Der Reporter - John Katzenbach - E-Book

Der Reporter E-Book

John Katzenbach

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Beschreibung

John Katzenbachs Debüt, mit dem er seinen Ruhm als Thriller-Autor begründete Malcolm Anderson ist Polizeireporter in Miami, abgebrüht, mit allen Wassern gewaschen. Zunächst ist die ermordete junge Frau nur eine weitere gute Story. Doch alles wird anders, als der Mörder ihn anruft: Der Killer mag Andersons Storys, stellt weitere Morde in Aussicht und will ihm exklusiv Auskunft geben. Und er macht seine Ankündigung wahr. In den folgenden Wochen gibt es weitere Opfer, und jedes Mal bekommt Anderson einen Anruf. Er lässt sich auf das Spiel ein, macht durch seine Reportagen Schlagzeilen, erlangt Ruhm – und bemerkt nicht, dass er genau deshalb das nächste Opfer des Killers werden könnte ... "John Katzenbach ist ein Autor, der zugleich tough und subtil schreibt." New York Times

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Seitenzahl: 595

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John Katzenbach

Der Reporter

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Anke und Eberhard Kreutzer

Knaur e-books

Über dieses Buch

John Katzenbachs Debüt, mit dem er seinen Ruhm als Thriller-Autor begründete

Malcolm Anderson ist Polizeireporter in Miami, abgebrüht, mit allen Wassern gewaschen. Zunächst ist die ermordete junge Frau nur eine weitere gute Story. Doch alles wird anders, als der Mörder ihn anruft: Der Killer mag Andersons Storys, stellt weitere Morde in Aussicht und will ihm exklusiv Auskunft geben. Und er macht seine Ankündigung wahr. In den folgenden Wochen gibt es weitere Opfer, und jedes Mal bekommt Anderson einen Anruf. Er lässt sich auf das Spiel ein, macht durch seine Reportagen Schlagzeilen, erlangt Ruhm – und bemerkt nicht, dass er genau deshalb das nächste Opfer des Killers werden könnte …

»John Katzenbach ist ein Autor, der zugleich tough und subtil schreibt.«New York Times

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. KapitelLeseprobe »Der Bruder«
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Für Maddy

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1

Das erste Opfer fand ein Jogger in der Nähe des dreizehnten Lochs.

Der unauffällige Mann mittleren Alters, der sich um sein Herz und seinen Bauchspeck sorgte, war Börsenmakler von Beruf, und während er seine Runden rings um den Golfplatz drehte, kreisten seine Gedanken um Aktienoptionen. Der private Club lag in einer exklusiven Gegend mit manikürten Rasenflächen, hohen Pinien und ausladenden Palmen. Trotz der frühen Morgenstunde stiegen die Temperaturen rasch und unerbittlich. Dreimal hatte der Frühsportler bereits den Platz umrundet und dabei mehr an den Dow, seine Arbeit und seine Pläne für den freien Tag gedacht, als auf seine Schritte oder das vertraute Terrain zu achten. Als er jedoch im vollen Lauf die Hand hob, um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen, bemerkte er im Halbschatten des Farns und Gestrüpps am Seitenstreifen etwas Buntes und dann eine Gestalt.

Zunächst lief der Börsenmakler auf dem kurz geschnittenen Rasen weiter, doch bei seiner nächsten Runde um den Platz ließ ihm die Frage keine Ruhe, was er im Gebüsch erspäht haben mochte. Als er nun bei seiner vierten und letzten Runde erneut dem dreizehnten Loch näher kam, drosselte er sein Tempo, um sich dieses Etwas genauer anzusehen, und erst jetzt spürte er die Hitze und die Sonne, die wie eine Lampe über dem Golfplatz hing. Diesmal erhaschte er einen Blick auf Haut und blondes Haar. Er blieb stehen, holte tief Luft und arbeitete sich durch das dichte Gebüsch zu der Leiche vor. »Oh, mein Gott«, entfuhr es ihm, auch wenn ihn niemand hören konnte. Als ihm gedämmert sei, was er vor sich hatte, so erzählte er mir später, sei ihm für einen Moment die Luft weggeblieben und er habe sich vor Schreck nicht rühren können. In seinem ganzen Leben habe er noch kein Mordopfer gesehen, fügte er hinzu. Ein, zwei Minuten lang habe er in einer Mischung aus Entsetzen und Faszination verharrt, dann erst habe er sich losreißen und mit rasendem Puls zum nächsten Haus laufen können, um seinen grausigen Fund der Polizei zu melden.

Das Opfer war ein junges Mädchen. Es sollte eine Weile dauern, bis ich begriff, dass aus diesem Leichenfund auf dem Golfplatz die größte Story meines Lebens werden würde. An diesem Morgen jedenfalls sagte mir kein sechster Sinn, wie unentrinnbar ich in diese Geschichte hineingezogen würde, bis von meiner professionellen Distanz nichts mehr übrig blieb. Die Ereignisse nahmen während der alljährlichen Hurrikansaison ihren Lauf, genauer gesagt im Juli, der Zeit der ersten heftigen Sommergewitter – in Miami die unerträglichste Wetterlage überhaupt. Die Straßen der Stadt glühten unter der Tropensonne wie unter einem Scheinwerferlicht; es fand sich kein schattiger Winkel, nur reglose, drückend heiße Luft.

So wie Sturm und Wolken über dem Meer gewann auch diese Story unaufhaltsam an Fahrt. Ich weiß noch genau, dass sich in der Karibik ein mächtiges Sturmtief zusammenbraute. Entstanden über den Gewässern vor Afrika, war es mit den Luftströmungen über die Weite des Ozeans getrieben und versetzte als eine Urgewalt aus Wind und Regen die Küste des Sonnenstaats in höchste Alarmbereitschaft. Der Wetterdienst hatte das Sturmtief »Amy« getauft – wie sich bald zeigen sollte, auch der Name des Opfers.

An der Rückwand der Redaktion hing eine große Wetterkarte, auf der während der Hurrikansaison der jeweilige Verlauf sämtlicher Stürme markiert wurde. Es gehörte zum täglichen Brot der Lokalreporter, diese Entwicklungen zu verfolgen. Routiniert überprüften wir Richtung und Geschwindigkeit, taxierten die Gefahrenstufe, analysierten die neuesten Satellitenfotos. Die Aufnahme jenes Sturmtiefs, so erinnere ich mich, zeigte eine diffuse graue Wolkenmasse über der Karibik, und die Halbinsel Florida schien den Sturm wie ein langer Zeigefinger herzulocken. Wie gebannt suchten wir auf den Bildern nach den kleinsten Hinweisen auf einen handfesten Hurrikan, der mit zerstörerischer Wucht über die Stadt hereinzubrechen drohte.

An der Wand neben der Wetterkarte hing, als Mahnung an die Belegschaft des Journal zu steter Wachsamkeit, ein vergilbtes, ausgefranstes Foto vom Hurrikan des Jahres 1939, Kategorie drei, mit einer Windstärke um hundertfünfundzwanzig Meilen. Auf dem Bild war eine riesige Palme zu sehen, deren Stamm sich unter dem Orkan flach zur Erde bog. Im Hintergrund sah man eine fast vier Meter hohe Wasserwand, die über Miami Beach und die Bucht hereingebrochen und erst auf dem Biscayne Boulevard im Zentrum verebbt war.

Zwischen der Naturgewalt eines solchen Hurrikans und den Morden, um die sich meine Reportage drehte, gab es durchaus Vergleichsmomente, denn was sich an einem entlegenen Ort zusammengebraut hatte, brach in diesem denkwürdigen Sommer mit unerwarteter Wucht über die Stadt herein. Ich werde nie vergessen, wie wir am Tag des ersten Mordes, dem Unabhängigkeitstag, ein Jahr vor der Zweihundertjahrfeier, dem Jahr nach der Abdankung von Präsident Nixon, nichts anderes als diesen ersten gewaltigen Orkan im Sinn hatten, der aus den warmen karibischen Gewässern stündlich mehr Kraft zu saugen schien. In der Redaktion jedenfalls gab es kein anderes Thema. Ein Jahrhunderthurrikan der mörderischen Kategorie fünf schien auf die Metropole zuzurasen, und so wurden die Schlagzeilen von Spekulationen über das mögliche Ausmaß der Verwüstung beherrscht. Sie sei schon lange überfällig, eine solche Jahrhundertkatastrophe, unkten die alten Hasen in der Redaktion, und die düstere Gewissheit machte sich breit, dass diese graue Masse aus Wind und Regen zweitausend Meilen vor der Küste unser Schicksal war.

Wir sollten uns irren, denn der Orkan kam nie bis Miami, sondern drehte ab und fegte stattdessen über die Küste Mittelamerikas hinweg, wo er viele Todesopfer forderte und ganze Landstriche verwüstete. Doch das zeigte sich erst einige Wochen später. Anfang Juli jedenfalls toste der Jahrhundertorkan noch so heftig in unseren Köpfen, dass wir etwas begriffsstutzig waren, als der eigentliche Sturm dieser Saison Miami mit aller Härte traf.

