Der Rest ist Schweigen - Carla Guelfenbein - E-Book

Der Rest ist Schweigen E-Book

Carla Guelfenbein

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Beschreibung

Das Wort trifft den kleinen Tommy wie ein Schlag, als er bei einem Familienfest unter dem Tisch hockt und lauscht: Selbstmord. Seine geliebte Mutter hat ihn freiwillig verlassen. Während der zarte Junge sich auf die Suche nach der verschwiegenen Wahrheit macht, ringen sein Vater, der arrivierte Chirurg, und dessen zweite Frau Alma ihrerseits mit all dem Unsagbaren, Ungesagten, an dem sie fast zu ersticken drohen. Wie Planeten mit einem heißen Kern aus Sehnsucht kreisen Tommy, Juan und Alma umeinander und bleiben sich auf ihren Umlaufbahnen doch fern. Erst als das Leben brutal dazwischenfährt, scheint so etwas wie Nähe wieder möglich – doch der Preis ist hoch. Clara Guelfenbein macht ihren Figuren ein Geschenk: sie lässt sie reden, von sich und denen, die sie lieben. In wechselnden Stimmen entfaltet sich so das Drama einer modernen Familie – bestürzend in seiner Unausweichlichkeit, aber auch voller Zärtlichkeit und Hoffnung. »Für dieses Buch brauchen Sie viele Taschentücher, hat ein Kritiker gesagt. Bei mir ging es ohne, aber genau das macht dieses Buch so wunderbar. Es ist traurig, aber nie rührselig.« Christine Westermann

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Seitenzahl: 347

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Carla Guelfenbein

Der Rest ist Schweigen

Roman

 

Aus dem Spanischen von Svenja Becker

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Das Wort trifft den kleinen Tommy wie ein Schlag, als er bei einem Familienfest unter dem Tisch hockt und lauscht: Selbstmord. Seine geliebte Mutter hat ihn freiwillig verlassen. Während der zarte Junge sich auf die Suche nach der verschwiegenen Wahrheit macht, ringen sein Vater, der arrivierte Chirurg, und dessen zweite Frau Alma ihrerseits mit all dem Unsagbaren, Ungesagten, an dem sie fast zu ersticken drohen. Wie Planeten mit einem heißen Kern aus Sehnsucht kreisen Tommy, Juan und Alma umeinander und bleiben sich auf ihren Umlaufbahnen doch fern. Erst als das Leben brutal dazwischenfährt, scheint so etwas wie Nähe wieder möglich – doch der Preis ist hoch.

Carla Guelfenbein macht ihren Figuren ein Geschenk: sie lässt sie reden, von sich und denen, die sie lieben. In wechselnden Stimmen entfaltet sich so das Drama einer modernen Familie – bestürzend in seiner Unausweichlichkeit, aber auch voller Zärtlichkeit und Hoffnung.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Carla Guelfenbein wurde 1959 in Santiago de Chile geboren. In Reaktion auf das Regime Pinochets verließ sie Chile und studierte in England Biologie und Design. Heute lebt sie als Schriftstellerin und Drehbuchautorin wieder in ihrer Heimat. Nach dem weltweiten Bestseller ›Die Frau unseres Lebens‹ ist ›Der Rest ist Schweigen‹ ihr dritter Roman.

Für Micaela und Sebastián

So tell him, with the occurrents, more or less, which have solicited. The rest is silence.

William Shakespeare

Erster TeilWeißes Schweigen, schwarzes Schweigen

1.

Wörter sind manchmal wie Pfeile. Fliegen hin und her, verletzen und töten, genau wie im Krieg. Deshalb nehme ich die Gespräche von Erwachsenen gern auf. Besonders wenn jeder von sich redet und plötzlich wie durch einen Zaubertrick alle auf einmal loslachen.

Beine, die hin und her gehen, gibt es hier unten reichlich. Fast von jeder Tierart sind welche dabei: Kamelbeine, Kaninchenbeine, Flamingobeine, Affenbeine und Beine von Tieren, die ich noch nicht kenne. An meinen Tisch haben sich drei Frauen gesetzt mit Knöcheln, so dick wie Elefantenfüße, ein Mann mit Golferschuhen und eine Giraffe, die sofort ihre goldenen Sandalen abstreift. Alle reden durcheinander, und ich kann nachher wahrscheinlich wenig damit anfangen, schalte meinen Mp3-Player aber trotzdem ein und nehme auf:

»Tere und ihr Mann sind nicht im selben Auto gekommen, hast du gesehen?«

»Nein, ist mir entgangen, wundert mich aber nicht.«

Im Park stellt sich das Brautpaar für den Fotografen vor Großvaters Voliere. Mein Cousin Miguel grinst, als hätte er ein Essstäbchen quer im Mund. Zwischen den bunten Kleidern sehe ich Alma. Sie bewegt die Hände und malt beim Sprechen Figuren in die Luft. Ihr Haar ist rot, und sie heißt wie das größte Radioteleskop der Erde. Die wichtigste Aufgabe von ALMA ist die Erforschung der Sternenentstehung. Kájef, mein bester Freund, und ich haben herausgefunden, dass man damit organische Teilchen analysieren kann, zum Beispiel Kohlenstoff, und das könnte die Große Frage beantworten, wie das Leben entstanden ist. Unglaublich, was ALMA alles sieht. Dagegen ist die Alma, die Papa geheiratet hat, manchmal nicht richtig bei der Sache. Was mir aber nichts ausmacht. Sie stört es ja auch nicht, dass ich ein bisschen langsam bin und ungeschickt. Hin und wieder tun wir Dinge, die Papa nicht gefallen. Zum Beispiel hat sie ihn heute überredet, dass ich nicht wie sonst bei wichtigen Anlässen diesen Totengräberanzug tragen muss. Meine Cousins würden sonst über mich lachen. Dabei wissen wir beide, dass es egal ist, was ich anhabe. Nicht dass meine Cousins nicht nett wären, aber sie tun ständig so, als müssten sie ganz schnell einen fernen Schatz finden, und ich bin zu der Suche nie eingeladen.

»Nein, wenn ich’s dir sage, die kennen sich gar nicht.«

Die Stimme der Frau ist heiser wie die einer Kröte. Ich halte meinen Player ein bisschen höher.

»Ich dachte, sie wären Freundinnen. Schau, dort steht sie, beim Brautpaar, vor der Voliere.«

Von allen Vögeln in Großvaters Käfig gefallen mir die Goldfasane am besten.

»Wo denkst du hin, niemals. Du kennst doch Marisol.«

Der Wind vom Meer hebt die Tischdecke an. Ein Paar Männerschuhe bleiben vor dem Tisch stehen, unter dem ich hocke.

