Der Prof mit dem Sarg - Katja Kleiber - E-Book

Der Prof mit dem Sarg E-Book

Katja Kleiber

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Beschreibung

Ex-Punkerin Sandy ermittelt an der Uni Frankfurt. Wenn sie den Täter nicht findet, werden weitere Menschen sterben. Denn sein Plan ist noch nicht aufgegangen … Sandy hat gerade ein eigenes Detektivbüro eröffnet, als ihr erster zahlungskräftiger Kunde tot vor ihr liegt. Der Professor hatte Todesdrohungen erhalten, die er für einen makabren Scherz hielt – ein verhängnisvoller Fehler. Sandy gerät selbst in den Fokus der Mordermittlung. Die ehemalige Punkerin und frisch gebackene Detektivin wirkt in den Augen der Polizei nicht besonders vertrauenswürdig. Sandy ermittelt in der fremden Welt der Hochschule, um ihre Freiheit und ihr junges Unternehmen zu retten. Die Schulabbrecherin schleicht sich als Hilfskraft am Institut des Toten ein. Dort entdeckt sie eine Welt der Intrigen und Eitelkeiten. Wer ging über Leichen, um Erfolg zu haben? Wenn Du eine neue, außergewöhnliche Serie suchst, bist Du hier richtig. Schräge Protagonisten, trockener Humor – das bieten die Sandy-Krimis. Die chaotische Privatdetektivin Sandy, ihr Punker-Freund Wombel und Rechtsanwältin Freya Freifrau von Buckow, genannt “Pitbull”, lösen gemeinsam Fälle in der Bankenstadt Frankfurt. Fans von Stieg Larsson (Millennium-Trilogie mit Lisbeth Salander), Jussi Adler-Olsen oder Sven Regener (Herr Lehmann) kommen hier auf ihre Kosten. Jeder Band kann unabhängig voneinander gelesen werden, obwohl sich die handelnden Figuren weiterentwickeln.

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Der Prof mit dem Sarg

Ein Frankfurt-Krimi. Sandys erster Fall.

Katja Kleiber

Copyright © 2021 by Katja Kleiber

    c/o easy-shop

    Kathrin Mothes

    Schloßstraße 20

    06869 Coswig (Anhalt)

www.katja-kleiber.de

Coverdesign: Juliane Schneeweiß

Dieses Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erstellt mit Vellum

Disclaimer

Es handelt sich um ein fiktives Werk. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Institutionen sind rein zufällig.

1

Der lebende Tote

Bis der neue Klient kam, hatte ich gedacht, die Steuererklärung zu erledigen wäre das Nervigste des heutigen Tages. Die grünen und grauen Felder des verhassten Formulars verschwammen vor meinen Augen. Lustlos setzte ich meinen Namen in das erste Feld. Dann starrte ich auf die leeren Felder mit den sinnlosen Bezeichnungen.

In dem Moment ging die Tür auf. Ein Mann trat herein. Ohne anzuklopfen. Die Trine am Empfang hatte wahrscheinlich in ihren Modezeitungen geblättert, statt ihn bei mir anzumelden. Sie boykottierte mich, wo sie nur konnte. Wahrscheinlich war ihr die Detektivin als Untermieterin nicht fein genug.

Der Anzug betonte die große, schlanke Figur des Mannes. Leider machte sein knallrotes Gesicht den angenehmen Anblick wieder zunichte. Er knallte ein Blatt Papier vor mir auf den Tisch. "Das! Das ist der Gipfel der Unverschämtheit!"

Seine Gesichtsfarbe stammte nicht vom Treppensteigen bis ins Dachgeschoss.

"Bitte nehmen Sie doch Platz. Was kann ich für Sie tun?" Früher hatte ich gedacht, Höflichkeit sei eine Form von Heuchelei. Heute halte ich sie für eine Waffe.

Er faltete seinen langen Körper zusammen und setzte sich in den Besucherstuhl, vorne auf die Kante. Er deutete auf den Zettel: "Unternehmen Sie was, aber schnell."

Ich betrachtete das Papier. Es war eine Todesanzeige, herausgerissen aus einer Zeitung. Heribert M. Knettenbrech, es folgte sein Geburtsdatum, dann: „gestorben am 5. April dieses Jahres. In tiefer Trauer, seine Kollegen und Mitarbeiter.“

"Mein Beileid." Ich rechnete nach. 54 Jahre alt geworden. "Hat nicht gerade ein biblisches Alter erreicht."

Der Mann sprang auf: "Das bin ich! Ich, Heribert Knettenbrech, Professor Heribert M. Knettenbrech." Seine Stimme überschlug sich. "Ich bin quicklebendig!" Eine Ader an seinem Hals schwoll an und pochte.

Unschön, seinen eigenen Namen auf einer Todesanzeige zu lesen, aber musste er deshalb so schreien? "Bitte, setzen Sie sich doch."

Der Besucherstuhl, ein Freischwinger, sank unter dem Gewicht des Mannes in die Knie.

"Ich lebe noch, und zwar sehr gerne! Gestern habe ich das hier in der Zeitung gesehen. Meine eigene Todesanzeige!" Knettenbrech schlug mit der flachen Hand auf das Papier.

Vorsichtig sagte ich: "Ein schlechter Scherz."

"Scherz!" Er schnaubte vor Wut. "Das ist kein Scherz!" Heribert Knettenbrech beugte sich vor und sah mir streng in die Augen. "Nehmen Sie das bitte ernst. Was glauben Sie, was das bedeutet? Es stellt mich öffentlich bloß! Ich werde zum Gespött!"

