Der Nordseeschwur - Tilman Spreckelsen - E-Book

Der Nordseeschwur E-Book

Tilman Spreckelsen

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Beschreibung

Der Sturm der Freiheit bricht sich Bahn – Theodor Storms gefährlichster Fall Zum großen Sängerfest strömen Tausende 1844 nach Bredstedt bei Husum. Aber Rechtsanwalt Theodor Storm und sein Schreiber Peter Söt wissen, dass dort gefährliche politische Reden gehalten werden. Über die erbitterten Kontroversen zwischen Deutschen, Dänen und Friesen berichten Spitzel bis nach Kopenhagen, Wien und Berlin. Dann, mitten auf dem Fest, ein Mord. Wer ist darin verstrickt – etwa auch Storm selbst? Der dritte Fall für Theodor Storm und Peter Söt: historisch spannend, mit dem Sog des Nordens

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Seitenzahl: 243

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Tilman Spreckelsen

Der Nordseeschwur

Ein Theodor-Storm-Krimi

FISCHER E-Books

Inhalt

[Karte]Der Mann stand auf, [...]EinsZweiDreiDer Dolch auf dem [...]VierDass sie ihn für [...]FünfSechsSiebenAchtManchmal, an guten Tagen, [...]NeunDer Aufstieg war mühsam. [...]ZehnElfZwölfDreizehnVierzehnEr hatte keinen Wagen [...]FünfzehnNachwortHarro Harring (1832)Als Lyriker und Autor [...]Die wichtigsten Personen

Der Mann stand auf, vorsichtig, die Knie zitterten, als er sie endlich durchdrückte und mit der Hand hinter sich nach Halt tastete. Harro sah ihm zu: Der Mann trug ein Leinenhemd, das ihm viel zu weit geworden war, auch die Hose hielt kaum noch an den Hüften mit den spitz hervorstehenden Knochen. Das schüttere Haar hing ihm ins Gesicht, der Bart wucherte, aber so verwahrlost das alles aussah, so entschlossen wirkte der Mann. Jetzt suchte seine Hand den Boden unter der Pritsche ab, dann schloss sie sich um einen Gegenstand, und Harro wusste, dass es eine Scherbe war.

Der alte Traum, der Albtraum. Er hatte es schon tausendmal gesehen, er wusste, was jetzt kam, und trotzdem wollte er es abwenden, er wollte schreien, dem Mann in den Arm fallen, er wollte ihn flüsternd überreden, es sein zu lassen, zu vertrauen, dass sich die Zustände schon bald ändern würden, aber wie sollte er den Mann überzeugen, da er doch selbst an keine Besserung glaubte! Wie immer brachte er keinen Ton heraus, seine Kehle schmerzte vor Anstrengung, kein Schritt gelang ihm, nicht einmal den Arm konnte er heben.

Der Mann nahm die Scherbe. Woher er sie hatte, wusste Harro nicht. Ob wirklich einer – der träge Preuninger oder gar der grässliche Georgi – so gegen jede Vorschrift ein leeres Glas bei dem Mann vergessen hatte oder einen Krug? Hatte er das Gefäß entdeckt, in einem der seltenen Momente, in denen er vor die Tür des engen Raums gekommen war, und heimlich mitgenommen?

Es war entsetzlich kalt, in diesem Jahr war der Frühling kraftlos, der Wind pfiff durch die Ritzen in den Außenwänden und durch das Fenster. Harro spürte ihn nicht, natürlich nicht, aber er sah, wie die Kälte dem Mann zu schaffen machte. Sein Kittel hatte rötliche, eingetrocknete Streifen, da, wo er auf den Wunden geklebt hatte, die von Georgis Knüppel stammten. Wenn Georgi getrunken hatte – nein, dachte Harro, wenn Georgi zuviel getrunken hatte, denn er trank jeden Tag –, dann brauchte es nicht viel von dem stolzen Mann, der ganz in Georgis Gewalt war, um den Knüppel auf seinem Rücken tanzen zu lassen. Manchmal reichte ein Blick, den Georgi »frech« nannte und der ihn in maßlose Wut versetzte. Er sollte gestehen, brüllte Georgi dann, und schlug solange zu, bis er selbst müde wurde oder Preuninger kam, weil sein Dienst vorbei war. Der Mann gestand nie. Auch wenn sein Rücken blutig und zerschlagen war.

Jetzt stand er ganz anders da, fand Harro. Er presste seine Faust vor den Mund. Wieder wollte er schreien, wieder war er wie gelähmt. Der Mann fuhr sich rasch und entschlossen mit der Scherbe quer über den Hals. Harro konnte nur seinen Rücken sehen, aber er wusste, dass aus dem Hals des Mannes nun das Blut sickerte, dass er seinen Finger mit einer grässlich zielsicheren Bewegung in das Blut tauchte und langsam Buchstabe um Buchstabe an die Wand schrieb.