»Carmen, wie schön, dich zu sehen!«

Das ist Papa mit seiner Doktorstimme, die er nie zu Hause lässt. Wenn er mich hier erwischt, wie ich die Erwachsenen aufnehme, gibt es ein Donnerwetter. Er sagt, ich »verletze die Privatsphäre der Leute«. Aber so richtig verstehe ich nicht, was »die Privatsphäre« ist. Ich dachte, privat ist das, was man tut und fühlt, wenn man allein ist. Diese Gespräche kommen mir nicht privat vor.

Eine der Frauen bewegt einen Fuß hin und her, so als hätte sie einen Stein im Schuh.

»Nein, bitte, bleibt doch sitzen«, sagt Papa.

Ich halte den Atem an, umklammere den Player.

»Wir haben uns Jahre nicht gesehen«, sagt die Frau.

»Fünf? Sechs?«

»Mindestens.«

»Du siehst großartig aus, Carmen. Wie schön, dass du gekommen bist. Und Jorge?« Papa redet bedächtig und gleichzeitig heiter, genau in dem Tonfall, den er benutzt, wenn ihn jemand um Rat fragt.

»Ist vor zwei Jahren mit so einer Schnepfe durchgebrannt. Seiner Sekretärin«, erklärt die Frau und lacht auf. »Keine Bange, ich bin froh, dass ich ihn los bin. Er war ein Klotz am Bein.«

»Wenn du meinst«, antwortet Papa.

»Das meinen wir alle«, sagt hastig eine andere. Sie klingt, als hätte sie jemand mit einer Nadel gepikst.

Kurz darauf gehen Papas Schuhe weg. Ein Glück, dass er mich nicht entdeckt hat. Papa und Alma bleiben heute Nacht hier, und ich muss mit einem von meinen Onkeln nach Santiago zurückfahren. »Wir brauchen ein bisschen Erholung von euch«, hat Alma ganz sanft und mit einem strahlenden Lächeln gesagt. Aber ich fand es trotzdem ungerecht.

»Juan hat wieder geheiratet, nicht?«

»Ja, eine Jüngere. Etwas dürr und bleich, wenn du mich fragst«, sagen die Golfschuhe.

Den Erwachsenen kleben Zettel auf der Stirn, da stehen Sachen drauf wie: »Du bist der langweiligste Mensch, den ich kenne« oder: »Du riechst schlecht« oder: »Ich würde dich sehr gern küssen.« Aber natürlich kann ich die hier unter dem Tisch nicht sehen. Ich bin es leid, weiter zusammengekauert dazuhocken, aber mittlerweile wäre es reichlich sonderbar, wenn ich rausspazierte, als wäre nichts gewesen.

»Die echte Krönung ist die Braut«, reden sie wieder.

»Du meinst Julia? Ja, zu klein und zu dunkel geraten. Ihre Familie ist aus dem Süden. Kein Mensch kennt die«, bemerkt die Giraffe und dehnt dabei die Wörter, als würde sie auf etwas sehr Zähem herumkauen.

»Jedenfalls ist es ein Glück, dass Juan wieder geheiratet hat; wo Soledads Krankheit so schlimm war und so plötzlich kam.«

»Krankheit? Nicht zu fassen, was für Märchen sie einem auftischen«, sagt die Elefantenfrau.

»Wieso denn Märchen?«

»Ach, gütiger Himmel, ich hätte den Mund halten sollen. Entschuldigt. Bitte fragt mich nicht.«

Weil ich unter dem Tisch sitze, kann ich den Zettel der Elefantin nicht sehen, aber ich könnte wetten, sie möchte weiterreden.

»Du kannst uns doch so jetzt nicht hängenlassen.«

Die Elefantin bleibt einen Augenblick stumm, und dann sagt sie:

»Soledad ist nicht an einer Krankheit gestorben. Sie hat sich umgebracht.«

»Hatte sie nicht eine Hirnblutung?«

»Das wurde behauptet, damit es kein Gerede gibt, aber Soledad hat sich umgebracht, das kann ich dir schriftlich geben.«

Ich spüre einen Schmerz in der Brust. Der Player fällt mir aus der Hand und landet mit einem harten Klack auf dem Boden. Mama ist krank geworden, als ich drei war. Sie ist plötzlich krank geworden, haben sie mir gesagt. Und von uns gegangen.

»Das ist eins der am besten gehüteten Geheimnisse der Familie Montes.«

»Aber Soledad ging es doch blendend, und sie wirkte immer so fröhlich, so zufrieden.«

»Ha! Nach außen vielleicht. Aber dass Soledad einen glücklichen Eindruck gemacht hat, heißt nicht, dass sie es war. Immerhin ist sie vor ihrem Selbstmord etliche Monate in einer Klinik gewesen. In Aguas Claras.«

»Das glaube ich nicht. Ich war dort mal als Ehrenamtliche. Das war doch nichts für Soledad. Der Park ist ganz schön, aber der Rest ist zum Weglaufen.«

Erst habe ich ständig an Mama gedacht. Aber eines Tages habe ich gemerkt, dass ich mich anstrengen kann, wie ich will, aber trotzdem weiter wachse. Und vergesse. Beides passiert zusammen und ist gar nicht zu trennen.

»Es sollte keiner etwas davon wissen. In der Klinik La Europea wäre ihnen bestimmt jemand über den Weg gelaufen. Der Sohn von María Elena wurde ja auch zu der Zeit eingeliefert, aber in La Europea natürlich.«

Meine Erinnerungen an sie sind so ähnlich wie Filme. Es gibt eine Szene, die kommt immer wieder. Wir liegen auf dem Boden in einem leeren Zimmer, Mama und ich. Sie hält mich im Arm. In der Zimmerdecke ist ein Fenster, durch das wir den Himmel betrachten. Manchmal schließe ich die Augen und stelle mir vor, ich bin dort. Am Ende wünsche ich mir immer, es wäre wirklich so.

»Armer Juan.«

»Er wird wohl sein Teil dazu beigetragen haben, oder? Immerhin war sie seine Frau.«

»Red keinen Unsinn. Juan ist ein Engel.«

»Wenn wir gerade dabei sind, wer sein Teil zu was beiträgt, habt ihr das von Totis Exmann gehört?«

Wenn Mama sich das Leben genommen hat, heißt das, sie hat mich nicht lieb gehabt. Ich halte den Atem an und zähle: zehn, neun, acht, sieben, ich bin sicher, dass ich zurückgehen kann, zurück dahin, bevor ich mich unter dem Tisch versteckt habe, sechs, fünf, die Elefantenkuh bringt es fertig und erzählt irgendwas, bloß um ihre Freundinnen zu beeindrucken, vier, drei, zwei … In meinem Kopf dreht sich alles, und ich spüre tausend Stiche im Magen, als hätte ich einen Propeller im Bauch. Ich kann nicht mehr. Ich stolpere aus meinem Versteck. Ich rutsche und falle. Ich schürfe mir die Knie und die Hände auf.