"Vielleicht will sich einer Ihrer Studenten für eine schlechte Note rächen."

"Unsinn. Das ist eine viel größere Sache: Jemand will mich mundtot machen. Dies ruiniert meinen Ruf in der gesamten Wissenschaft! Was glauben Sie, wie schnell die Nachricht von meinem angeblichen …" Der Mann stockte. Das Wort "Tod" wollte ihm nicht über die Lippen kommen. "… von meinem angeblichen Ableben die Runde gemacht hat. Ich bin eine bekannte Persönlichkeit." Bei diesen Worten schien sein Körper noch mehr zu wachsen. "Jemand hat die Anzeige in Twitter gesetzt. Seither kommen bereits Kondolenzschreiben aus den USA, aus China, aus der ganzen Welt. Jetzt streichen mich die Verbände und wissenschaftlichen Vereinigungen aus ihren Reihen. Ich werde nicht mehr eingeladen, nicht mehr um Papers angefragt, keiner lädt mich zu Vorträgen ein. Für die bin ich … so gut wie tot, einfach tot."

Ihm ging die Luft aus. Er schwieg und blickte mich flehentlich an.

Ich dachte einen Moment nach. Der Mann übertrieb grenzenlos. Offensichtlich aus Eitelkeit. "Die Anzeige war doch in einer Zeitung. Wenn Sie das genau da, in derselben Zeitung, richtigstellen?"

Er erklärte, er habe dort angerufen und sich über die Anzeige beschwert. Man habe ihn an ein Callcenter in Sachsen verwiesen, das die Anzeigen entgegennehme. Dort habe ihm auch niemand helfen können. Die Anzeige sei am Telefon aufgegeben worden, wie viele andere. Die Zeitung sei allerdings aus Kulanz bereit, in der kommenden Wochenendausgabe eine Kurzmeldung als Richtigstellung zu drucken.

Aus Kulanz … wahrscheinlich hatte er dort genauso rumgetobt wie hier.

"Eine Kurzmeldung", schnaubte Knettenbrech. "Die liest doch keiner. Für meine Fachkollegen bin ich jetzt tot, was für eine absurde Situation. Soll ich denn in allen Fachzeitschriften inserieren, dass ich noch lebe? Einen Twitter-Account eröffnen? Das ist doch lächerlich."

Ich blickte ihn skeptisch an. Der Mann war ein Hysteriker. Genauso schnell, wie sich die angebliche Todesnachricht rumgesprochen hatte, würde sich verbreiten, dass es sich um einen üblen Witz gehandelt hatte. Ich brauchte zwar einen Kunden, aber musste es dieser sein? Nach dem Fall mit der entlaufenen Katze, die ich bei einem Nachbarn wiedergefunden hatte, und der Frau, die angeblich fremd ging, aber nur ihren alten Lehrer besuchte, hatte ich bisher nur langweilige Auftragsarbeiten für die Großdetektei Meier übernommen.

Knettenbrech spürte meine Zweifel. Er beugte sich vor und sah mir in die Augen. Er hatte himmelblaue Augen, ohne jeden Stich ins Grüne oder Braune. Jetzt lag ein Anflug von Angst darin.

"Die Sache mit der Todesanzeige ist nicht die einzige." Er stockte, rückte seine ebenfalls himmelblaue Krawatte zurecht.

"Heute morgen wurde ein Kranz für mich abgegeben. Ein Grabkranz. Sie wissen schon, so einer aus Tannenzweigen. Meine Frau öffnete die Tür und ein Bote hielt ihr den Kranz entgegen. Sie hat sich total erschreckt." Er hielt inne.

Das klang schräg, das weckte meine Neugier, obwohl ich eigentlich keine Zeit für einen neuen Fall hatte. Die Großdetektei, für die ich Lebensläufe von fünf Kandidaten für den Posten des Einkaufschefs überprüfen sollte, drängelte. Das Abgabedatum war letzte Woche gewesen und ich hatte bisher nur drei Kandidaten gecheckt. Außerdem musste die verdammte Steuererklärung endlich fertig werden.

Als ich nicht antwortete, setzte der Professor hinzu: "Da steckt mehr dahinter. Ich will, dass diese Belästigungen sofort aufhören." Er sah mich fordernd an.

"Also, Herr Professor Knettenbrech …"

"Den Professor können Sie weglassen", schnaubte der Mann verächtlich.

"Herr Knettenbrech, ich übernehme den Fall. Ich schätze, das wird etwa drei Tage Nachforschungen in Anspruch nehmen." Ich betrachtete seinen feinen Anzug, verdoppelte im Kopf meinen Tagessatz und nannte ihm den Betrag.

Knettenbrech stimmte ohne Zögern zu.

Ich hätte eine höhere Summe nennen sollen.

"Haben Sie eine Vermutung, wer sich diesen Scherz erlaubt hat?"

"Das ist kein Scherz, hab ich Ihnen doch erklärt." Knettenbrech klang schon wieder aggressiv. Doch er zwang sich, ruhiger zu werden. Er erklärte, dass er den Täter in seinem beruflichen Umfeld vermute. Sein berufliches Umfeld sei das Turkologische Institut der Uni Frankfurt.

Als ich ihn verwirrt anblickte, erklärte er mir, dass er über das Türkische und andere verwandte Sprachen forsche.

