Der Mann von Pölarölara - Alfred Kirchner - E-Book

Der Mann von Pölarölara E-Book

Alfred Kirchner

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Beschreibung

Von abenteuerlich absurden Begebenheiten, vom Bombenangriff auf sein Geburtsdorf in Schwaben, vom Nazikind auf dem Weg in alle Welt, auch zu den Bayreuther Festspielen und dem damit verbundenen Symposion aller wichtigen israelischen Musikwissenschaftler und Komponisten; von den politischen Kämpfen in Stuttgart (RAF, Filbinger-Affäre) bis zu seinen Bühnenarbeiten mit Abbado, Harnoncourt und Rattle erzählt Alfred Kirchner - immer die Waage haltend zwischen Abgründigem und wunderbar Komischem. Kirchners Helfer ist dabei Der Mann von Pölarölara, den der Vierjährige erfunden hat, um sich gegen seine ältere Schwester zu behaupten. Anfangs nur vier Zentimeter groß, war er, dank seiner metallischen Härte, doch imstande, sich unter die Märklin-Eisenbahn zu werfen und sie zum Entgleisen zu bringen. In kühnen Sprüngen bewegt sich Kirchner vor und zurück in der Zeitreise, das Unwahrscheinliche mit der Wirklichkeit verknüpfend. Leben oder Theater?

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ALFRED KIRCHNER

DER MANN VONPÖLARÖLARA

Autobiografische Splitter

Mit freundlicher Unterstützung derHeinz und Heide Dürr Stiftung

Alfred Kirchner: Der Mann von PölarölaraAutobiografische Splitter

Lektorat: Sigrun Müller

Umschlaggestaltung und Satz: Daniela Seiler

Hergestellt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

© HOLLITZER Verlag, Wien 2019

www.hollitzer.at

ISBN 978-3-99012-628-8

INHALT

Bomben am Hohenstaufen, dem Berg Friedrichs II.

Grande Successo del MondoMit Abbado in Wien

Der Mann von Pölarölara

Mutter Courage

Die Stumme Kattrin singt (mit John Lennon)

NemesisDie Göttin des gerechten Zorns

Gunfight at the O. K. Corral

Die Kugelgestalt der Zeit

Von der Strafkolonie zur Freiheitsglocke

Ja, da muss man sich doch einfach hinlegen… da kann man doch nicht kalt und herzlos sein!

Et haec meminisse semper iuvabitSich daran zu erinnern wird einen immer freuen

Land der Verzauberung, Santa Fe

Ein Opernwunder in der Wüste

O Straßburg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt… darinnen liegt begraben so manicher Soldat

Frühlings ErwachenIn Zeiten des bleiernen Herbstes

Pöla und Goethe

Maske in BlauWegen Verunglimpfung / BGH ZR 30/69

„Du warst für mich damals als der Mond im September“In Tampere

Krupp- und Opel-Arbeiter bei der Heiligen Johanna der SchlachthöfeMit Beethovens letzter Klaviersonate

Die friedliche Schlacht mit Harnoncourt

Bayreuth

Peter der GroßeBestien zu Menschen machen

Lohengrins Schwan heißt Ida Müller

Mädchen mit Kuh, die SchwefelhölzerBrüder – überm Sternenzelt (…)

Mister Heldenplatz und der KaktusfickerDie Welt war im Untergehen begriffen

Glück im SchillertheaterSchalom

Basler TotentanzBuddy und Anne

Pech im SchillertheaterNichtberliner können das Kapitel überspringen

Home is where one starts fromT. S. Eliot

Leipzig, Schabenbekämpfung und andere WunderAlles, was ist, endet

Inszenierungen von Alfred Kirchner

Textnachweis

BOMBEN AM HOHENSTAUFEN, DEM BERG FRIEDRICHS II.

Es war so: Alfred war trotz Fliegeralarms keineswegs im Luftschutzkeller, sondern spielte oben in der Wohnung mit seinen Soldaten „Schülerles“. Diese Soldaten waren Postkarten zum Verschicken. Bilder von Mölders, dem Helden der Jagdflieger, von Prien, der mit seinem U-Boot zwei Schlachtschiffe in der Bucht von Scapa Flow versenkt hatte, von Hauptmann Marseille, dem Stern von Afrika, natürlich von Rommel, dem General, dem Unbesiegbaren. Es war eine ganze Klasse.

Der Unterricht verlief gut. Keiner musste nachsitzen, es gab keine Strafarbeiten. Nur wusste Alfred nicht – es waren die letzten Kriegsmonate und aufkommender Frühling –, dass seine Schüler da schon alle tot waren.

Er konnte nicht wissen, dass an diesem Vormittag 1.100 amerikanische Bomber, in England gestartet, Ziele in Süddeutschland angreifen sollten. Auch er war eines davon, wenn auch ein kleines, sieben Jahre alt. Er konnte nicht wissen, dass da oben über den milchigen Märzwolken viele junge Männer mit Bammel in ihren Maschinen saßen, sie mussten auf alles gefasst sein. Die Luftabwehr, zahlenmäßig unterlegen, kämpfte erbittert, nicht selten rasten die Piloten in die Gegner hinein, um sie zu rammen. Alfred war sehr stolz auf seine Soldaten, denn jeder, jede Postkarte, hatte immerhin zehn Pfennig gekostet.

Das Dröhnen sich nahender viermotoriger Bomber wurde immer intensiver und spannender, es klang, als ob die ganze Welt von einem nun schon anheimelnd klingenden, weil Tag und Nacht gehörten, geradezu vertrautem Brummen erfüllt sei.

Mutter Alice meinte dann auch, Alfred solle vom Fenster weg, um nicht etwa von zerspringenden Glasscheiben verletzt zu werden.