Ich bin bis ans Ende des Gartens gerannt, wo es steil zum Meer runtergeht. Das Licht am Himmel ist weiß. Meine Cousins spielen weiter oben im Park Ball. Ich setze mich ins Gras. Ich schlinge meine Arme um die Knie und stecke meinen Kopf dazwischen. Ich stinke erbärmlich. Keine Ahnung, in welchem Moment das in die Hose ging. Jetzt bin ich wirklich erledigt.

Manchmal weiß ich, was Unglücklichsein ist: darauf warten, dass es dunkel wird und ich mich unter die Bettdecke verkriechen kann, dort die Augen schließen und für immer in Kájefs Einbaum wegfahren. Ist es das, was Mama gefühlt hat?

2.

Auf der Tanzfläche haben die Jüngeren zu tanzen begonnen. Ich ziehe meine hochhackigen Sandaletten aus und gehe über den Kiesweg in den Garten. Beim Peumos-Wäldchen lege ich mich ins Gras. Der Abend ist warm, und die Wellen laufen sachte über dem Algenstreifen aus. Hinter dem Haus kann man auf der grünen Weite des Golfclubs die Silhouetten einiger Spieler erahnen. Ich muss daran denken, wie ich zum ersten Mal hierherkam, ins Sommerhaus der Familie Montes. Heute, sieben Jahre später, ist von dem Zauber und von der Furcht, die ich damals empfand, nichts geblieben.

Ich sehe Juans Vater noch deutlich vor mir in seinem Louis-XV-Sessel, seine hohe Stirn und die schmale Nase – ganz bissiger Aristokrat – und die Trägheit, mit der er den Kopf hebt und mich anschaut. Er war durchaus freundlich, wahrte jedoch zugleich die Distanz wie einer, der die Menschen ringsum nie wirklich für voll nimmt. Dass ich einen Kinderwagen dabeihatte und darin ein wenige Monate altes Baby, das offensichtlich nicht die Frucht der neuen Verbindung zwischen mir und seinem Sohn war, muss ihn getroffen haben. Und doch veränderte sich sein Ausdruck nicht im Geringsten. Dieses zwanglose und zugleich kühle Benehmen war vor der Kulisse von Haus und Mobiliar perfekt in Szene gesetzt. Ich hatte Mühe, mir an diesem in der Vergangenheit festgefrorenen Ort einen Platz vorzustellen, an dem ich mich wohlfühlen würde, und doch sehnte ich mich vom ersten Augenblick an nur danach, diesen Platz zu finden.

Nach dem Mittagessen gingen wir im Park spazieren. Juan schob Lolas Kinderwagen, und zusammen mit seinem Vater schlenderten wir über die Wege zwischen Buchsbaumkugeln und Springbrunnen, in denen sich die wechselnden Farben des Himmels spiegelten. Hin und wieder lächelte Juan mir zu und versuchte, mit dem Blick meine Reaktionen zu ergründen. Unendlich viel trennte uns voneinander, machte uns verschieden, aber damals war ich nicht bereit, darüber nachzudenken.

Als wir ins Haus zurückkehrten, wollte Don Fernando mir seine Bibliothek zeigen. Juan entschuldigte sich, weil er einige Anrufe zu erledigen hatte. Ich folgte Don Fernando durch den weiten, mit Terrakotta gefliesten Säulengang, bis wir am anderen Ende die Bibliothek betraten: hohe Decken, dicke Balken und Wände aus Bruchstein. Nachdem er mir seine Pfeifensammlung vorgeführt hatte, stieg Don Fernando auf eine Trittleiter und zog von einem Bord hoch oben ein Fotoalbum. Als er es mir reichte, klang seine Stimme hohl und drängend:

»Schlag es auf.«

Was ich fand, waren Dutzende Fotos von Juan, sie reichten von seiner frühen Jugend bis ins Erwachsenenalter. Seine Reisen, seine Freunde, die Sportarten, die er betrieben hatte, seine Metamorphosen. Doch im Gedächtnis sollten mir nicht die Bilder bleiben, sondern die Leerstellen dazwischen, unzählige Fotos, die jemand von den Seiten gerissen hatte.

»Seine Bilder von Soledad«, sagte Don Fernando. »Die beiden kannten sich von klein auf.«

Die Gründlichkeit, mit der Juan die Bilder seiner Frau entfernt hatte, erschreckte mich. Unter Don Fernandos aufmerksamem Blick blätterte ich Seite für Seite des Albums um. An diesem Nachmittag keimte in mir eine Frage, die immer wiederkehren sollte: Was lauerte unter der Oberfläche dieses so überlegten und ausgeglichenen Mannes? Wenn er die Fotos seiner verstorbenen Frau auf diese Weise beseitigt hatte, gab es in seinem Leben bestimmt noch einiges mehr, wovon ich nie erfahren würde: heimliche Wünsche, Ängste, Obsessionen. Vielleicht würde auch ich irgendwann zu einer Leerstelle in einem Fotoalbum.

Die einzige Frage, die Don Fernando mir an diesem Tag stellte und die mich aufhorchen ließ, war, ob ich jüdische Vorfahren hätte. Ich sagte nein. Mit einem Lächeln erklärte er, das freue ihn sehr. Da schob ich nach, wenn ich weit genug in meiner Vergangenheit grübe, fände sich wie in vielen Familien sicher auch in meiner ein jüdischer Urahn. Don Fernando ließ seinen Stock mit dem silbernen Holm durch die Luft kreisen und meinte, die Erde sei auch vor Kolumbus bereits rund gewesen, doch habe die Menschheit perfekt in der Vorstellung leben können, sie sei eckig. Das Bild schien mir ziemlich weit hergeholt. Vermutlich wollte er mir sagen, selbst wenn ich irgendwelche jüdischen Wurzeln hätte, könne ich mein Leben führen, als hätte ich sie nicht – solange ich nur nichts davon wüsste.

