen Display erschien der Schriftzug ,Habitatbereich’. Die Tür öffnete sich. Knud trat mit seinem Freund auf dem Arm hinaus. Nur noch wenige Schritte schräg zu einer Schleuse rechts vor ihm - und er gelangte zu seinem Quartier. Seine Schwester blieb zurück und rief ihm nach, bevor sich die Lifttüren wieder schlossen: „Gib mir bitte Bescheid, wenn du beziehungsweise ihr Hilfe benötigt. Ich komme dann sofort.” „Das weiß ich doch”, entgegnete Knud. „Aber ich denke, Schlaf ist das Nötigste, was wir jetzt brauchen.” Er sprach ein Codewort. Die Tür vor ihm öffnete sich. Er wandte sich an den Schiffscomputer: „Keine Beleuchtung, bitte”.

Sie betraten einen großen Raum, an dessen Ende durch die Quartierverglasung der Weltraum mit unzähligen Sternen zu sehen war. Knud befahl dem Bordcomputer, die Sicht nach außen zu deaktivieren. Rechts, neben der Badezimmertür, befand sich ein geräumiges und bequemes Bett, auf das Knud seinen zitternden und selbst im Traum noch nervös zuckenden Freund legte. Knud setzte sich neben ihn und streichelte ihm zärtlich über Gesicht und Haar. Er bückte sich und legte Mouads Kopf in seinen Schoß. „Schscht, es ist alles gut”, murmelte Knud. Mouad erlangte langsam das Bewusstsein wieder. Leise begann er ein altes Kinderlied zu singen, womit Knud schon als kleiner Junge von seiner Mutter in das Reich der Träume gewiegt worden war. Allmählich schien sich Mouad zu beruhigen, bis ihn Erschöpfung erneut übermannte und er wieder in tiefen Schlaf abglitt.

Die Krankenstation

Elias schlug die Augen auf. Er erblickte über sich eine flache, durchgängige Glasabdeckung, die sich über sein gesamtes Blickfeld hinweg auszudehnen schien. Durch dicke Wasserlachen verzerrt erkannte er fleischige, dunkelgrüne Blätter, Schlingpflanzen und Zweige. Dahinter erhoben sich verschiedenartige, scharlachrote, gelbe und tiefblaue, geöffnete und halbgeschlossene Blüten unterschiedlicher Pflanzengattungen. Ihre Ränder variierten stark: Glatt, ausgefranst, nach innen gewölbt, gezahnt... Es regnete. Er hörte, wie immer wieder mit leichtem ,Platsch’ und ,Klack’ Wassertropfen auf der gläsernen Ebene zerspratzten. Winzige Kügelchen, die aufgrund der Oberflächenspannung auf der Oberseite der kleinen Wasserflächen hin und her tanzten, beobachtete er gedankenverloren. Fasziniert betrachtete er eine Zeitlang dieses beruhigende Spiel aus Licht und Schatten, winzigen Wellen, herablaufenden Wasserschlieren, die Tropfenketten hinter sich herzogen. Blätter klatschten durch Wind ab und zu in diese Muster und wirbelten die Symmetrie der wie Perlen auf der Oberseite der Glasplatten aneinandergereihten Wasserhalbkugeln durcheinander. Die Luft, deren Frische er genoss, war feucht und wunderbar würzig.

Doch plötzlich wurden ihm die letzten dramatischen Ereignisse wieder bewusst: Der Verlust Mouads, die Zerstörung des Hauses, die Flucht, der schwer verletzte Vater, sein missglückter Versuch, Hilfe zu holen und seine völlige Verzweiflung angesichts der ausweglosen Lage. Er dachte an Mary, die scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht war. Dann - als letzter Erinnerungsfetzen - wie sie schließlich, als es keine Rettung mehr zu geben schien, in irgendein fremdartiges Fluggerät stiegen. ,Das alles ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Wieso liege ich in einer Art Gewächshaus? So etwas existiert vielleicht in irgend einem botanischen Garten - aber doch nicht dort, wo wir uns zuletzt aufhielten. So eine saubere Luft gibt es nirgendwo im Libanon und auch nicht in den anderen Ländern des Nahen Ostens.’ Vorsichtig bewegte er unter seiner kuschelig-weichen, wärmenden Bettdecke seine Arme und Beine. ,Scheint noch alles normal zu funktionieren’, stellte er erleichtert, aber zugleich auch ziemlich erstaunt fest. Er fühlte sich ausgeruht, munter und aufgeweckt. Leise Stimmen ganz in der Nähe erregten seine Aufmerksamkeit. Vorsichtig drehte er seinen Kopf nach rechts. Vor einer beeindruckenden Glasfront, hinter der ein Urwald voller rätselhafter Lebensformen aufragte, saßen zwei Frauen auf Drehstühlen im Halbprofil.

Ungläubig betrachtete er sie. Ihm stockte der Atem. Aber dann konnte er sein Glück und seine große Freude kaum fassen - denn die beiden Personen waren ihm wohlvertraut: Seine Mutter trank genüsslich ihren geliebten Schwarztee - und Mary, die ihr ohne Hast irgend etwas zu erläutern schien. Fatima drehte leicht ihren Kopf und warf ihm einen prüfenden Blick zu. „Er ist wach”, sagte sie lauter zu Mary, die ihre Ausführungen unterbrach. Seine Mutter setzte die Tasse auf dem Tischchen ab. Sie erhob sich und kam auf ihn zu. Ganz zärtlich und sanft streichelte sie durch sein Haar. „Wie geht es dir?”, fragte Fatima. Dabei strahlte sie glücklich. Er hatte seine Mutter schon lange nicht mehr so entspannt und freudig gesehen. Ihre Augen leuchteten erwartungsvoll. „So gut wie noch nie. Mir fehlt nichts. Ich habe keinerlei Schmerzen. Darf ich aufstehen?”