In diesem Moment begann ein ungeheuerlicher Feuerzauber vor dem Wagners Wotan noch hätte das Staunen lernen können: Das Haus tanzte und sprang, wie besessen, die Bomben sah man tatsächlich wie klumpige unschöne dicke Riesenwürste aus Eisen niederkrachen; eine kleinere Schwester war im Gitterbett angeschnallt, schrie und jauchzte vor Vergnügen, wegen des tollen Brausens und Tobens, wurde von der Mama schließlich losgelöst und befreit. – Und hat von da an nie mehr ein Wort in ihrem Leben gesprochen.

Alfred stürzte sich derweil bäuchlings die Treppe hinunter und landete tatsächlich im Keller.

Das Haus war stehen geblieben, alle waren davongekommen. Die Nachbarmädchen und deren Mutter nicht.

Ein paar Kerzen flackerten. Der Schock schien den Raum vollständig auszufüllen, wie ein Geist, der sich riesig groß machen konnte.

Der alte Strähle, ein rauer Schwabe mit einem grauen Arbeitsmäntelchen und verschwitzter Schiebermütze, der den Kindern öfter mit hochgefährlichem Schwung seine Sense nachschmiss, wenn sie durchs Gras rannten und nur ein einziges Hälmchen berührten, er ergriff nun die Initiative. Niemand anderes hatte den Mut. Er schaute durch irgendeine Öffnung nach draußen: Totenstille. Jeder wollte wissen, ob es die Welt noch gibt. Dann die Meldung: „Beim Bauer Zeller brennt es.“

Und in diese Stille krähte die zart hohe Stimme von Alfred: „Jetzt frisst dr Baurazeller da Käs mitsamt em Teller.“

Da blieb niemand mehr sprachlos. Alle fielen über Alfred her, was er für ein unverschämtes, ekelhaftes, gottloses Kind, ja was für ein Saukerle er sei. Selbst die Eltern und Geschwister, außer der kleinen Annemarie im Bettchen, distanzierten sich von ihm. Vielleicht seien solche bösen, ungezogenen Menschen überhaupt schuld an überhaupt allem.

Gegen Abend, als man sich wieder aus dem Keller heraustraute, setzte sich Alfred zu seinen Soldaten, packte sie zusammen, schaute aus dem Fenster. Das war noch wunderbarer Weise heil. In der Stadt aber gab es schaurige Brände, die Einsamkeit des Todes, sonderbar fremden Geruch. Im Hintergrund der Hohenstaufen, der schon immer Zeugenberg genannt wurde. Seine Kaiser, die Staufer, herausragend Friedrich II., galten als Mythos, Wegbereiter des kulturellen Europas, der Toleranz. Und schon vor fast tausend Jahren war Friedrich Freund der Muslime. Es hieß zu seinem Tod:

„Untergegangen ist die Sonne der Welt/ Die den Völkern leuchtete/ Untergegangen die Gerechtigkeit/ Untergegangen/ Der Hort des Friedens.“1

Nun saß man ziemlich belämmert vor dem in so wenigen Jahren schmählich zertrümmerten Mythos, vor der teils zertrümmerten Stadt: Schuldige und Unschuldige. Belastete und Minderbelastete, wie sie später im juristischen Terminus vor den Spruchkammern – den Gerichten – genannt wurden.

Der andere Stauferkaiser, Barbarossa, gilt, weil seine körperlichen Spuren sich in der Wüste nahe Jerusalem verloren haben, nicht als tot, gilt nur als entrückt und schläft der Sage nach tief in einem Berge. Erst wenn die Welt befriedet sein wird, kommt er wieder. Sein roter Bart – barba rossa – soll nun allerdings schon dreimal um den steinernen Tisch herumgewachsen sein.

Das Blödeste aber war, dass es nach den Bomben nicht einmal etwas zu essen gab.

GRANDE SUCCESSO DEL MONDOMit Abbado in Wien

45 Jahre später. Man liest in Zeitungen, jede Inszenierung Alfreds im Musiktheater wäre bislang so etwas wie ein Fest gewesen. Jetzt sei er aber in der Wiener Staatsoper bei der Arbeit an Chowanschtschina von Mussorgsky zum General mutiert. Leider?

Seine vergleichsweise kleine, aber fürs Theater exorbitante Armee bestand aus fast 400 hochklassigen, teils auch so bezahlten Spitzenkräften der künstlerischen Welt:

160 Mitglieder, man kann auch sagen Damen und Herren, des berühmt-berüchtigten Staatsopernchores, 120 des Chores der Oper Bratislava zur Verstärkung, dazu 30 Extra-Chorherren, 80 Wiener Sängerknaben, 3 Top-Solistinnen des Balletts, 12 Bühnentrompeter, etwa 110 Wiener Philharmoniker, die phänomenal spielen konnten, wenn sie wollten, und 12 Statisten, die bei der religiösen Selbstverbrennung der sogenannten Altgläubigen in riskant körperliche Aktion treten sollten.

Der musikalische Leiter war der faszinierende Claudio Abbado, General-Musikdirektor, der immer, wenn er szenisch eine kleine Änderung erbat, die linke Hand auf die Brust und somit Alfred sein Herz zu Füßen zu legen schien und dessen Namen ganz zauberhaft italienisch aussprach: Alfrrre-dd. Der war aber auf der Hut, denn er wusste, dass selbst bei den tollsten Dirigenten das Verständnis fürs Szenische oft eine heikle Sache war. Besonders, wenn die Wünsche so liebevoll hinterhältig vorgetragen wurden.

Chowanschtschina in der brillanten Bearbeitung von Schostakowitsch und mit Strawinskys bewegendem Schluss war eine Welturaufführung.

Von Schostakowitsch existiert ein Bild von erbärmlicher Würde, wie er im belagerten St. Petersburg in einer Art Humphrey Bogart Mäntelchen Ausschau nach deutschen Flugzeugen halten muss. Gegen die Eiseskälte trägt er über seiner Nickelbrille einen alten, einstmals wohl prächtigen Feuerwehrhelm.