Als wir danach wieder mit Juan zusammensaßen, erwähnte ich nicht, dass ich sein Fotoalbum gesehen hatte. Ich habe es ihm nie gesagt. Vielleicht aus Furcht, damit etwas freizulegen, das mich verletzen oder einen Keil zwischen uns treiben könnte. Jahre später sprach ich ihn allerdings, ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlass, auf die sonderbare Frage an, die Don Fernando mir gestellt hatte. In scharfem Ton meinte er, sein Vater sei alt und benehme sich so, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das überzeugte mich nicht, aber ich ließ das Ganze lieber auf sich beruhen. Von Soledad habe ich bis heute nur das Foto gesehen, das Juan in einer Schublade seines Schreibtischs hütet.

Bevor wir nach Santiago zurückfuhren, öffnete Don Fernando eine Flasche Champagner und stieß auf uns an. Unsere Verbindung wäre ohne sein Einverständnis undenkbar gewesen. Als ich das Juan gegenüber einmal erwähnte, behauptete er rundheraus, das habe überhaupt nichts geändert, er lasse sich vom Urteil seines Vaters nicht beeinflussen und unsere Gefühle füreinander seien das Einzige, worauf es ankomme. Mit der Zeit ist mir allerdings klar geworden, wie wichtig die Ansichten seiner Familie für ihn sind. Außerdem habe ich irgendwann begriffen, dass Don Fernando und in der Folge auch der Rest der Familie nicht von ungefähr so freundlich zu mir waren. Mein nordisches Aussehen und der Hauch von Kultur, den ich aus Europa mitgebracht hatte, sprachen für mich. Wäre ich dunkelhäutig, klein und provinziell gewesen, wäre es ihnen schwerer gefallen, mich zu akzeptieren. Der Zeitgeist tat ein Übriges. Wer sich heute über Unterschiede in der Herkunft hinwegsetzt, darf sich besonders kultiviert fühlen. Auch wenn er sie im Stillen weiterhin bedauert. Don Fernando wird den Nutzen unserer Verbindung erkannt haben. Indem er mich freundlich aufnahm, konnte er gegenüber seinen Altersgenossen als modern denkender Mann auftreten, ohne damit größere Risiken einzugehen. Ich hatte mich von Anfang an ausreichend gefügig gezeigt und würde mich seinen Gewohnheiten und seinem Lebensstil schon anpassen.

***

Über die vordere Veranda flanieren die älteren Paare und nicken einander zur Begrüßung zu. Lachend klopfen die Männer einander auf den Rücken, erinnern sich vielleicht daran, dass sie zusammen aufgewachsen sind, dieselbe Schule besucht und dieselben Pfade ins Erwachsenenleben eingeschlagen haben. Einige Tische sind noch besetzt mit Leuten, die ein Verdauungsschlückchen nehmen und kleine Törtchen essen, ihre Gesichter sind verschwitzt und sagen deutlich, dass man sich um jeden Preis amüsieren will. Juan, der mit dreien seiner Geschwister an einem Tisch sitzt, rutscht ein wenig auf seinem Stuhl nach vorn und streckt die Beine aus. Jetzt zieht er sein Handy aus der Tasche und hebt es ans Ohr. Er steht auf und tritt ein Stück zur Seite. Er nickt mehrmals. Nach einer Weile geht er zum Weg, der in den Garten führt, und sieht sich um; ich glaube, er sucht mich. Ich werde ihm ein bisschen zuschauen, bevor ich mich bemerkbar mache. Findet er mich, dann ist unsere Verbindung noch intakt. Mit Tommy spiele ich öfter telepathisches Suchen. Er weiß nicht, dass er unverwechselbar nach Kind duftet, genau wie Lola, nur stärker. Juan hat mich nicht entdeckt. Ich werde ihm nicht helfen. Er geht zu seinem Vater. Allein sitzt Don Fernando da und verfolgt das Treiben der Gäste, hält seinen Stock gerade und wacht über anderer Leute Anstand mit einer Strenge, von der man sich unmöglich nicht eingeschüchtert fühlen kann. Juan legt ihm eine Hand auf die Schulter und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Soll das ein Abschied sein? Das geht doch nicht. Wir haben vereinbart, heute Nacht in Los Peumos zu bleiben. Wir müssen dringend allein sein. Vor allem müssen wir – und sei es nur ein winziges bisschen – die festgefügte Ordnung der Dinge ändern, eine Lücke schaffen, durch die das Begehren wieder einen Platz finden kann. Mit jedem Tag fällt uns die Geste schwerer, die den Mechanismus der Leidenschaft in Gang setzt. Ich habe auf diese Nacht gehofft, aber sollte es uns hier nicht gelingen, können wir es nicht auf die Kinder schieben, auf die Sorgen des Tages, auf die Erschöpfung. Juan hat wieder sein Handy am Ohr. Er geht gestikulierend auf und ab. Ich stehe auf und will zu ihm, als mir Tommys kleine Gestalt am anderen Ende des Gartens auffällt. Er ist wie immer allein und peitscht die Luft mit einem Stock. Ich gehe den kleinen Hügel hinunter und nehme den Kiesweg zur Terrasse. Als ich bei Juan ankomme, verabschiedet er sich eben mit besorgtem Gesicht von einem seiner Brüder.

»Was ist?«, frage ich, während ich wieder in meine Sandaletten schlüpfe.

»Sie haben ein Herz für den Jungen. Es ist schon unterwegs.« Er sieht auf die Uhr.

»Aber Juan, du hast gesagt, falls etwas ist, könnte Sergio sich darum kümmern.«

»Tut mir leid, Alma.«

Ich suche in seiner ernsten Miene nach aufrichtigem Bedauern und finde es nicht.

»Meinst du etwa, mit einem ›Tut mir leid‹ ist es getan?«, gifte ich ihn an. »Du hast es mir versprochen. Wir haben das seit Wochen geplant.«

»Ich muss zurück, wirklich. Es ist meine Pflicht.«

»Sergio wartet seit zwei Jahren darauf, dass du ihm endlich eine Chance gibst.«

»Diese nicht.«

»Du wirst ihm nie eine geben. Nichts genießt du mehr als das, oder? Die Türen zum OP öffnen und in diese Gesichter blicken, die dich ansehen, als wärst du Gott.« Ich presse die Lippen aufeinander, will meinen Zorn ersticken. »Entschuldige, ich hätte das nicht sagen sollen.«

»Macht nichts«, konstatiert er gefasst und kühl.

Mit der Hand streicht er sich das Haar aus der hohen Stirn. Eine widerspenstige Strähne fällt zurück über die Brauen. Er holt tief Luft und erklärt dann mit beherrschter Erregtheit:

»Der Junge ist zwölf Jahre alt, wie Tommy.«

»Komm mir nicht damit. Sergio ist zu dieser Operation so gut in der Lage wie du; sonst würde ich dich nicht bitten. Ich möchte, dass du bleibst, weil das für uns wichtig ist.« Ich rede im Flüsterton, wie er es mag, wenn wir nicht unter uns sind. Juan sieht ungeduldig nach oben.