An jenem 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag, ging ich schon früh ins Büro. Es war mein erster Arbeitstag nach der Beerdigung meines Onkels. Natürlich hätte ich am Feiertag zu Hause bleiben können, doch ich wollte die Bilder der Trauerfeier aus dem Kopf verbannen. In meiner Erinnerung fließen die beiden Ereignisse – der Mädchenmord und der Selbstmord meines Onkels – längst wie Szenen aus ein und demselben Drama ineinander, obwohl sie mehrere Tage und mehrere Hundert Meilen auseinanderlagen. So früh morgens, noch dazu am Nationalfeiertag, war die Redaktion nur spärlich besetzt. Ich schaute in mein Postfach – es war leer – und überflog die Morgenausgabe der Miami Post. An meinem Schreibtisch überlegte ich, ob ich Christine anrufen und ihr Bescheid geben sollte, dass ich wieder zu Hause sei, doch wahrscheinlich war sie schon im OP und reichte den Ärzten Tupfer, Klemmen und Skalpelle, während sie ein weiteres Krebsgeschwür entfernten. Der Anruf musste warten, wir konnten am Abend zusammen essen gehen. Ich schlug die Sportseite mit den Baseballergebnissen auf, doch in diesem Moment fiel mein Blick auf Nolan, den Lokalredakteur.

Nolan war ein kräftiger Mann, gut eins fünfundachtzig groß, der mit seiner charakteristischen gebeugten Haltung breiter und behäbiger wirkte, als er war. Die Aussicht auf eine große Story allerdings richtete ihn jedes Mal sichtlich auf; dann wirkte er drahtig, dynamisch und hoch konzentriert; seine joviale Umgänglichkeit wich generalstabsmäßiger Kürze. Die Redakteure liebten und schätzten ihn wegen seiner Fähigkeit, im fließenden Übergang zwischen launiger Witzelei und straffer Organisation zu wechseln.

Gegenwärtig saß er an einem Tisch im Großraumbüro und sprach lebhaft ins Telefon. Er machte sich ein paar Notizen, legte mit einer schwungvollen, zufriedenen Geste den Hörer auf und ließ im selben Moment den Blick über die Tischreihen schweifen, um zu sehen, wer schon da war. Unsere Blicke trafen sich, er stand auf, kam herüber und zog sich einen Stuhl heran.

»Hab heute gar nicht mit Ihnen gerechnet«, sagte er. »Wie war’s?« Seine dunkle Mähne fiel ihm in einer Schmachtlocke in die Stirn und wippte nachdrücklich bei jedem Wort.

»Erwartungsgemäß. Tränen. Viel Gerede über ein zu früh geendetes Leben, Gottes unergründlichen Ratschluss, einen Ort, an dem er es besser hat.«

»Muss hart gewesen sein.«

»Kann man so sagen.«

»Und? Kommen Sie klar?«

»Ich bin hier.« Ich verzog das Gesicht zu einem wehmütigen Lächeln. »Journalist, Baujahr 1955, einige Meilen auf dem Tacho, aber läuft wie geschmiert.«

»Schon verstanden«, erwiderte er. »In Stimmung für eine gute Story? Oder lassen Sie’s die ersten Tage lieber langsam angehen?«

»Eine Story! Für eine Story würde ich alles geben.«

»Wie wär’s mit einem Mord?«

»Ich habe eine Tötungshemmung.«

»Sehr witzig.«

»Tut mir leid«, beeilte ich mich zu sagen. »Galgenhumor.«

Nolan runzelte die Stirn und sah mich eindringlich an. »Also, meinetwegen«, sagte er schließlich. »Ich kann Sie verstehen. Zum Feierabend auf ein Bier, falls Sie drüber reden wollen? … Oder auch, wenn Sie nicht drüber reden wollen.«

Ich musste lachen, und er verzog das Gesicht zu einem Grinsen.

»Aber zuerst mal ein Mord«, kam er wieder zur Sache. »Ein sauberer, grausamer Mord, der die Polizei auf Trab bringt und in der Saure-Gurken-Zeit für Schlagzeilen sorgt.«

»Was haben wir?«

»Junges Mädchen. Wahrscheinlich aus wohlhabendem Hause. Ihre Leiche wurde eben erst drüben auf dem Gelände des Riviera Golf Club gefunden.«

»So weit, so gut«, erwiderte ich. »Was noch?«

»Nichts weiter. Sie erinnern sich an diesen Lieutenant beim Morddezernat? Bei dem ich was guthabe, weil wir bei dem Entführungsfall damals dichtgehalten haben? Also, der rief eben an. Hat gerade erst seine Leute da rausgeschickt. Im Moment wissen die auch nur den Leichenfundort und dass es sich bei der Toten um ein junges Mädchen handelt. Könnte sich lohnen. Jedenfalls darf sich unser Lieutenant getrost noch eine Weile revanchieren.«

»Wurde sie vergewaltigt?«

»Keine Ahnung. Am besten schnappen Sie sich einen Fotografen, fahren da raus und machen sich selbst ein Bild. Melden Sie sich über Funk, sobald Sie Näheres wissen.«

»Geht klar«, sagte ich, nahm ein Notizbuch von dem Stapel auf meinem Schreibtisch und war schon auf dem Weg zur Bildredaktion.

»Hören Sie«, rief mir Nolan hinterher. »Haben Sie Ihrem Onkel nahegestanden?«

»Als ich klein war«, erwiderte ich, »ein bisschen.«

 

Andrew Porter liebte es, seinen großen Wagen mit einer Hand um die Ecken zu manövrieren. Mit der anderen deutete er auf den frühmorgendlichen Verkehr – größtenteils junge Leute, die zu den Stränden wollten, nicht wenige mit einem Boot auf dem Anhänger, kein Wunder, dass es Richtung Autobahnkreuz MacArthur Causeway und Key Biscayne nur stockend voranging. Wir fuhren so zügig in die entgegengesetzte Richtung, dass die Gesichter in den wartenden Autos an mir vorüberflogen. Dabei erging sich der Fotograf neben mir endlos in der Schilderung eines früheren Mordfalls aus seinem reichen beruflichen Erfahrungsschatz. Seine monotone Stimme vermischte sich mit dem Motorengeräusch und dem Gebläse der Klimaanlage. Auf halber Fahrt registrierte ich, wie er sich, eine Hand locker am Lenkrad, mit der anderen die Kamera auf dem Schoß platzierte und einen Film einlegte. »Hab ich mal mit über neunzig Meilen auf der Route 441 gemacht. Wilde Verfolgungsjagd, paar Jungs in einem gestohlenen Fahrzeug. Hatte gar keine Zeit, mir in die Hosen zu machen.« Er lachte.

Ich musste unwillkürlich daran denken, wie lange die Wagenkolonne von der Kirche zum Friedhof gebraucht hatte. Ich sah den Leichenwagen vor mir, wie er langsam um eine Ecke bog, und dicht dahinter den schwarzen Cadillac mit meinem Vater und seiner Schwägerin. Den ganzen Morgen hatte es geregnet, und die Scheibenwischer spielten einen gedämpften Trauermarsch. Mir dröhnten noch die Orgelklänge der »Marine Corps Hymn« in den Ohren, die Kadenz übermächtig und erdrückend, wenn sie zum Gedenken an die Toten in feierlich getragenem Tempo angestimmt wird. Mit der Fahne auf dem Sarg hatte ich nicht gerechnet; die Farben erschienen mir unangemessen schrill an diesem grauen Tag im Dämmerlicht der Kirche.

»Erhöre unsere Gebete, o Herr«, sprach der Priester, »für unseren geliebten Mitbruder Lewis Anderson, und gewähre seiner Seele den Frieden im Himmel, den er sich auf Erden ersehnte …«

»Frieden«, war der einzige Gedanke, den ich fassen konnte, das Gegenteil von Krieg.

Mein Onkel, ein Hüne von einem Mann – muskelbepackte Arme, einen Brustkorb wie ein Ritterschild. Seit ich denken konnte, hatte er mit ungewöhnlich tiefer Stimme und diesem etwas bedrohlich angespannten Unterton gesprochen, und wenn er mich mit seinem gesunden Auge ins Visier nahm, lief es mir kalt den Rücken herunter.

Sein rechtes Auge hatte er auf Iwo Jima, »auf halbem Wege nach Suribachi«, eingebüßt, kurz bevor sie die Fahne hissten. Unter dem Schock und einer hohen Dosis Morphium hatte er einen Moment zu spät begriffen, was vor sich ging. Einmal erzählte er mir, was für ein seltsames Gefühl das sei, ein Auge zu verlieren – zuerst habe er geglaubt zu sterben, dann sei ihm der absurde Gedanke gekommen, das passiere nicht etwa ihm, sondern einem anderen.

Obwohl er merkte, dass er blutete, und der Schmerz ihn wie eine Explosion traf, hielt er unbeirrbar daran fest: nicht er. Nicht in diesem Moment. Jemand anders hatte es erwischt.

Als Junge bekam ich von ihm Geschenke. Bücher über das Marine Corps; die Nachbildung eines Ordens, ein Purple Heart; eine japanische Flagge mit der aufgehenden Sonne, Kriegsbeutestück von Tarawa. Einmal schenkte er mir zu Weihnachten ein langes, gekrümmtes Jagdmesser in einer teuren Lederscheide. »Das wird sich mal als nützlich erweisen«, sagte er. Jahrelang sollte es meine Kommode zieren. »Wenn du mal was brauchst, egal was, weißt du hoffentlich, an wen du dich wenden kannst.«

Ich bin nie auf sein Angebot zurückgekommen.

Danach las der Pastor aus Ekklesiastes die bekannte Stelle: »Ein Jegliches hat seine Zeit.« Feierlich hallte es vom Deckengewölbe der Kirche wider.

Er und seine Frau waren in meiner Kindheit und Jugend aus den üblichen Feiertagen nicht wegzudenken: Thanksgiving, Weihnachten, manchmal zu einem Geburtstag … immer, wenn besonders viel los war. Sie hatten keine eigenen Kinder, ich habe nie erfahren, wieso.