Die Aufführung ging auf einen innigen Wunsch Abbados zurück, der wusste, dass keiner besser als Mussorgsky so umfassend plastisch die russische Sprache, ihren Tonfall, ihre Melodie in Noten lebendig machen und bewahren konnte. Weil seine Neigung den einfachen Menschen gehörte, er ganz auf der Seite der Bauern stand, galt er als ungeschliffen und roh. Bis 1963 gab es nur eine von Rimski-Korsakow instrumentierte und im Sinne des damaligen guten Geschmacks sehr verharmlosende Klavierpartitur. Die neue Form zeigte nun ganz klar die Brisanz und Schärfe des Wortes und der Musik, – sie zeigte, dass es das Stück der Stunde war: Wenn man es in seiner ganzen Komplexität begriff, könnte man meinen, das Rätsel Russland in seinem auch heutigen disparaten Zustand zu verstehen.

Die Inszenierung ließ Alfred eine blühende Partitur kennenlernen. Mit weiten Melodiebögen, dunklen, satten Farben und Volks-Chören, die für Ungewohntes einnehmen, auch für das Fremde die Sinne öffnen. Weil die Musik mit ihren Sängern – sie kamen hier aus Russland, der Ukraine, Weißrussland, Georgien – so tief in die Seelen greifen kann, macht sie neugierig auf die phantastisch beschriebene Welt mit ihrer überbordenden Poesie und ihrem bunten, vielfältig archaischen Einfallsreichtum und weckt Zuneigung und Liebe für sie.

Und trotzdem ist Gewalt das beherrschende Thema des Stückes, bildet das heimliche Zentrum. Und Martyrium.

Chowanski wird ermordet, sein Gegner, der Fürst, ins Straflager verbannt, die Sekte der Altgläubigen stirbt den selbst gewählten religiösen, qualvollen Feuertod. Paata Burchuladze, der georgische Sänger, singt den Part ihres Anführers. Sein schwarzer, expressiver Bass wurde von Karajan mit Schaljapin verglichen. Paata gelingt es, inmitten des Verbrennens, Alfred am Regiepult von der Bühne herunter mit seinem großen, orthodoxen, goldenen Kreuz ein wenig zu blenden, ein wenig mit ihm zu flirten.

Abbado tritt ans Pult. Er ist so hübsch! Der Blick scheint zuweilen nach oben gerichtet, als ob er sich in den eigenen Kopf schauen möchte. Er dirigiert auswendig.

Das Orchester ist vollkommen eingenommen von seinem Charisma. Wenn die ersten Töne des Vorspiels erklingen, ist es nicht einfach Musik: Man meint, ein Wiegenlied des Todes zu hören. Doch diese Musik explodiert auch in wilden Ausbrüchen und erinnert an Hegels dramatische Perspektive der „Schlachtbank der Weltgeschichte“ – also brutal an unsere gegenwärtige globale Wirklichkeit.

Der tolle Chor aus Bratislava singt in einer überwältigenden Szene, von keinem Ton des Orchesters begleitet, die Klage eines verlorenen Volkes. Der Klang der Stimmen steht für sich vollkommen ruhig, frei im Raum. Und berührt – berührt – berührt.

Alfred, am Regiepult der Wiener Staatsoper – da sitzt man auch nicht jeden Tag –, kommt sein Schwabenbruder Hölderlin in den Sinn:

„Ihr wandelt droben im Licht

Auf weichem Boden, selige Genien!

Glänzende Götterlüfte

Rühren euch leicht,

Wie der Finger der Künstlerin

Heilige Saiten. (…)

Doch uns ist gegeben,

Auf keiner Stätte zu ruhn,

Es schwinden, es fallen

Die leidenden Menschen (…)

Wie Wasser von Klippe

Zu Klippe geworfen,

Jahr lang ins Ungewisse hinab.“

Dieses Gedicht, „Hyperions Schicksalslied“, hatte er am Volkstrauertag vor der Klasse zu rezitieren, eine grüne Kriegsgräberkerze in der Hand. Beim Auspusten des Streichholzes erlosch die Kerze und musste noch einmal angezündet werden. Am Schluss des Vortrags saßen alle mit großen Augen da, entweder weil sie wirklich ergriffen waren oder weil Alfred, wie immer, mit aller, vielleicht auch etwas peinlichen, Intensität in den Vortrag dieser herrlichen Verse eingestiegen war. Dr. Koch, der Lehrer, mit seiner feisten, beringten Hand, grabschte jedenfalls nach dem Klassenbuch und verpasste Alfred einen Tadel mit den Worten: „Das also ist der Mann, der eine Kerze gleichzeitig anzünden und ausblasen kann. Dafür bekommen Sie in Betragen ein Ausreichend!“ Das war die schlechteste mögliche Note, nicht ungefährlich bei der Versetzung.

„Das Leben ist von ungeahnter Gemeinheit“, sagt ein sehr kluger Schüler in Wedekinds Frühlings Erwachen, „ich hätte nicht übel Lust, mich in die Zweige zu hängen.“

Die Sänger waren die besten russisch singenden, die es gab. Nicolai Ghiaurov mit einer Stimme, gleich einem riesigen Cello oder zuweilen flüsterndem Kontrabass, war ihr Star. Dumm nur, dass er deshalb meinte, gar nicht zur ersten Probe kommen zu müssen. Dumm auch für die Autorität des Regisseurs, wenn er im wunderschönen, leeren Zuschauerraum, in dem jede Ritze von vergangenen musikalischen Großtaten erzählt, wenn er da sitzt und sein Hauptdarsteller nicht kommt.

Was tun?