»Alma, ich bitte dich, erpress mich nicht. Du machst mir alles nur schwerer.« Ein angespannter und zorniger Ausdruck erscheint auf seinem Gesicht.

»Genau, was ich wollte, merkst du das nicht? Dir alles schwerer machen. Wenigstens bewirke ich irgendwas in dir.«

»Ich muss weg. Hast du Tommy gesehen?«, höre ich ihn sagen.

»Er ist dort hinten.« Ich zeige auf ihn. »Geh hin und sag ihm, dass du gehst.«

»Ich habe Rodrigo gebeten, dass er euch mit zurück nach Santiago nimmt. Ja?«

»In Ordnung.«

Er gibt mir einen Kuss und streicht mir mit der Hand über die Wange wie der vernünftige und liebevolle Mann, der er eigentlich ist. Während ich ihm nachschaue, kann ich Tommys schmächtige Silhouette erkennen, wie gewöhnlich im Kampf mit einem imaginären Feind.

3.

Die feindlichen Mächte haben einen Unterhändler geschickt. Er sieht aus wie mein Vater. Ich muss mich verteidigen, zu den Waffen greifen. Und ich muss darauf vertrauen, dass das Gute immer über das Böse triumphiert.

»Hi, Großer«, höre ich ihn schon von weitem.

Sie haben ganze Arbeit geleistet. Selbst unsere Sprache haben sie ihm beigebracht. Ein Glück, dass ich besondere Kräfte habe und jede Gefahr wahrnehme. Ich hebe drohend die Waffe.

»Ich muss nach Santiago, gerade kam ein Anruf aus der Klinik. Du fährst mit Alma und Onkel Rodrigo heim. Komm dich verabschieden, Tommy.«

Der macht mir nichts vor. Nie mehr. Klar würde ich ihn gern umarmen. Ich würde gern von ihm hören, dass Mama sich nicht das Leben genommen hat, dass das eine von diesen Erwachsenengeschichten ist, die immer weitererzählt werden und dabei immer schrecklicher und trauriger werden. Der Mann, der wie mein Vater aussieht, hebt eine Waffe vom Boden auf und hält sie in Angriffsposition.

»Gut. Wenn du das in einem Kampf Mann gegen Mann klären willst, dann los«, sagt er.

Ich hebe meinen Stock und schlage gegen seinen. Noch nie bin ich auf jemanden losgegangen, der nicht in meinem Kopf ist. Ich greife Papa noch zweimal an. Zum Glück hatte ich eine Jeans in meinen Rucksack gepackt, falls mich meine Cousins doch zu einer ihrer Expeditionen eingeladen hätten. Aber ich habe trotzdem Angst, dass der Gestank an mir klebt und Papa was merkt. Er verteidigt sich nicht.

»Genug, Tommy«, sagt er mit einem Lächeln, das es nicht ganz schafft, eins zu sein. »Du weißt doch: nicht außer Atem kommen.«

Auf seiner Stirn steht: »Du weißt doch, du bist schwach und kannst mich niemals besiegen.« Ich führe noch einen Schlag. Ich habe nicht gehorcht. Der Mann pariert mit seinem Stock. Unsere erhobenen Waffen verharren eine an der anderen. Wir stehen Auge in Auge. Ich bekomme ein bisschen schwer Luft. Ich sehe auf sein eckiges Kinn, seine Stirn mit den langen Linien und versuche dabei mit aller Macht zu verheimlichen, dass ich nur schwer Luft kriege. Wenn ich die Augen schließe, kann ich mir sein Gesicht Millimeter für Millimeter vorstellen. Meistens denke ich mir dabei, dass es einem weisen und zähen Kämpfer gehört. Dem Kämpfer, zu dem ich selber mit der Zeit und mit Kájefs Hilfe irgendwann werde. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich sehe. Papa hat mich angelogen. Mir brennen die Augen, ich zwinkere heftig. Ich muss weiterkämpfen.

»Tommy, lass uns ein andermal weitermachen, ich muss los.« Er wirft seinen Stock hin und kommt zu mir, um sich zu verabschieden.

»Wen musst du denn operieren?«

»Einen Jungen, er heißt Cristóbal Waisbluth. Wir haben auf ein Herz für ihn gewartet und eins bekommen. Es ist schon unterwegs in die Klinik.«

»Das heißt, jetzt liegt jemand im Koma, oder? Auch ein Kind?«

»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht ist es auch das Herz eines Erwachsenen. Morgen erzähle ich es dir. Kümmer du dich für mich um Alma. Versprichst du mir das?« Er nimmt mein Kinn, gibt mir einen Kuss auf die Stirn und geht schnell mit dem Jackett über der Schulter davon.

Wenn du ein Herz suchst, hoffst du eigentlich darauf, dass einer stirbt und du dann leben kannst. Daran ist eigentlich nichts komisch. Ich könnte auch viel besser leben, wenn meine Stiefschwester Lola weg wäre. Und als Alma gekommen ist und ich sie langsam lieb gehabt habe, musste ich Mama ein bisschen sterben lassen. Ich hätte mein Herz ja nicht hier und dort verteilen können.

Ich hebe meinen Stock auf und trete ihn mit dem Fuß durch. Aber noch bevor ich ihn richtig kleingekriegt habe, fällt mir auf, dass die Sonne gleich im Meer untergeht. Während sie schnell, wirklich rasend schnell sinkt, denke ich, dass man nur in diesem kurzen Moment die Bewegung der Erde sehen kann. Deshalb schaue ich gerne zu, und wegen dem grünen Strahl. Alma sagt, das ist ein seltenes Naturphänomen, aber ich bin mir da nicht so sicher. Wir behaupten immer, dass wir ihn sehen, weil wir ihn gern sehen würden. Das kann ich gut: mir Geschichten ausdenken, sogar Erinnerungen. Sieht jedenfalls ganz so aus. Oder wie soll man sonst erklären, dass ich mich an Mamas Tod erinnere?

Groß zu werden ist, als stapfte man einen Hügel hoch mit einem riesigen Schild um den Hals, auf dem steht: VERGISS. Manchmal halte ich den Atem an, damit die Zeit stehenbleibt. Ich kann doch Schritte vor oder zurück machen, kann von eins bis hundert und dann von hundert runter bis eins zählen, dann begreife ich nicht, wieso die Zeit nicht auch rückwärts gehen kann bis dahin, als Mama noch gelebt hat.

4.