Dabei guckte er mich von oben herab an. Selbst im Sitzen gelang ihm das mühelos. "Viele Kollegen beneiden mich um meine Position. Ich bin der führende Turkologe Deutschlands. Eine Menge Leute würden mir gerne schaden. Aber auf so geschmacklose Weise?" Plötzlich wirkte er hilflos.

"Ich werde das für Sie herausfinden. Ich würde mich gerne an Ihrem Institut ein wenig umsehen, um ein besseres Gespür für Ihr Umfeld zu bekommen." Ich passte mich seiner geschwollenen Ausdrucksweise an, so gut ich konnte.

Knettenbrech blickte sich im Büro um.

Es gab nicht viel zu sehen. Den massiven Holzschreibtisch hatte ich auf dem Flohmarkt erstanden. Die Stühle und Regale stammten vom Sperrmüll und erfüllten ihren Zweck.

Trotzdem wirkte das Büro elegant, fand ich wenigstens. Die Fenster im Erker ließen viel Licht in den Raum. Selbst im Sommer, wenn die Blätter der Platane sie beschatteten, war es immer noch hell.

"Sie fangen am besten morgen im Institut an." Knettenbrech überlegte eine Weile. "Wir stellen Sie als Hilfskraft in der Bibliothek ein, das würde vom Alter ungefähr passen."

Mit meiner schlanken, fast mageren Figur wurde ich fast immer jünger als Anfang 30 geschätzt, aber ich ließ ihn in dem Glauben, ich sei im Studentenalter. Mich störte etwas anderes.

"Herr Professor, ich übernehme gerne Ihr Mandat, aber ich bin nicht Ihre Angestellte!"

Er zuckte zusammen. Widerspruch war er offensichtlich nicht gewohnt. "Wenn Sie bei uns im Institut arbeiten, fallen Sie nicht auf und können in Ruhe ermitteln." Er argumentierte, die Bibliothekarin würde keinen Verdacht schöpfen, sondern froh sein, Unterstützung zu bekommen. Sein Institut sei nur wenige Straßen entfernt von meinem Büro im Frankfurter Westend.

"Ich brauche Spielraum für meine Recherchen. Mein Beruf erfordert Flexibilität. Ich ziehe Erkundigungen ein, befrage Leute, besuche Archive …" Und zwischendurch müsste ich die Steuererklärung ausfüllen und die Lebensläufe der Kandidaten recherchieren, ergänzte ich im Stillen. Nachtarbeit drohte, falls ich die Ermittlungen nicht kombinieren könnte. "Sie wollen doch, dass der Fall gelöst wird?"

Zähneknirschend gab Knettenbrech nach. Wir einigten uns darauf, dass ich als Hilfskraft am Institut eingeführt würde, aber kommen und gehen konnte, wie ich wollte.

Knettenbrech erhob sich und reichte mir die Hand. "Vielen Dank, Gräfin von Buckow."

Ich klärte ihn auf. "Frau von Buckow führt die Anwaltskanzlei unten im Erdgeschoss. Wir sind Partnerinnen. Mein Name ist Sandra Isolde Hardenberg."

Knettenbrech hatte vermutlich als Passant unseren prächtigen Gründerzeitbau gesehen und das Schild von Freyas Anwaltskanzlei auch gleich auf meine Detektei bezogen. Freyas Titel - die korrekte Anrede lautete "Euer Erlaucht" - zog viele Klienten an. Unser prächtiges Büro-Gebäude mit seinen dicken Säulen am Eingang mitten im teuren Frankfurter Westend tat sein übrigens, um sie zu beeindrucken.

Jetzt blickte mich der Professor enttäuscht an. Musterte mich von oben bis unten. Meine Jeans war nicht mehr die Neueste, das Hemd mit den großen rot-schwarzen Karos stammte aus dem Doppelpack vom Baumarkt, aber ich fand nichts daran auszusetzen. Seit den Zeiten als Punkerin hatte sich mein Geschmack in Sachen Klamotten wenig geändert. Nur zog ich außer Schwarz auch andere Farben an. Manchmal wenigstens.

"Seien Sie morgen früh um 9.30 Uhr pünktlich im Institut." Knettenbrech setzte hinzu: "Und ziehen Sie sich anständig an."

2

Ein Sarg für einen Prof

War die erste Begegnung mit Knettenbrech schon unangenehm, gestaltete sich der Auftakt der Ermittlungen schlimmer. Die Bibliothekarin, eine mopplige Frau mittleren Alters, hatte mich kritisch beäugt. Dann hatte sie mich an einen Tisch in der Ecke verbannt und mit Arbeit überhäuft.

Durch die großen Fenster fiel Licht herein, Staubkörner tanzten in der Luft. Die Wärme zwischen den Buchregalen legte sich wie ein dicker Mantel auf meine Schultern, am liebsten hätte ich mich zu einem Nickerchen zusammengerollt. Schließlich war ich in aller Herrgottsfrühe aufgestanden und hierher geradelt.

Vor mir stapelten sich Karteikarten mit Titeln und Verfassern von Büchern, die ich in den Computer eintippen sollte. Ungeheuerliche Titel. Bandwurmtitel. "Ein Versuch über die gaugasische Sprache unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses zentralsibirischer Turksprachen." Keine Ahnung, wer so was lesen wollte.

Aber dies war mein erster eigener Fall, der spannend klang. Ich hatte einen Klienten, der mich bezahlte. Anstatt für die Großdetektei Meier Lebensläufe zu überprüfen, tippte ich weiter: "Einführung in die türkische Grammatik mit Übungsaufgaben und …" Schwer senkten sich meine Finger auf die Tastatur. Ich konnte einigermaßen tippen, weil ich meine Berichte am Computer schrieb, aber das war ein Kinderspiel im Vergleich zu diesen Karteikarten.