Mary trat zu ihnen. „Sicher kannst du das. Außer der psychischen Belastung, die dich noch über Tage, ja Wochen hinweg quälen dürfte, bist du körperlich topfit. Am besten lässt du dir von Fatima erklären, wie eine Ultraschalldusche funktioniert und wie man sich hier frischmacht. Deine Mutter besorgt dann auch etwas zum Anziehen. Ich warte so lange. Dann schauen wir, wie es deinem Vater geht.” „Aber wo sind wir?”, fragte Elias erstaunt. „So etwas schönes und beruhigendes wie diesen Garten habe ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen. Und solche kristallklare Luft kenne ich nur aus dem libanesischen Hochgebirge im Winter. Aber selbst da kann man Gerüche von Bränden der Industrie und des ausufernden Individualverkehrs wahrnehmen.” „Eins nach dem anderen”, schmunzelte Mary. „Je eher du aus den Federn kommst und dich zivilisierst, desto schneller erhältst du alle Informationen.” Eilig krabbelte Elias aus dem Bett. Dabei bemerkte er, dass er in einen weißen Frotteeschlafanzug gekleidet war, der sich sehr angenehm anfühlte. Der kubische Raum, in dem er sich befand, war als gläserner Balkon konstruiert, der von drei Seiten durch intensiven Pflanzenbewuchs begrenzt war. Auch die kristallene Decke gab den Blick auf wuchernde Vegetation frei. Jeweils vier zu diesem Zeitpunkt leere Ruhebetten standen längs der riesigen Panoramascheiben, daneben die ihm bereits bekannten Tischchen und Stühle. Auf der dem Garten abgewandten Seite befand sich ein gläsernes Portal, hinter dem er einen Gang erkannte, von dem auf beiden Seiten in regelmäßigen Abständen Eingänge zu weiteren Zimmern abzweigten. ,Krankenstation’, war über dem Eingang in goldfarbenen Lettern zu lesen „Komm”, sagte Fatima, „lass uns ein neues Leben beginnen. Wenn du im Bad nicht zu lange rumtrödelst, dann erkläre ich dir anschließend all’ das, was ich weiß.” „Wo sind wir?” Elias ließ nicht locker. „Wie geht es meinem Vater?” „Wahid wird leben - das wurde mir schon versichert. Aber ich vermute, dass er mit erheblichen Behinderungen zurechtkommen muss; er wird mit Sicherheit einen Rollstuhl benötigen. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass man seine Beine nicht wird retten können. Jedoch - trotz allen Leides, das insbesondere dein Vater erdulden musste: Wir können alle froh sein, dass wir lebend aus der Kriegshölle des Libanon entkommen sind. Denn die blauweißen Blitze, die wir alle in den letzten Minuten gesehen haben - es war tatsächlich der Widerschein taktischer Atomwaffen. Was jetzt die Menschen vor Ort in der Levante bevorsteht - ich befürchte, ihr Schicksal wird unvergleichlich viel entsetzlicher als das Unsrige sein.” Elias bleib ruckartig stehen. „Es ist also wirklich so schlimm?” Fatima nickte. Ihr Entsetzen spiegelte sich in ihrem Gesicht wieder. „Weiß man schon, wer dies zu verantworten hat?” „Mary konnte mir diese Frage auch nicht beantworten. In 24 Stunden soll es nähere Informationen geben.” Elias verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Fatima umarmte ihn. „Komm weiter”, sprach sie sanft. „Lass uns nach deinem Vater sehen.”

Die Tür, die in das Innere der medizinischen Abteilung führte, glitt vor ihnen zur Seite. Sie traten hindurch. Nach ungefähr fünf Metern öffnete seine Mutter eine Schleuse mit der Aufschrift ,Bad’. Der vor ihnen liegende Raum war mit einem goldfarbenen Metall ausgekleidet. Winzige Düsen waren in der Wand eingelassen. Rechts, direkt hinter der Tür, standen Badelatschen in verschiedenen Größen. Fatima deutete auf sie. „Zieh dir die passende Größe über. Der ganze Raum ist mit einem Material ausgekleidet, auf dem nichts haftet und keine Reibung entsteht. Du rutscht aus, sobald du mit bloßen Füßen hineingehst und kannst dich dann nirgendwo festhalten. Nur die Sohlenbeschichtung dieser Schuhe verhindert, dass du fällst. Der Duschvorgang selbst ist rechnergesteuert. Hunderte von Sprühköpfen befinden sich an den Wänden und in der Decke. Aus ihnen tritt angenehm temperiertes Wasser aus. Dies wird mit einer speziell auf das jeweilige Lebewesen abgestimmten Tensidmischung angereichert. Die Reinigungswirkung der dabei entstehenden feinen Tröpfchen wird zusätzlich durch Ultraschall extrem verstärkt. Man fühlt sich hinterher wunderbar erfrischt und sauber. Wenn dir die Wassertemperatur nicht behagt, kannst du selbst wählen: ,Start, stop, wärmer, kälter.’ Auch verschiedene Duftstoffe kannst du anfordern: Rose, Orange, um nur einige Aromen zu nennen. Vieles geht hier computergesteuert. Wenn du etwas nicht verstehst: Der Computer beantwortet dir fast alles.” Elias blickte sie verständnislos an. Er war mit seinen Gedanken noch in der Levante. „Elias, wir können nichts an der Situation in unserer Heimat ändern - selbst wenn die Welt unterginge. Versuch die Gedanken daran erstmal zu verdrängen.” „Mir bleibt offensichtlich gar nichts anderes übrig.” „Los, jetzt erstmal rein mit dir. Danach besprechen wir alles Weitere. In der Zwischenzeit hole ich dir deine Kleidung.”