Unter dem Seitenfenster werden die Köpfe kleiner und kleiner. Ich weiß, ich werde sie nicht finden, aber ich halte dennoch Ausschau nach Almas roten Haaren. Es war nicht meine Absicht, mich mit ihr zu streiten. Mein Aufbruch war nicht geplant, er hat sich einfach ergeben. Von hier oben wirkt das alles unbedeutend: die Zankereien mit Alma, das eigenartige Benehmen von Tommy, mein Vater mit seinem Jähzorn, meine Geschwister und ihre Sorgen. Durch die Höhe wird – wie durch die Zeit – das hervorgehoben, was uns am angenehmsten ist. Ich muss an meinen Kampf mit Tommy denken. Nie zuvor habe ich erlebt, dass er so unerschrocken drauflosgeht, wie das eigentlich normal wäre für sein Alter. Endlich wächst er doch.

Ich werde den Gedanken nicht los, dass mich etwas Besonderes mit Cristóbal Waisbluth verbindet. Er und Tommy sind mit der gleichen Anomalie zur Welt gekommen, dem Hypoplastischen Linksherz-Syndrom, obwohl diese Fehlbildung so selten ist. Nur hat Cristóbals Herz auf die drei Norwood-Operationen nicht in der gleichen Weise angesprochen wie das meines Sohnes.

Cristóbals Mutter Emma erinnert mich an Soledad. Nicht äußerlich. Soledad war eine zierliche, fast kindliche Frau. Emma ist zwar nicht füllig, aber sie ist von großer Statur, eine Frau, die wie dafür geschaffen scheint, schlimme Zeiten durchzustehen. Beide haben ein Kind mit einer zu kleinen linken Herzkammer zur Welt gebracht, die nicht in der Lage war, den Körper ausreichend mit Blut zu versorgen. Ein Kind, das jeden Moment sterben kann.

Weder Soledad noch ich waren auf das vorbereitet, was wir durchzumachen hatten. Aber anders als Soledad hatte ich einen Fluchtweg. Als wir Tommys Krankheit feststellten, entschied ich mich für das Spezialgebiet Herzchirurgie. Ständig mussten Entscheidungen gefällt, Behandlungen durchgeführt, Informationen eingeholt werden. Ich denke, meine Geschäftigkeit und meine praktische Veranlagung bewahrten mich davor, in meinen Gefühlen zu versinken. Soledad hingegen durchlebte sie wirklich, und vielleicht entdeckte sie damals, wie vergeblich ihre Bewältigungsbemühungen waren. In Tommys ersten Lebensmonaten saß Soledad fast ausschließlich an seinem Krankenhausbettchen. Einmal rührte sie sich drei Tage und Nächte nicht von seiner Seite, selbst zum Duschen nicht. Schließlich kam ihre Mutter in die Klinik und bekniete sie, besser auf sich achtzugeben. »Willst du etwa auch sterben?«, schimpfte sie mit ihr. »Mein Sohn wird nicht sterben, Mama, merk dir das gut. Nicht, solange ich lebe.« Das wilde Blitzen in Soledads Augen erschreckte uns. Sie sah aus, als wäre sie fähig, jedem alles zu entreißen, wenn sie dadurch nur ihr Kind vor dem Tod bewahren konnte. Hätte ich damals doch nur geahnt, wie viel Schwärze sich hinter ihren Worten verbarg.

***

Der Eingriff ist in einer Stunde vorgesehen. Meine übliche Unruhe setzt ein. Ein Zustand der widerstreitenden Eindrücke, Selbstkontrolle trifft auf Ungewissheit. Ich muss der Tatsache ins Auge sehen, dass die Situation jeden Moment eine ungeahnte Wendung nehmen kann, einem Einfluss unterliegt, den gläubige Menschen göttliche Bestimmung nennen würden, Fatalisten Schicksal und andere Zufall.

Ich nähere mich der Hauptstadt. Die ersten Straßenlaternen zeichnen schnurgerade Linien und Kurven über die in Dunkelheit verschwindende Oberfläche des Bodens. Santiago, das bei Tageslicht einen eher chaotischen Eindruck macht, bekommt mit Einbruch der Nacht die Akkuratesse einer Bauzeichnung. Und irgendwo inmitten der rechten Winkel dieser Stadt ist vor noch nicht einmal zwei Stunden die junge Frau tödlich verunglückt, die ihr Herz gespendet hat.

5.

Juans Flugzeug steigt zwischen einige ausgefranste Wolken, wird zu einem Punkt im Raum und verschwindet dann. In der Mitte der Tanzfläche drehen sich Miguel und Julia von ihren Freunden umringt und beklatscht zu einem Walzer. Ein blasser junger Mann mit spitzem Gesicht geht zu den beiden hinüber und beginnt sie zu umkreisen. Er schnippt im Takt mit den Fingern, wirft die Lippen zu einem Kussmund auf. Mit verzweifelter Miene umschlingt er das Paar mit beiden Armen und lässt seinen Kopf an Julias Schulter sinken. Miguel stellt die Ellbogen nach außen und will sich befreien, aber offenbar drückt der Junge, die Fäuste geballt, nur noch fester zu. Zwischen den beiden Männern reckt Julia den Kopf nach Luft. Die blinde Wucht der klatschenden Hände ringsum hält an. Gellende Frauenstimmen rufen: »Der Kuss, der Kuss!« Plötzlich tritt ein Mann vor, packt den Jungen an beiden Armen und zieht ihn von dem Paar weg. Im ersten Augenblick denke ich, meine Phantasie geht mit mir durch. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich jemand Fremdes für Leo halte. Der Junge schreit auf und stößt im Fortgehen mit der erhobenen Faust in die Luft. Leo bleibt ihm auf den Fersen. Er bewegt sich noch genau wie früher: wiegt sich leicht in den Schultern mit dieser Geschmeidigkeit, einer eigentümlichen Mischung aus Nachdruck und Zögern. Er trägt einen lässigen, dunklen Dreiteiler. Jetzt stellt er sich neben dem Jungen an die Bar. Er redet und fasst sich dabei mit beiden Händen an den Kopf; sieht ganz so aus, als wollte das Gespräch nicht recht in Gang kommen. Auf die Entfernung wirkt er kaum verändert. Er ist noch immer schlank, das Haar kurz und gelockt. Was ich nicht erkennen kann, ist, ob er noch diesen leicht verächtlichen Zug um den Mund hat, dieses gebräunte und schroffe Gesicht, die ins Grau spielenden Augen und die schwarzen Schnecken, die sich auf dem Grund seiner Pupillen abzeichnen. Leo und der Junge verschwinden aus meinem Blickfeld. Ich schaue zum Strand. Ein silbriges Leuchten liegt über den nahen Klippen, als würden sie von innen angestrahlt.