Er schickt ein Telegramm: „Lieber Nicolai, selbst so berühmte Darsteller wie Burt Lancaster oder Jean Gabin kommen normalerweise zur Probe. Dein Alfred“

Nun ist aber Nicolai mit Mirella Freni verheiratet, die als beste Puccini Sängerin der Welt gilt und Verdis Traviata wie keine andere singt. Sie bricht einen großen Telegrammkrach vom Zaun – großes italienisches Theater –, wütet mit riesigen, man könnte sagen Zauber-Glubschaugen, wie einst die großäugige Pallas Athene, und schreit dramatisch giftig:

„Ihr macht den Mann fertig, ihr ruiniert ihn! Er kommt aus New York, er hat Jetlag!“

Nun kommt Nicolai aber doch. Scheint zufrieden. Sieht das eisenharte Bühnenbild (von Erich Wonder). Registriert, dass bei seinem Auftritt, der zur erhöhten Bühnenmitte führt, immerhin – sowohl von rechts, als auch von links – zwei Flugzeug-Landescheinwerfer auf ihn gerichtet sind. Sie heben ihn, er ist tatsächlich noch etwas blass um die Nase, mit seinem markanten Kopf, in seinem noch leicht zerknitterten Anzug, mit seiner unvergleichlichen Stimme in eine phantastische Kunstwelt hinauf. Er kann noch nicht die Pyramide aus Schädeln auf dem Bild „Apokalypse des Todes“ hinter sich sehen, sieht noch nicht das Verbrennen der sterbenden Altgläubigen (in Kostümen von Joachim Herzog). Sie winken aus weißem Nebel, der fast poetisch über einer Waldlichtung heraufsteigt. Schwer zu erkennen, ob sie im Feuer sind oder in tödlichem Eis. Er kennt noch nicht den Schleier, der sich über das Schlussbild senkt: ein eingemotteter Bomber, an dem Spinnweben wie Fetzen herunterhängen und man glaubt wirklich, dass er für alle Zeiten niemandem mehr den Tod bringen kann.

Ghiaurov kann auch nicht wissen, dass er von einem ehemaligen Nazi-Kriegskind so schön geleitet wurde.

Mit diesem schließt Abbado noch eine Wette. Er will, dass nach Schluss des ersten Aktes der Vorhang schnellstens, nach 20 Sekunden, wieder aufgeht. Alfred findet das wegen des schweren Umbaus unmöglich. Die Leute klatschen ja erstmal 45 Sekunden, sagt Alfred. Niemals – nach dem 1. Akt klatscht niemand. Wette: drei Flaschen Champagner. Die Wiener klatschen drei Minuten lang. Claudio hat die Wette zwar verloren, ist aber glücklich und gibt sechs Flaschen.

Am Schluss war der Beifall unglaublich frenetisch, er hielt über eine Stunde an, was wohl alle selten erlebt haben dürften, selbst ein begeisterter Leonard Bernstein kletterte aus seiner Loge auf die Bühne und küsste in der allgemeinen Aufregung versehentlich den Assistenten anstelle von Alfred.

Als Mirella schon einige Tage vor der Premiere gemerkt hatte, dass für ihren liebsten Nicolai doch wohl alles zum Besten stand, näherte sie sich Alfred, himmelte ihn an und sang mit ihren Zauberaugen: „Alfredo, Alfre-edo, di questo core. Non puoi comprendere tutto l’amore …“ und war somit seine Traviata. Und Nicolai rannte hinter ihr her und prophezeite einen „Grande successo del mondo!“

DER MANN VON PÖLARÖLARA

Weil seine fünf Jahre ältere Schwester Lieselore, also Lilo, Spaß daran fand, ihn zu unterjochen, musste Alfred dringend etwas dagegen erfinden.

Lilo glänzte später als Frau Doktor der Archäologie, den sie an der Uni Bern erworben hatte, derart, dass sie nach vielen herausragend geschriebenen Zeitungsartikeln vom Schweizer Militär-Departement für dessen Geheimdienst als Fachfrau für Asien, und zwar im Range eines Oberst, engagiert wurde. Da sie (damals) eine tolle Puppenküche besaß, mit unzähligen kleinsten Küchenutensilien, war sie in der Lage, Essen zu schenken oder zu entziehen, einen kleinen Kuchen zu backen oder auch nicht, je nach Laune, wie eine Königin.

Alfred holte zum Befreiungsschlag aus. Er behauptete wie aus heiterem Himmel, völlig verblüffend und ohne jede Vorwarnung, er sei ab jetzt der Mann von Pölarölara. Auch der zwei Jahre ältere Bruder Julius war verdutzt. Die kleinste Schwester lag ja meistens noch im Gitterbett. Die Mama hatte für diese ganze Bagage das Mutterkreuz gekriegt. Es war ein nicht zu kleines Kreuz, leuchtend himmelblau und schön glänzend. Manchmal durften die Kinder die etwas dümmliche Auszeichnung angucken und sich dabei das eine oder andere denken.

Alfred musste tätig werden und sah seine Stunde gekommen, als er sich als Pölarölara in Form eines etwa vier Zentimeter hohen und sehr dünnen Männchens, das er von der weihnachtlichen Märklin Eisenbahn genommen hatte, einfach vor den daher rasenden Zug legte. Das konnte ein wunderbarer Güterzug sein, mit schwarzer Lokomotive, feuerroten Rädern und dem mannigfaltigsten, schönsten Kühlwagen, Wagen für Holz oder Kohle oder Bier, sogar einem Schlusswagen, der als solcher sehr wertvoll war, weil er zwei Rückleuchten besaß. Alles entgleiste natürlich fürchterlich, fiel um, auch Bäumchen und Häuschen, nur dem Mann von Pölarölara passierte nichts, er lag ohne Schramme auf den Schienen, weil er, obwohl sehr klein, sehr hart war.

Vielleicht musste man jetzt sogar, was Pölas Anschlag äußerst nervig machte, auch noch lange nach dem vom Unfall verursachten Kurzschluss suchen, in einem Gestrüpp von dünnen Kabeln, die durch unzählige Löcher unter der Tischplatte geführt worden waren. Es war die moderne, kleinformatige Spur 00. Den Kurzschluss zu finden, das dauerte schon mal ein oder zwei Stündchen.

Der Mann von Pölarölara konnte noch andere phantastische Kunststücke: Zum Beispiel Nudeln, die Lilo in der Puppenküche gekocht hatte, vom Boden essen oder einfach aufschlecken. Zum Erstaunen der übrigen Kinderwelt.