Und wenn der Tag zur Neige ging, trank er zu viel. Ich konnte zusehen, wie er sich im Lauf der Stunden immer wieder das Glas auffüllte und es in kleinen Schlucken leerte, den ganzen Abend lang; und wie er immer weniger mitbekam, während er den Trauermarsch des Marine Corps leise vor sich hin summte; wie sich sein gesundes Auge trübte, während sein künstliches weit geöffnet war.

Nachts schrie er manchmal im Schlaf.

Nach der Lesung herrschte eine Weile Schweigen, dann trat mein Vater an den Altar. »1941 zog mein Bruder in den Krieg«, sagte er. Ich hörte aufmerksam zu. »Ich frage mich, ob er je zurückgekehrt ist …«

Wir schieben es auf den Krieg, dachte ich. Auf Iwo Jima. Wo er mehr als sein Auge verloren hat. Ich hob die Hand und hielt mir die Augen zu, während ich die Stimme meines Vaters mal lauter, mal leiser durch das Kirchenschiff hallen hörte.

Am Telefon hatte er sich an die nüchternen Fakten gehalten. »Dein Onkel hat sich das Leben genommen. Es tut mir leid, dass ich dir das sagen muss.«

»Wie kam es dazu?«, wollte ich wissen. Typisch Journalist.

»Es war nichts Besonderes vorgefallen. Tatsächlich hatte er sogar gerade ein Stellenangebot von einer Universität im Süden auf dem Tisch. Fundraising, organisatorische Leitung des Lehrangebots – wie für ihn geschaffen.«

»Hatte er getrunken?«

»Deine Tante sagt, nein. Offenbar war er nüchtern, aber er hatte mal wieder die alten Tagebücher aus seiner Zeit bei den Marines herausgekramt. Ohne ein Wort ist er dann wohl nach oben gegangen und hat eine Pistole aus seinem Arbeitszimmer geholt. Eine Sport-Pistole Kaliber .22, die er in der Schublade hatte. Damit ist er ins Badezimmer gegangen, hat die Tür zugemacht und sich erschossen.«

»Kein Abschiedsbrief oder irgendwas in der Art?«

»Nein, nichts.«

»Tut mir wirklich leid für dich.« Ich suchte nach Worten.

»Irgendwie ist es auch eine Erleichterung. Er war schon so lange ein kreuzunglücklicher Mensch.«

»Wieso?«

»Wer weiß?«

Natürlich weißt du, weshalb, dachte ich, wer sollte es wissen, wenn nicht du?

Mein Vater endete, und der Organist schlug die ersten Akkorde der Hymne der Marines an: »Von den Hallen Montezumas …« Wohin? Hierher. In eine Kirche, ins Grab. Eine Ehrengarde trug den Sarg nach draußen, wo der Leichenwagen wartete. Semper Fidelis. Ich folgte ihnen nach draußen. Sie schoben den Sarg hinein und traten zurück. Ihre Bewegungen waren zackig und geübt. Militärischer Drill, übertriebener Pomp. Meine Tante weinte, die Augen meines Vaters blieben trocken. Vor der Kirche regelte er den Verkehr, so dass wir alle in unserer Wagenkolonne zum Friedhof fahren konnten.

Die Andacht auf dem Friedhof war schneller vorbei, als ich vermutet hätte. Wieder las der Geistliche – das Übliche: Asche zu Asche, Staub zu Staub. Ich hörte nicht zu, sondern beobachtete die Gesichter der Leute, die gekommen waren. Und spähte zu meinem Bruder hinüber. Wie würde ich mich wohl fühlen, überlegte ich, wenn er so plötzlich stürbe? Der Regen prasselte auf die Plane über der offenen Gruft. Ein wenig abseits warteten geduldig die Totengräber. Wer auf einem Friedhof arbeitete, lernte gewiss, sich in Geduld zu fassen. Und dann war das Begräbnis vorbei. Wir schüttelten Hände und murmelten Beileid. Ich fand meinen Vater. »Ich muss nach Hause«, sagte ich.

»Bei deiner Tante gibt es noch zu essen und zu trinken. Es wäre schön, wenn du dabei sein könntest.«

»Ich kann wirklich nicht bleiben«, bekräftigte ich. »Ich will den Flieger heute Nachmittag erwischen. Ich nehme mir ein Taxi.«

»Na gut«, sagte er und drehte sich um.

Ich dachte an den Hurrikan vor Venezuela und stellte mir vor, wie der Wind mit zunehmender Geschwindigkeit um die eigene Achse wirbelte, in immer engeren konzentrischen Kreisen. Ich wollte nichts verpassen.

 

»Da ist es«, rief Porter aufgeregt.

Durch die Windschutzscheibe sah ich am Straßenrand ein halbes Dutzend Streifenwagen, deren Blaulichter in der Sonne blitzten. Nicht weit davon drängte sich eine Traube Schaulustiger auf dem Rasen einer großen, hochherrschaftlichen Villa. Ich entdeckte das gelbe Fahrzeug des Gerichtsmediziners und einen grün-weißen Kombi der Spurensicherung. Wir parkten hinter dem ersten Streifenwagen. »Wer sagt’s denn! Wir sind die Ersten, weit und breit keine Fernsehkamera in Sicht!« Porter hatte schon eine Kamera umgehängt und hantierte mit der zweiten. »Auf geht’s«, drängte er, »bevor sie uns die Sicht versperren.« Damit sprang er aus dem Auto und sprintete auf dem kurz geschorenen Rasenstreifen davon. In einigem Abstand kam ich im Laufschritt hinterher.

Am dreizehnten Loch schnauzte uns ein uniformierter Polizist an: »Halt! Nicht weiter!« Er kam auf uns zu. »Das ist nah genug.«

»Von hier aus krieg ich nichts scharf genug vor die Linse«, protestierte Porter. »Nur ein bisschen näher. Keine Sorge, ich fotografiere nichts, was Sie nicht fotografiert haben wollen.«

Der Polizist schüttelte den Kopf. Ich schaltete mich ein.

»Wer leitet die Untersuchung?«

»Detective Martinez«, antwortete er. »Und Detective Wilson. Reden Sie mit denen, sobald sie fertig sind. Bis dahin warten Sie hier.« Er kehrte uns den Rücken.

»Ich lauf mal da rüber«, sagte Porter und deutete auf das Gestrüpp. »Da habe ich bessere Sicht.« Möglichst unauffällig schlich sich Porter davon. Als ich sah, wie einer der Detectives in meine Richtung blickte, winkte ich ihm zu, und er kam herüber.

»Wie geht’s, Martinez?«, fragte ich. »Womit haben wir’s zu tun?«

»Ganze Weile her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben«, begrüßte mich der Mann vom Morddezernat. »Dieser Prozess im März, stimmt’s?«

Mir fiel wieder ein, dass er bei dem Mordprozess gegen einen Teenager als Kronzeuge ausgesagt hatte. Dem Jungen wurde zur Last gelegt, einen Touristen getötet zu haben, der ihn nach dem Weg gefragt hatte. Der Fall hatte großes Aufsehen erregt, und als der Verteidiger geltend machte, an der Unzurechnungsfähigkeit seines Mandanten sei das Leben im Getto schuld, kochten die Emotionen über. Das war einmal eine originelle Verteidigungsstrategie. Die Geschworenen hatten zwei Stunden beraten, bevor sie das Argument abschmetterten. In der Redaktion fanden sie es alle ziemlich gewitzt.

»Gab einfach keine hochkarätigen Verbrechen.«

Martinez lachte müde. »Klar, nur die üblichen Morde, Vergewaltigungen und Raubüberfälle. Nicht die Druckerschwärze wert, wie?«

»Wie könnte ich Ihnen widersprechen. Aber sagen Sie’s mir. Fällt das hier aus der Reihe?«

Er sah mich an. »Scheußlich«, sagte er. »Junges Mädchen, wahrscheinlich sechzehn oder siebzehn – bis jetzt haben wir sie nur von hinten gesehen. Dr. Smith ist da, aber er hat sie noch nicht umgedreht. Wie’s aussieht, wurde sie mit einer großkalibrigen Handfeuerwaffe in den Hinterkopf getroffen. Einer Magnum Special vielleicht. Auf jeden Fall mit einer üblen Kanone. Es hat ihr den halben Hinterkopf weggerissen.«

Ich hatte mein Notizbuch zur Hand und schrieb mit. Der Detective sah mich einen Moment schweigend an, bevor er fortfuhr: »Verflucht, man fühlt sich so mies, wenn es ein so junges Ding erwischt.«

Diese Bemerkung hielt ich im Wortlaut fest.

»Da ist übrigens eine merkwürdige Sache, aber das dürft ihr vorläufig noch nicht bringen.«

»Das wäre?«

»Vertraulich, klar?« Er hob das Kinn.

»Schon gut, schon gut. Also, was ist merkwürdig?«

»Ihr waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. So einen Mord habe ich zuletzt« – er überlegte einen Moment – »bei diesem Gangster gesehen, diesem Spieler, den wir draußen in den Glades gefunden haben. Erinnern Sie sich?«

»Sie meinen einen sogenannten Hinrichtungsmord?«

Er lachte trocken. »Richtig. Und jetzt frage ich Sie: Aus welchem Grund sollte ein Teenager hingerichtet werden?«

»Wurde sie vergewaltigt?«

»Können wir noch nicht sagen, aber sie hat noch alle Kleider am Leib, vollständig, nichts zerrissen. Also wohl eher nicht«, sagte er.