Die Erinnerungen überschlagen sich in meinem Kopf. Alles, was geschehen ist, seit wir das letzte Mal zusammen waren. Das jähe Ende meiner Kindheit.

***

Bis ich sechzehn wurde, war die Welt für mich ein unbewohntes Haus voller Wasser. Es hatte zwei Stockwerke und stand melancholisch und mit geschlossenen Fensterläden inmitten einer Einöde. In einem seiner Zimmer wohnte, vor Licht und Blicken verborgen, ein Fisch. Dieser Fisch war ich.

Ich lebte zu der Zeit mit meiner Mutter in einer winzigen, heruntergekommenen Wohnung im Stadtzentrum. Papa war auf seiner ersten Exkursion im Süden, wo er einen Ort finden wollte, an dem wir leben konnten, und Maná – den Namen hatte meine Mutter von einem Guru bekommen – und ich schlugen uns mehr schlecht als recht durch. Unsere spärlichen Einkünfte bestanden aus dem, was Maná durch Meditationskurse für reiche Damen und ich am Wochenende als Packerin in einem Supermarkt verdiente. Was Maná nicht davon abhielt, jeden Abend mit neuen Freunden nach Hause zu kommen, mit denen sie dann bis tief in die Nacht Gitarre spielte, Musik hörte und Joints rauchte. Ich schloss meine Zimmertür, trat ein in mein Wasserhaus und schlief. Das fiel mir nicht schwer. Dort drinnen erreichten mich weder der Rauch noch Manás Liebhaber. Manchmal versank ich so sehr in seinen wassergefüllten Zimmern, dass mich jemand ansprechen konnte und ich die Worte nicht verstand.

In der Schule war es kaum anders. Ich sah, wie meine Schulkameradinnen sich im Spiegel betrachteten, in den Fensterscheiben der Klassenzimmer und Flure, wie ihre Röcke kürzer wurden, ihre Münder röter, ihre Blicke tiefer. Ich begriff mühelos, worauf sich ihr bedeutungsschweres Schauen bezog, hatte ich es doch tausendmal in den Augen meiner Mutter gesehen. Aber ich lebte in einem Haus voller Wasser, und meine Haut war nicht durchlässig für die neuen Aromen, die ihre Körper durchströmten.

Zu der Party nahm mich eine Klassenkameradin mit. Im Austausch hatte ich versprochen, zwei Wochen die Hausaufgaben für sie zu machen. Als wir hinkamen, war die Feier in vollem Gang, und ich hatte meine Begleiterin schnell aus den Augen verloren. Die Abmachung sah auch nicht vor, dass sie sich um mich kümmerte. Es war ein modernes Haus mit einer verglasten Veranda, die sich über die gesamte Längsseite erstreckte. In jedem Raum saßen Jugendliche in tiefen Sesseln, unterhielten sich leise und rauchten wie Erwachsene. Im Wohnzimmer wurde eng umschlungen getanzt. Ich entschied mich für das Zimmer mit der Bücherwand. Dort war eine lebhafte Unterhaltung im Gange, und niemand würde mich bemerken. Ich fand ein Buch über Schmetterlinge, setzte mich in eine Ecke und blätterte darin. Leo saß mit einem Glas Coca-Cola in der Hand in einem granatroten Samtsessel. Sein Gesicht hatte etwas Romantisches, der Blick nach innen gerichtet, ein bisschen spöttisch, und obwohl er nicht gerade groß war, fiel sofort auf, dass er älter war als die anderen. Um ihn herum wurde hitzig diskutiert, aber er schien nicht zuzuhören. Hin und wieder nickte er zustimmend. Bei einem dieser sanften Abstiege in die Wirklichkeit muss er mich bemerkt haben. Ich hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. Als unsere Blicke sich trafen, lächelte ich, weil mir schien, dass seine Distanz zur Welt meiner ähnlich war. Ich sehe es noch vor mir, wie er kurz zögert, sein Blick sich für den Bruchteil einer Sekunde weiter im Nichts verliert, und dann dieses überwältigende Lächeln. Er griff sich mit beiden Händen an die Kehle und tat, als drückte er zu, wobei er sein noch immer lächelndes Gesicht zu einer Fratze verzog. Ich lachte, und voller Unverständnis richteten sich die Blicke der Übrigen auf mich. Leo sprang von seinem Sessel auf.

»Magst du Schmetterlinge?« Und er zeigte auf das Buch in meinen Händen.

»Ja, irgendwie schon.«

»Ich kann sie nicht ausstehen.« Er lachte.

Dann wieder sein Lächeln, das den verschlossenen, sogar müden Ausdruck auf seinem Gesicht in einen lebendigen, energiegeladenen verwandelte. Dieses Gesicht schien einem erwachsenen Mann und zugleich einem Kind zu gehören. Das unvermittelte Changieren zwischen den beiden war verwirrend, aber auch anziehend, und ich konnte den Blick kaum von ihm lassen.

»Das hier finde ich zum Beispiel gut«, sagte er und zog ein Buch aus der Regalreihe über meinem Kopf. Es war Lady Chatterley.

»Davon ist meine Mutter völlig begeistert!«, rief ich in kindischem Überschwang. Und wandte danach, rot geworden, den Blick ab. »Ich eigentlich auch«, schob ich hinterher, ohne aufzusehen. Mir kamen ein paar Zeilen in den Sinn: »Unser Zeitalter ist seinem Wesen nach tragisch, also weigern wir uns, es tragisch zu nehmen.«

Er blätterte ernst und mit Sorgfalt die Seiten um.

»Du hast es ja wirklich gelesen«, sagte er und hob die Brauen. »Deshalb bist du mir aufgefallen.«

»Sieht man mir das so deutlich an?«

»Na ja, normalerweise hockt ein hübsches Mädchen wie du nicht mit einem öden Buch über Schmetterlinge in einer Ecke, wenn sie tanzen könnte, mit wem sie will.«

Ich lachte wieder.

»Wie heißt du?«

»Alma.«

»Ich glaube es nicht. Das ist ein Zeichen.«

Das war die Art von Reaktion, die mein Name für gewöhnlich hervorrief. Ich sah weg.