Das Weihnachtszimmer war ein geradezu wundersamer Ort. Alfred und seine Geschwister wurden vom Vater vorsichtig aus dem Kinderzimmer durch dieses Illyrien ins Esszimmer geschleust, wobei jedes Kind einen Kaffeewärmer auf dem Kopf hatte, damit es ja nichts von den Herrlichkeiten sehen konnte und die Spannung ganz furchtbar anstieg.

Weil man zwischendurch wieder wegen Fliegeralarms und weil es bereits Nacht war in den Keller rennen musste, konnte man sich mit der Frage beschäftigen, welcher Art die Phantasien wohl waren, die sich in dem Kaffeewärmerkopf gebildet haben könnten. Von Illyrien, dem geheimnisvollen Ort, kommt ja auch die Chimäre, die nicht nur ein Trugbild sein kann, sondern mit ihrem Löwenkopf und Drachenhinterteil für die Kinder mit einem Mal zu bedrohlicher Wirklichkeit wird. Im Gewölbekeller angekommen, war man aber doch bei Mutter und Vater und Geschwistern, die möglichen Trugbilder wurden so etwas minimiert, im Zaum gehalten – und auch der Volksempfänger funktionierte und machte damit den kalten, harten Raum etwas heimeliger. Zwar krächzend – der Funkverkehr wurde von den Alliierten durch Abwerfen von Stanniolpapier(Alufolie)-Streifen gestört –, aber doch, kam eine Stimme durch den Äther, von weither, wie aus dem Weltall, und dozierte eindringlich langsam, wie zum Mitschreiben:

Achtung … Achtung … Die Luftlagemeldung … Feindlicher Bomberverband nähert sich von Raum Nürnberg … Über Planquadrat soundso … Nimmt Richtung auf Großraum Stuttgart …

Da diese Strecke genau über Göppingen führt, wurde es still. Kribbel, kribbel. Gänsehaut. Da man aber ein deutscher Junge ist, lässt man sich auf keinen Fall etwas anmerken. Man passt auf, mit allen Sinnen, wie verrückt. Kann man von hier – wir sind doch tief unter der Erde, über uns ist ein schweres Haus –, kann man von hier ein Brummgeräusch erlauschen?

Die feindlichen Bomber … Wo sind die deutschen Nachtjäger? Abfangjäger?

Wenn nichts passierte, also der gleichbleibende, unheimliche Dauerton der Sirenen weit nach Mitternacht Entwarnung verkündete, war man heimlicherweise erleichtert, gleichzeitig doch auch enttäuscht, dass man sozusagen „unverrichteter Dinge“ wieder ins Bett musste.

Spannender war es, wenn Stuttgart wirklich angegriffen wurde, man mit Vater Julius, der sehr schön Gedichte von Mörike bis Uhland vorlesen konnte, in ein höheres Stockwerk schleichen und jetzt ohne Kaffeewärmer hinausschauen durfte. Da war wieder Weihnachten! Sakrament! Es hingen in zirka 40 Kilometer Entfernung die wunderschönsten sogenannten Christbäume am schwarzblauen Nachthimmel. Das waren von Pfadfinder-Flugzeugen abgesetzte Leuchtkugeln, die einige Zeit in der Luft schweben konnten und für nachfolgende Maschinen die Ziele für den Bombenabwurf markierten. Man sah dann die Explosionen und den Horizont, der so unfassbar herrlich rot wurde und golden und tief violett.

Dazwischen die Abwehrversuche der deutschen Flak, die ihrerseits wiederum ihre Granaten in den Himmel schoss und die beim Zerplatzen wirkten wie Sterne zu diesem Fest. Der Tod zeigte sich sehr malerisch. Da fiel auch dem Mann von Pölarölara kein Kunststück mehr ein.

„Sofort vom Fenschter weg!“, schrie es jetzt aus einer Nazi-Patrouille, saugrob wie üblich bei dem durchschnittlich-normal aggressiven Schwaben. Befehlsgemäß, doch völlig sinnlos, wurde die Verdunkelung der Fenster überwacht.

Am nächsten Tag ist Alfred allein zuhause. Es ist strengstens verboten, ins Weihnachtszimmer zu schauen. Er muss es versprechen. Natürlich öffnet er trotz des Verbots die Tür einen ganz kleinen Spalt weit: Grün! Grün von Tannen! Grün von den Bäumchen auf der Eisenbahn! Es ist wie ein Schlag, den ein Boxer bekommt. Aber Alfred fällt nicht. Er hätte in Ohnmacht fallen können, umkippen, es war keine Chimäre, es war Zaubertheater-Wirklichkeit. Er glaubte, einen „Fliegenden Hamburger“, den schnittigen, modernen, blauen Triebwagen auf dem Eisenbahntisch erkannt zu haben. Hurra!

Dann doch noch in die Schule. Volksschule, 1. Klasse. Der Lehrer gab den Tipp, dass bei großem Hunger durchaus Maikäferköpfe aufs Brot gegessen werden könnten. Bei der Frage nach der Religionszugehörigkeit war es nicht mehr evangelisch oder katholisch in allen Fällen: Ein etwas dickes Kind sagte, es sei gottgläubig, und weil Alfred mondgläubig verstanden hatte, beschäftigte ihn das eine Zeitlang. Bis die Klassentür aufgerissen wurde und ein älterer Schüler, eine Karte in der Hand haltend, ziemlich trocken hereinrief: „Luftgefahr 9!“