Seine Gedanken rasten, als er in der Zelle stand. ,Was soll das alles?’ ,Wo bin ich hier eigentlich?’ - ,Auf jeden Fall nicht in einem arabischen oder amerikanischen Gefängnis!’ So viel stand für ihn schon mal definitiv fest. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass irgendein Staat so einen Luxus für Straftäter aufwenden würde. Er spürte sofort die belebende und erfrischende Wirkung der feinzerstäubten Flüssigkeit. Ein leichtes Kribbeln durchfuhr ihn, als der Ultraschall die oberste Hautschicht in intensive Vibrationen versetzte. Es war wirklich erstaunlich: Kein Wassertropfen benetzte die Wände, alle Flüssigkeit floss dem in der Mitte des Bodens eingelassenen Siphon zu. Als er mit den Fingern die Wände entlangfuhr, merkte er, dass die Hände ohne Widerstand die Oberfläche entlangglitten - ein schon sehr eigenartiges und verwirrendes Gefühl. Schließlich schreckte ihn der Computer aus seinen Gedanken auf. „Ihre Duschzeit ist beendet. Möchten Sie noch eine Duftnote erhalten?”, meldete sich die künstliche Stimme, wobei die Tonlage so gewählt war, dass man nicht unterscheiden konnte, ob ein Mann oder eine Frau sprach. „Limone, bitte.” Ein hauchfeiner Nebel umhüllte ihn mit einem dezenten, wunderbaren Wohlgeruch.

Die Tür öffnete sich. Seine Mutter reichte ihm einen sorgfältig gefalteten und angenehm riechenden Kleidungsstapel. Rasch zog er sich an und streifte sich eine Jeanshose und ein kariertes Hemd über; Kleidung, die er auch auf der Erde sehr gern getragen hatte. „Komm, wir schauen jetzt erst einmal nach deinem Vater.”

Sie gingen den Flur, den sie vorhin bereits betreten hatten, etwa 20 Meter weiter nach rechts hinab. Auch hier fehlte das übliche, sterile Weiß der Gänge irdischer Krankenhäuser: Er erblickte fremdartige Lebensformen, die in Form einer irdischen Diashow überlebensgroß an den Wänden projiziert wurden. Diese verhielten sich auch hier wie überdimensionale, irdische TFT-Monitore, nur dass sie eine Auflösung besaßen, die weit besser war als die des menschlichen Auges. Die Darstellungen wirkten so photorealistisch, dass er überlegte, ob dies reale Aufnahmen waren. Ein unsicheres, fremdartiges Gefühl kam in Elias auf - eine Ahnung, die in letzter Konsequenz so unglaublich fantastisch war, dass er seinem Gehirn verbot, weitere Überlegungen in dieser Richtung anzustellen. Schließlich standen sie vor einer Tür und begehrten Einlass. „Herein”, rief eine vertraute Stimme. Sie betraten einen lichtdurchfluteten Raum, an dessen gegenüberliegender Seite sich eine gläserne Schiebetür befand, die erneut einen Blick in undurchdringliches Grün gewährte. Rechts davor stand eine Mischung aus Tisch und Bett. Auf ihr lag sein Vater. Unter der Liegefläche waren hinter einem Touchscreen zahllose Anzeigen, Graphen und virtuelle Schalter zu erkennen, dessen Funktionen und Darstellungen ihm unbekannt waren. Beide Beine des Professors und der größte Teil seines Bauch- und Brustraums waren in einer kastenförmigen Apparatur verborgen. Wahid war wach und drehte ihnen den Kopf zu. Seine Augen strahlten, als er seinen Sohn endlich wieder zu Gesicht bekam. „Vater”, rief Elias aus und stürmte gerührt und freudestrahlend auf ihn zu. Er versuchte ihn zu umarmen, was jedoch nur ansatzweise gelang, da sich Wahid aufgrund der Behinderung durch die medizinischen Geräte ihm nicht weit genug zuwenden konnte. „Nicht so stürmisch, junger Mann”, meinte er schmunzelnd, dabei sichtlich bewegt. Minutenlang umarmten sich Vater und Sohn. Beide konnten es einfach nicht fassen, einander lebend wiederzusehen. „Wie geht es dir?”, fragte Elias nach einer Weile nachdenklich seinen Vater. Er war, auch nach den Worten seiner Mutter, absolut davon überzeugt, dass Wahid nun für alle Zeiten an einen Rollstuhl gefesselt sein würde. Auch wenn er nicht Medizin studiert hatte, so war er sich doch dessen bewusst, dass die erlittenen lebensbedrohlichen Verletzungen Wahid für immer zu einem Krüppel gemacht haben mussten. „Wie sieht es mit meinen Beinen und meinem restlichen Körper aus?”, wollte Wahid schließlich von Mary wissen. Ein leichtes Vibrieren in seiner Stimme verriet seiner Frau, dass er äußerst nervös war. Elias sah Mary sehr verunsichert, ja sogar verängstigt an. Fatimas Hand zitterte, während sie auf Marys Reaktion wartete. Die so Angesprochene machte sich an der Steuerungskonsole zu schaffen, führte sogar mehrmals Gespräche, die jedoch im Flüsterton geführt wurden, so dass sie keine neuen Erkenntnisse daraus gewinnen konnten. Endlich wandte sich Mary ihnen zu. Ihre Körpersprache verströmte Beruhigung. „Sie werden wieder vollständig genesen”, antwortete diese. „Sie brauchen keine Angst mehr zu haben.” „Das kann nicht sein. Bitte sagen Sie uns doch die Wahrheit!”, warf Fatima ungläubig ein und schüttelte energisch den Kopf. „Ich habe mich lange genug mit medizinischen Grundlagen beschäftigt und weiß daher, dass sein rechtes Bein amputiert werden muss - und das andere, das mit Granatsplittern durchsiebt war, vermutlich auch. Und ob er das ursprüngliche Atemvolumen seiner Lunge wieder zurückerhält, erscheint mir doch mehr als fraglich.”