»Was hat sie an?«

»Jeans. T-Shirt. Sandalen. Was ein Teenager eben so trägt.« Er sah auf und stöhnte. »Gütiger Himmel«, sagte er, »da kommt Ihre ganze Meute angelaufen.« Ich blickte über die Schulter. Die Fernseh-Crews waren eingetroffen, jede mit Tontechniker, Reporter und Kameramann. »Hören Sie«, sagte Martinez, »melden Sie sich nachher noch mal bei mir. Bis dahin quetschen Sie den Arzt aus und reden Sie mit dem Burschen da drüben, dem in Shorts. Der hat die Leiche gefunden. Reden Sie mit ihm. Ach, noch was.«

»Ja?«

»Sprechen Sie möglichst mit mir. Wilson hat selbst eine Tochter in dem Alter, dem liegen jetzt schon die Nerven blank.«

»Geht in Ordnung. Ach, hatte sie Papiere dabei?«

»Später«, erwiderte der Detective und eilte über den Golfplatz zurück.

Als die Fernsehleute in Scharen einfielen, kamen eine Reihe Polizisten, die bis jetzt im Unterholz und Gestrüpp herumgestochert hatten, heraus, um sie auf Abstand zu halten. Sie gaben sich damit zufrieden, die Szene aus einiger Entfernung zu filmen, während die Beamten wie eine Schar Statisten erneut den Tatort weiträumig absuchten. Unterdessen kehrte ich zu unserem Wagen zurück und rief über Funk in der Lokalredaktion an. Zuerst meldete sich eine Sekretärin, doch Sekunden später schnarrte Nolans Stimme aus dem Lautsprecher. »Und? Was haben Sie für mich?«

»Verspricht, interessant zu werden«, antwortete ich. »Möglicherweise eine Entführung. Vielleicht. Jedenfalls ziemlich bizarr. Dem Mädchen waren die Hände im Rücken gefesselt. Sie wurde wie bei einer Hinrichtung erschossen. Aber das dürfen wir noch nicht bringen, vorerst jedenfalls.«

»Gute Bilder?«

»Denke schon. Porter ist mit einem ansehnlichen Teleobjektiv im Gebüsch. Hier laufen eine Menge Cops rum, die das Gelände durchkämmen.«

»Lässt sich hören. Besser als ein Foto von der Nationalfeiertagsparade, das wir auf der Titelseite bringen wollten.«

»Hören Sie, könnte wohl jemand was für mich erledigen?«

»Was denn? Alles, was in unserer Macht steht.«

»Jemand soll bei der zentralen Meldestelle für vermisste Personen anrufen, und bei den örtlichen Polizeidienststellen. Ich möchte wissen, ob gestern Abend oder Nacht jemand aus Coral Gables ein junges Mädchen als vermisst gemeldet hat. Nur so ein Gedanke.«

»Guter Gedanke. Ich setz jemanden dran, bevor die Cops auf die gleiche zündende Idee kommen. Bis später.«

Ich hängte das Funkgerät ein und stieg wieder aus. Der Schweiß klebte mir in den Achseln, und über mir nicht der Hauch einer Schatten verheißenden Wolke – nur Sonne, blauer Himmel und sengende Hitze. Ich machte mich auf die Suche nach dem Mann, der die Leiche gefunden hatte.

Er wartete neben einem der Streifenwagen. Ich stellte mich vor, und er bekannte sich als treuer Leser des Journal. Der Mann war klein und gedrungen, mit republikanisch kurz geschnittenem Haar.

»So was passiert mir zum ersten Mal. Selbst bei der Army damals, 1954, ist mir so etwas erspart geblieben.«

»Wie genau kam es dazu, dass Sie die Tote gefunden haben?«, fragte ich und schrieb seine Aussage mit. Der Mann war aufgewühlt und doch artikuliert, ideal, um die Story mit Details zu unterfüttern.

»Ihre Arme werde ich nie vergessen. Sie waren so dünn, Kinderarme. Und auf dem Rücken gefesselt, aber nicht straff, als ob der Mörder ihr nicht wehtun wollte. Ich meine, man würde doch erwarten, dass er sie ihr brutal verrenkt.« Unwillkürlich riss er die Schultern zurück und presste die Arme eng an den Rücken. »Sehen Sie? Aber so war es nicht.« Ich hielt alles fest.

»Ich hab sie mir genau angesehen. Es hatte fast den Anschein, als ruhte sie sich nur aus, auch wenn ihr natürlich der halbe Schädel fehlte.« Er schluckte. »Das klingt gefühllos, oder? Ich weiß auch nicht, was mit mir los war. Ich stand da, starrte sie an und registrierte im Kopf sämtliche Details: wie sie lag, wie ihr Kopf auf dem Boden ruhte, das blutverklebte Haar. Blondes Haar. Ich hab das schon alles dem Detective erzählt; kurz und bündig, die nüchternen Fakten. Und wissen Sie was? Auf einmal musste ich mich dahinten im Gebüsch übergeben. Sie kriegen vermutlich jede Menge Leichen zu Gesicht, jede Menge Morde.«

»Einige, ja. Sagen Sie, was sind Sie von Beruf?«

Als er mir seine Lebensgeschichte erzählte, hörte ich nur mit halbem Ohr zu. Er sprach vom Joggen, seiner gewohnten Strecke, der morgendlichen Hitze und merkte an, dass er mindestens dreimal an ihr vorbeigelaufen sein musste. »Meine eigenen Kinder sind jünger.«

»Können wir ein Foto von Ihnen machen?«

»Besser nicht«, sagte er nach kurzem Zögern. »Und müssen Sie mich unbedingt namentlich erwähnen?«

»Ja, auf jeden Fall«, bestätigte ich. »Keine Frage.«

»Also, mir ist nicht wohl dabei. Schätze, ich kann erst wieder ruhig schlafen, wenn sie den Kerl geschnappt haben.«

»Da würde ich mir keine Sorgen machen«, sagte ich.

»Und wieso?«

»Na ja, ich nehme mal an, ein Bursche, dem es einen Kick verschafft, junge Mädchen zu fesseln und zu töten, hat es kaum auf einen erwachsenen Mann abgesehen.«

Er nickte. »Eins würde ich Ihnen allerdings raten«, fügte ich hinzu. »Ich an Ihrer Stelle würde einen großen Bogen um die Fernseh-Crews machen, sonst sind Sie nämlich ab sofort auf sämtlichen Kanälen.«

»Danke«, sagte er, »werd mich dran halten.« Als ich ging, sah ich noch, wie er neben der Straße im Gebüsch verschwand. Ich gesellte mich zu Porter, der bei unserem Wagen stand und über Funk mit der Fotoredaktion sprach.

»Ich hab den Burschen, mit dem du eben gesprochen hast, im Kasten«, sagte er, als er mich sah. »Ist zwar mit Teleobjektiv, müsste aber ganz gut rauskommen. Meinst du, ich krieg noch eine Nahaufnahme von ihm?«

»Vergiss es. Abgesehen davon, dass du ihm damit die Fernsehhaie auf den Leib hetzen würdest.«

»Meinetwegen«, lenkte er ein. »Warten wir wenigstens noch, bis sie die Tote abtransportieren – den Leichensack auf der Trage, so was lieben die in der Redaktion. Wie in Vietnam, ein schwarzer Sack mit Reißverschluss. Was wären wir ohne die Technik?«

»Du bist ein Zyniker.«

»Wer ist das nicht in unserem Metier?«

Wir warteten im Schatten der Bäume am Straßenrand und sahen der Polizei bei der Arbeit zu. Nicht lange, und sie rollten die Tragbahre heran. »Da kommt mein Schnappschuss.« Im selben Moment geriet die Meute der Fernsehteams in Bewegung. Kaum traten die Leute vom Rettungsdienst mit der Leiche aus dem Gebüsch, liefen sie in einem hektischen Gedränge neben ihnen her. Ich beobachtete, wie der Sack ins Heck des Krankenwagens geschoben wurde, und registrierte Porter in der Traube der TV-Kollegen, wo er im Schnellfeuer Fotos schoss. Als sich unsere Blicke trafen, deutete er grinsend auf sein Sujet. Ich sah, wie der Gerichtsmediziner über den Fairway kam, und trat in die Sonne, um ihn abzufangen. Er zündete sich gerade eine Pfeife an, als ich ihn erreichte. »Wie ist der Stand der Dinge?«, fragte ich ihn.