Weil alle Luftschutzräume den auswärtigen Schülern vorbehalten und auch ganze Klassen aus dem zerbombten Stuttgart darin waren, rannte nun eine große Horde von Schülern zu den zugewiesenen Familien und deren privaten Schutzräumen. Alfred hatschte wegen der Polio-Gehschiene etwas, kam aber doch noch rechtzeitig zur Frau Alle, einer fülligen, äußerst weiblichen, blonden Klavierlehrerin. Alfred hatte sie schon im Freibad gesehen. Bei ihr war noch eine Freundin. Frau Alle hatte auch ein tolles, rotes Spielzeugauto, das auf dem Tisch fahren, aber einfach nicht herunterfallen konnte. Man munkelte, dass ihr Mann zwar beim Militär, jedoch Aufseher oder Wachsoldat in einem komischen „Lager“ sei und keineswegs an der Front. Kaum war man in dem fremden Keller, da hörte man ganz klar ein lauteres Brummen als sonst. Frau Alle sagte, Alfred solle sich auf den Boden knien, den Kopf nach vorne gerichtet, und die beiden Frauen legten eine Decke über ihn. Aus den Augenwinkeln sah er neben sich eine Art Wand aus Holzlatten, hinter denen vielleicht Eingemachtes, Werkzeuge oder Äpfel waren. Die Frauen kauerten neben ihm und nun geschah etwas Sensationelles – äußerst Blödes. Das Brummen nahm schlagartig zu, der Ton wuchs unglaublich laut an, man meinte, die Flugzeuge kämen herunter, um auf den Häusern zu landen. Im Kopf mischte sich alles zu einem innigen Teig aus Todesangst, Bewunderung für den Feind, Sehnsucht nach den Eltern, Imagination des Begräbnisses. Uhlands „Ich hatt einen Kameraden“, wurde oft auf dem Friedhof gesungen. Als dann das Geräusch den dunkel tiefsten Punkt erreicht hatte, krachte es und die Welt schien sich selber aufzufressen und zu verschlucken.

„Lebst Du noch oder bist Du tot – o sprich, o sprich, o rege Dich.“ – So ungefähr spricht Thisbe im Sommernachtstraum zu ihrem Liebsten Pyramus. Nicht tot waren Frau Alle und ihre Bekannte, nicht Alfred.

Nicht tot der Kreisleiter, der kurz vor dem Kriege mitverantwortlich war, dass eine Gruppe verblendeter Vollidioten, sogenannte SA-Männer, aus einer Kneipe in Geislingen mit einem klapprigen Kleinlaster, in den sie Stroh geladen hatten, zur Synagoge nach Göppingen fuhren, um sie niederzubrennen. Es war damals kurz vor Mitternacht. Einer von dieser Bande hatte den Termin verpasst, fuhr pflichteifrig mit dem Fahrrädle die 20 Kilometer hinterher, um doch noch rechtzeitig dabei zu sein. Die Leitungen zu den Weckern der Feuerwehrleute waren gekappt worden, die Feuermelder abgeschaltet, die Polizeistreifen auf die Wache zurück befohlen und der Feuerwehrhauptmann, der einen Löschzug alarmieren wollte, war mit der Waffe bedroht und daran gehindert worden.

Im Feuerschein des Brandes irrten, zum Teil im Nachthemd, jüdische Menschen durch die Straßen, teils von Schlägen entstellt und verletzt. Wieder ereignete sich das nicht Begreifbare, dass zuvor harmlos scheinende Kleinbürger und Nachbarn zu hinterhältigen Bestien wurden. Losschlagend gegen etwas, was sie sich in ihrem Kopf zusammengebastelt hatten oder immer wieder neu bastelten. Vielleicht hätten sie den Mann von Pölarölara auch für einen Ausländer, Flüchtling, „Zigeuner“ oder Schwulen gehalten, schon wegen seines Namens.

Dem Chef der Feuerwehr, der darauf bestand zu löschen, und damit seinen Posten verlor, dem konnte Alfred Jahre später ein kleines Denkmal setzen, indem der groteske Feuerwehrhauptmann in Ionescos Kahle Sängerin einen so wunderbaren Auftritt hatte, dass die Stuttgarter Inszenierung nach Berlin eingeladen wurde.

Der Angriff mit den tieffliegenden Bombern löschte durch einen Volltreffer in den Schutzraum einer Buntweberei das Leben vieler junger Frauen aus, die als Zwangs- oder Fremdarbeiterinnen in das schöne Stauferstädtchen verschleppt worden waren.

Die schönste Fremdarbeiterin aber war Ljuba aus der Ukraine, die das Glück im Unglück hatte, nicht einer Fabrikarbeit, sondern einer Familie zugewiesen zu werden, um dort auf Alfred aufzupassen. Sie kam aus einem Viehwagen, völlig verdreckt und verlaust. Nach einem warmen Bade wurde sie immer wonniger und schöner und es entspann sich eine unsterbliche Liebe zwischen Ljuba Barantschenko aus Kharkow und Alfred, dem Mann von Pölarölara, sieben Jahre alt. Ljuba war nicht allzu groß, hatte wunderbar schwarzes, dichtes Haar und so etwas schön Fremdes – besonders in ihrem hart-weichen Sprechen. Wenn sie mit Alfred spielte oder ihn gar auf den Schoß nahm, strömte eine Sehnsucht aus ihr … wahrscheinlich dachte sie an Zuhause. Das war weiter weg als weit. Zwischen den Fronten, zwischen den Toten, zwischen den Ideologien. Wo ist sie geblieben? Wurde sie, wie so viele, von Stalin bei der Rückkehr umgebracht? Oder lebt sie heute auf der Krim oder in Kiew, kennt Klitschko? Putin?

Vielleicht war sie Lehrerin für Deutsch geworden, was sie zusammen mit Alfred gelernt hat. Und mit Vater Julius, der zunächst jedes Wort für sie gezeichnet hatte und dazu die Bedeutung schrieb: Strumpf oder Hand oder Tasse.

Als wir endlich am Ziel waren und sie gut sprechen konnte, sagte sie plötzlich: „Hitlerrr schläächt.“ – Und bekam vom Vater eins hinter die Löffel. Aus Überzeugung oder zu ihrem Schutz?

Ljuba heißt Liebe. Alfred vergisst sie nie.

MUTTER COURAGE

Der alte Strähle im grauen Arbeitsmantel und mit Sense, die er so gerne den Kindern nachwarf, er hatte auch eine Frau. Oder Freundin oder gar Lebensgefährtin, was damals sozusagen polizeiwidrig war. Sie hieß Marie, mit Betonung auf der ersten Silbe. Weil sie fast taub war, rannte der Alte zur Kontaktaufnahme hinter ihr her und schrie sehr grob: „Marie, hü!“

Wie zu einem Pferd, nur umgekehrt.