Ehe Mary darauf etwas erwidern konnte, meldete sich die sanfte Computerstimme zu Wort: „Der Patient Wahid Bribire ist zu 100 Prozent wiederhergestellt. Er darf aufstehen und seine regenerierten Extremitäten normal belasten. Sportliche Aktivitäten und schwere Arbeit bitte erst frühestens in drei Wochen aufnehmen, bis sich das neue Lungengewebe hinreichend gekräftigt hat. Und mindestens zehn Stunden pro Tag zur weiteren körperlichen Rekonvaleszenz schlafen.” Mit diesen Worten öffnete sich der Regenerationsmechanismus und wurde anschließend langsam in den Unterbau der Liege eingefahren. Sie blickten ungläubig auf die beiden zartrosafarbenen, unversehrten und narbenfreien Gliedmaßen, die das Gerät freigegeben hatte. Seine Frau untersuchte zudem seinen Oberkörper. Aber sie fand nicht die geringsten Hinweise auf die erlittene Schussverletzung. „Das... das kann doch alles nicht wahr sein!”, entfuhr es Fatima. „Einfach... einfach absolut unmöglich. Seine Beine, sein ganzer Körper, alles war doch vollkommen ruiniert! Mary, was geht hier vor sich?” „Ich merke schon aus all euren Fragen, dass ihr vor Neugierde platzt. Ich könnte diese zwar beantworten, aber Jemand hat mich gebeten, nur das Allernotwendigste zu verraten. Und ich gedenke, mich daran zu halten.” „Aber kannst du uns denn nicht den kleinsten Hinweis geben?”, begehrte Fatima erneut zu wissen. „Nein.” Mary schüttelte energisch den Kopf und sagte dann zu Fatima: „Bereite deinen Mann auf ein längeres, ausführliches Gespräch vor. Wenn ihr euch beeilt, werdet ihr in ungefähr einer halben Stunde alles erfahren, was ihr wissen wollt und obendrein - so hoffe ich zumindest - noch zu einer köstlichen Mahlzeit eingeladen.” Der Professor richtete sich auf, setzte behutsam seine Füße auf den Boden. Belastete sie... und ging schließlich mit wachsendem Vertrauen auf die Stabilität seiner wiederhergestellten Extremitäten mit seiner Frau vorsichtig, dann immer rascher den Gang entlang, der aus dem Krankenzimmer führte. Er konnte es einfach nicht fassen.

Zurück an Bord

Nach tiefem Schlaf wachte Knud auf. Er fühlte sich frisch und ausgeruht. Mouad hatte sich von ihm weggedreht und schlief immer noch fest. „Computer, wie spät ist es?” „8 Uhr, 4 Minuten und 30 Sekunden galaktischer Standardzeit.” „Bitte gedämpftes Licht einschalten, die aktuellen Informations- und Schiffsparameter einblenden.” Während sich am Ende des Raumes die metallisch grünliche Außenwand in ein riesiges, reflexionsfreies, absolut scharfes Monitorbild verwandelte und zahllose Grafiken, Zahlenkolonnen und 3D-Objekte sichtbar wurden, die Knud rasend schnell in sich aufnahm, erstrahlte ganz allmählich ein warmes, gelbliches Dämmerlicht aus einem großen, gläsernen Kronleuchter, der in der Mitte des Raums hing. Knud hatte ihn in Italien gekauft. Seine Freunde und Kollegen an Bord des Schiffes hatten sich amüsiert, als so etwas Altmodisches, was es in der Magellanschen Föderation seit vielen tausend Jahren nicht mehr gab, in sein Quartier geschafft wurde. „Nun ja, der Wirkungsgrad ist ja sehr bescheiden, mit all diesen vorsintflutlichen Lampen.” Aber Knud bestand auf dieses altertümliche Beleuchtungsobjekt. „Dafür erhöht es die Gemütlichkeit dieses Quartiers”, pflegte er zu sagen.

Der Raum war auch mit verschiedenen anderen antiken Gegenständen ausgestattet. In der Mitte des Raumes befand sich ein Jugendstilesstisch mit sechs dazu passenden Stühlen. Sie wurden häufig benutzt, da Knud gegenüber Besuchern Wert auf eine gediegene Atmosphäre bei qualitativ hochwertigem Essen legte. Neben dem hypermodernen Bett, dass sich durch Computersteuerung an jede Körperhaltung anpasste, standen zwei zierliche französische Nachtschränkchen mit verschnörkelten Beinen aus dem siebzehnten Jahrhundert irdisch-christlicher Zeitrechnung. Ein alter Eichenschrank aus Norddeutschland bildete ein Gegengewicht zu dem massigen Tisch. Er diente als Weinlager und Wäscheschrank; auch Töpfe und Besteck fanden hier noch Platz. Neben dem Außenfenster erhoben sich zwei halbrunde Vitrinenschränke aus dunklem Mahagoniholz, darin Gläser und Porzellan. Auch hier merkte man Knuds Faible für den Jugendstil. Werke von Daumè, Gallè und Tiffany waren die führenden Vertreter von 15 Meisterwerken der Glasbläserkunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die Knuds Sammlung ausmachten. Ein zauberhaftes, mit blauen, schwingenden Wellenlinien verziertes WMF Porzellanservice aus Deutschland gehörte ebenfalls dazu. Auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes befand sich ferner ein altmodischer, ockerfarbener, französischer Herd mit einem voluminösen Ofen, der eine extrem gute, gleichmäßige Temperaturverteilung beim Backen gewährleistete und elektrisch beheizbar war: Denn Knud war leidenschaftlicher Koch und ein Fan alter, irdischer Zubereitungsarten. Wenn es ihm seine Zeit erlaubte, konnte er seinen Gästen die verschiedensten Speisen nach uralten Rezepten vielerlei Geschmacksrichtungen herbeizaubern. Besonders seine sradogonischen und menschlichen Freunde wussten diese Köstlichkeiten zu schätzen. Ergänzt wurde der Herd durch einen hochaufragenden, auf der Außenseite feuerrot bemalten Kühlschrank, der vielerlei Getränke und mancherlei Gemüse- und Fleischsorten bewahrte. Wenn man an dem markanten, wie ein gebogenes Ausrufezeichen geformten goldfarbenen Griff zog, präsentierte sich eine schon beinahe verschwenderische Fülle: Knud hatte immer besondere kulinarische Spezialitäten darin gelagert, auch wenn man so einen Aufwand eigentlich an Bord des Schiffes nicht betreiben musste, da das Bordrestaurant exzellente Qualität lieferte.