Harro konnte den Satz auswendig. »Da mir der Feind jede Vertheidigung versagt, so wähle ich einen schimpflichen Tod von freien Stücken« – der blutige Finger kroch langsam über den rauen Putz, als ob jedes Körnchen ein Hindernis für ihn wäre, das er überwinden müsste.

Der Mann stand noch immer da, gebeugt und erschöpft, die Schreibhand rutschte die Wand entlang nach unten und hinterließ einen roten Strich. Er ließ sich wieder auf die ewig klamme Pritsche fallen, röchelte leise und Harro konnte jetzt die Halswunde sehen. Das Tuch, das der Mann trug, war schon vollkommen feucht.

Jetzt, wusste Harro, kam das Schlimmste. Im Schloss der Zellentür drehte sich quietschend ein Schlüssel. Die Tür schwang auf, der fette Georgi kam herein, in der Hand eine Öllampe und offenbar sehr zufrieden mit dem, was er auf der Pritsche sah.

Du Schwein!, wollte Harro rufen, du widerliches, sadistisches Schwein! Er schluckte verzweifelt und wusste, dass die Szene war, wie sie eben war, nichts würde sich verhindern lassen, was immer er auch tat. Manchmal hatte er an dieser Stelle das Gefühl, dass Georgi ihn mit einem flüchtigen Blick streifte, einmal glaubte er sogar, dass Georgi erstaunt war über den Zeugen, den er erst jetzt wahrnahm. Aber meist sah er ihn nicht, sowenig wie ihn auch der Mann sah, der auf der Pritsche lag und mittlerweile eine kleine Pfütze auf den Zellenboden tropfte.

Ach, sagte Georgi, ist es endlich so weit? Hast du dich getraut? Willst du uns irgendwas beweisen?

Der Mann hatte die Augen fest auf seinen Peiniger gerichtet.

Tun Sie doch was, flehte Harro stumm. Nehmen Sie ein Tuch, binden Sie die Wunde ab, sehen Sie denn nicht, dass er stirbt!

Ich werde jetzt, flüsterte Georgi, ganz tief zu dem Gesicht des Mannes auf der Pritsche gebeugt, einen Arzt für dich suchen. Das dauert, verstehst du? Wer weiß, wo der steckt? Ich werde mich dabei nicht hetzen, lieber gründlich, so bin ich nun mal, ich kann da nicht aus meiner Haut. Vielleicht komme ich ja noch rechtzeitig zurück. Wenn nicht …

Georgi tippte dem Sterbenden mit zwei Fingern auf die Schulter. Ohne jede Eile drehte er sich zur Tür und ließ sie hinter sich ins Schloss fallen. Harro hörte noch, wie Georgi von draußen abschloss. Der Mann auf seiner Pritsche stöhnte fast unhörbar.

Harro fühlte, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen, wie er allmählich in ein haltloses Schluchzen kam und wie er darüber aufwachte. Im Traum war er jung gewesen, jetzt war er wieder der alte Mann, der mit bleischweren Gliedern auf seiner knotigen Matratze lag. Die Morgensonne hatte seine Kammer in ein klares Licht getaucht, wie er es auf dieser Insel schon oft gesehen hatte.

Jedes Mal, wenn er aus diesem Traum erwachte, dachte er dasselbe: Dieser Mann, Georgis Opfer, der Schreiber an die Wand mit seinem eigenen Blut, der Weggesperrte in einem Kerker in Darmstadt, der nun schon so viele Jahre tot und begraben ist, das könnte ich sein.

Sein Kopf schmerzte dumpf, sein Blick ging hinüber zum Tisch, zu der Flasche. Gestern hatten ihn seine Dämonen wieder heimgesucht, er erinnerte sich schwach, es musste schlimm gewesen sein, die Flasche war fast leer.

Der Dolch lag auch auf dem Tisch. Der Prachtdolch von früher, aus der großen Zeit. Der letzte Ausweg, falls sie ihn eines Tages doch noch finden würden. Denn in den Kerker würde er sich nie wieder sperren lassen.

 

Eins

»Geh nicht«, sagte Bottilla leise, den Mund an meinem Hals, als der Klang der Glocke durch die Tür zu ihrer Kammer drang.

Auf ihrer Brust war ein dünner Schweißfilm, ich konnte ihren Atem hören, der sich noch mit meinem mischte. Eine Strähne ihres Haares klebte leicht an ihrer Stirn. Seit sie am Silvesterabend wieder nach Husum zurückgekommen war hatten wir keinen Tag getrennt voneinander verbracht.