Das funktionierte. Unvermittelt blieb sie stehen, blickte einen Moment auf, brabbelte etwas Unverständliches und ging dann, wenn nichts Besonderes war, weiter ihres Wegs.

Mit ihren auffallend vielen Röcken und ihrem poetischen, kessen Knoten im Haar war sie ein Wesen wie aus einem russischen Film, vielleicht eine Vorbotin von 47.000 Flüchtlingen, die in die nicht sehr große Stauferstadt kommen sollten, viele barfuß, viele mit Kopftüchern und hungernd.

Was dachte Marie im Bombenkeller? Was bekam sie mit vom Krieg? Wie sie durch den Garten watschelte, hatte sie etwas Unvergängliches, hätte auch die Erda aus Wagners Rheingold sein können „wie alles war, weiß ich, wie alles wird, seh’ ich“.

Gruselige Einmachgläser standen hinter ihrem Fenster im Erdgeschoss. Nicht etwa voll schöner Erdbeermarmelade oder mit Birnenschnitzen, sondern mit größeren braunen Klumpen darin, die wie harter, pelziger Brei in die Gläser und die Flüssigkeit darin hineingestopft schienen. Einzelne winzige tote Tierchen schwammen in der Brühe noch herum, das ganze übrige Ameisenvolk klebte zusammen, eingelegt in Alkohol und ertränkt! Ein Lebenselixier gegen die Plagen des Rheumas. Marie rieb sich damit regelmäßig und sorgfältig ein. Hü!

Der Krieg war noch nicht zu Ende, die Amerikaner schon ad portas, nicht „ante“, wie Pöla später in der Schule feststellen ließ.

Die Obernazis waren in ihrem Fluchtbus und mit vollen Hosen nahe Geislingen in den Straßengraben gekracht. Der herannahende unheimliche Geschützdonner ließ manchen verzagen, hatte die Nerven blank gelegt. Was werden die „Feinde“ tun? Sie sollen SS-Leute erschossen haben, die sich schon ergeben hatten. Es sollen auch „Neger“ darunter sein. Schneiden die einem die Zunge heraus, wie manches Großmaul zu wissen behauptete?

Während der Flugplatz, man war so stolz auf ihn, von Spitfire Jagdbombern mit acht Maschinengewehren in den Tragflächen meist in der Morgenfrühe kurz und klein geschossen wurde – man hoffte, dass wenigstens eine Spitfire mal abgeschossen würde –, versuchten Alfred und sein Bruder Julius zu retten, was zu retten war, rasten hysterisch, wenn sie nicht im Keller waren, mit allen Märklinzügen im Kreis herum, schrien und krähten: „Nachschub rollt nach Saint Nazaire.“ Auch das eine Spinnerei, weil die gigantischen deutschen Marinebunker am Atlantik längst zerstört worden waren.

Nicht explodierte Stabbrandbomben, sechseckige, nur einen halben Meter groß, deren Höllenfeuer ganze Städte aufgefressen hatten, schmiss man vor Wut in brennende Steinhaufen, damit sie beim Aufschlag doch endgültig verrecken sollten. Manchmal trugen die Kinder schwere Verletzungen davon, wegen eingebauter Sprengladungen, die das Löschen verhindern sollten. Der Mann von Pölarölara war also auch Bombenwerfer geworden.

Immer mehr Todesanzeigen in den Zeitungen, noch mehr Gefallene in den Familien, tote Schulkameraden, Mädchen oder Jungs, sich befreiende Kriegsgefangene aus Lagern mit Revanchegedanken: „Herr Kirchner, Herr Kirchner da isch an Pol im Garten und will meim Großvadder a Messer in Ranze steche.“

Hunger, Hunger, Hunger.

Nachts im Keller, Matratzenlager, Halbschlaf, Warten auf das vielleicht Letzte, das Wunder, nach V1, V2, jetzt das Ultimative, die V3 … deutsche Atombombe? Stattdessen nur riesiger Krach, Knall, Grollen, weit unter der Erde, schwäbischer Disput. Was war das? Die Rollbahnen des Flugplatzes waren es, die von der eigenen Besatzung in die Luft geblasen, gesprengt, für die Amis nun unbrauchbar gemacht worden waren. Baumstämme als Panzersperren in die Hohenstaufenstraße gerammt. Drei Feldjäger, wegen ihrer Blechketten um den Hals auch Kettenhunde genannt, poltern schwerbewaffnet mit Stahlhelmen in den Keller, bestialisch brüllend, packen Herrn Fröhlich im gestreiften Schlafanzug zur Erschießung, weil er hier sich „hundsföttisch“ verkrieche, anstatt Panzer und Amis aufzuhalten; worauf dieser eine tolle Szene hinlegte und mit sich überschlagender Fistelstimme schrie: „Mein Herz, mein krankes Herz.“ Die drei ließen dann ihren Frust an der Kellertür aus und suchten jemand anderen, diesmal vielleicht zum Aufhängen.

Papa Julius, wie ein verunglückter „Fahrraddieb“ aus dem Film Ladri di biciclette sah er rückblickend aus, mit seinem alten Fahrrad, kleinem Rucksack und mit riesigem weißen Kopfverband, wegen einer eben überstandenen Furunkel-Operation. Herzzerreißend verabschiedete er sich, um sich im Wald, der „Öde“ hieß, mit anderen zum „Volkssturm“ als letztes Aufgebot zu sammeln, zum lächerlichen Endkampf.

Diese arm-absurde Szene wurde von einem, bis dahin noch von keinem Ohr gehörten, überirdischen Knall ins Historische hinaufgehoben, denn gerade da durchbrach der erste Turbinen- oder Düsenjäger (Me 262) die Schallmauer und eröffnete damit ein neues Zeitalter der Flugtechnik.