»Nicht böse sein, bitte, im Ernst«, sagte er. Er berührte mein Gesicht und brachte mich dazu, ihn wieder anzusehen. »Hörst du? Ich meine es ernst. Ich treffe nicht jeden Tag jemand, der Alma heißt und Lady Chatterley auswendig kann. Also bitte, sei mir nicht böse.«

Die Berührung seiner Finger brachte meine Wangen zum Glühen. Er ließ seine Hand hinabgleiten, umfasste meinen Arm, und sein Daumen streifte durch den Stoff der Bluse die Seite meiner Brust. Ich spürte einen festen Druck im Unterleib. Ich wollte mich bewegen. Ein Kribbeln rann mein Rückgrat hinab. Vor Beklemmung bekam ich kaum Luft.

»Du trinkst gar nichts, willst du was?« Wieder sein Lächeln.

Wir gingen in die Küche. Er holte ein Bier für mich und schenkte sich Coca-Cola nach. Ich bot ihm einen Schluck aus meiner Dose an.

»Ich darf keinen Alkohol trinken. Ich war in einer Entzugsklinik.«

Was er da sagte, beeindruckte mich, brachte seine Nöte ans Licht und machte uns einander ähnlich – draußen waren die anderen mit ihrem glücklichen Leben. Wir blieben kurz in der Küche, hörten dem Geplauder zu und wechselten vielsagende Blicke. Unser sarkasmusgetränktes Lächeln stellte ohne Worte klar, dass von allen Anwesenden nur wir allein die menschliche Dummheit zu ermessen vermochten.

Später gingen wir hinaus in den Garten und setzten uns ins Gras, abseits vom Trubel auf der Terrasse. Leo zündete sich eine Zigarette an. Kein Lüftchen wehte, und der Rauch stieg schnurgerade nach oben, bis er sich in der Dunkelheit verlor. Leo erzählte von der Klinik, von seinem Zimmer, in dem ein Bild von Bosch hing, von einem Freund, der sich totgetrunken hatte. Er erzählte mir von dem Loch, das er hinten im Klinikgarten gegraben hatte. Jeden Nachmittag hatte er ein bisschen tiefer gegraben, bis die Grube breit und tief genug war, dass er sich hineinsetzen konnte. Jeden Tag ging er hin, aber irgendwann fand er das Loch zugeschüttet.

»Warum hast du das gemacht?«

»Um einen Ort zu haben, der mir gehört«, sagte er todernst. Seiner Stimme war die Bedrücktheit anzumerken, der Durst, der ihn dort hingebracht hatte.

Mir kam das so naheliegend vor, dass ich es sogar bedauerte, gefragt zu haben. Er sah mich aus den Augenwinkeln an, mit einem Rest Scheu, und ich dachte, dass seine Worte nur ein kleines Aufflackern viel größerer Gefühle waren. Er zog an seiner Zigarette, ließ sie ins Gras fallen und trat sie aus. Danach bat er mich, ihm von mir zu erzählen. Ich sagte, mein Vater suche im Süden ein Stück Land, auf dem wir in Ruhe leben könnten.

»In Ruhe. Keine Ahnung, was er damit meint. Klingt wie lebendig begraben«, sagte ich leichthin, aber in meinem Ton schwang wohl doch meine Sorge über unser prekäres Familienleben mit.

Leo lachte. Man konnte sich einen Jungen mit einem solchen Lachen nur schwer betrunken vorstellen. Wir redeten weiter. Er mehr als ich. Unter dem Einfluss seiner Stimme wirkte alles einfacher, strahlender, selbst das, was gar nicht mit Händen zu greifen war, wie die Angst. Trotzdem fiel es mir nicht leicht, aus meinem Wasserhaus zu kommen. Nach und nach jedoch ließ ich mich mitreißen. Wir redeten immer lebhafter, tauschten Ansichten aus, stellten Fragen, hatten vielleicht entdeckt, dass Wörter unser einziges Instrument waren, um einander aus der Reserve zu locken.

»Ich muss gehen«, sagte er. »Dass ich vor eins zu Hause bin, ist Teil der Abmachung mit meinen Eltern.« Ein leichter Trotz war in seinem Gesicht zu lesen.

Er bot an, mich heimzubringen, aber ich sagte, das sei nicht nötig. Ich schämte mich wegen der Gegend, in der meine Mutter und ich wohnten. Wir umarmten uns zum Abschied.

Als ich mich vergewissert hatte, dass Leo fort war, brach ich auch auf. Ich ging stundenlang. Mein Orientierungssinn und mein Instinkt halfen mir, nach Hause zu finden. Ich fürchtete mich nicht, das Gefühl, das mich erfüllte, war mächtiger als Angst. Als ich ankam, schlief Maná bei offener Tür. Neben ihr schnarchte ein Mann. Ich schloss vorsichtig die Tür und betrat mein Wasserhaus.

6.

Alma kommt zu mir. In der einen Hand hält sie einen Teller mit zwei Stücken Kuchen und in der anderen eine Flasche Coca-Cola.

»Ich bin hungrig, du nicht? Das habe ich aus der Küche mitgehen lassen.«

Wir setzen uns einander gegenüber, stellen den Teller und die Flasche zwischen uns. Ein Pärchen tanzt ohne Schuhe über den Rasen. Auf der Tanzfläche führen meine Cousins die Polonaise an.

»Ich habe die Gabeln vergessen.« Alma zieht die Brauen hoch und hebt eine Hand vor den Mund. Wir grinsen beide, weil wir wissen, dass es nicht Vergesslichkeit war.

Wir schauen aufs Meer. Rote und gelbe Wolken steigen aus dem Wasser auf wie eine ganze Armee, die den Himmel erobern will. Wir essen mit den Händen. Alma leckt sich die Finger und ich ebenfalls.

»Papa ist wieder weg.«

»Er hat eine sehr wichtige Operation.«

Ich nicke, ohne aufzuschauen. Sie soll meine Augen nicht sehen, sonst würde sie merken, dass ich nicht froh bin. Alma sieht immer, was ist.

»Das ist sein Beruf, Tommy. Komm her.« Sie streckt einen Arm nach mir aus und zieht meinen Kopf hinunter auf ihren Schoß.

Ich lege mich mit dem Gesicht nach oben hin. Wir schweigen. Unser Schweigen ist eins, das den Raum füllt, anstatt ihn zu leeren. Die Armee zerfasert im Dunkelblau des Himmels. Die Schlacht ist verloren, die Nacht rückt vor. Eine strichdünne Mondsichel löst sich von den Wolken. Ich weiß, dass der Mond dort oben eine Kugel ist, wir ihn aber nicht ganz sehen können. Das ist mit fast allem so. Wir sehen nur einen Teil. Wenn Yerfa auf uns aufpasst und glaubt, dass keiner es sieht, nimmt sie einen Schluck aus einer kleinen Flasche, die in ihrer Schürzentasche steckt. Das haben Papa und Alma noch nie bemerkt.