"Bisschen aus der Übung, was?" Die Bibliothekarin lächelte giftig. Sie trug eine Perlenkette, die ihren Mopshals betonte. Da ich Freyas echte Perlen gesehen hatte, erkannte ich die Kunststoffimitate auf den ersten Blick.

"Nicht gerade der neueste Stand der Technik, diese Karteikarten." Ich verkniff mir den Hinweis, dass man die vor 20 Jahren schon hätte digitalisieren müssen.

"Die neuen Titel geben wir bei der Lieferung ein. Aber der Altbestand, der auf den Karteikarten ist - da bin ich einfach nicht nachgekommen. Hab einfach zu viel zu tun."

Von wegen, wahrscheinlich hatte auch sie keine Lust, diese verstaubten Kärtchen mit den ellenlangen Titeln abzutippen. Die Bibliothekarin wusste nichts von meinem Undercover-Einsatz. Sie hatte sich mir als Ulrike Brand vorgestellt und die Augen verdreht. "Du wirst es ja doch rauskriegen. Hier nennen sie mich Schlagnach, also kannst du das auch tun."

Schlagnach? Ich kicherte. Ob sie einen wuchtigen Schlag landen konnte? Ich schaute auf ihre Patschhändchen.

"Wenn jemand eine Frage hat, sage ich ihm, wo er nachschlagen kann." Sie hatte bemerkt, dass ich den Spitznamen falsch verstanden hatte. "Ich bin schon 20 Jahre hier am Institut und kenne mich bestens aus."

Schlagnach beobachtete meine Finger, die ungelenk über die Tastatur glitten. Sie seufzte.

Ich hatte mich vorgestellt als Arbeitslose, die eine Umschulung zur Bibliothekarin erwägt und sich einen Einblick in den Job verschaffen wollte. Das hatte sofort ihren Beschützerinstinkt geweckt. Trotzdem schien sie Konkurrenz in mir zu vermuten. Sie hatte sich sofort darauf gestürzt, mir einen Gastausweis zu verschaffen, mich dann aber in diese Ecke verbannt, in der ich jetzt versauerte.

Gelangweilt knibbelte ich an meinem Ohrläppchen herum. Deutlich spürte ich die Löcher. Noch vor wenigen Jahren hatten dort Sicherheitsnadeln und Ringe gesteckt. Doch das Punkerleben hatte ich endgültig hinter mir gelassen. Die Leute, die ich für meine Freunde gehalten hatte, hatten mich fallen gelassen. Außer Freya hatte mir niemand geholfen, als es mir schlecht ging. Darum war ich zu ihr nach Frankfurt gekommen.

Dann brauchte ich einen Job. Frankfurt war bekannt als "Hauptstadt des Verbrechens", denn es führte seit Jahren die Kriminalstatistik an. Was lag also näher, als ein Detektivbüro zu eröffnen? Der Job schien mir interessant zu sein, außerdem brauchte man keine Ausbildung. Ein Gewerbeschein für zehn Euro hatte gereicht.

Die Tür zur Bibliothek ging auf. Eine blonde, auffallend stark geschminkte Frau kam rein. Durch das viele Make-up wirkte ihr Gesicht maskenartig. Mit ihrer Stoffhose und der feinen Bluse wirkte sie nicht wie eine Studentin, obwohl sie vom Alter her eine sein konnte.

"Marlene, wie kann ich dir helfen?", grüßte die Bibliothekarin.

"Guten Tag, Schlagnach", kam die Antwort. Die Leute schienen diesen bescheuerten Spitznamen tatsächlich zu verwenden.

Ich beugte mich tief über die Tastatur und spitzte meine Ohren. Doch ich verstand kaum, worum es ging. Mir schien, Marlene fragte nach bestimmten Büchern im Katalog der Unibibliothek. Schlagnach antwortete ausführlich, bis ihr Blick aus dem Fenster fiel. Sie erstarrte.

Ich reckte mich vor und sah meinen Kunden, den Professor, die Treppen zum Institut hochsteigen.

Schlagnach griff zum Telefon, rief eine Nummer aus dem Speicher ab und sagte: "Knettenbrech im Anmarsch." Nichts weiter, kein Hallo, kein Tschüss. Das Ganze wiederholte sie drei Mal. Marlene war zur Tür hinausgehuscht.

Schlagnach bemerkte meinen erstaunten Blick. "Er hat neuerdings eine Stinklaune." Es war klar, wen sie meinte. Knettenbrech wie Knettenbrech. "Vorgestern hat er völlig ungerechtfertigt seine Sekretärin heruntergeputzt, und das vor den Studierenden." Immerhin schien die Bibliothekarin Sinn für Fairness und Gerechtigkeit zu haben.

In dem Moment hörte ich Brüller aus dem oberen Stockwerk. "Stinklaune" war nicht übertrieben. Eine zweite, krächzende Stimme hielt dagegen. Die einzelnen Worte waren nicht zu verstehen. Türen knallten.

Dann schallte Knettenbrechs Stimme durchs Treppenhaus. Jetzt verstand ich seine Worte ohne Probleme. Er brüllte: "Frau Hardenberg, herkommen!"

Was blieb mir anders übrig. Ich sprang auf und stieg die Treppe hoch. Kaum war ich ein paar Stunden im Haus, fühlte ich mich schon wie seine Angestellte – was ich in gewissem Sinne ja auch war.