»Bevor ich sie auf dem Tisch habe, wissen wir herzlich wenig. Sieht nach einer großkalibrigen Handfeuerwaffe aus. Wahrscheinlich nur ein einziger Schuss aus nächster Nähe, vielleicht dreißig, vierzig Zentimeter.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Aus den Einblutungen und Pulverrückständen um die Wunde. Unter dem Mikroskop kann ich es besser einschätzen. Vorerst kann ich nur raten – darin bin ich allerdings ganz gut.«

»Hinweise auf sexuellen Missbrauch?«

»Erstaunlicherweise nicht. Schon seltsam, nicht wahr? Ich meine, läge nahe bei einem jungen Mädchen.«

»Können Sie mir sagen, womit ihre Hände gefesselt waren?«

»Nein, eigentlich nicht. Die Jungs von der Spurensicherung haben den Strick mitgenommen.«

»Sind Sie sicher, dass sie hier erschossen und nicht erst hinterher hier entsorgt wurde?«

»Allerdings. Ich habe auf Palmwedeln in der Nähe Blut- und Gewebespritzer gefunden.«

»Schon irgendwelche Theorien? Ein paar gute Vermutungen?«

Der Doktor lachte. »Bestimmt entweder ein eifersüchtiger Freund oder ein sexbesessener Stiefvater. Für euch in beiden Fällen ein gefundenes Fressen.«

Ich ignorierte den Sarkasmus. Der Arzt paffte an seiner Pfeife, und das Tabakaroma vermischte sich mit dem Duft nach frisch gemähtem Gras. »Schon eine Ahnung, wer das Mädchen ist?«

»Das müssen Sie die Detectives fragen«, antwortete er. »Rufen Sie mich an, wenn ich mit der Obduktion fertig bin. Sie hat erste Priorität. Schätze, ich werde am frühen Nachmittag so weit sein.«

»In Ordnung, ich melde mich dann.« Neben ihrem nicht gekennzeichneten Fahrzeug standen unterdessen Martinez und sein Partner Wilson und hielten die Fernsehreporter in Schach. Ich ging hinüber, um mir anzuhören, was sie den Kollegen zu sagen hatten. Martinez wirkte genervt. Offenbar hatten sich die gefesselten Hände herumgesprochen. So viel also zur Vertraulichkeit. Wilson hatte das Wort ergriffen. Für die Arbeit im Morddezernat war er mit schätzungsweise fünfzig Jahren schon ein älteres Semester. Er hatte dichtes schwarzes, grau meliertes Haar und ein energisches Kinn, das er in trotziger Abwehr in die Höhe reckte. Er trug einen konservativen blauen Anzug mit einer kleinen amerikanischen Flagge am Revers. In der sengenden Sonne und der Hitze des Gefechts hatte er ein rotes Gesicht. Als ich in Hörweite war, sagte er: »Noch einmal! Ich gebe keine Einzelheiten bekannt. Es ist einfach unfassbar, ich meine« – er verstummte einen Moment und blickte in die Kameras –, »was kann denn ein solches Kind schon getan haben? So ein Teenager hat doch dasselbe Recht wie jeder andere auch, erwachsen und irgendwann alt zu werden! Ich hasse es einfach, wenn ich so etwas sehe. Das geht einem an die Nieren.« Und mit funkelndem Blick fügte er hinzu: »Nur euch lässt das offenbar kalt.«

An diesem Punkt schritt Martinez ein. »Komm, Phil, lass gut sein, gehen wir.« Er musterte mich mit einem grimmigen, fragenden Blick – haben Sie geplaudert? Ich schüttelte den Kopf, während ich Wilsons Worte festhielt.

Auch für die beiden ist das hier ihr Job, genauso wie für uns, dachte ich. Wo ist der Unterschied?

»Wir kaufen uns diesen Burschen«, sagte Wilson. »Damit er in seiner Zelle verreckt. Ich wünschte, wir hätten noch den Stuhl.«

»Phil, komm schon, das reicht.« Martinez saß bereits hinterm Lenkrad und warf den Motor an. »Fahren wir.«

»Na schön«, lenkte Wilson ein, und über die Schulter rief er den Medienleuten zu: »Es gibt heute noch eine Presseerklärung.« Dann setzte er sich neben Martinez und knallte die Tür zu. Es klang wie der Startschuss zu einem Rennen. So hektisch, wie sie auf den Plan getreten waren, packten die Fernsehteams ihre Sachen und rauschten wieder ab. Porter wartete bereits im Wagen auf mich. Er hatte die Klimaanlage an.

»Heißer Tag für einen Mord«, sagte er. »Ach ja, ich würde gerne einen kleinen Umweg zur Parade machen, bevor wir zur Redaktion fahren, einverstanden?«

»Sicher, warum nicht.« Mit quietschenden Reifen kehrte er auf die Straße zurück.

»Der glorreiche 4. Juli«, sagte er. »Letztes Jahr hatten wir Watergate, das Jahr davor war Kriegsende, nächstes Jahr ist Zweihundertjahrfeier. Jede Menge George Washingtons, vermute ich mal. Und Transvestiten«, lachte er. »Wen juckt das schon?« Er überlegte einen Moment und setzte nach: »Die Pfadfinder wahrscheinlich. Als Kind bin ich bei der Parade mitmarschiert. Eigentlich nicht übel. Verbinde ich seitdem immer damit, dass richtig Sommer ist, das hat doch was.«

Ich dachte an meinen Onkel in seiner Uniform. Er sah darin so jung und stark aus. Mein Vater hatte ein gerahmtes Foto auf dem Schreibtisch stehen. Die rot-blaue Galauniform war so steif wie imposant, nicht nur ein Kleidungsstück, sondern ein Statement. Als Junge erfüllte mich der Anblick beinahe mit Ehrfurcht, als verliehe die Uniform dem Träger Tapferkeit, Männlichkeit und Stärke. Die Farben auf dem Bild lösten jedes Mal lebhafte Gefühle bei mir aus. Im Geist hörte ich wieder die Musik zur Trauerfeier, bis ich begriff, dass die Scheibe heruntergekurbelt war und ich in Wirklichkeit die Marschkapelle mit den Trommlern und den Gleichschritt der Parade nur wenige Blocks entfernt hörte. Wir parkten den Wagen.

»Wenn wir versuchen, noch näher ranzufahren, stecken wir hinterher fest«, sagte Porter. »Los, komm, nur drei Blocks weiter geht eine bescheidene Parade die Main Street runter. Die größere kommt später, aber ich knipse lieber die Highschool-Kids, sind irgendwie frischer als so ’ne erstklassige College-Marschkapelle.«

Einen Augenblick lang kam mir das Mädchen am dreizehnten Loch in den Sinn. Höchstwahrscheinlich hätte sie jetzt auf dem Bürgersteig gestanden und zugeschaut. Vielleicht wäre sie auch mit jugendlichem Eifer mitmarschiert. Ich folgte Porter und den anschwellenden Klängen von »Stars and Stripes Forever« – keine Parade ohne Sousa …

Die Zahl der Zuschauer am Straßenrand war eher spärlich, spendete aber umso enthusiastischer Applaus; es waren jede Menge kleine Kinder mit Ballons und Babys im Buggy dabei. Inzwischen spielte die Kapelle einen Hit, der in der Orchesterfassung kaum wiederzuerkennen war. Die Blasinstrumente blitzten in der Sonne, die Stiefelabsätze der Musikanten klackten im Takt auf dem Pflaster. Porter schlängelte sich durch die Zuschauerreihen auf die Straße. Ich beobachtete, wie er den Marschierenden geschickt auswich, mal zur Seite sprang, mal vorauseilte und unablässig Fotos schoss. Während die Musik anschwoll und wieder abebbte, heftete sich mein Blick an eine Gruppe von Majoretten in der Mitte der Straße, deren silberne Stäbe so rasant in der Luft herumwirbelten, dass sie in der Sonne Lichtfunken sprühten. Die goldenen Uniformen der Mädchen schimmerten in der Sonne. Ich beobachtete ein Mädchen, das am Rand lief. Ihr Stab schien sich wie von selbst zu bewegen, und die Menge folgte ihrer Vorführung wie verzaubert. Sie brachte es fertig, einen Moment zurückzutreten und den Stab hoch in die Luft zu werfen, so dass er im Takt zur Marschmusik in den Himmel hinaufschoss und tanzte. Dann ging er nieder und trudelte dem Mädchen entgegen. Genau im richtigen Moment streckte sie die Hand danach aus.

Es schien, als hätte sie ihn gepackt, doch eigenwillig entwischte er ihr und wirbelte zu Boden. Für einen kurzen Moment fiel das Mädchen aus dem Takt, um ihn aufzuheben, und als wäre nichts geschehen, tanzte er eine Sekunde später wieder in ihrer Hand, doch die kleine Künstlerin hielt mit zusammengepressten Lippen die Tränen zurück. Als sie sich in die andere Richtung wandte, verlor ich sie aus dem Blick. Ich dachte wieder an das Mädchen am dreizehnten Grün. In dem Alter war alles anders. Ein heruntergefallener Stab rührte zu Tränen. Was noch? Ein verpatztes Date, ein unfreundliches Wort, eine nicht bestandene Prüfung. Keine Zeit für den Tod.

Ich lauschte den Trommeln, bis ich Porters Hand auf der Schulter spürte. »Hallo! Jemand zu Hause?«, fragte er schmunzelnd.

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2

Als wir in die Redaktion zurückkehrten, war es Nachmittag. Porter begab sich unverzüglich ins Labor, um seine Aufnahmen zu entwickeln, während ich ohne Eile zu meinem Schreibtisch ging. Kaum sah mich Nolan aus der Nische der Lokalredaktion, kam er mit beschwingten, tänzelnden Schritten und einem strahlenden Grinsen auf mich zu. »Volltreffer«, verkündete er.

»Was?«

»Bei der Polizei in Coral Gables sind gestern im Lauf der Nacht mindestens sechs, sieben Anrufe von einem Mr Jerry Hooks und seiner Frau eingegangen. Er arbeitet in der Chefetage der Eastern Airlines, großes, stattliches Haus in bester Lage. Und sie haben eine sechzehnjährige Tochter namens Amy. Sie ist gestern Abend mit Freunden auf eine Party gegangen. Und nicht nach Hause gekommen. Volltreffer.«

»Sind Sie sicher, dass sie unsere Tote ist?«

»Mein Lieutenant bei der Polizei hat es mir gerade, bevor Sie reinkamen, bestätigt. Er hat die beiden Detectives schon zu den Eltern rausgeschickt. Ich schlage vor, Sie fahren hinterher.«

Bei jedem Verbrechen, besonders aber bei Mord, war dies die unangenehmste Pflicht von allen, im Vergleich dazu nahm sich der Anblick einer verstümmelten Leiche – das distanzierte Augenmerk auf bedeutsame Details – beinahe harmlos aus. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Bei ähnlichen Gelegenheiten hatte ich die ganze Bandbreite der Gefühle hautnah miterlebt: Die fassungslosen Angehörigen hatten mich bedroht oder umarmt, sich an meiner Schulter ausgeheult oder mich angebrüllt. Zum zweiten Mal an diesem Tag holte ich Porter ab – er hatte gerade mit den Abzügen begonnen – und fuhr mit ihm durch die Stadt zur Familie des toten Mädchens.