Es war nun der 19. April 1945, ein Tag vor Einmarsch der Amerikaner. „Der Krieg, er dauert hundert Jahre/ Der g’meine Mann hat kein Gewinn.“ So heißt es in Brechts Mutter Courage. Zwischen vielen Patronenhülsen im Garten fand man in dem ganzen Schlamassel einen gelben Zettel, wohl aus einem gegnerischen Flugzeug, mit der Notiz: „In Waschenbeuren … Enemy Vehicles observed … Air attack!“

Wäschenbeuren, ein kleiner, sanft bergiger Ort am Rande des frühesten Schlosses der Herren von Büren aus dem 11. Jahrhundert, die sich später die Staufer nannten. Die Flugzeuge näherten sich ohne Pause, kopfüber, im Sturzflug dem Ort. Je länger und steiler der Flug, desto mehr wuchs die Geschwindigkeit an und mit ihr das tödliche Gejaule. Schülergruppen hatten gerade noch schreiend ihre Schutzräume erreicht. Riesiger, schwarzer Rauchpilz. Die äußerst traurige, auch groteske Veranstaltung neigte sich ihrem Ende zu.

Man brauchte nur noch ein weißes Betttuch zum Zeichen der Aufgabe oder Unterwerfung oder auch des Friedens aus dem Fenster zu hängen. Das war ein Befehl der Amerikaner, der mit auf die Häuser gerichteten Kanonenrohre ihrer Panzer überwacht und erzwungen wurde. Wegen der Tücher konnte man wiederum als Verräter von den Nazis erschossen werden. Beim Vorbeirollen der Panzer hörte man jedenfalls kein Sterbenswort. Es war totenstill. Dafür klirrten die Ketten eisenhart und überlaut künstlich durch den Abend, als ob sie vielstimmig sagen wollten: „Aber die dummen Menschen“, wie es in Büchners Woyzeck heißt.

Während gefangene deutsche Soldaten gespenstisch hohläugig mit großen Lastern in Lager gefahren wurden, führte man eine Kolonne genauso müder und ausgehungerter Pferde auf den Fußballplatz des Sportvereins. Eines schnappte böse nach Alfred, wollte vielleicht was essen.

Die amerikanischen Soldaten brauchten Wohnungen, zogen ein, schmissen die Deutschen raus, spielten mit den Eisenbahnen, auch mit denen der Nachbarkinder vom oberen Stockwerk. Sie brachten, da sie Märklin keineswegs kannten, alles durcheinander und warfen diese Kostbarkeiten, also Schienen, Weichen, Züge, Bäumchen und kleine Menschlein auf einen Haufen vor und ja! sogar in die Toilette – wie sollte man das je wieder auseinanderdividieren? O Gott.

Der Soldat Mac war der erste Schwarze, den man sah. Seinen Stahlhelm lässig nach hinten hängend auf dem Kopf, ganz anders als bisher gewohnt, strahlte er Alfred mit blendend weißen Zähnen an, hielt ihm seine braune Hand hin, mit einem Wunder von Blutorange. Großes Staunen, Aufregung! Kann man die von einem „Feind“ annehmen? Oder setzt es eine Ohrfeige, wenn es jemand sieht. Nach einem kurzen Moment drückte Alfred ein paar Wörtlein heraus und griff nach der Orange. Glücklich über sein herrlich duftendes Geschenk.

Marie hü, Marie hü, hü, hü. Noch größere Aufregung. Die Amerikaner, jeder sagte „die Amerikaner“, hatten einfach Maries Backbleche, Kuchenformen, Pfannen und Töpfe aus deren Küche genommen und alles in einen Jeep geworfen, kein ganz normaler mehr, eine Nummer größer, also hinten schon ganz schön hoch. Was tun? Alfred musste Schmiere stehen, Marie, viel gelenkiger als man dachte, kletterte schnell, trotz der vielen Röcke, in den Feindeswagen und reichte ihre zurückeroberten Küchensachen heraus. Dazu klaute sie aber noch die Essensrationen der Soldaten, in Ölpapier eingeschweißte Päckchen, auf denen in Großbuchstaben stand: DINNER, SUPPER und ein merkwürdiges Wort: BRE-AK-FAST. Neugierig betastet wie ein Wunder von einem anderen Stern – da wird doch nichts explodieren – wurden sie äußerst vorsichtig geöffnet und jedes Kind bekam von Marie seine Belohnung. Hochgefühl.

Man wollte nun hinter das Haus, es gab da eine größere, sanft ansteigende Blumenwiese, man wollte ein kleines Fest mit seinem buttergleichen Schmelzkäse in olivfarbener, „angloamerikanischer“ Dose veranstalten, man fühlte sich frei, nirgends krachte es, ganz leiser Frühlingswind.

Einem schlesischen Schriftsteller unter den immer zahlreicher werdenden Flüchtlingen war es gelungen, in der Göppinger Zeitung ein Memento zu schreiben: „Auf keinen Fall wollen wir dies vor euch sein, Wohltatenempfänger, denn wir haben ein Recht auf Hilfe, die nicht nur unserer Menschenwürde, sondern auch unseren bürgerlichen Fähigkeiten entspricht. Bedenkt, dass wir so etwas wie einen Bettlerstolz haben und der ist empfindlich. Mut, das muss das erste Wort sein, das wir auf die ersten Gewinnseiten unseres Lebensbuches schreiben. Mut, der umso größer sein muss, je größer die Not ist.“

Auf 738 Kalorien pro Kopf sinkt die Lebensmittelrationierung.

Oma, die den schönen Namen Maria Emilie trägt, steht am frühen Morgen auf einer kleinen Anhöhe im Garten. Volles, graues Haar, Nickelbrille, blau-schwarzes Kleid mit weißen Punkten und Arbeitsschürze. Sie war nicht etwa wie Niobe zu Stein geworden, wegen ihrer getöteten Kinder. Aber ihre Hände umklammern eine Emaille-Schüssel mit Kleie und Kartoffelschalen für die Hühner. Es musste ein großes Leid geschehen sein, ganz schwach ruft sie: „Kommet, kommet!“