Ein hagerer, großer, fast storchengleicher Mann kam mir entgegen, den Mund verkniffen. Er verschwand im Büro neben Knettenbrech. Ich schaute auf das Namensschild an der Tür: Prof. Dr. Dr. Siegmund Huber. Ein Doppeldoktor, was es nicht alles gab.

Dann öffnete ich die Tür mit der Aufschrift "Prof. Dr. Heribert Knettenbrech" und grüßte das zierliche Wesen im Vorzimmer. Der Professor wartete ungeduldig an der Durchgangstür zu seinem Büro.

"Kommen Sie, kommen Sie. Es ist wieder was passiert." Knettenbrech musterte mich, als sehe er mich zum ersten Mal. Immerhin trug ich heute eine frisch gewaschene Jeans und ein ebensolches schwarzes T-Shirt.

Knettenbrechs Büro war groß, größer als meine Wohnung. An den Wänden reihten sich deckenhohe Regale voller Bücher. Sie standen nicht nur in den Regalen, sondern lagen auch auf den Buchreihen. Eine Leiter lehnte an einem der Regale, damit man die oberen Fächer erreichen konnte. Nur ein einziges Fach in einem der Regale war ausgespart, hier stand eine Bronzefigur mit einem seltsamen Helm, vielleicht eine antike Göttin.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf Knettenbrech. Er hatte wieder dieses Flackern in den Augen. Ich meinte sogar, kalten Schweiß zu riechen.

Der Professor hatte Angst, nackte Angst.

Er holte Luft und setzte zum Sprechen an, da klopfte es.

Die zierliche Frau aus dem Vorzimmer kam herein und wuchtete eine dicke, blassrosa Mappe vor Knettenbrech auf den Schreibtisch. "Diese Unterschriften bräuchte ich bitte, die Fristen laufen heute Nachmittag ab."

"Unterschriften?" Knettenbrech wedelte mit den Armen. "Kriegen Sie, kriegen Sie."

Doch die Sekretärin ließ nicht locker. "Und haben Sie den Forschungsantrag vorbereitet? Die Einsendefrist läuft Montag aus."

Knettenbrech stöhnte auf. Er versprach, sich am Wochenende darum zu kümmern.

"Die Fachbereichssitzung ist heute Nachmittag im großen Saal." Die Frau schwenkte ihre blonde Haarmähne über die Schultern, blickte mich von oben herab an und stöckelte wieder ins Vorzimmer.

Knettenbrech hatte offenbar den Faden verloren. Er starrte die Mappe an, zwischen deren rosa Pappseiten einzelne Blätter hervorlugten. Dann blickte er auf, nahm mich wahr.

Er erhob sich und ging im Raum auf und ab. Ruckartig blieb er stehen, wandte sich mir zu und sagte: "Heute ist wieder was passiert." Seine Mundwinkel zuckten. "Ich habe im Homeoffice gearbeitet. Mich auf die Vorlesung im Sommersemester vorbereitet. Auf einmal klingelte es. Da standen zwei Männer mit einem Sarg. Für mich. Angeblich soll ich den bestellt haben."

Ich murmelte etwas Betroffenes.

"Das ist eine Morddrohung", Knettenbrech rückte seine Krawatte zurecht, als würge sie ihm die Luft ab. "Jemand hat es auf mich abgesehen."

3

Sonntagsruhe

Die Turkologen hatten eine prächtige Villa als Arbeitsort. Die Fassade war mit Schnörkeln reich geschmückt. Ich ließ das Kärtchen, das Schlagnach mitgegeben hatte, durch das Gerät am Eingang des Instituts ratschen. Summend sprang die Tür auf. In der Ferne schlugen Kirchenglocken. Um das Institut mal in aller Ruhe anzusehen, schien mir der Sonntag am besten geeignet.

Ich betrat den Flur und horchte. Nichts rührte sich. Wie geplant war ich alleine.

Ich ging in die Bibliothek. Sie lag gleich links neben dem Eingang. Es roch muffig. Die Bücher standen in Reih und Glied in den Regalen, auf dem Schreibtisch von Schlagnach ruhten ihre Stifte in exakt gleichem Abstand zueinander. Ein gerahmtes Foto zeigte eine graugetigerte Katze. Wahrscheinlich Schlagnachs Familie.

Was hatte ich erwartet? Seit gestern hatte sich nichts geändert.

Schlagnach führte einen großen, gebundenen Papierkalender. Die Seite für den morgigen Montag war aufgeschlagen. Dort standen kryptische Abkürzungen, hinter dem Wort "Forschungsantrag" war ein rotes Ausrufezeichen gemalt. Ich blätterte ein paar Seiten zurück, fand jedoch keine Eintragungen von der Art "Sarg für Knettenbrech bestellen!".

Auf einmal hörte ich Geräusche auf der Treppe. Knarrende Stufen. Schritte.

Ich erstarrte.

Dann schlug die Institutstür zu.

Ich sprang zum Fenster. Doch bis ich die Lamellen des Rollos weit genug geöffnet hatte, um hinauszugucken, war es zu spät. Die Straße lag verlassen da, soweit ich sie überblicken konnte. Wahrscheinlich hatte jemand am Sonntag dringend eine Akte benötigt und war vorbeigekommen. Nichts Beunruhigendes.

Ich öffnete weitere Bürotüren - keine war abgeschlossen - und entdeckte einen Raum, in dem ein großes Kopiergerät vor sich hin blinkte. Darüber hing ein Zettel mit fett gedruckten Buchstaben "Kopierer nach Gebrauch immer ausschalten!" Das Wort 'immer' war zweimal mit Edding unterstrichen.