Als wir eintrafen, standen Martinez und Wilson draußen vor der Haustür. Martinez trug eine Sonnenbrille mit Spiegelglas, so dass man bei einem Blick in sein Gesicht statt seiner Augen nur sich selber sah. Wilson wischte sich mit einem weißen Taschentuch über die Stirn, doch irgendwie schien das weiße Leinen die Hitze einzufangen und ihn noch mehr ins Schwitzen zu bringen. »Stellen wir uns der traurigen Realität«, murmelte Porter auf dem Weg zu den beiden Detectives.

»Himmel, habt ihr Burschen es eilig«, begrüßte uns Wilson, »immer auf dem Sprung, um ja nichts zu verpassen, was?«

Ich verkniff mir eine Antwort und fragte Martinez: »Was erwartet uns dadrin?«

»Die Eltern stehen unter Schock. Ich musste ihnen sagen, dass einer von ihnen die Leiche identifizieren soll. Jetzt warten wir auf den Vater.«

»Wie haben sie auf die Nachricht reagiert?«

»Sie haben kein Wort gesagt. Als die Kleine gestern Nacht nicht heimkam, hatten sie wohl schon mit dem Schlimmsten gerechnet. Offenbar war sie der zuverlässige Typ, hat ihre Eltern nie im Ungewissen gelassen, ist kein einziges Mal zu spät nach Hause gekommen.«

»Hatte sie einen Freund? Gibt’s schon Verdächtige?«

»Jedenfalls keinen festen. Und ihres Wissens hegte niemand einen Groll gegen das Mädchen, ich meine, sie hatte nicht gerade mit jemandem Schluss gemacht oder dergleichen.«

Wilson fiel ihm ins Wort. »Sie war einfach nur ein anständiges, liebes Mädchen. Keine Drogen. Kein Sex. War Cheerleader an der Sunset High School, brachte nur Einsen und Zweien heim. Wollte aufs College, träumte davon, Tierärztin zu werden. Gütiger Gott, bei dem schieren Gedanken wird einem übel.« Immer noch das Taschentuch an der Stirn, sah er mich eindringlich an. »Wie werden Sie die Geschichte bringen? Eins kann ich Ihnen sagen, wenn Sie dieser Familie noch mehr Kummer bereiten, als sie ohnehin schon hat, dann …«

»Dann was?«, fragte ich scharf zurück. »Wofür halten Sie uns?« Und an Martinez gewandt: »Und was haben Sie jetzt vor?«

»Na ja, wir nehmen uns die Leute vor, die auf derselben Party waren wie das Opfer, aber nach allem, was die Eltern sagen, verspreche ich mir nicht viel davon. Nur Highschool-Kids. Dann warten wir auf den Autopsiebericht, durchforsten die Verbrecherkartei nach Sexualstraftätern … Auch kein besonders vielversprechender Ansatz – sieht ja nicht nach einem Sexualdelikt aus.«

Ich wandte mich an Wilson. »Was meinen Sie?« Während er sich mit der Antwort Zeit ließ, vervollständigte ich meine Notizen zu Martinez.

»Ich schätze, wir haben es mit einem Psychopathen zu tun, auch wenn es noch keinerlei Anhaltspunkte gibt. Aber das ist nur eine Frage der Zeit, verlassen Sie sich drauf.« Mir entging nicht, wie sich Martinez bei dieser vollmundigen Ankündigung seines Partners ein wenig genervt zur Seite wandte.

»Wissen Sie«, sagte der jüngere Ermittler, »wenn wir an einen Tatort gerufen werden, steht meistens von Anfang an fest, wer der Mörder ist. Das Opfer liegt am Boden, der Täter steht – mit rauchendem Colt sozusagen – daneben und heult. Oder die Ehefrau sagt sich eines Tages, dass sie ihr Angetrauter nach einem schwierigen Tag bei der Arbeit einmal zu oft verprügelt hat, und knallt ihn ab. Oder der Vater vergisst, die Waffe wegzuschließen, die er sich zugelegt hat, um die Familie zu beschützen, und sieht, dass sich sein Fünfjähriger damit erschossen hat. Dann die andere Kategorie, wo es den Mann an der Kasse der Imbissbude im Getto erwischt. Auch da werden wir meistens sehr schnell fündig, weil jemand das Maul aufreißt. Oder Drogen. Jemand setzt sich einen Schuss, jemand anders wird erschossen; das eine gehört zum anderen, so läuft das in der Szene. Das organisierte Verbrechen ist ein heißeres Pflaster. Profikiller sind natürlich ganz gut darin, ihre Spuren zu verwischen, aber zumindest wissen wir von Anfang an, womit wir es zu tun haben und in welche Richtung wir ermitteln müssen, und außerdem – wen kümmert’s schon? Die Morde, bei denen sich Täter und Opfer nicht kennen, bei denen es mehr oder weniger zufällig einen bestimmten Menschen trifft, kommen am seltensten vor. Möglicherweise kreuzen sich ihre Wege nur dieses eine Mal, für diesen einen verhängnisvollen Augenblick. Keine Indizien, keine Zeugen, keine Spur. Bei diesen Fällen sehen wir ganz schön alt aus, und ich denke, mit so einem Fall haben wir es hier zu tun. Die Frage, ob es eine Sexualkomponente gibt oder nicht, macht es nur noch schwerer.«

»Wie erklären Sie sich die gefesselten Hände?«, fragte ich.

»Was weiß ich?« Martinez zuckte die Achseln.

Ich sah die beiden stirnrunzelnd an. »Sie halten mit etwas zurück«, sagte ich ihnen auf den Kopf zu. » Sie beteuern, dass Sie absolut im Dunkeln tappen, und morgen früh warten Sie mit einer Verhaftung auf, richtig? Pünktlich, wenn die Post rauskommt. Hören Sie, ich erwarte ja gar nicht, dass Sie mir verraten, was Sie haben, nur die ungefähre Richtung.«

Martinez schien verärgert, Wilson wandte sich ab. »Einen Teufel werde ich tun«, sagte Martinez. »Was wir haben? Eine Leiche mit gefesselten Händen im Gebüsch. Das ist es auch schon. Ich wünschte, es wäre anders, aber leider hat der Mörder keine Visitenkarte mit Namen und Adresse – und Fingerabdrücken – am Tatort hinterlassen. Sie wollen eine schnelle Verhaftung? Bitte, dann schnappen Sie den Kerl doch selbst, lassen Sie sich nicht aufhalten, verdammt!«

Ich musste ihm die Antwort schuldig bleiben, denn in diesem Moment ging die Haustür auf. Ich ließ mir die Empörung nicht anmerken und biss mir auf die Lippen. Wenn ich hier etwas in Erfahrung bringen wollte, dann nur mit Anteilnahme und Takt. Bei jeder Familie, die einen engen Angehörigen verloren hat, ob durch ein Verbrechen, einen Unfall oder höhere Gewalt, versuche ich zu zeigen, dass ich in ihrer Tragödie mit ihnen fühle, auch wenn ich alles daransetze, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Und so stellte ich mich zuerst dem Mann vor, der in der Tür erschien, und dann der Frau, die dicht hinter ihm aus dem Haus trat. Ihre Augen waren gerötet und verquollen.

»Mir ist bewusst«, sagte ich in ernstem, gedämpftem Ton, »was Sie gerade durchmachen, aber es wäre sehr hilfreich, wenn Sie sich einen Moment Zeit nehmen und mir ein wenig über Ihre Tochter erzählen könnten, über ihre Hoffnungen, ihre Träume.«

Der Vater nickte. Ganz offensichtlich stand er unter Schock und registrierte meine Worte kaum. Er warf den Detectives einen fragenden Blick zu, auf den die beiden jedoch nicht reagierten. »Sie ist ein wunderbares Mädchen«, sagte der Vater dann im Präsens. »Ich meine, man kann sich kein liebenswürdigeres Kind wünschen. Alle lieben sie. Wir machen uns die größten Sorgen.«

Martinez nahm ihn am Arm. »Das wird ein schwerer Gang für Sie«, redete er dem Vater gut zu, »am besten bringen Sie es so schnell wie möglich hinter sich.« Der Mann nickte, und die beiden Polizisten geleiteten ihn zu ihrem Wagen. Ich sah ihnen hinterher. Jeder Schritt schien eine Qual. Hinter mir hörte ich das Klicken und Sirren der Kamera. Ich drehte mich zur Mutter um. »Vielleicht können wir uns einen Moment zusammensetzen und reden«, sagte ich zu ihr. »Es wird eine Weile dauern, bis Ihr Mann zurückkommt.« Sie nickte, ich trat möglichst unaufdringlich hinter ihr ins Haus und ließ die Tür angelehnt, damit Porter mir folgen konnte.