„Wie ist das Befinden Mouads?” „Körperlich sehr erschöpft, keine Verletzungen, keine Infektionen, im Moment REM-Schlaf, jedoch keine übermäßig belastende Traumaktivität. Keine Anzeichen von Stress”, meldete der Computer „Was ist mit seiner Narbe in der Lunge?” „Ist durch Ihre zweimalige Injektion des Zellaktivators seit etwa 16 Stunden vollständig ausgeheilt. Keinerlei Einschränkungen der körperlichen Leistungsfähigkeit feststellbar.” „Bestehen gesundheitliche Gefahren, wenn jetzt sein Gehirn mit den Grundstrukturen UniKaLs implementiert wird?” „Nein. Soll Mouads Programmierung erfolgen?” „Ja.” „In Ordnung. Spracherkennungsautorisation Knud Larssen erfolgreich. Sie können das Gerät aktivieren.”

Der Neuronenaktivator sah wie ein altmodischer Soldatenhelm aus, nur dass er über und über mit einem neuronalen künstlichen Netzwerk innen und außen bestückt war. Unzählige winzige Lichtimpulse leuchteten rhythmisch auf. Zum Schutz vor Beschädigungen war der Helm außen von einer klaren, glasartigen Substanz überzogen, während innen diese Strukturen offen lagen. Knud setzte Mouad das Gerät auf. Er wusste, dass in diesem Moment unzählige mikroskopisch kleine, künstliche Nanoneuronen in sein Gehirn eindrangen und sich fest mit den für die Sprachfunktion bestimmten Synapsen im Gehirn verbanden. Sie waren so fein, dass sie keinerlei Verletzungen anrichten konnten. Chemisch waren sie dermaßen inert, dass sie auch nicht irgendwelche toxikologischen Schäden anrichten konnten. Durch eine Mischung aus Botenstoffen und elektrischen Reizen, die in einem komplizierten Zusammenspiel das Sprachlangzeitgedächtnis aktivierten, würde Mouad innerhalb weniger Stunden in der Lage sein, perfekt und akzentfrei in UniKaL zu kommunizieren. „Beginn der Datenübertragung”, meldete sich die Computerstimme erneut. Die Blitze begannen sich rascher zu bewegen; sie bildeten rhythmische Wellenmuster aus Lichtpunkten auf der Oberseite des Geräts. Durch diese optische Signalkopplung an die von außen unsichtbaren Übertragungssignale war die Bordsoftware jederzeit in der Lage, in die laufende Prozedur einzugreifen und, wenn es sich bei Fehlfunktionen als notwendig erweisen sollte, den Vorgang abzubrechen. Die reine Programmierung würde jetzt ungefähr eine Stunde dauern, die sich anschließende chemische Verschaltung in Mouads Gehirn noch einige weitere Stunden. „Computer, wenn Mouad kurz vor dem Erwachen steht, teleportiere mich von jedem Ort dieses Schiffes hierhin, mit 300 Sekunden Vorwarnzeit. Ich möchte bei ihm sein, damit er nicht allein ist, wenn er wieder bei Bewusstsein ist.” „Bestätigt.” Knud zog sich die an Bord übliche nachtblaue Borduniform über und verließ den Raum. Er drehte sich noch halb um und teilte dem Computer, bevor sich die Tür hinter ihm schloss, mit: „Computer: Licht aus, Panoramafenster deaktivieren!”

Es herrschte gerade Schichtwechsel an Bord der Intrepid. Ein Teil der Mannschaft eilte zu den Verpflegungsräumen, ein anderer zu den Arbeitsplätzen in dem weitläufigen Schiff. Alles verlief ohne Hektik. Jedermann benahm sich diszipliniert und rücksichtsvoll. Knud musste sich, verursacht durch sein langes Fernbleiben von Bord, an den Anblick der nichtmenschlichen Besatzungsmitglieder, wie zum Beispiel den der Xyrchh, Sradogoner, Mrrhachtthnerr und Qwrth, um nur die wichtigsten Rassen zu nennen, gewöhnen. ,Man hat doch nach einem solchen mehrjährigen Einsatz auf Terra eine gewisse eingeschränkte Sichtweise auf das Leben in der Föderation’, dachte er, während er zuvorkommend den einen oder anderen Freund oder Bekannten grüßte.