Eine Tür weiter fand ich einen Vorratsraum mit Kartons voller Papier und anderen Büroartikeln sowie einem Stapel ausrangierter Computer. Im ersten Stock ließ ich das Büro von Knettenbrech links liegen und öffnete die gegenüberliegende Tür.

Hier standen sich zwei Schreibtische gegenüber, so dass die Computerbildschirme mit der Rückseite fast aneinanderstießen. Dicke Nachschlagewerke waren wie eine Barriere zwischen den beiden Arbeitsplätzen aufgetürmt. An einem der Computer leuchtete ein rotes Lämpchen, der Bildschirm war jedoch schwarz. Ich tippte auf eine Taste. Mit leisem Summen erwachte der Monitor zum Leben. "Benutzer: Clemens Wagner, Passwort?"

Hinter mir quietschte es laut.

Ich fuhr herum.

In der Ecke stand ein Käfig. Am Gitter richtete sich ein Meerschweinchen auf den Hinterbeinen auf. Es quietschte fordernd.

Ich murmelte: "Ruhig, nur ruhig."

Das Meerschweinchen sprang wie wild in seinem Heu umher und zerrte zwischendurch an einem Salatblatt, das zwischen den Gitterstäben steckte. Nach einer Weile beruhigte es sich wieder und hörte auf zu quietschen.

Ich überflog die Papiere auf den Tischen. Die meisten waren auf Englisch oder Türkisch. Hier arbeiteten offensichtlich ein gewisser Umut Öztürk und ein Clemens Wagner. Offenbar waren es untere Chargen, die sich ein kleines Büro teilen mussten. Aber ein Haustier halten durften. Seltsame Zustände.

Ich verließ den Raum, nicht ohne aus einer offenen Tüte auf Umut Öztürks Schreibtisch ein Hustenbonbon zu stibitzen. Ich drehte das Papier auf, stopfte es in meine Hosentasche und steckte das Bonbon in den Mund. Fast ein Frühstück.

Das Vorzimmer zu Knettenbrechs Büro war aufgeräumt, am Fenster stand eine Topfpflanze, an der Wand hingen Bilder mit Sinnsprüchen, die wohl das Arbeitsleben der Sekretärin erleichtern sollten. Angesichts des diktatorischen Chefs war das wohl nötig. Die Blonde mit der Modelfigur führte keinen Papierkalender, der PC war ausgeschaltet. Ich sparte mir die Mühe, ihn anzumachen.

Dann öffnete ich die Verbindungstür zu Knettenbrechs Büro. Mir entfuhr ein Schrei.

Knettenbrech lag in einer Blutlache vor seinem Bücherregal auf dem Boden. Blut sickerte aus seinen Haaren und breitete sich um ihn herum aus. Der Teppich schien schon vollgesogen.

Der Bürostuhl war umgekippt. Die Bronzefigur der antiken Göttin, die auf dem Regal gestanden hatte, lag neben ihm. Auch sie war voller Blut.

Nur der Anzug saß Knettenbrech noch immer wie angegossen. Er musste maßgeschneidert sein.

Ich hockte mich neben den Professor und fasste widerstrebend an seinen Hals.

Nichts.

Keine Körperspannung, kein Pochen einer Ader. Ich beobachtete seinen Brustkorb. Keine Atembewegung.

4

Überstunden

Von dem süßlichen Blutgeruch wurde mir übel. Es würgte mich.

Ich stürzte hinaus in die Toilette. Es dauerte eine Weile, bis das Würgen nachließ, aber mein Magen war leer gewesen. Außer dem Hustenbonbon und einem Kaffee zuhause hatte ich nichts gegessen.

Ich schüttete mir kaltes Wasser ins Gesicht und ließ es über meine Handgelenke fließen. Nach einer Weile atmete ich ruhiger.

Ich ging runter in die Bibliothek, versuchte dabei, nicht an den toten Körper im ersten Stock zu denken, und wählte die 110. Es meldete sich ein junger Mann, der meinen wirren Bericht seelenruhig entgegennahm. Er fragte nach der Adresse, dann bat er mich, vor Ort zu warten.

Ich sackte auf Schlagnachs Stuhl. Bevor ich mir Gedanken machen konnte, was ich jetzt unternehmen sollte, hörte ich eine Sirene, die sich näherte.

Ein Rettungsteam stürzte zur Tür rein. Auf ihren Uniformen stand "Arbeiter Samariter Bund". Ich wies ihnen den Weg nach oben in Knettenbrechs Büro, brachte es aber nicht über mich mitzugehen. Das war nicht nötig, denn kaum waren sie nach oben gegangen, stürmten zwei Polizisten herein.

Ich machte eine schlappe Handbewegung Richtung Treppe.

Sie rannten polternd hinauf.

Ich ging noch einmal ins Bad und erbrach mich in die Toilette. Ich würgte, bis nur noch gelblicher Schleim kam. Dann spülte ich den Mund mit Wasser aus und wischte mich mit den groben Papierhandtüchern ab.

Ich kehrte zurück in die Bibliothek und starrte auf den Schreibtisch von Schlagnach. Die Bleistifte lagen in Reih und Glied, als sei nichts geschehen. Die Katze guckte unverwandt aus ihrem Bildrahmen.

Einer der Polizisten kam herein. Ein Typ mit Bauchansatz und Bürstenhaarschnitt. Er fragte mich nach meinem Namen, Adresse und Telefonnummer. "Was machen Sie hier?"