Durch die Eingangsdiele begab sich die Mutter mit schweren Schritten in ein geräumiges Wohnzimmer. Ich ließ den Blick schweifen und prägte mir sämtliche Einzelheiten ein. »Ob ich wohl ein Glas Wasser haben könnte?«, fragte ich sie. »Draußen ist es schrecklich heiß.«

Für eine Sekunde sah sie mich verständnislos an, dann fasste sie sich. »Natürlich. Ich bringe Ihnen ein Glas.« Sie verschwand durch eine Tür, vermutlich in die angrenzende Küche. Ich nutzte den Moment, um mich zu sammeln und meine Gedanken zu ordnen. Eine Wand mit Familienfotos erregte mein Interesse. Mir fiel die wohldurchdachte Einrichtung auf – moderne, niedrige Möbel. Teuer, fügte ich in Gedanken hinzu. In einer Ecke stand ein Flügel. Dazu merkte ich eine Frage vor. Neben der großen Stereoanlage waren ein paar Schallplatten verstreut, einige mit Rock, andere mit Klassik. Kein Fernseher im Raum. Ich ging zur Rückseite und spähte durch die Glasschiebetüren auf die Gartenterrasse, den Swimmingpool, die schattenspendenden Bäume, den saftig grünen Rasen. In Florida zeugt ein grüner Rasen von der Entschlossenheit der Hauseigentümer, der Sonne den Kampf anzusagen. Als ich hinter mir die Mutter zurückkehren hörte, drehte ich mich zu ihr um. »Ich bewundere gerade Ihren Rasen. Er erinnert mich an den Norden.«

Sie lächelte zaghaft, während sie mir das Glas Wasser mit Eiswürfeln reichte, und spähte zu Porter hinüber, der sich im Hintergrund hielt und möglichst unauffällig fotografierte. Achselzuckend fügte sie sich in seine Anwesenheit und sank in einen Sessel. Einen Augenblick lang legte sie das Gesicht in die Hände, dann sah sie mich an.

»Sie können sich nicht vorstellen, was für eine Höllenangst ich habe.« Auch wenn sie mit fester Stimme sprach, traten ihr die Tränen in die Augen. Sie legte eine bemerkenswerte Selbstbeherrschung an den Tag. »Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan, auch Jerry nicht. Einmal ist er aus dem Haus gegangen und hat einfach nur das Viertel abgefahren. Er wusste, dass er sie so nicht finden würde, aber er hielt das Warten nicht mehr aus. Wissen Sie, das ist das erste Mal. Sie bleibt sonst nie über Nacht weg. Haben die Jungs auch nie gemacht.« – Wie ihr Mann im Präsens, dachte ich, sie hat es noch nicht begriffen.

»Wie viele Kinder haben Sie?«, fragte ich und machte unentwegt Notizen. Sorge einfach dafür, dass sie weiterredet, die Story schreibt sich dann von selbst.

»Drei«, sagte sie. »Amy ist unsere Jüngste. Jerry junior hat gerade an der Stanford University mit dem Studium begonnen, und sein älterer Bruder Stephen studiert in Boston Medizin.«

»Harvard?«

Sie lächelte scheu. »Sicher wünscht er sich, es wäre so. Nein, an der Tufts.«

»Trotzdem«, sagte ich, »kann sich doch wohl sehen lassen.«

Sie nickte. »Wissen Sie, er war in Vietnam. Als Sanitäter. Da hat er wohl schreckliches Leid gesehen, wahrscheinlich ist dort sein Entschluss gereift. Als er zurückkam, hat er sich in Summer-School-Kurse gestürzt, in Chemie und Gott weiß was noch, und er wurde zugelassen. Jetzt ist er im zweiten Jahr.«

»Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter«, ermunterte ich sie.

Sie hielt die Luft an, als hätte sie die Bitte kalt erwischt. »Alle drei sind liebe Kinder. Sie haben kaum Probleme gemacht. Gut, Stephen ist gegen unseren Willen in den Krieg gegangen, weil er gerade mit der Highschool fertig war und es für seine Pflicht hielt. Jerry junior, na ja, in seiner Schulzeit hat er es uns nicht immer ganz leicht gemacht mit seinen Demos, den langen Haaren und so. Aber das war eine Phase, es ging vorüber. Die größten Sorgen haben wir uns wegen Drogen gemacht, weil offenbar fast jeder an seiner Schule welche nahm. Aber er war ein sehr guter Schüler, von Anfang an, wie sein Bruder. Manchmal denke ich, für Amy ist es nicht leicht, die Messlatte liegt ziemlich hoch, sie eifert immer ihren Brüdern nach, sie waren ihr immer sehr wichtig, sie hat immer versucht, so wie sie zu sein, dieselben Dinge zu tun. Sicher ist es manchmal verwirrend für sie, ein Mädchen und eben anders zu sein. Als Kind tollte sie lieber draußen herum, als mit Puppen zu spielen oder was kleine Mädchen sonst so machen. Während Jerry bei der Northwest Airlines arbeitete, lebten wir in Minneapolis. Wir sind erst, warten Sie, im Oktober vor zwei Jahren hierhergezogen, ich war froh, weil sie hier wie früher viel Zeit im Freien verbringen kann. Wären wir nach New York – oder sonst wo in die Großstadt – gezogen, wäre es damit vorbei gewesen, da lebt man ständig in Sorge. Und sie ist so ein verständiges Mädchen.«

»Cheerleader?«

»Ja, stimmt.« Die Mutter stieß ein kurzes Lachen aus. »Und stellvertretende Klassensprecherin. Sie möchte mal Tierärztin werden, vermutlich, um es ihrem älteren Bruder gleichzutun, ohne in direkte Konkurrenz mit ihm zu treten. Wie’s aussieht, wird sie jedenfalls auch mal Medizin studieren …« Und dann hielt sie erschrocken inne wie ein Fallschirmspringer mitten im freien Fall. »Das heißt … ach, ich weiß nicht. Mein Gott, was ist nur passiert?« Nachdem sie sich so lange tapfer zusammengerissen hatte, brach sie in Tränen aus und sackte in ihrem Sessel zusammen. Mit einem Schlag hatte sie die Realität eingeholt, und sie wirkte wieder hilflos und verloren. Diesen Ausdruck sah ich nicht zum ersten Mal. In der Stille sirrte nur die Kamera. Die Mutter hielt sich die Hände vors Gesicht und wippte wie unter unerträglichen physischen Schmerzen vor und zurück. »Mein Gott«, sagte sie. »Mein Kind.«

»Ma’am, bitte«, sagte ich, »nur noch eine Minute. Haben Sie vielleicht ein Foto von Amy, das Sie mir mitgeben können? Wir schicken es Ihnen natürlich gerne zurück. Eins aus jüngerer Zeit?«

Die Mutter nahm die Hände vom Gesicht und starrte mich an. »Ein Foto?«

»Ja, ein Klassenfoto vielleicht, oder ein Familienschnappschuss?«

»Ich hole Ihnen eins.« Ihr Blick fiel auf Porter. »Möchten Sie auch ein Glas Wasser?«

Ich hatte schon so manche Kämpfernatur gesehen, Leute, die einen Magentiefschlag einstecken konnten, ohne ihre Geistesgegenwart zu verlieren, doch diese Frau war bewundernswert. Als Porter nickte, stand sie auf, um erneut in die Küche zu gehen. Ich sah ihr hinterher. Sie war hochgewachsen, in einem farbenfrohen Kleid von schlichter Eleganz, das hellbraune Haar hatte sie streng nach hinten frisiert. Sie trug kaum Make-up; die Tränen hätten ihr nur das Gesicht verschmiert. Sie besaß eine selbstverständliche Anmut. Als sie aus dem Zimmer verschwand, drehte ich mich zu Porter um, doch der sah sich gerade die Fotos an der Wand an. »Die sind gut«, sagte er. »Da hat jemand ein Händchen für die Kamera. Oder sie stammen von einem Profi. Gute Bildaufteilung, gekonnte Beleuchtung, da stimmt einfach alles.«

Die Mutter kehrte mit einem Foto in der einen Hand und einem Glas in der anderen zurück. »Die meisten hat Jerry junior gemacht«, sagte sie. Sie hatte seine Bemerkung gehört und reagierte wie jede stolze Mutter.

»Gut möglich, dass er sich nach dem Studium in Ihrem Fach versucht.«

»Dann sagen Sie ihm, wenn Sie es einrichten können, dass ich seine Bilder wirklich gut finde.«

Sie lächelte. »Danke, das wird ihn sehr freuen.«

Dann reichte sie mir das Foto. »Geht das?« Ich sah es mir genauer an. Ein hübsches blondes Mädchen; fröhliches Lächeln, offener Gesichtsausdruck. Sie trug Jeans und stand am Pool. Zu ihren Füßen lag ein Collie. »Das ist Lady. Leider mussten wir sie vor einigen Monaten einschläfern lassen. Amy war am Boden zerstört. Ich glaube, da hat sie beschlossen, Tierärztin zu werden. Das Bild hat auch Jerry junior gemacht.«

»Es ist perfekt«, sagte ich. Es wird den Lesern das Herz brechen, fügte ich in Gedanken hinzu. »Ich schicke es Ihnen zurück, sobald wir es nicht mehr brauchen.«

»Das wäre nett.« Einen Moment lang standen wir zu dritt im Raum. »Was meinen Sie? Könnte sich die Polizei getäuscht haben?« Ich sah, wie ihr die Tränen erneut in die Augen stiegen. »So etwas ist, glaube ich, schon vorgekommen. Haben Sie, ähm, haben Sie mit eigenen Augen …« Mehr bekam sie nicht heraus.