Ein hochgewachsener Sradogoner kam auf ihn zu und fragte in etwas gebrochenem UniKaL (seine Hornplatten des am Bauch sitzenden Sprechorgans erschwerten die Kommunikation in dieser Sprache mit dessen relativ weicher Intonation): „Hallo, Knud, bist du auch mal wieder unter uns? Wie war denn der Einsatz? Kommst auch du mit zur Besprechung über diese eigenartige Rasse der Terraner? Hast du wieder schöne antike Stücke für dich mitgebracht oder endlich einen Freund oder eine Freundin fürs Leben gefunden?...” Sradoganer können nur schwer allein sein. Partner, auch mehrere, waren für sie ein absolutes Muss. Der Redeschwall würde so in einem fort weitergehen, wenn Knud nicht erwidert hätte: „Bitte Xsorchegar, nicht so schnell und alles auf einmal. Ich bin vor ungefähr einem halben Tag nach einer für terranische Verhältnisse extrem anstrengenden und gefährlichen Flucht zurückgekommen und - ja, ich habe jemanden gefunden.” „Wo denn das? Auf Terra?” Xsorchegar starrte ihn aus den gelben, raubkatzenartigen Augen intensiv an. „Ja, ich habe mein Glück gefunden.” „Du weißt ja hoffentlich, dass so eine neue Bekanntschaft vom Föderationsrat nicht gern gesehen wird. Bewohner sogenannter primitiver Welten vertragen häufig den Kulturschock nicht und können irreparable psychische Schäden erleiden. Pass ja gut auf ihn oder sie...” „Ihn”, verbesserte Knud Xsochegar, „...auf”, beendete der Sradogoner seinen Satz. „Ich erinnere mich: Du stehst ja auf Männer.” „Und um deine dritte Frage zu beantworten: Ja”, fuhr Knud fort, „ich begebe mich jetzt ebenfalls zu dem von mir anberaumten Treffen der Führungsoffiziere. Lass uns doch zusammen dorthin weitergehen.” „Und was ist mit deinem Liebsten?” „Der schläft und lernt gerade unsere Sprache. Aber keine Sorge, ich habe dem Computer einen Teleportationsbefehl erteilt, damit ich, wenn er wach wird, sofort an seiner Seite bin. Deshalb betrachte es nicht als Unhöflichkeit, wenn ich dann plötzlich aus der Mitte der Tagung verschwinde.” „Sehr gute Planung von dir, wie immer. Ich hoffe, er erholt sich noch eine Weile, damit du uns allen von den Erlebnissen auf dieser seltsam zerrissenen Welt berichten kannst. Denn für sämtliche anderen Rassen, die im Regelfall über eine planetenweite Zentralregierung verfügen, ist diese extreme politische Zersplitterung überhaupt nicht nachvollziehbar.”

Der Gang, den sie entlangschritten, endete vor einer Lifttür. „Brückenkonferenzraum”, forderte Knud. Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf die lavabedeckte, gelb glühende Oberfläche eines jungfräulichen Planeten frei. In der Ferne war eine grelle, in weißlich-bläulichem Licht strahlende Explosion hinter einer kilometerhohen Feuerwand auszumachen. Knud, der von dieser Aufnahme fasziniert war, merkte nicht, dass sich augenblicklich die Kabine mit hoher Geschwindigkeit in Bewegung setzte. Kaum 30 Sekunden später stoppte der Lift. Die Kabinentür öffnete sich zu einem eindrucksvollen runden Saal, der einen Durchmesser von etwa 75 Metern hatte. Dessen Mitte wurde durch einen kolossalen, silbermetallisch schimmernden, hochpolierten, runden Tisch beherrscht. Suspensorensessel standen in gleichmäßigen Abständen um ihn herum. Im Umkreis ermöglichten in regelmäßigen Abständen symmetrisch angeordnete, 6 Meter hohe und 10 Meter breite, imposante Panoramascheiben, die durch zwei Meter breite Stützstreben voneinander getrennt wurden, einen faszinierenden Rundumblick auf den sternenübersäten, tiefschwarzen Weltraum. Der Raum über ihnen, der die eigentliche Kommandobrücke beherbergte, wurde durch eine dodekagonale Säulenanordnung, die den Raum in gleichförmige Segmente unterteilte, abgestützt. In diesen ungefähr drei Meter mächtigen Gebilden befanden sich Aufzüge, Versorgungsleitungen für Luft, Wasser und Energie, Fluchtwege für den Notfall und Hygienefazilitäten. Im Inneren des Säulenkranzes befand sich der eigentliche Sitzungsbereich, um den es sich bereits 20 Offiziere bequem gemacht hatten und auf den Beginn der Konferenz warteten. Knud begrüßte jeden namentlich und setzte sich dann neben Xsochegar. In diesem Moment betraten der Admiral und der erste Offizier den Saal, nickten den Anwesenden höflich zu und ließen sich gegenüber Knud in zwei Sesseln nieder.

„Ich nehme an”, so begann letzterer unvermittelt, „dass jeder der hier Anwesenden darüber informiert wurde, dass ich vor nunmehr 11 Stunden von Sol III zurückgekehrt bin. Zunächst bitte ich um Entschuldigung, wenn ich während des nun folgenden Vortrages fortteleportiert werden sollte. Aber ich habe jemanden auf dieser Welt in den letzten Monaten unserer Mission kennen gelernt und mit an Bord dieses Schiffes gebracht, um den ich mich kümmern muss.” Ein allgemeines erstauntes Gemurmel war zu vernehmen. „Ich kenne die Risiken für Bewohner primitiver Planeten, wenn sie in unsere Zivilisation mitgenommen werden. Aber ich stehe zu meiner Entscheidung. Wenn es schief gehen sollte, bin ich bereit, mich für mein Handeln vor dem Föderationsrat zu rechtfertigen.” „Sire, wir kennen Euch bereits seit vielen Jahren so gut, dass wir davon ausgehen, dass Ihr in dieser Angelegenheit aus ehrenwerten Motiven gehandelt habt”, entgegnete Youness. „Wir denken, dass Ihr mit Eurem künftigen Lebenspartner verantwortlich umgehen und ihn behutsam und rücksichtsvoll auf das neue Leben vorbereiten werdet. Aber dies ist letztendlich auch Eure Privatsache.”