"Ich bin die Assistentin der Bibliothekarin." Jahrelange Erfahrungen mit der Polizei hatten mich gelehrt, nie zu viel zu sagen und vor allem keine komplizierten Erklärungen abzugeben. Als Punkerin war ich oft genug in den Genuss ihrer Befragungen gekommen.

"Am Sonntag?"

"Überstunden", murmelte ich. Wahrscheinlich wirkte ich mitgenommen, denn er hinterfragte meine Antwort nicht. Er sagte, falls meine Aussage gebraucht würde, werde man mich anrufen. Ich solle jetzt gehen.

Als ich aus dem Institut trat, standen ein Polizei- und ein Notarztwagen auf dem Bürgersteig vor dem Institut. Ich schloss mein Fahrrad auf, schwang mich in den Sattel, trat in die Pedale und sah zu, dass ich wegkam.

5

Anhörung

Ich rannte. Kam nicht vom Fleck. Meine Springerstiefel schienen in zähflüssigem Matsch zu stecken. Mein Herz pochte wie wild. Um mich herum andere Punks. Wir hetzten eine Straße lang. Hinter mir dumpfe Geräusche. Stiefel knallten auf Asphalt. "Polizei, stehen bleiben", schnarrte aus einem Lautsprecher. Ich wollte schneller laufen, aber meine Lunge schmerzte. Eine Hand griff nach mir. Panisch machte ich einen Satz nach vorne.

Dann wachte ich auf. War völlig verschwitzt. Das Bettlaken hatte sich um meine Beine geschlungen. Kein Wunder, dass ich nicht vorangekommen war im Traum.

Der Anblick der beiden Polizeibeamten gestern schien Erinnerungen geweckt zu haben. Die Bullen hatten uns Punker immer auf dem Kieker gehabt. Wenn wir uns an einer Demo beteiligten, bekamen wir als erste die Knüppel zu spüren.

Ich hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Neben meinem Bett stand eine Flasche Wasser. Ich nahm einen Schluck und blinzelte nach dem Wecker. Halb elf.

Ein Sonnenstrahl lugte durchs Fenster. Der musste mich geweckt haben. Ich wälzte mich auf die andere Seite der großen Matratze und schloss die Augen. Mein letzter Lover hatte sich bitter beschwert, dass mein Bett nur aus einer Matratze auf Europaletten bestand, doch ich war damit zufrieden. Zufriedener jedenfalls als mit dem Lover, der sich bald aus dem Staub gemacht hatte.

Das Bett roch gut, ein bisschen nach mir, ein bisschen nach Staub, ein wenig nach Waschpulver. Der Kühlschrank brummte beruhigend. Alles wie immer. Ich versuchte, noch eine Runde zu schlafen. Da fiel es mir ein.

Nichts war wie immer. Knettenbrech war tot. Das Bild seines blutbeschmierten Kopfes hatte sich auf meiner Netzhaut eingebrannt. Ich stöhnte.

Das Telefon schellte. Ich sank zurück auf die Matratze und ließ es klingeln.

Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Nach meiner Ansage, dass ich nicht hier sei, nahm er auf: "Frau Hardenberg, hier spricht die Kriminalpolizei. Sie sind zur Anhörung vorgeladen. Seien Sie um elf Uhr im Polizeipräsidium, fragen Sie nach Kommissariat Elf." Ein Knistern, dann legte die Anruferin auf.

Die Bullen! Panik stieg in mir hoch. Was wollten die? Ich hatte doch gestern alles erzählt, was passiert war. Der Prof war verunglückt. Sicher hatte er nach einem Buch gehangelt und die Statue angestoßen, so dass sie ihm auf den Kopf gefallen war. Wozu eine Anhörung?

Meine bisherigen Begegnungen mit der Polizei waren nicht sehr erfreulich gewesen. Als sie unser besetztes Haus in Hamburg geräumt hatten, hatten sie die Tür eingetreten, die Stereoanlage aus dem Fenster geschmissen, Möbel zerstört und die Katze getreten. Ich hatte meine Wohnung verloren und musste auf der Parkbank schlafen. Meine so genannten Freunde hatten sich andere Unterkünfte gesucht und mich vergessen. Nur Freya hatte mich gesucht. Als sie mich fand, hatte ich eine fette Erkältung gehabt und hustete am laufenden Band. Freya hatte mich gegen meinen Willen ins Krankenhaus gezerrt, wo die Ärzte sagten, ich hätte eine Lungenentzündung verschleppt. Ohne Freya wäre ich auf der Parkbank verreckt.

Freya würde wissen, was ich tun sollte. Der Gedanke erleichterte mich. Ich war kein Punk mehr. Ich hatte eine Top-Anwältin an meiner Seite. Außerdem einen festen Wohnsitz, einen Job sogar.

Sollte ich Freya anrufen? Ich dachte nach. Eigentlich war klar, was sie sagen würde: Ich sollte ins Präsidium gehen und meine Aussage machen. "Anhörung" konnte nicht so schlimm sein.

Ich kämpfte meine Panik nieder und warf einen Blick auf die Küchenuhr. Zehn vor elf!

Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und schrubbte die Zähne im Schnelldurchgang, riss ein paar Klamotten aus dem Einkaufswagen, den ich als Kleiderschrank benutzte, und stülpte sie mir über. Ich würgte einen Schluck kalten Kaffee von gestern herunter.