Ich brachte die Wahrheit nicht über die Lippen. »Solche Fehler passieren des Öfteren. Gewissheit bekommen Sie erst von Ihrem Mann. Ich habe zwar die sterblichen Überreste gesehen, aber« – ich deutete auf das Foto – »wirklich schwer zu sagen.«

»Sie trug, als sie gestern Abend ausging, blaue Jeans und ein blau-rot gestreiftes T-Shirt.«

Ich sah Porter an. Wir hatten wohl beide dasselbe Bild vor Augen. Er wandte den Blick ab. »Tut mir leid, aber so nah bin ich nicht herangekommen.«

Ich schon.

Die Mutter setzte sich wieder hin. »Das kommt mir alles so unwirklich vor. Ich weiß nicht, was los ist, ich weiß nur, dass es wichtig ist. Aber als ob es jemand anders passierte und nicht mir. Als wollten Sie beide zu jemand anders und nicht zu mir. Das ist alles ein großes Missverständnis. Ist das real? Mein Gott, ich weiß einfach nicht, was ich denken, was ich davon halten soll.« Sie sah mich an. »Wie soll ich denn auch einen klaren Gedanken fassen, wenn plötzlich die ganze Welt aus den Fugen geraten ist?« Ich wusste keine Antwort.

Und dann klingelte das Telefon. Es war ein aufdringlicher, verstörender Laut.

Die Mutter durchquerte das Zimmer und nahm ab. Ich blieb stehen und hörte zu. Ich wusste, was es war, auch wenn ich nur ihre Antworten mitbekam.

»Ja, Schatz«, sagte sie. »Geht schon.«

Plötzlich schien sich ihr Gesicht zu verkrampfen.

»Sag schon«, schrie sie. »Sag schon!«

Ich sah, wie sie die Augen schloss und die Zähne zusammenbiss. Sie setzte sich mit stocksteifem Rücken und vorgeneigtem Kopf langsam auf einen Stuhl.

»Ich setze mich schon. Sag’s mir endlich! Bitte!«

Und dann fuhr sie vor Entsetzen mit der Hand an den Mund.

»Oh, mein Gott«, brachte sie heraus. »Mein kleiner Schatz.«

Behutsam, als sei es wichtig, dass alles an seinem Platz war, hängte sie den Hörer ein. Dann sah sie zu mir auf.

»Sie ist es«, brachte sie mit ausdrucksloser Stimme heraus. »Mein Kind. Mein kleines Mädchen.«

»Ma’am«, sagte ich. »Können wir jemanden holen, damit Sie nicht allein sind? Einen Nachbarn vielleicht?«

Doch sie schien mich nicht zu hören. »Mein kleines Mädchen«, wiederholte sie. Porter machte mir mit dem Kopf Zeichen zu verschwinden. Ich nickte.

»Wir gehen jetzt, Ma’am«, sagte ich. »Es tut uns unendlich leid.«

Sie sprach immer noch mit dieser unbeteiligten, monotonen Stimme. »Wer bringt so etwas fertig?«, fragte sie. »Was für eine Bestie bringt so etwas fertig? Oh, mein Gott, was ist nur passiert? Wer kann denn mein kleines Mädchen umbringen wollen? Meine Kleine, nein, oh Gott.« An dieser Stelle versagten ihr die Worte, als setzten sie ihr wie Staub die Kehle zu. Sie stöhnte, krümmte sich und hielt sich den Bauch. Wieder klingelte das Telefon, beharrlich, doch sie machte keine Anstalten, aufzustehen. Nach einer Weile ging ich hinüber und nahm ab. Es war noch einmal ihr Mann.

»Hallo, hallo, Liebling?«, brüllte er.

»Nein«, sagte ich. »Hier spricht der Reporter vom Journal. Hören Sie, ich glaube, sie sollte jetzt nicht allein sein. Kann vielleicht ein Nachbar rüberkommen?«

Auch der Mann wirkte wie benommen. Er reagierte nicht. Schließlich antwortete er: »Ja. Nebenan. Die Allens. Rechts. Die Polizei braucht noch eine Aussage von mir. Sagen Sie ihr bitte, ich komme so schnell wie möglich nach Hause. Danke, ähm, für Ihre Hilfe.«

»Wir kümmern uns um die Nachbarn«, erwiderte ich und legte auf. Porter hatte ihr sein Glas mit dem Rest Wasser gereicht, und sie leerte es in einem Schluck. »Wir gehen jetzt, Ma’am. Wir schicken Ihnen jemanden.« Doch sie schien mich nicht zu hören, sondern stöhnte nur weiter leise vor sich hin.

Als wir vor die Tür traten, kam es mir, falls das überhaupt möglich war, noch heißer vor. »Nebenan«, sagte ich zu Porter, »die Allens.«

Porter nickte und rannte durch den Garten. Ich beobachtete, wie er eingelassen wurde und wenig später mit einem Mann und einer Frau herauskam, die er über den Rasen führte. Er ließ sie ins Haus und stieg zu mir ins Auto.

»Hast du sie vor den Leuten vom Fernsehen gewarnt? Die müssen jeden Moment hier einfallen.«

»Ich hab’s erwähnt«, erwiderte er. »Ob sie es richtig begriffen haben, weiß ich nicht. Wenn nicht jetzt, dann in den nächsten Minuten.«

»Okay, fahren wir. Vielleicht erwischen wir den Vater noch im Polizeipräsidium. Uns läuft die Zeit davon.«

Porter murmelte etwas zur Antwort und fuhr los. Es geht ihm wohl doch unter die Haut, zumindest ein bisschen, dachte ich und konnte mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Er griff zum Funkgerät und gab in der Bildredaktion Bescheid, wohin wir noch wollten. Offenbar hatte Nolan mitgehört, denn er meldete sich, um mich zu sprechen. »Und?«, fragte er. »Wie sieht’s aus?«

»Nolan«, sagte ich in selbstbewusstem Ton. »Nur so viel: Ich habe eine Bomben-Story.«

Von der Spiegelung der Sonne auf dem Asphalt flutete grelles Licht durch die Windschutzscheibe. Für den Rest der Fahrt ins Zentrum lauschten wir stumm dem Summen der Klimaanlage und dem Geräusch der Reifen auf der Straße.

 

Am Präsidium sah ich den Vater in Begleitung der beiden Detectives aus einem Seiteneingang kommen. Wir bogen gerade auf den Parkplatz ein, und so sprang ich aus dem Wagen, bevor er ganz zum Stehen kam. Als sie auf ein ziviles Polizeifahrzeug zugingen, verstellte ich ihnen den Weg. Hinter mir hörte ich Porters Schritte. »Mr Hooks«, sagte ich, »könnte ich nur einen Moment mit Ihnen sprechen?« Die Polizisten machten grimmige Gesichter, schritten jedoch nicht ein. Als ich merkte, dass der Vater mich nicht auf Anhieb unterbringen konnte, fügte ich hinzu: »Vom Journal, wir haben vor ein paar Minuten telefoniert. Die Nachbarn kümmern sich jetzt um Ihre Frau.«

Es dämmerte in seinem Gesicht, dennoch zögerte er. »Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll. Herzlichen Dank, dass Sie meiner Frau geholfen haben, aber mir steht wirklich nicht der Sinn danach, irgendwelche Erklärungen abzugeben. Ich hoffe einfach nur, dass sie den Täter möglichst bald fassen. Wie ein Mensch zu so etwas imstande ist … Aber ansonsten habe ich nichts zu sagen. Das verstehen Sie doch?«

»Natürlich«, erwiderte ich, ohne mich vom Fleck zu rühren. »Haben Sie gestern Nacht schon etwas Derartiges befürchtet?«

»Wie sollte ich? Wer denkt denn gleich an so etwas? Ich habe mir Sorgen gemacht, wer hätte das nicht? Habe bei sämtlichen Notaufnahmen in der Stadt angerufen und nach ihr gefragt. Ich hatte Angst, sie hätte einen Autounfall gehabt, die Sorge trieb mich um. Aber, wirklich, ich möchte jetzt nichts sagen, ja?«

Ich machte weiter meine Notizen. »Würde es Ihnen Genugtuung bereiten, zu sehen, wie der Mann, der Ihre Tochter getötet hat, seiner gerechten Strafe zugeführt wird?«

»Gott! Und ob es das täte! Er soll dafür büßen, was er getan hat«, antwortete der Vater, und ich blickte vom Notizbuch auf, weil ihm die Stimme versagte. »Er soll am eigenen Leib spüren, was ich in diesem Augenblick durchmache, was er uns angetan hat.« Der Vater verstummte abrupt und sah mir eindringlich ins Gesicht. »Aber im Moment kann ich Ihnen wirklich nichts sagen.«

»Natürlich, das ist nur allzu verständlich«, antwortete ich und gab den Weg frei. Wilson ging mit finsterer Miene an mir vorbei zur Fahrertür, und als sie vom Gelände rollten, hielt sich der Vater beide Hände vors Gesicht. Fast dieselbe Geste wie bei der Mutter, musste ich unwillkürlich denken, als versuchten sie, die Augen vor einer Schreckensvision in ihrem Kopf zu verschließen. Ich drehte mich zu Porter um. »Na? Gute Story?«

»Oh ja! Spitze!«

»Titelseite?«

»Was sonst?«

»Was sonst!«, stimmte ich zu. Inzwischen ging der Nachmittag zur Neige, und die Hitze ließ ein wenig nach, als suchte sie sich für die Nacht ein stilles Plätzchen. Wir wendeten und fuhren zum Journal zurück.

 

Nolan kam gerade aus der letzten Redaktionssitzung, als ich auf der Bildfläche erschien. Er winkte mich zu sich, und mit einem Siegerlächeln setzte ich mich in Bewegung. »Gute Story?«, fragte er.

»Denke schon«, gab ich mich bescheiden.