Die Konferenz

„Sie werden sich vielleicht gefragt haben, welcher historische Anlass in der Föderationsgeschichte dazu geführt hat, diese gefahrvolle Mission auf Terra zu starten. Es hat sich zudem möglicherweise die Meinung festgesetzt, dass diese Welt es nicht wert sei, näher untersucht zu werden, obwohl sie sich möglicherweise an der Schwelle der kompletten Selbstauslöschung befindet. Aber diesem Gedankengang kann ich angesichts der aktuellen Entwicklungen absolut nicht zustimmen.” Nach diesen Worten machte Knud erst einmal eine kurze Pause, als müsste er seine Gedanken erneut ordnen. Die Konferenzteilnehmer warfen sich irritierte Blicke zu oder zeigten ihre Überraschung durch die für ihre Spezies typische Körpersprache. Knud fuhr aufgewühlt fort: „Der Grund für unser Engagement liegt in einem Ereignis, das etwa 80 galaktische Standardjahre zurückliegt. Die Föderation war zu diesem Zeitpunkt durch die so genannte Core-Explosion an ihre wirtschaftlichen, politischen und logistischen Kapazitätsgrenzen gelangt. Die Katastrophe selbst beruhte auf einer gravitationsbedingten Instabilität einiger Tausend Roter Riesensterne im Zentrum der Milchstraße. Das zentrale, etwa 10 Millionen Sonnenmassen umfassende Schwarze Loch hatte durch seine ungeheure Schwerkraft einige Hundert dieser stellaren Objekte auf immer engere Spiralbahnen gezwungen. Dabei kam es zu Kollisionen, wobei die für Supernovaexplosionen und Gammabursts erforderlich kritische Masse gleich um ein Mehrfaches überschritten wurde. Als Resultat dieses verheerenden Ereignisses wurde eine dermaßen heftige Schockfront aufgebaut, dass viele weitere Sterne nahe dem Milchstraßenzentrum ebenfalls instabil wurden und in Kataklysmen detonierten. Zusätzlich erzeugte das Schwarze Loch aus der in den Ereignishorizont hereinstürzenden Materie zwei Jets, die von seinen magnetischen Polen aus mit mehreren 10 000 Kilometern pro Sekunde ins umgebende All schossen und eine weitere Kettenreaktion explodierender Sterne erzeugte. Dieses Ereignis drohte außerdem tausende von Zivilisationen, die sich im Bereich von ungefähr 250 Lichtjahren um das Zentrum befanden, im Laufe der Zeit zu vernichten. Als man das Ausmaß dieser Katastrophe erkannte, wurden alle verfügbaren politischen und gesellschaftlichen Kräfte der Föderation in der damaligen Zeit darauf gebündelt, die rund 4 000 verschiedenen Rassen, denen insgesamt 50 Billionen Lebewesen angehörten, in den folgenden sechs Jahren aus der Kernregion der Milchstraße zu retten. Durch die Evakuierung der Bewohner und den Transport der kompletten, am dichtest besiedelten Planeten in die Magellanschen Wolken, gelang dieses damals für fast unmöglich gehaltene Unterfangen. Außerdem warnten wir viele weitere Welten vor dieser furchtbaren Bedrohung und boten ihnen an, in die Magellansche Föderation mit ihren Welten umzusiedeln. Und so flutete noch einmal das Vierfache der ursprünglichen Zahl an Flüchtlingen in die Föderation. Aber man muss diese Zahlen im Vergleich mit den fast zwei Trillionen Bewohnern sehen, die die Föderation ursprünglich umfasste. Dann erscheint das Verhältnis von Bewohnern zu Flüchtlingen nicht ganz so dramatisch.

Folge dieser großartigen Leistung ist das nachhaltig von Toleranz, Nächstenliebe und Respekt geprägte Miteinander von den über 66 000 unterschiedlichen Rassen, die die Föderation damals ausmachten, da jeder Bewohner für die Neuankömmlinge etwas ,Platz’ machen musste. Es herrschte zudem eine unglaubliche Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit und Freundschaft gegenüber den fremden Lebensformen. Dies war eine bis dahin - nach den mir vorliegenden Quellen - einmalige Erfahrung. Sie war letztlich die Ursache für die stürmische Fortentwicklung des Zusammenhalts und Miteinanders. Viele Lebewesen, die bis zu diesem Zeitpunkt scheinbar gleichgültig nebeneinanderher gelebt hatten, verkörpern nunmehr das soziale Gewissen dieser Föderation. Dazu kam noch ein Entwicklungsschub im Bereich von Wissenschaft und Technologie: Neue Antriebs- und Feldtechniken, Entwicklung der Larssen-Sphären, um nur einige technologische Highlights hervorzuheben.

Sie werden sich fragen - was aber haben nun diese beiden Ereignisse miteinander zu tun, was verbindet sie? Auf der einen Seite das furchtbare, alles bedrohende Abadon und auf der anderen Seite diese zerrissene Welt Sol III, auf der wir die letzten Jahre gearbeitet haben. Die Core-Explosion ist zu ihrer Zeit ins Bewusstsein aller vorgedrungen und hatte absolute Priorität und ist auch heute noch allen Föderationisten wohl bekannt. Aber es gab da leider noch ein Ereignis zu jener Zeit, das diese Erfolgsgeschichte überschattete: Warendula. Die damalige föderale politische Führung erfuhr rein zufällig von den Galaktischen Fliegenden Händlern, dass mit einer Welt, die als Warendula VII bezeichnet wurde, irgend-etwas nicht stimmte. Der Himmelskörper wurde als metastabiles Pulverfass geschildert - ein Planet, der sich an der Schwelle zur Selbstauslöschung befand. Es wurde berichtet, dass dort zahllose Kriege ausgebrochen seien. Hass und gegenseitiges Aufhetzen der Bevölkerungsgruppen gehörten damals zur politischen Agenda vor Ort - ein Kollaps dieser Zivilisation stünde unmittelbar bevor. Zu dieser Zeit waren jedoch sämtliche Raumschiffe, die es in der damaligen Föderation gab und noch fliegen konnten, an den Ort der Katastrophe im Zentrum der Milchstraße entsandt worden. Wir konnten daher nicht eingreifen. Nur eine kleine, schon fast als privat zu bezeichnende Erkundungsmission, die etwa 40 Emissäre umfasste, bestätigte die damalige dramatische Entwicklung auf dieser Welt.” Ein Raunen ging durch den Saal. Man spürte die Spannung unter den Konferenzteilnehmern. Vieles von dem, was Knud berichtete, war nur Wenigen bekannt.