Dann schmiss ich mich aufs Rad und fuhr los. Beim Radeln wurde ich etwas wacher. Dabei überlegte ich, ob der Tod des Professors einen Zusammenhang haben könnte mit den blöden Scherzen, der Todesanzeige und dem Sarg. Dann verwarf ich den Gedanken. Das war zu absurd. Es war ein dummer Zufall, dass er ausgerechnet jetzt verunglückt war.

Knapp nach elf erreichte ich das Polizeipräsidium. Es thronte wie ein riesiges, graues Fort über der Stadt. Der Architekt hatte seine schlimmsten Zwangsvorstellungen verwirklicht. Ein schroffer, gesichtsloser Bau aus grauem Gestein umrahmte einen gepflasterten Innenhof. Abweisender konnten sich der Freund und Helfer dem Bürger nicht präsentieren. Mir sackte das Herz in die Hose.

Ein brummiger Pförtner rief für mich das K11 an. Dann holte mich eine junge Polizistin ab und ging mit mir in den dritten Stock. Sie schaltete eine Tür mit einem Magnetkärtchen frei und führte mich durch einen langen Gang. Vor einer Tür mit dem Schild "Tötungsdelikte, Leichen- und Vermisstensachen" blieb sie stehen.

"Leichensachen", wie klang das denn.

Die Beamtin nickte mir zu.

Ich drückte die Türklinke herunter.

6

Neue Erkenntnisse

Ein Tisch aus Pressspan, überzogen mit Kunststofffurnier, an den Ecken abgestoßen. Der Besprechungsraum sah nicht einladender aus als das Polizeifort von außen. Mir schwante nichts Gutes. Bisher hatte "Polizei" für mich nur Ärger bedeutet, wenn nicht sogar ein Schlag mit dem Knüppel.

Am Tisch saß ein Mann, nur wenig älter als ich, vielleicht Ende 30, Anfang 40, allerdings schon ergraut. Er stand auf und ging mir ein paar Schritte entgegen.

Wir begrüßten uns.

"Matthias Mattuschewski, Kriminalhauptkommissar. Ich leite die Untersuchungen im Fall Knettenbrech." Seine Stimme klang warm und ruhig. Er zeigte auf einen der Stühle und wir setzten uns.

Der Typ trug keine Uniform, sondern Jeansjacke und Jeanshose zu einem hellblau gestreiften Hemd. Wirkte beruhigend normal. Er fragte nach meiner Arbeit im Turkologischen Institut.

Ich erzählte mein Märchen von der geplanten Ausbildung als Bibliothekarin. Dass ich ein Praktikum machte, um zu erfahren, ob mir der Job liegen würde.

"So, so, ein Praktikum. Sie sind im Gewerberegister als Privatdetektivin eingetragen und führen ein Büro im Westend. Was wollen Sie in der Bibliothek des Turkologischen Instituts? Was gibt es da zu schnüffeln?"

Sauber recherchiert. Wahrscheinlich genügte den Bullen ein Blick in den Computer, um die Marke meiner Zahnpasta zu kennen, deren Reste ich im Mund schmeckte. Ich erklärte Mattuschewski, dass meine Geschäfte schlecht liefen und ich deshalb den Job in der Uni angenommen hätte. "Auftragsflaute, Sie verstehen?"

Mattuschewski knurrte irgendwas. "Und wieso dann der Übereifer, am Sonntag zu arbeiten?"

Gute Frage. Ich starrte aus dem Fenster. Unten im Hof des Präsidiums stieg eine Gruppe uniformierter Polizisten in einen Mannschaftswagen. Vor meinen Augen kamen Bilder aus der Vergangenheit hoch: Bullen, die aus ihren Mannschaftswagen sprangen, Knüppel zogen und auf uns losstürmten. Ich hörte das Trampeln von Springerstiefeln auf Asphalt. Das Keuchen meiner Lunge. Knüppel sausten auf Irokesenschädel, Knüppel donnerten auf Polizeischilde. Hunde bellten. Die Bullen hatten uns in Hamburg auf der Schanze aufgemischt. Ich war einer Festnahme nur knapp entkommen.

"Frau Hardenberg, wieso waren Sie am Sonntag im Institut?"

Ich erklärte, dass ich mit meiner Arbeit nicht fertig geworden sei und deshalb einige Bücher verschlagworten wollte.

"Und war hatten Sie im Büro von Herrn Professor Knettenbrech zu suchen?" Mattuschewski glaubte mir kein Wort, das war klar, aber ich sah nicht ein, wieso ich ihm Einblick in meine Ermittlungen geben sollte. Schließlich war er ein Bulle, auch wenn er freundlich tat.

"Ich suchte nach einem Buch, das er ausgeliehen und nicht zurückgegeben hatte."

"So, so". Mattuschewski hatte nicht nur graues Haar, sondern auch graue Augen, mit denen er mich durchdringend musterte.

"Waren Sie allein im Institut?"

Mir fielen die Schritte ein, die ich im Treppenhaus gehört hatte. Das konnte Mattuschewski ruhig wissen. Schließlich wollte ich nicht mit einer Leiche allein gewesen sein. Ich berichtete, dass die Eingangstür nicht abgeschlossen gewesen war und ich jemanden im Treppenhaus gehört, jedoch nicht gesehen hatte.

"Schritte also. Wer könnte das gewesen sein?"

Ich zuckte die Schultern.

"Als Sie in das Büro des Professors kamen, war dieser bereits tot?"

Ich sah den toten Knettenbrech wieder vor mir, ein verrenkter Körper in einer Blutlache.

---ENDE DER LESEPROBE---