Wieder schlug die Glocke an. Der Ton war dumpf, aber er kam in dem jahrhundertealten Haus noch in den letzten Winkel. Wir waren allein. Bottillas Dienstherr, der Versicherungsmakler Schmidt, spielte gegenüber in Werners Weinstube mit seinen Freunden L’Hombre. Der Anwalt Theodor Storm, dessen Schreiber ich nun seit über einem Jahr war, spielte normalerweise mit. Er hatte zwei Zimmer von Schmidt gemietet, im einen wohnte er, im anderen empfing er seine Klienten. An diesem Abend aber war er bei seinem Vater in der Hohlen Gasse.

Bottilla und ich lagen geräuschlos auf ihrer Matratze und horchten nach draußen. Das Fenster der Dachkammer ging auf den schmalen Garten zwischen Schmidts Haus und dem Nachbargrundstück. Der Mond beschien die schmucklose Wand, die Tür, die breiten Dielen. Wir warteten darauf, durch die Stille endlich Schritte zu hören, die sich entfernten.

Diesmal läutete die Glocke noch lauter und länger. Der Besucher schlug sie in kurzen Abständen immer neu an, hart und bestimmt. Er würde nicht aufhören, so klang es, und als ob er wüsste, dass in dem dunklen Haus jemand sei, der ihm öffnen würde. In einem der Gärten war ein Hund aufgewacht und bellte wütend zu uns herüber.

Ich warf meinen Kittel über und zog die Hose an. Die alte Treppe knarrte wie immer so laut, dass sie mich dem Besucher ankündigen musste. Ich stellte mir vor, wie er auf der anderen Seite der Tür zufrieden grinste, weil er mit seiner Hartnäckigkeit Erfolg gehabt hatte, und gab mir keine Mühe, mich zu beeilen. Unten zog ich mir die Stiefel an die nackten Füße. Dann öffnete ich die Tür.

»Sie sind Peter Söt, der Schreiber?«

Der kleine Mann stand unangenehm dicht vor der Tür, sein Gesicht war nur eine Elle von meinem entfernt. Seine Stimme klang, als käme er von weit her, aber ich hätte nicht sagen können, wo er aufgewachsen war. Er war blass, hager, die dünnen Haare waren grau und kurzgeschnitten. Der Mond stand ihm im Rücken und verschattete sein Gesicht. Trotzdem fühlte ich mich von ihm gemustert, als wollte er abschätzen, wie viel Widerstand ich ihm leisten würde, wenn es darauf ankäme.

»Und wer sind Sie?«

»Ich muss Herrn Advocat Storm sprechen«, sagte der Mann. »Es ist dringend.«

»Wer sind Sie?«

Der Mann seufzte.

»Nennen Sie mich Meyer, wenn Sie wollen, oder Schulze oder irgendwas. Aber holen Sie jetzt endlich Ihren Herrn.«

»Er ist nicht hier.«

»Dann warte ich drinnen auf ihn, lassen Sie mich durch.«

Er wollte sich an mir vorbeidrängen, aber ich war jetzt so wütend, dass ich blieb, wo ich war und die Türöffnung mit beiden Armen versperrte.

»Das ist nicht Ihr Ernst, Söt, oder? Sie sollten vorsichtiger sein, mit wem Sie sich anlegen.«

Er sah aus, als sei er erstaunt über meinen Widerstand. Dann sagte er leise: »Weiß Herr Storm eigentlich über Sie Bescheid? Über die Zeit, bevor Sie nach Husum gekommen sind?«

»Wollen Sie mir drohen? Woher kommen Sie, Meyer oder Schulze oder was auch immer?«

»Nur ein guter Rat, Söt, nichts weiter. Und nehmen Sie die Hand da weg.«

Ich stieß ihn ein zweites Mal vor die Brust, so dass er zurücktaumelte. Er sollte endlich verschwinden, mit allem, was er über mich wusste. Zu wissen glaubte.

»Was ist da los?«

Ich hatte den Nachtwächter Schlüter nicht kommen gehört. Der Fremde verschwand so schnell durch das offene Tor zur Straße, dass keiner von uns ihn aufhalten konnte. Wir starrten ihm nach und hörten seine Schritte noch, als er längst im Schatten der Marienkirche auf dem Marktplatz verschwunden war.

Der alte Schlüter runzelte die Stirn. Er hob sein Horn und betrachtete es unschlüssig. Meine Wut hatte nachgelassen.

»Ich glaube nicht, dass Sie Alarm blasen müssen, Schlüter«, sagte ich. »Wir würden den Mann sowieso nicht mehr erwischen.«

»Was wollte er denn«, fragte Schlüter misstrauisch, »einbrechen?«

»Keine Ahnung«, sagte ich.

»Aber Sie könnten ihn beschreiben?«

»Wahrscheinlich schon«, sagte ich. »Glauben Sie denn, dass das nötig sein wird?«

»Man weiß nie«, sagte er würdevoll. »Ich behalte das im Auge.«

»Dann gute Nacht«, sagte ich und schloss die Tür hinter mir.

Als ich sie eine Stunde später wieder öffnete, um zurück in meine Kammer zu gehen, die ich bei Böttchermeister Kruse in der Süderstraße bewohnte, war Storm noch nicht zurückgekommen. Auch Schmidt schien noch L’Hombre zu spielen. Am nächsten Tag würden wir seiner Miene ablesen können, wie viel er gewonnen oder verloren hatte.

Wo der Marktplatz in die Süderstraße überging, leuchtete eine Kerze in einem Dachfenster, sonst war alles dunkel bis auf den Mond am wolkenlosen Himmel. Der Wind wehte leise und bewegte die Blätter in den Gärten. Meine Schritte hallten erst auf den Steinen wider, dann viel leiser von dem gestampften Boden der Süderstraße.

Bottilla hatte sich angehört, was ich über die Begegnung mit dem Fremden erzählen konnte. Sie hatte mich gefragt, wovor ich mich fürchte, weil Storm doch über meine Vergangenheit als Spitzel einer Verbrecherbande Bescheid wisse. »Ich weiß es auch«, hatte sie gesagt. »Und dass du dich damals für Storm und für mich entschieden hast.«

Ich hatte genickt. Und daran gedacht, wie wenig sie wirklich über mein Leben wussten, sie und Storm.

Jetzt lief ich auf der linken Seite der Süderstraße und sah im Mondlicht die breite Front des Handwerkerhauses mit den schwarzen Fensterhöhlen. Auch die Fremden, die hierherkamen, um zu arbeiten, schliefen schon. Davor, im Schatten, waren die Konturen eines Bündels, als ob jemand einen Sack dort gelassen hätte. Ich kam näher und erkannte, dass da ein Mensch lag, reglos und verkrümmt. Als ich ihn herumdrehte, sah ich Storms Besucher in die aufgerissenen Augen. Er war genauso blass wie eben. Aber mit einer breiten, klaffend roten Wunde zwischen Kinn und Brust und einer vollständig zertrümmerten Nase.

Zwei

Ich musste nicht lange auf Storm warten. Weil ich ihn nicht erschrecken wollte, hatte ich mich in einigem Abstand von der Haustür mitten auf die Großstraße gestellt. Der Mond beschien mich ebenso wie die Kirche, den Marktplatz und die alten Giebelhäuser im Zentrum der Stadt. Ich wusste, dass Storm von seinem Vaterhaus in der Hohlen Gasse ein paar Schritte laufen und dann in die Großstraße einbiegen würde. Außer uns war kein Mensch unterwegs, er sah mich schon von weitem und verlangsamte vorsichtig seine Schritte. Dann hatte er mich erkannt und ging wieder schneller auf mich zu.

»Sollten Sie nicht allmählich im Bett sein, Söt?«, fragte er. Dann besah er mich von oben bis unten. »Möchten Sie vielleicht noch einmal in die Kanzlei kommen? Sie sehen aus, als ob Sie etwas loswerden müssen.«

Theodor Storm war damals, im Juni 1844, sechsundzwanzig Jahre alt, etwas älter als ich. Er hatte sich nach dem Jurastudium in Husum als Anwalt niedergelassen, zunächst in der Kanzlei seines Vaters, dann hatte er in der Großstraße seine eigene eröffnet und mich als seinen Schreiber eingestellt. Ich war nicht sehr beliebt in Husum, und vielleicht hing es auch mit mir zusammen, dass Storm so wenig Klienten hatte. Anfangs war ihm das egal gewesen, glaubte ich, aber seit er sich im letzten Winter mit seiner Cousine Constanze verlobt hatte und sich nun eine Existenz aufbauen musste, machte ihn diese Unsicherheit nervös. Mehr als einmal hätte er die Gelegenheit gehabt, mich loszuwerden, aber er hielt an mir fest, und ich dankte es ihm, so gut ich konnte.

»Ich muss Ihnen erst etwas zeigen«, sagte ich.

Wir gingen gemeinsam zum Handwerkerhaus. Wenn Storm entsetzt darüber war, dass im verschlafenen Husum ein geheimnisvoller Fremder aufgetaucht, mit einem Schnitt durch die Kehle umgebracht und einfach auf der Straße liegen gelassen worden war, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Sein schmales Gesicht mit der hohen Stirn und dem schütteren Haar sah angespannt aus, konzentriert und zugleich müde. Ich wusste, dass er in den letzten Tagen nicht viel geschlafen hatte.

»Sie haben noch niemanden geholt, oder?«, fragte er, nachdem er einen Blick auf den Toten geworfen hatte. Ich schüttelte den Kopf.

»Dann machen wir das jetzt. Sagen Sie mir aber bitte vorher, ob es in der Sache irgendetwas gibt, das Sie in ein schlechtes Licht rücken könnte?«

Jedem anderen hätte ich diese Frage übelgenommen, aber Storm hatte mich mehr als einmal in verfänglichen Situationen erlebt, für die ich nichts konnte. Und immer zu mir gehalten.

»Der Nachtwächter«, sagte ich. »Er kam zufällig vorbei, als ich den Mann daran hinderte, in Ihre Kanzlei zu gehen.«

»Handgreiflich hinderte?«

Ich nickte wieder, und Storm stöhnte leise auf. Ich konnte riechen, dass sein Vater, Mitglied der schleswigschen Ständeversammlung und oberster Strippenzieher in Husum, es an diesem Abend wohl nicht beim Wein belassen hatte. Kirschwasser, vermutete ich, Storms Nase war jedenfalls noch tiefer violett gefärbt als sonst.

»Also gut«, sagte er, »es kommt zwar wahnsinnig ungelegen, aber es hilft ja nichts. Wir wecken jetzt Kaup. Übrigens sonst eine schöne Nacht, finden Sie nicht?«

Ich wusste, wie sehr Storm Rosen liebte, und dass der intensive Duft aus den vielen Gärten der Stadt ihn um diese Jahreszeit immer euphorisch stimmte. Zusammen mit seinem Vermieter Schmidt bestellte er das kleine Grundstück rund um das Haus, und auf die prächtigen Rosenstöcke an der Fassade zur Großstraße hin waren sie beide stolz.

Reinhard von Kaup, Husums Bürgermeister, hatte seine Wohnung und seine Amtsräume im Kavalierhaus auf dem Schlossgrund. Ich lief neben Storm durch die Süderstraße, über den Marktplatz und durch die kleine Gasse, die neben dem Rathaus begann und bis zur Grenze des Schlossgeländes führte. Noch immer war es so still, dass man den Wind hörte und von Westen her das Meer. Der Mond stand hoch hinter uns am Himmel, und während wir den schmalen Weg am Schloss vorbei zum Kavalierhaus einschlugen, stellte ich mir vor, wie Kaup auf die Störung seiner Ruhe reagieren würde. Vor allem, wenn wir außer dem Wächter Tostensen auch Kaups kleine Tochter Isabella aufwecken würden.

Tostensen stand schon in der Tür, als wir uns dem Kavalierhaus näherten. Er hielt eine Laterne in der Hand und verabschiedete einen Mann, den ich von weitem wiedererkannte. Als der Mann uns bemerkte, schaute er zur Seite und ging rasch grußlos vorüber.

»Sieht so aus, als wäre Nachtwächter Schlüter Ihnen zuvorgekommen«, sagte Storm. »Das macht die Sache nicht besser.«

Tostensen gähnte. Er nuschelte etwas, hielt uns die Tür auf und deutete zur Treppe, die innen zu Kaups Amtsräumen führte. Dann lief er langsam Schlüter hinterher.

Ich folgte Storm, der oben an die Tür zum Arbeitszimmer klopfte.

»Da sind Sie ja«, sagte Kaup. Er saß im Morgenrock und mit grauem Gesicht an seinem Sekretär, die Feder in der Hand, vor sich einen Bogen Papier. Offenbar hatte er seinen Schreiber nicht wecken wollen, um Schlüters Aussage aufzunehmen. Der Raum sah aus, als hätte Tostensen ihn notdürftig und in aller Eile beleuchtet. Zwei Kerzen brannten in den Haltern an der Wand und eine Öllampe auf Kaups Tisch.

»Wir wären schon früher gekommen«, sagte Storm, »aber ich war noch in einer Besprechung, und Herr Söt wollte erst mich hinzuziehen, bevor …«

»Eine Besprechung«, sagte Kaup. »Sehr schön. Und nun sind Sie also hier.«

»Ich nehme an, Schlüter hat Ihnen bereits berichtet, was heute Abend geschehen ist.«

»Schlüter hat mir einiges erzählt, das mir etwas rätselhaft erscheint. Nun hoffe ich, dass Ihr Schreiber etwas Licht in die Angelegenheit bringen kann. Bitte ohne Abschweifungen, damit ich mich bald wieder schlafen legen kann. Also, Herr Söt?«

Er bewegt sich kaum, aber als er jetzt auf mich deutete, warf seine Hand einen großen Schatten an die Wand. Ich erzählte, dass der Mann mitten in der Nacht wild geläutet hatte, ich ihn nicht in Storms Arbeitsräume gelassen und ihn dann später auf dem Heimweg gefunden hätte.

»Was haben Sie denn noch in der Kanzlei gemacht, um diese Zeit, ohne Ihren Herrn?« fragte Kaup.

»Herr Söt arbeitet häufiger in meiner Abwesenheit dort«, sagte Storm, »Akten kopieren und dergleichen.«

»Soso«, sagte Kaup. »Ich nehme an, das kann für heute Nacht niemand bezeugen? Es würde nämlich Ihre Lage verbessern, lieber Herr Söt, wenn es einen Zeugen gäbe. Oder eine Zeugin.«

Storm berührte meinen Arm.

»Bottilla«, sagte ich, und Kaup notierte sich etwas auf dem großen Bogen vor ihm. Ich war niedergeschlagen und nervös, weil ich Bottilla in die Sache hineingezogen hatte, ohne es zu wollen.

»Und Sie, Herr Storm? Gibt es da jemanden, den Sie heute Abend so dringend erwartet haben, dass es keine Zeit bis morgen früh gehabt hätte?«

»Nein.«

»Sie haben den Mann also auch nicht wiedererkannt?«

Storm überlegte, dann schüttelte er den Kopf.

»Wir werden das klären«, sagte Kaup. »Tostensen und Schlüter bergen gerade die Leiche, morgen werden wir sie untersuchen. Kommen Sie beide doch bitte um zehn Uhr ins alte Scharfrichterhaus in der Osterende.«

Storm sah ihn überrascht an.

»Oh, erzählen Sie mir bitte nichts vom Gottesdienst morgen früh«, sagte Kaup. »Ich habe Sie schon lange nicht mehr in der Kirche gesehen.«

»Dazu müssten Sie allerdings auch mal hingehen, Herr Bürgermeister«, sagte Storm. »Es ist nur … Meinen Sie, dass das morgen lange dauert?«

»Es dauert so lange, wie es eben dauert. Warum?«

»Morgen Nachmittag fahren wir nach Bredstedt, fast die ganze Familie.«

»Zum großen Volksfest, richtig«, sagte Kaup. »Wir fahren auch, zusammen mit halb Husum, wie mir scheint. Ich habe schon Karten gekauft, meine Frau hat sehr darauf gedrängt. Aber das Fest findet doch erst übermorgen statt. Am zehnten Juni, richtig?«

»Ich gehöre dem Vorbereitungskomitee an«, sagte Storm beiläufig.

»Ach so.« Kaup grinste, er hörte das wohl nicht zum ersten Mal. »Na, dann machen wir es morgen kurz. Ich möchte nicht schuld sein, wenn das Fest ausfallen muss, weil der wichtigste Mann nicht rechtzeitig nach Bredstedt gekommen ist.«

Plötzlich wurde sein Gesicht ernst. Auch ich hatte das leise Geräusch an der Zimmertür gehört. Kaup gab Storm, der am nächsten an der Tür saß, ein Zeichen, und Storm riß sie mit einem Ruck auf. In der Öffnung stand eine kleine Gestalt im Nachthemd.

»Isabella!« Kaup seufzte. Er winkte uns fort, und während wir aufstanden und vorsichtig die Treppe hinuntergingen, hörten wir Kaup noch fragen, wo eigentlich das Kindermädchen sei.

Tostensen war noch nicht zurück, aber er hatte die Tür nicht mehr verschlossen, so dass wir auf den Schlossgrund kamen, ohne Kaup wieder zu stören. Die Nacht war immer noch schön, der Himmel schwarz und voller Sterne, nur ganz im Osten zeigte sich ein schmaler grauer Streifen.

Ich verabschiedete mich von Storm und ging durch die Süderstraße bis zum Haus von Böttchermeister Kruse. Im letzten Winter war der Böttchergeselle, der die andere Kammer bewohnte, tot im Hafen gefunden worden, und obwohl Kruse nicht wissen konnte, wie sein Geselle wirklich zu Tode gekommen war, schien er mich zu verdächtigen, mehr über die Sache zu wissen. Ich hörte ihn schnarchen, stieg die Treppe unters Dach so leise wie möglich hoch und dachte wieder, dass ich mir eine neue Unterkunft suchen sollte.

Am nächsten Morgen machten sich Kruses Familie, die Magd und der neue Geselle für die Kirche fertig. Dass ich auch an diesem Sonntag nicht mitkommen würde, wussten sie inzwischen, auch wenn Kruse immer noch Bemerkungen machte, dass schon mancher erst auf dem Totenbett fromm geworden sei, dass aber auch die allumfassendste Gnade ihre Grenzen hätte und dann hätte der Satan gut lachen.

Die Glocken der Marienkirche läuteten, als ich mich auf den Weg zum ehemaligen Scharfrichterhaus machte. Die alten Husumer trauerten immer noch um den spitzen Turm der früheren Kirche, die vor knapp vierzig Jahren wegen Baufälligkeit abgebrochen worden war. Jetzt stand da eine neue, ein streng geformter Kasten mit einem viel niedrigeren Turm, in dessen knubbeliger Spitze ein goldenes Kreuz steckte. Immerhin, die Glocken hatte man wieder in den neuen Turm gehängt, nachdem sie 25 Jahre lang unbeachtet auf dem Schlosshof gelegen hatten. Aber so wie früher, meinten die Alten, klängen sie nicht mehr.

Es hatte noch nicht zehn Uhr geschlagen, als ich vor dem Scharfrichterhaus ankam. Storm wartete trotzdem schon vor der Tür. »Laufen Sie nachher nicht gleich weg«, sagte er leise. Dann sahen wir Kaup, der gelassen die Norderstraße heruntergeschlendert kam, den Markt im Rücken. Tostensen war neben ihm und hielt eine offenbar recht schwere Tasche in den Händen.

»Ist Ihnen über Nacht noch etwas eingefallen, Herr Söt?«

Er schien keine Antwort zu erwarten. Tostensen holte mit gespielt gleichmütiger Miene einen der größten Schlüssel hervor, die ich je gesehen hatte, und schloss die Tür zu einer Kellertreppe auf, die hinunter in das alte Verließ führte. Früher verbrachten hier die zum Tode Verurteilten ihre letzten Stunden, aber seit es in Husum keine Hinrichtungen mehr gab und die Gefängniszellen nun in einem Seitenflügel des Schlosses untergebracht waren, wurde der Raum für alles Mögliche genutzt. Seit neuestem auch für die Leichenschau, die bei jedem unnatürlichen Todesfall vorgeschrieben war.

»Die Ärzte kommen, wenn der Gottesdienst zu Ende ist«, sagte Kaup. »Sie wissen ja, dass der Chirurg Hitscher ein frommer Mann ist, auch wenn er jeden Tag Menschen sieht, mit denen es die Vorsehung nicht so gut gemeint hat. Aber bevor er gleich kommt, wollen wir uns den Toten schon einmal anschauen.«

Der Mann lag aufgebahrt in der Mitte des Kellers. Tostensen öffnete die Tasche und zog nacheinander vier Öllampen hervor. Als er sie angezündet hatte, war es hell genug, dass ich den Toten betrachten konnte. Er wirkte in etwa so, wie ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, nur dass das Blut an seinem Hals inzwischen verkrustet war, was die Wunde noch klaffender erscheinen ließ.

Wo die Nase sein sollte, war jetzt ein blutiger Brei aus Fleisch und Knochensplittern.

Kaup leuchtete mit einer Lampe eine Weile lang hart in das Gesicht der Leiche. »Sie haben den Mann noch nie gesehen, Herr Storm? Ganz sicher?«

Storm ließ sich Zeit. »Nein«, sagte er schließlich, »noch nie.«

»Was könnte er von Ihnen gewollt haben?«

»Das wüsste ich auch gern. Haben Sie ihn denn untersucht?«

»Seinen Körper nicht weiter, wenn Sie das meinen. Die Todesursache scheint ja auch nicht zweifelhaft zu sein. Aber seine Kleidung, seine Taschen, das natürlich schon.«

»Und?«

»Etwas Geld, genug um sich zwei oder drei Wochen durchzuschlagen, obwohl der Mann eigentlich nicht nach Durchschlagen aussieht. Ein Pass, ausgestellt in Preußen, auf den Namen Karl Müller.«

»Halten Sie ihn für echt?«, fragte Storm.

»Falls nicht, ist er jedenfalls sehr anständig gefälscht«, sagte Kaup.

»Aber Karl Müller? Ich bitte Sie …«

»Ich traue der Sache ja auch nicht über den Weg, lieber Storm. Aber ob der Pass echt ist oder nicht, sollen die Beamten in Kopenhagen überprüfen.«

»Hatte er sonst noch irgendwelche Papiere dabei? Einen Ring, ein Amulett?«

Storm verstummte plötzlich, und wir schauten alle zur Halsgegend des Toten. Keiner von uns hatte Lust, im erstarrten Blut und dem aufgerissenen Fleisch nach einer Kette und einem Anhänger zu suchen.

»Bisher nichts«, sagte Kaup. »Auch keine Briefe, Notizen oder etwas in der Art. Außer einem recht bemerkenswerten Blatt …«

Ich kannte Kaup als nüchternen Beamten. Diese Inszenierung passte eigentlich nicht zu ihm, und er musste schon etwas Besonderes bei dem Toten gefunden haben, um seinen Trumpf auf diese Weise zu zücken.

»Lesen Sie doch mal vor, Herr Storm.«

Storm nahm ihm das Blatt aus der Hand. Es war klein, beinahe quadratisch. Sein linker Rand war unregelmäßig, wahrscheinlich hatte es jemand aus einem Stammbuch herausgerissen. Ich hielt die Schrift für die bemüht ordentliche eines Schülers. Und sie erinnerte mich an eine, die ich gut kannte.

Storm las:

»Hin gen Norden zieht die Möwe,

Hin gen Norden zieht mein Herz;

Fliegen beide aus mitsammen,

Fliegen beide heimatwärts.

Ruhig Herz! Du bist zur Stelle;

Flog’st gar rasch die weite Bahn –

Und die Möwe schwebt noch rudernd

Über’m weiten Ozean.«

»Ganz hübsch, oder? Was sagen Sie zu diesen Versen? Heimweh nach dem Norden, kennen Sie das?«

»Keine Ahnung«, sagte Storm. »Und dieses Blatt hatte der Tote bei sich?«

»Dieses Blatt«, sagte Kaup, »und sonst keinen einzigen Gegenstand, der irgendwelchen Aufschluss auf seine Persönlichkeit geben könnte. Von dem windigen Pass einmal abgesehen. Können Sie sich einen Reim darauf machen? Immerhin wollte er gestern Abend damit zu Ihnen.«

»Er wollte mir wohl kaum das Gedicht vortragen«, sagte Storm. Ich hatte den Eindruck, dass er nicht ganz bei der Sache war.

»Denken Sie in Ruhe darüber nach, Herr Advocat«, sagte Kaup. Er nahm das Blatt zurück und beobachtete Storm aufmerksam, dann wandte er sich mir zu. »Sie auch, Söt, ja? Melden Sie sich bitte, wenn Sie etwas zur Aufklärung dieser Sache beitragen können. Mich würde übrigens auch Ihre Meinung zur Handschrift interessieren, Sie kennen sich da ja aus.«

Wir stiegen die Treppe wieder hinauf.

»Übrigens, Söt …«

Ich blieb stehen und drehte mich zu Kaup um.

»Sie können nachher mit den anderen nach Bredstedt fahren, wenn Sie möchten. Bottilla hat bestätigt, dass Sie mit dem Mord nichts zu tun haben. Also bis später.«

Tostensen verschloss die Tür hinter Kaup, und Storm lief wortlos den Kuhsteig entlang, der vom alten Scharfrichterhaus nach Norden führte. Es waren nur ein paar Schritte an den Gärten der Husumer vorbei, die vor der Stadt lagen. Auf der linken Seite war das Schloss, umgeben von einem Wassergraben und einer Reihe hoher Bäume. Wir liefen durch eine weite, sandige Fläche mit breiten Wegen und kahlen Steinwällen. Storm ging stur geradeaus, bis auf beiden Seiten Weißdornbüsche und Nusssträucher auftauchten. Ein Neuntöter flog krächzend aus einem Gehölz auf, und ich sah einen Dorn, an dem eine aufgespießte Biene noch mit den Flügeln schlug. Storm blieb stehen, nahm sie ab und zerdrückte sie beiläufig unter seiner Sohle. Die Geste hatte nichts Grausames, es wirkte eher so, als wollte er die Biene von ihrer Qual erlösen. Dann sah er sich um und schien mich wieder wahrzunehmen.

»Herr Storm?«, sagte ich vorsichtig.

»Danke, dass Sie noch mitgekommen sind, Söt«, sagte er. »Ich muss etwas mit Ihnen besprechen, das strenggenommen nichts mit der Arbeit zu tun hat, die Sie für mich leisten.«

»Aber mit dem Mann, der jetzt tot im Scharfrichterhaus liegt?«

»Kann sein«, sagte Storm. »Auf jeden Fall aber mit dem Volksfest, zu dem wir heute Nachmittag fahren.«

Es war ein heißer Tag, ich spürte Schweißtropfen auf meiner Stirn und wischte sie weg. Storm schien die Hitze nicht zu bemerken.

»Vorige Woche ließ mich der Amtmann Krogh zu sich ins Schloss rufen. Es ging nicht um meinen Chor, wie ich zuerst dachte.«