„Zu diesem Zeitpunkt war mein eigenes Schiff nur einige zehn Lichtjahre von dem Planeten entfernt. Als leitender Kommandant unterstand mir der reibungslose Verlauf der Mission, somit auch die Gewährleisung einer sicheren Relokalisation der Core-Flüchtlinge. Jedoch: Man hätte dennoch theoretisch innerhalb weniger Stunden eingreifen können, um das Schlimmste zu verhüten. Aber die Mathematik diktierte damals meine Entscheidung. Denn ich war mir völlig sicher, keine Zeit und nicht genügend Schiffe zur Verfügung zu haben, um mein Augenmerk auch noch auf diese Welt zu lenken. Denn die Schockwelle aus Plasma, Sterntrümmern und hochenergetischer Strahlung, die von der kosmischen Explosion ausgesandt worden war, diktierte exakt den Evakuierungsablauf. Deshalb musste der Abtransport der Bewohner zügig umgesetzt werden. Die Besiedlungsdichte im Zentrum der Galaxis erwies sich nämlich überraschenderweise als sehr hoch. Zum Teil lagen die einzelnen Welten nur Bruchteile von einem Lichtjahr voneinander entfernt. So waren wir gezwungen, alle paar Wochen die Delokalisation eines weiteren, dicht besiedelten Planeten voranzutreiben. Sämtliche damals verfügbaren Einheiten - und das entsprach etwa zehn Millionen Schiffen - waren deshalb mit Flüchtlingen völlig überfüllt.” Knud stockte. Seine Stimme schien zu versagen. Die anderen Offiziere warfen sich erstaunte Blicke zu. So emotional hatten sie Knud noch nie erlebt.

Schleppend fuhr er fort: „Als man sich endlich sechs Wochen später auf den Weg zu dieser bedrohten Zivilisation machte, bot sich ein Bild des Grauens. Der Planet war kurz nach dem Ende der kleinen Erkundungsmission in eine radioaktive Wüste verwandelt worden. Die näheren Umstände für die Katastrophe konnte damals durch die Aussagen sterbender Bewohner kurz vor deren Ableben rekonstruiert werden. Auslöser des planetenweiten Krieges war eine Großmacht, die unter extremer Energieknappheit litt. Sie hatte mit Waffengewalt versucht, sich der Brennstoffvorräte der Nachbarstaaten zu bemächtigen. Es kam zunächst zu einem konventionellen, dann nuklearen Schlagabtausch. Als wir endlich mit genügend Schiffen diese Welt erreichten und auch hinreichend Transportkapazität bereitgestellt hatten, konnten wir jedoch nur noch entsetzt feststellen, dass die Bewohner des Planeten über Wochen furchtbar gelitten haben mussten. Diejenigen, die bei den anfänglich konventionell geführten Kampfhandlungen nicht sofort starben, wurden im Anschluss daran von den Krieg führenden Parteien wochen- und monatelang über den Planeten gehetzt. Die Zivilisation kollabierte schließlich allein dadurch fast vollständig. Dann ereilte diese Welt ein atomares Armageddon ...

Ein Nuklearer Winter brach als unmittelbare Folge davon innerhalb weniger Tage über die Oberfläche herein. Zwar existierten am Ende des atomaren Infernos noch einige Millionen Überlebende; aber auch diese waren durch die Strahlenschäden grauenhaft entstellt. Sie verhungerten und erfroren zudem qualvoll. In der aufkommenden Eiszeit sanken die Temperaturen um 60 Grad bis weit unter den Gefrierpunkt. Als wir etwa drei Wochen nach dem Ende der Apokalypse diesen Planeten endlich erreichten, war es für ein Eingreifen definitiv zu spät: Einige hundert Bewohner trafen wir zwar überraschenderweise noch lebend an, obwohl sie auf Grund der entsetzlichen inneren Verbrennungen einem qualvollen Tode geweiht waren. Aber da uns damals ihre Physiologie unbekannt war, konnten wir niemanden mehr retten.” Er machte eine Pause. „Bis heute,” so führte er flüsternd aus, „fühle ich mich für den Tod von Milliarden Bewohnern mitverantwortlich und denke, dass ich damals versagt habe. Dazu kommt, dass unzählige dieser Wesen einfach verschwunden zu sein scheinen, ein Rätsel, das trotz aller offiziellen Bemühungen zur Klärung des Schicksals der Verschollenen bis heute nicht aufgeklärt wurde.”

Er setzte sich, berührte dabei eine Schaltfläche auf der Tischoberfläche. Über der Mitte des Konferenzsaales flammte eine holographische, dreidimensionale Projektion auf. „Das sind die letzten Erinnerungen an diese Zivilisation, die damals von uns aufgenommen wurden. Dokumente, die während des Krieges von den Bewohnern selbst aufgezeichnet worden waren und die uns auf der Suche nach Überlebenden in die Hände gefallen sind, ergänzen diese Präsentation.” Alle Anwesenden sahen während der folgenden 15 Minuten unglaublich realistische Aufnahmen der immer noch rauchenden Kriegsruinen, der wimmernden und vor Schmerzen stöhnenden Überlebenden. Obwohl die Bewohner Warendulas nichtmenschlich waren und mit ihren tonnenförmigen Körpern und 15 Greifarmen sowie einem durchgehenden Ring aus Photorezeptoren um ihren Rumpf zunächst abstoßend wirkten, so berührten die Bilder doch ungemein und lösten Trauer und Entsetzen bei den Anwesenden hervor. Knud wandte sich von dem Film ab. Zu oft hatte er dieses Grauen bereits über sich ergehen lassen müssen.

Das Hologramm erlosch. Erschütterte und in höchstem Maße emotional aufgewühlte Offiziere blieben zurück. Auch die nichtmenschlichen Teilnehmer zeigten sich tief bewegt. Ein Offizier der Qwrth ergriff als erster das Wort und sprach beruhigend auf ihn ein: