Der Richter und sein Henker / Der Verdacht - Friedrich Dürrenmatt - E-Book

Der Richter und sein Henker / Der Verdacht E-Book

Friedrich Dürrenmatt

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Richter und sein Henker: Inspektor Bärlach ist todkrank, und es bleibt ihm nicht viel Zeit, den Verbrecher Gastmann zu überführen. Da bietet ihm ein Mord (den nicht Gastmann begangen hat) eine Möglichkeit... Der Verdacht: Inspektor Bärlach liegt im Krankenhaus und sieht in einer Illustrierten das Bild des berüchtigten KZ-Arztes Nehle. Bärlach hat den Verdacht, daß Nehle mit dem Vorsteher einer Zürcher Privatklinik identisch sei... "

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 296

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Friedrich Dürrenmatt

Der Richter und sein Henker | Der Verdacht

Die zwei Kriminalromane um Kommissär Bärlach

Diogenes

Der Richter und sein Henker

1950 [1948–51/1980/1986]

Erstes Kapitel

Alphons Clenin, der Polizist von Twann, fand am Morgen des dritten November neunzehnhundertachtundvierzig dort, wo die Straße von Lamboing (eines der Tessenbergdörfer) aus dem Walde der Twannbachschlucht hervortritt, einen blauen Mercedes, der am Straßenrande stand. Es herrschte Nebel, wie oft in diesem Spätherbst, und eigentlich war Clenin am Wagen schon vorbeigegangen, als er doch wieder zurückkehrte. Es war ihm nämlich beim Vorbeischreiten gewesen, nachdem er flüchtig durch die trüben Scheiben des Wagens geblickt hatte, als sei der Fahrer auf das Steuer niedergesunken. Er glaubte, daß der Mann betrunken sei, denn als ordentlicher Mensch kam er auf das Nächstliegende. Er wollte daher dem Fremden nicht amtlich, sondern menschlich begegnen. Er trat mit der Absicht ans Automobil, den Schlafenden zu wecken, ihn nach Twann zu fahren und im Hotel ›Bären‹ bei schwarzem Kaffee und einer Mehlsuppe nüchtern werden zu lassen; denn es war zwar verboten, betrunken zu fahren, aber nicht verboten, betrunken in einem Wagen, der am Straßenrande stand, zu schlafen. Clenin öffnete die Wagentüre und legte dem Fremden die Hand väterlich auf die Schultern. Er bemerkte jedoch im gleichen Augenblick, daß der Mann tot war. Die Schläfen waren durchschossen. Auch sah Clenin jetzt, daß die rechte Wagentüre offen stand. Im Wagen war nicht viel Blut, und der dunkelgraue Mantel, den die Leiche trug, schien nicht einmal beschmutzt. Aus der Manteltasche glänzte der Rand einer gelben Brieftasche. Clenin, der sie hervorzog, konnte ohne Mühe feststellen, daß es sich beim Toten um Ulrich Schmied handelte, Polizeileutnant der Stadt Bern.

Clenin wußte nicht recht, was er tun sollte. Als Dorfpolizist war ihm ein so blutiger Fall noch nie vorgekommen. Er lief am Straßenrande hin und her. Als die aufgehende Sonne durch den Nebel brach und den Toten beschien, war ihm das unangenehm. Er kehrte zum Wagen zurück, hob den grauen Filzhut auf, der zu Füßen der Leiche lag, und drückte ihr den Hut über den Kopf, so tief, daß er die Wunde an den Schläfen nicht mehr sehen konnte, dann war ihm wohler.

Der Polizist ging wieder zum andern Straßenrand, der gegen Twann lag, und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Dann faßte er einen Entschluß. Er schob den Toten auf den zweiten Vordersitz, setzte ihn sorgfältig aufrecht, befestigte den leblosen Körper mit einem Lederriemen, den er im Wageninnern gefunden hatte, und rückte selbst ans Steuer.

Der Motor lief nicht mehr, doch brachte Clenin den Wagen ohne Mühe die steile Straße nach Twann hinunter vor den ›Bären‹. Dort ließ er tanken, ohne daß jemand in der vornehmen und unbeweglichen Gestalt einen Toten erkannt hätte. Das war Clenin, der Skandale haßte, nur recht, und so schwieg er.

Wie er jedoch den See entlang gegen Biel fuhr, verdichtete sich der Nebel wieder, und von der Sonne war nichts mehr zu sehen. Der Morgen wurde finster wie der Letzte Tag. Clenin geriet mitten in eine lange Automobilkette, ein Wagen hinter dem andern, die aus einem unerklärlichen Grunde noch langsamer fuhr, als es in diesem Nebel nötig gewesen wäre, fast ein Leichenzug, wie Clenin unwillkürlich dachte. Der Tote saß bewegungslos neben ihm und nur manchmal, bei einer Unebenheit der Straße etwa, nickte er mit dem Kopf wie ein alter, weiser Chinese, so daß Clenin es immer weniger zu versuchen wagte, die andern Wagen zu überholen. Sie erreichten Biel mit großer Verspätung.

Während man die Untersuchung der Hauptsache nach von Biel aus einleitete, wurde in Bern der traurige Fund Kommissär Bärlach übergeben, der auch Vorgesetzter des Toten gewesen war.

Bärlach hatte lange im Auslande gelebt und sich in Konstantinopel und dann in Deutschland als bekannter Kriminalist hervorgetan. Zuletzt war er der Kriminalpolizei Frankfurt am Main vorgestanden, doch kehrte er schon dreiunddreißig in seine Vaterstadt zurück. Der Grund seiner Heimreise war nicht so sehr seine Liebe zu Bern, das er oft sein goldenes Grab nannte, sondern eine Ohrfeige gewesen, die er einem hohen Beamten der damaligen neuen deutschen Regierung gegeben hatte. In Frankfurt wurde damals über diese Gewalttätigkeit viel gesprochen, und in Bern bewertete man sie, je nach dem Stand der europäischen Politik, zuerst als empörend, dann als verurteilenswert, aber doch noch begreiflich, und endlich sogar als die einzige für einen Schweizer mögliche Haltung; dies aber erst fünfundvierzig.

Das erste, was Bärlach im Fall Schmied tat, war, daß er anordnete, die Angelegenheit die ersten Tage geheim zu behandeln – eine Anordnung, die er nur mit dem Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit durchzubringen vermochte. »Man weiß zu wenig und die Zeitungen sind sowieso das Überflüssigste, was in den letzten zweitausend Jahren erfunden worden ist«, meinte er.

Bärlach schien sich von diesem geheimen Vorgehen offenbar viel zu versprechen, im Gegensatz zu seinem »Chef«, Dr. Lucius Lutz, der auch auf der Universität über Kriminalistik las. Dieser Beamte, in dessen stadtbernisches Geschlecht ein Basler Erbonkel wohltuend eingegriffen hatte, war eben von einem Besuch der New Yorker und Chicagoer Polizei nach Bern zurückgekehrt und erschüttert »über den vorweltlichen Stand der Verbrecherabwehr der schweizerischen Bundeshauptstadt«, wie er zu Polizeidirektor Freiberger anläßlich einer gemeinsamen Heimfahrt im Tram offen sagte.

 

Noch am gleichen Morgen ging Bärlach – nachdem er noch einmal mit Biel telephoniert hatte – zu der Familie Schönler an der Bantigerstraße, wo Schmied gewohnt hatte. Bärlach schritt zu Fuß die Altstadt hinunter und über die Nydeggbrücke, wie er es immer gewohnt war, denn Bern war seiner Ansicht nach eine viel zu kleine Stadt für »Trams und dergleichen«.

Die Haspeltreppen stieg er etwas mühsam hinauf, denn er war über sechzig und spürte das in solchen Momenten; doch befand er sich bald vor dem Hause Schönler und läutete.

Es war Frau Schönler selbst, die öffnete, eine kleine, dicke, nicht unvornehme Dame, die Bärlach sofort einließ, da sie ihn kannte.

»Schmied mußte diese Nacht dienstlich verreisen«, sagte Bärlach, »ganz plötzlich mußte er gehen, und er hat mich gebeten, ihm etwas nachzuschicken. Ich bitte Sie, mich in sein Zimmer zu führen, Frau Schönler.«

Die Dame nickte, und sie gingen durch den Korridor an einem großen Bilde in schwerem Goldrahmen vorbei. Bärlach schaute hin, es war die ›Toteninsel‹.

»Wo ist Herr Schmied denn?« fragte die dicke Frau, indem sie das Zimmer öffnete.

»Im Ausland«, sagte Bärlach und schaute nach der Decke hinauf.

Das Zimmer lag zu ebener Erde, und durch die Gartentüre sah man in einen kleinen Park, in welchem alte, braune Tannen standen, die krank sein mußten, denn der Boden war dicht mit Nadeln bedeckt. Es mußte das schönste Zimmer des Hauses sein. Bärlach ging zum Schreibtisch und schaute sich aufs neue um. Auf dem Diwan lag eine Krawatte des Toten.

»Herr Schmied ist sicher in den Tropen, nicht wahr, Herr Bärlach«, fragte ihn Frau Schönler neugierig. Bärlach war etwas erschrocken: »Nein, er ist nicht in den Tropen, er ist mehr in der Höhe.«

Frau Schönler machte runde Augen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Mein Gott, im Himalaya?«

»So ungefähr«, sagte Bärlach, »Sie haben es beinahe erraten.« Er öffnete eine Mappe, die auf dem Schreibtisch lag, und die er sogleich unter den Arm klemmte.

»Sie haben gefunden, was Sie Herrn Schmied nachschicken müssen?«

»Das habe ich.«

Er schaute sich noch einmal um, vermied es aber, ein zweites Mal nach der Krawatte zu blicken.

»Er ist der beste Untermieter, den wir je gehabt haben, und nie gab’s Geschichten mit Damen oder so«, versicherte Frau Schönler.

Bärlach ging zur Türe: »Hin und wieder werde ich einen Beamten schicken oder selber kommen. Schmied hat noch wichtige Dokumente hier, die wir vielleicht brauchen.«

»Werde ich von Herrn Schmied eine Postkarte aus dem Ausland erhalten?« wollte Frau Schönler noch wissen. »Mein Sohn sammelt Briefmarken.«

Aber Bärlach runzelte die Stirne und bedauerte, indem er Frau Schönler nachdenklich ansah: »Wohl kaum, denn von solchen dienstlichen Reisen schickt man gewöhnlich keine Postkarten. Das ist verboten.«

Da schlug Frau Schönler aufs neue die Hände über dem Kopf zusammen und meinte verzweifelt: »Was die Polizei nicht alles verbietet!«

Bärlach ging und war froh, aus dem Hause hinaus zu sein.

Zweites Kapitel

Tief in Gedanken versunken, aß er gegen seine Gewohnheit nicht in der ›Schmiedstube‹, sondern im ›Du Théâtre‹ zu Mittag, aufmerksam in der Mappe blätternd und lesend, die er von Schmieds Zimmer geholt hatte, und kehrte dann nach einem kurzen Spaziergang über die Bundesterrasse gegen zwei Uhr auf sein Bureau zurück, wo ihn die Nachricht erwartete, daß der tote Schmied nun von Biel angekommen sei. Er verzichtete jedoch darauf, seinem ehemaligen Untergebenen einen Besuch abzustatten, denn er liebte Tote nicht und ließ sie daher meistens in Ruhe. Den Besuch bei Lutz hätte er auch gern unterlassen, doch mußte er sich fügen. Er verschloß Schmieds Mappe sorgfältig in seinem Schreibtisch, ohne sie noch einmal durchzublättern, zündete sich eine Zigarre an und ging in Lutzens Bureau, wohl wissend, daß sich der jedesmal über die Freiheit ärgerte, die sich der Alte mit seinem Zigarrenrauchen herausnahm. Nur einmal vor Jahren hatte Lutz eine Bemerkung gewagt; aber mit einer verächtlichen Handbewegung hatte Bärlach geantwortet, er sei unter anderem zehn Jahre in türkischen Diensten gestanden und habe immer in den Zimmern seiner Vorgesetzten in Konstantinopel geraucht, eine Bemerkung, die um so gewichtiger war, als sie nie nachgeprüft werden konnte.

Dr. Lucius Lutz empfing Bärlach nervös, da seiner Meinung nach noch nichts unternommen worden war, und wies ihm einen bequemen Sessel in der Nähe seines Schreibtisches an.

»Noch nichts aus Biel?« fragte Bärlach.

»Noch nichts«, antwortete Lutz.

»Merkwürdig«, sagte Bärlach, »dabei arbeiten die doch wie wild.«

Bärlach setzte sich und sah flüchtig nach den Traffelet-Bildern, die an den Wänden hingen, farbige Federzeichnungen, auf denen bald mit und bald ohne General unter einer großen flatternden Fahne Soldaten entweder von links nach rechts oder von rechts nach links marschierten.

»Es ist«, begann Lutz, »wieder einmal mit einer immer neuen, steigenden Angst zu sehen, wie sehr die Kriminalistik in diesem Lande noch in den Kinderschuhen steckt. Ich bin, weiß Gott, an vieles im Kanton gewöhnt, aber das Verfahren, wie man es hier einem toten Polizeileutnant gegenüber offenbar für natürlich ansieht, wirft ein so schreckliches Licht auf die berufliche Fähigkeit unserer Dorfpolizei, daß ich noch jetzt erschüttert bin.«

»Beruhigen Sie sich, Doktor Lutz«, antwortete Bärlach, »unsere Dorfpolizei ist ihrer Aufgabe sicher ebenso sehr gewachsen wie die Polizei von Chicago, und wir werden schon noch herausfinden, wer den Schmied getötet hat.«

»Haben Sie irgendwen im Verdacht, Kommissär Bärlach?«

Bärlach sah Lutz lange an und sagte endlich: »Ja, ich habe irgendwen im Verdacht, Doktor Lutz.«

»Wen denn?«

»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen.«

»Nun, das ist ja interessant«, sagte Lutz, »ich weiß, daß Sie immer bereit sind, Kommissär Bärlach, einen Fehlgriff gegen die großen Erkenntnisse der modernen wissenschaftlichen Kriminalistik zu beschönigen. Vergessen Sie jedoch nicht, daß die Zeit fortschreitet und auch vor dem berühmtesten Kriminalisten nicht haltmacht. Ich habe in New York und Chicago Verbrechen gesehen, von denen Sie in unserem lieben Bern doch wohl nicht die richtige Vorstellung haben. Nun ist aber ein Polizeileutnant ermordet worden, das sichere Anzeichen, daß es auch hier im Gebäude der öffentlichen Sicherheit zu krachen beginnt, und da heißt es rücksichtslos eingreifen.«

Gewiß, das tue er ja auch, antwortete Bärlach.

Dann sei es ja gut, entgegnete Lutz und hustete.

An der Wand tickte eine Uhr.

Bärlach legte seine linke Hand sorgfältig auf den Magen und drückte mit der rechten die Zigarre im Aschenbecher aus, den ihm Lutz hingestellt hatte. Er sei, sagte er, seit längerer Zeit nicht mehr so ganz gesund, der Arzt wenigstens mache ein langes Gesicht. Er leide oft an Magenbeschwerden, und er bitte deshalb Doktor Lutz, ihm einen Stellvertreter in der Mordsache Schmied beizugeben, der das Hauptsächliche ausführen könnte, Bärlach wolle dann den Fall mehr vom Schreibtisch aus behandeln. Lutz war einverstanden. »Wen denken Sie sich als Stellvertreter?« fragte er.

»Tschanz«, sagte Bärlach. »Er ist zwar noch in den Ferien im Berner Oberland, aber man kann ihn ja heimholen.«

Lutz entgegnete: »Ich bin mit ihm einverstanden. Tschanz ist ein Mann, der immer bemüht ist, kriminalistisch auf der Höhe zu bleiben.«

Dann wandte er Bärlach den Rücken zu und schaute zum Fenster auf den Waisenhausplatz hinaus, der voller Kinder war.

Plötzlich überkam ihn eine unbändige Lust, mit Bärlach über den Wert der modernen wissenschaftlichen Kriminalistik zu disputieren. Er wandte sich um, aber Bärlach war schon gegangen.

 

Wenn es auch schon gegen fünf ging, beschloß Bärlach doch noch an diesem Nachmittag nach Twann zum Tatort zu fahren. Er nahm Blatter mit, einen großen aufgeschwemmten Polizisten, der nie ein Wort sprach, den Bärlach deshalb liebte, und der auch den Wagen führte. In Twann wurden sie von Clenin empfangen, der ein trotziges Gesicht machte, da er einen Tadel erwartete. Der Kommissär war jedoch freundlich, schüttelte Clenin die Hand und sagte, daß es ihn freue, einen Mann kennenzulernen, der selber denken könne. Clenin war über dieses Wort stolz, obgleich er nicht recht wußte, wie es vom Alten gemeint war. Er führte Bärlach die Straße gegen den Tessenberg hinauf zum Tatort. Blatter trottete nach und war mürrisch, weil man zu Fuß ging.

Bärlach verwunderte sich über den Namen Lamboing. »Lamlingen heißt das auf deutsch«, klärte ihn Clenin auf.

»So, so«, meinte Bärlach, »das ist schöner.«

Sie kamen zum Tatort. Die Straßenseite zu ihrer Rechten lag gegen Twann und war mit einer Mauer eingefaßt.

»Wo war der Wagen, Clenin?«

»Hier«, antwortete der Polizist und zeigte auf die Straße, »fast in der Straßenmitte«, und, da Bärlach kaum hinschaute: »Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte den Wagen mit dem Toten noch hier stehenlassen.«

»Wieso?« sagte Bärlach und schaute die Jurafelsen empor. »Tote schafft man so schnell als möglich fort, die haben nichts mehr unter uns zu suchen. Sie haben schon recht getan, den Schmied nach Biel zu führen.«

Bärlach trat an den Straßenrand und sah nach Twann hinunter. Nur Weinberge lagen zwischen ihm und der alten Ansiedlung. Die Sonne war schon untergegangen. Die Straße krümmte sich wie eine Schlange zwischen den Häusern, und am Bahnhof stand ein langer Güterzug.

»Hat man denn nichts gehört da unten, Clenin?« fragte er. »Das Städtchen ist doch ganz nah, da müßte man jeden Schuß hören.«

»Man hat nichts gehört als den Motor die Nacht durch laufen, aber man hat nichts Schlimmes dabei gedacht.«

»Natürlich, wie sollte man auch.« Er sah wieder auf die Rebberge. »Wie ist der Wein dieses Jahr, Clenin?«

»Gut. Wir können ihn ja dann versuchen.«

»Das ist wahr, ein Glas Neuen möchte ich jetzt gerne trinken.«

Und er stieß mit seinem rechten Fuß auf etwas Hartes. Er bückte sich und hielt ein vorne breitgedrücktes, längliches, kleines Metallstück zwischen den hageren Fingern. Clenin und Blatter sahen neugierig hin.

»Eine Revolverkugel«, sagte Blatter.

»Wie Sie das wieder gemacht haben, Herr Kommissär!« staunte Clenin.

»Das ist nur Zufall«, sagte Bärlach, und sie gingen nach Twann hinunter.

Drittes Kapitel

Der neue Twanner schien Bärlach nicht gutgetan zu haben, denn er erklärte am nächsten Morgen, er habe die ganze Nacht erbrechen müssen. Lutz, der dem Kommissär auf der Treppe begegnete, war über dessen Befinden ehrlich besorgt und riet ihm, zum Arzt zu gehen.

»Schon, schon«, brummte Bärlach und meinte, er liebe die Ärzte noch weniger als die moderne wissenschaftliche Kriminalistik.

In seinem Bureau ging es ihm besser. Er setzte sich hinter den Schreibtisch und holte die eingeschlossene Mappe des Toten hervor.

Bärlach war noch immer in die Mappe vertieft, als sich um zehn Uhr Tschanz bei ihm meldete, der schon am Vortage spät nachts aus seinen Ferien heimgekehrt war.

Bärlach fuhr zusammen, denn im ersten Moment glaubte er, der tote Schmied komme zu ihm. Tschanz trug den gleichen Mantel wie Schmied und einen ähnlichen Filzhut. Nur das Gesicht war anders; es war ein gutmütiges, volles Antlitz.

»Es ist gut, daß Sie da sind, Tschanz«, sagte Bärlach. »Wir müssen den Fall Schmied besprechen. Sie sollen ihn der Hauptsache nach übernehmen, ich bin nicht so gesund.«

»Ja«, sagte Tschanz, »ich weiß Bescheid.«

Tschanz setzte sich, nachdem er den Stuhl an Bärlachs Schreibtisch gerückt hatte, auf den er nun den linken Arm legte. Auf dem Schreibtisch war die Mappe Schmieds aufgeschlagen.

Bärlach lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Ihnen kann ich es ja sagen«, begann er, »ich habe zwischen Konstantinopel und Bern Tausende von Polizeimännern gesehen, gute und schlechte. Viele waren nicht besser als das arme Gesindel, mit dem wir die Gefängnisse aller Art bevölkern, nur daß sie zufällig auf der andern Seite des Gesetzes standen. Aber auf den Schmied lasse ich nichts kommen, der war der begabteste. Der war berechtigt, uns alle einzustecken. Er war ein klarer Kopf, der wußte, was er wollte, und verschwieg, was er wußte, um nur dann zu reden, wenn es nötig war. An dem müssen wir uns ein Beispiel nehmen, Tschanz, der war uns über.«

Tschanz wandte seinen Kopf langsam Bärlach zu, denn er hatte zum Fenster hinausgesehen, und sagte: »Das ist möglich.«

Bärlach sah es ihm an, daß er nicht überzeugt war.

»Wir wissen nicht viel über seinen Tod«, fuhr der Kommissär fort, »diese Kugel, das ist alles«, und damit legte er die Kugel auf den Tisch, die er in Twann gefunden hatte. Tschanz nahm sie und schaute sie an.

»Die kommt aus einem Armeerevolver«, sagte er und gab die Kugel wieder zurück.

Bärlach klappte die Mappe auf seinem Schreibtisch zu: »Vor allem wissen wir nicht, was Schmied in Twann oder Lamlingen zu suchen hatte. Dienstlich war er nicht am Bielersee, ich hätte von dieser Reise gewußt. Es fehlt uns jedes Motiv, das seine Reise dorthin auch nur ein wenig wahrscheinlich machen würde.«

Tschanz hörte auf das, was Bärlach sagte, nur halb hin, legte ein Bein über das andere und bemerkte: »Wir wissen nur, wie Schmied ermordet wurde.«

»Wie wollen Sie das nun wieder wissen?« fragte der Kommissär nicht ohne Überraschung nach einer Pause.

»Schmieds Wagen hat das Steuer links, und Sie haben die Kugel am linken Straßenrand gefunden, vom Wagen aus gesehen; dann hat man in Twann den Motor die Nacht durch laufen gehört. Schmied wurde vom Mörder angehalten, wie er von Lamboing nach Twann hinunterfuhr. Wahrscheinlich kannte er den Mörder, weil er sonst nicht gestoppt hätte. Schmied öffnete die rechte Wagentüre, um den Mörder aufzunehmen, und setzte sich wieder ans Steuer. In diesem Augenblick wurde er erschossen. Schmied muß keine Ahnung von der Absicht des Mannes gehabt haben, der ihn getötet hat.«

Bärlach überlegte sich das noch einmal und sagte dann: »Jetzt will ich mir doch eine Zigarre anzünden«, und darauf, wie er sie in Brand gesteckt hatte: »Sie haben recht, Tschanz, so ähnlich muß es zugegangen sein zwischen Schmied und seinem Mörder, ich will Ihnen das glauben. Aber das erklärt immer noch nicht, was Schmied auf der Straße von Twann nach Lamlingen zu suchen hatte.«

Tschanz gab zu bedenken, daß Schmied unter seinem Mantel einen Gesellschaftsanzug getragen habe.

»Das wußte ich ja gar nicht«, sagte Bärlach.

»Ja, haben Sie denn den Toten nicht gesehen?«

»Nein, ich liebe Tote nicht.«

»Aber es stand doch auch im Protokoll.«

»Ich liebe Protokolle noch weniger.«

Tschanz schwieg.

Bärlach jedoch konstatierte: »Das macht den Fall nur noch komplizierter. Was wollte Schmied mit einem Gesellschaftsanzug in der Twannbachschlucht?«

Das mache den Fall vielleicht einfacher, antwortete Tschanz; es wohnten in der Gegend von Lamboing sicher nicht viele Leute, die in der Lage seien, Gesellschaften zu geben, an denen man einen Frack trage.

Er zog einen kleinen Taschenkalender hervor und erklärte, daß dies Schmieds Kalender sei.

»Ich kenne ihn«, nickte Bärlach, »es steht nichts drin, was wichtig ist.«

Tschanz widersprach: »Schmied hat sich für Mittwoch den zweiten November ein G notiert. An diesem Tage ist er kurz vor Mitternacht ermordet worden, wie der Gerichtsmediziner meint. Ein weiteres G steht am Mittwoch, dem sechsundzwanzigsten, und wieder am Dienstag dem achtzehnten Oktober.«

»G kann alles Mögliche heißen«, sagte Bärlach, »ein Frauenname oder sonst was.«

»Ein Frauenname kann es kaum sein«, erwiderte Tschanz, »Schmieds Freundin heißt Anna, und Schmied war solid.«

»Von der weiß ich auch nichts«, gab der Kommissär zu; und wie er sah, daß Tschanz über seine Unkenntnis erstaunt war, sagte er: »Mich interessiert eben nur, wer Schmieds Mörder ist, Tschanz.«

Der sagte höflich: »Natürlich«, schüttelte den Kopf und lachte: »Was Sie doch für ein Mensch sind, Kommissär Bärlach.«

Bärlach sprach ganz ernsthaft: »Ich bin ein großer alter schwarzer Kater, der gern Mäuse frißt.«

Tschanz wußte nicht recht, was er darauf erwidern sollte, und erklärte endlich: »An den Tagen, die mit G bezeichnet sind, hat Schmied jedesmal den Frack angezogen und ist mit seinem Mercedes davongefahren.«

»Woher wissen Sie das wieder?«

»Von Frau Schönler.«

»So so«, antwortete Bärlach und schwieg. Aber dann meinte er: »Ja, das sind Tatsachen.«

Tschanz schaute dem Kommissär aufmerksam ins Gesicht, zündete sich eine Zigarette an und sagte zögernd: »Herr Doktor Lutz sagte mir, Sie hätten einen bestimmten Verdacht.«

»Ja, den habe ich, Tschanz.«

»Da ich nun Ihr Stellvertreter in der Mordsache Schmied geworden bin, wäre es nicht vielleicht besser, wenn Sie mir sagen würden, gegen wen sich Ihr Verdacht richtet, Kommissär Bärlach?«

»Sehen Sie«, antwortete Bärlach langsam, ebenso sorgfältig jedes Wort überlegend wie Tschanz, »mein Verdacht ist nicht ein kriminalistisch wissenschaftlicher Verdacht. Ich habe keine Gründe, die ihn rechtfertigen. Sie haben gesehen, wie wenig ich weiß. Ich habe eigentlich nur eine Idee, wer als Mörder in Betracht kommen könnte; aber der, den es angeht, muß die Beweise, daß er es gewesen ist, noch liefern.«

»Wie meinen Sie das, Kommissär?« fragte Tschanz.

Bärlach lächelte: »Nun, ich muß warten, bis die Indizien zum Vorschein gekommen sind, die seine Verhaftung rechtfertigen.«

»Wenn ich mit Ihnen zusammenarbeiten soll, muß ich wissen, gegen wen sich meine Untersuchung richten muß«, erklärte Tschanz höflich.

»Vor allem müssen wir objektiv bleiben. Das gilt für mich, der ich einen Verdacht habe, und für Sie, der den Fall zur Hauptsache untersuchen wird. Ob sich mein Verdacht bestätigt, weiß ich nicht. Ich warte Ihre Untersuchung ab. Sie haben Schmieds Mörder festzustellen, ohne Rücksicht darauf, daß ich einen bestimmten Verdacht habe. Wenn der, den ich verdächtige, der Mörder ist, werden Sie selbst auf ihn stoßen, freilich im Gegensatz zu mir auf eine einwandfreie, wissenschaftliche Weise; wenn er es nicht ist, werden Sie den Richtigen gefunden haben, und es wird nicht nötig gewesen sein, den Namen des Menschen zu wissen, den ich falsch verdächtigt habe.«

Sie schwiegen eine Weile, dann fragte der Alte: »Sind Sie mit unserer Arbeitsweise einverstanden?«

Tschanz zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete: »Gut, ich bin einverstanden.«

»Was wollen Sie nun tun, Tschanz?«

Der Gefragte trat zum Fenster: »Für heute hat sich Schmied ein G angezeichnet. Ich will nach Lamboing fahren und sehen, was ich herausfinde. Ich fahre um sieben, zur selben Zeit wie das Schmied auch immer getan hat, wenn er nach dem Tessenberg gefahren ist.«

Er kehrte sich wieder um und fragte höflich, aber wie zum Scherz: »Fahren Sie mit, Kommissär?«

»Ja, Tschanz, ich fahre mit«, antwortete der unerwartet.

»Gut«, sagte Tschanz etwas verwirrt, denn er hatte nicht damit gerechnet, »um sieben.«

In der Türe kehrte er sich noch einmal um: »Sie waren doch auch bei Frau Schönler, Kommissär Bärlach. Haben Sie denn dort nichts gefunden?« Der Alte antwortete nicht sogleich, sondern verschloß erst die Mappe im Schreibtisch und nahm dann den Schlüssel an sich.

»Nein, Tschanz«, sagte er endlich, »ich habe nichts gefunden. Sie können nun gehen.«

Viertes Kapitel

Um sieben Uhr fuhr Tschanz zu Bärlach in den Altenberg, wo der Kommissär seit dreiunddreißig in einem Hause an der Aare wohnte. Es regnete, und der schnelle Polizeiwagen kam in der Kurve bei der Nydeggbrücke ins Gleiten. Tschanz fing ihn jedoch gleich wieder auf. In der Altenbergstraße fuhr er langsam, denn er war noch nie bei Bärlach gewesen, und spähte durch die nassen Scheiben nach dessen Hausnummer, die er mühsam erriet. Doch regte sich auf sein wiederholtes Hupen niemand im Haus. Tschanz verließ den Wagen und eilte durch den Regen zur Haustüre. Er drückte nach kurzem Zögern die Falle nieder, da er in der Dunkelheit keine Klingel finden konnte. Die Türe war unverschlossen, und Tschanz trat in einen Vorraum. Er sah sich einer halboffenen Türe gegenüber, durch die ein Lichtstrahl fiel. Er schritt auf die Türe zu und klopfte, erhielt jedoch keine Antwort, worauf er sie ganz öffnete. Er blickte in eine Halle. An den Wänden standen Bücher, und auf dem Diwan lag Bärlach. Der Kommissär schlief, doch schien er schon zur Fahrt an den Bielersee bereit zu sein, denn er war im Wintermantel. In der Hand hielt er ein Buch. Tschanz hörte seine ruhigen Atemzüge und war verlegen. Der Schlaf des Alten und die vielen Bücher kamen ihm unheimlich vor. Er sah sich sorgfältig um. Der Raum besaß keine Fenster, doch in jeder Wand eine Türe, die zu weiteren Zimmern führen mußte. In der Mitte stand ein großer Schreibtisch. Tschanz erschrak, als er ihn erblickte, denn auf ihm lag eine große, eherne Schlange.

»Die habe ich aus Konstantinopel mitgebracht«, kam nun eine ruhige Stimme vom Diwan her, und Bärlach erhob sich.

»Sie sehen, Tschanz, ich bin schon im Mantel. Wir können gehen.«

»Entschuldigen Sie mich«, sagte der Angeredete immer noch überrascht, »Sie schliefen und haben mein Kommen nicht gehört. Ich habe keine Klingel an der Haustüre gefunden.«

»Ich habe keine Klingel. Ich brauche sie nicht; die Haustüre ist nie geschlossen.«

»Auch wenn Sie fort sind?«

»Auch wenn ich fort bin. Es ist immer spannend, heimzukehren und zu sehen, ob einem etwas gestohlen worden ist oder nicht.«

Tschanz lachte und nahm die Schlange aus Konstantinopel in die Hand.

»Mit der bin ich einmal fast getötet worden«, bemerkte der Kommissär etwas spöttisch, und Tschanz erkannte erst jetzt, daß der Kopf des Tieres als Griff zu benutzen war und dessen Leib die Schärfe einer Klinge besaß. Verdutzt betrachtete er die seltsamen Ornamente, die auf der schrecklichen Waffe funkelten. Bärlach stand neben ihm.

»Seid klug wie die Schlangen«, sagte er und musterte Tschanz lange und nachdenklich. Dann lächelte er: »Und sanft wie die Tauben«, und tippte Tschanz leicht auf die Schultern. »Ich habe geschlafen. Seit Tagen das erste Mal. Der verfluchte Magen.«

»Ist es denn so schlimm«, fragte Tschanz.

»Ja, es ist so schlimm«, entgegnete der Kommissär kaltblütig.

»Sie sollten zu Hause bleiben, Herr Bärlach, es ist kaltes Wetter und es regnet.«

Bärlach schaute Tschanz aufs neue an und lachte: »Unsinn, es gilt einen Mörder zu finden. Das könnte Ihnen gerade so passen, daß ich zu Hause bleibe.«

 

Wie sie nun im Wagen saßen und über die Nydeggbrücke fuhren, sagte Bärlach: »Warum fahren Sie nicht über den Aargauerstalden nach Zollikofen, Tschanz, das ist doch näher als durch die Stadt?«

»Weil ich nicht über Zollikofen-Biel nach Twann will, sondern über Kerzers-Erlach.«

»Das ist eine ungewöhnliche Route, Tschanz.«

»Eine gar nicht so ungewöhnliche, Kommissär.«

Sie schwiegen wieder. Die Lichter der Stadt glitten an ihnen vorbei. Aber wie sie nach Bethlehem kamen, fragte Tschanz:

»Sind Sie schon einmal mit Schmied gefahren?«

»Ja, öfters. Er war ein vorsichtiger Fahrer.« Und Bärlach blickte nachdenklich auf den Geschwindigkeitsmesser, der fast Hundertzehn zeigte.

Tschanz mäßigte die Geschwindigkeit ein wenig. »Ich bin einmal mit Schmied gefahren, langsam wie der Teufel, und ich erinnere mich, daß er seinem Wagen einen sonderbaren Namen gegeben hatte. Er nannte ihn, als er tanken mußte. Können Sie sich an diesen Namen erinnern? Er ist mir entfallen.«

»Er nannte seinen Wagen den ›blauen Charon‹«, antwortete Bärlach.

»Charon ist ein Name aus der griechischen Sage, nicht wahr?«

»Charon fuhr die Toten in die Unterwelt hinüber, Tschanz.«

»Schmied hatte reiche Eltern und durfte das Gymnasium besuchen. Das konnte sich unsereiner nicht leisten. Da wußte er eben, wer Charon war, und wir wissen es nicht.«

Bärlach steckte die Hände in die Manteltaschen und blickte von neuem auf den Geschwindigkeitsmesser. »Ja, Tschanz«, sagte er, »Schmied war gebildet, konnte Griechisch und Lateinisch und hatte eine große Zukunft vor sich als Studierter, aber trotzdem würde ich nicht mehr als Hundert fahren.«

Kurz nach Gümmenen, bei einer Tankstelle, hielt der Wagen jäh an. Ein Mann trat zu ihnen und wollte sie bedienen.

»Polizei«, sagte Tschanz. »Wir müssen eine Auskunft haben.«

Sie sahen undeutlich ein neugieriges und etwas erschrockenes Gesicht, das sich in den Wagen beugte.

»Hat bei Ihnen ein Autofahrer vor zwei Tagen angehalten, der seinen Wagen den ›blauen Charon‹ nannte?«

Der Mann schüttelte verwundert den Kopf, und Tschanz fuhr weiter. »Wir werden den nächsten fragen.«

An der Tankstelle von Kerzers wußte man auch nichts.

Bärlach brummte: »Was Sie treiben, hat keinen Sinn.«

Bei Erlach hatte Tschanz Glück. So einer sei am Mittwochabend dagewesen, erklärte man ihm.

»Sehen Sie«, meinte Tschanz, wie sie bei Landeron in die Straße Neuenburg-Biel einbogen, »jetzt wissen wir, daß Schmied am Mittwochabend über Kerzers-Ins gefahren ist.«

»Sind Sie sicher?« fragte der Kommissär.

»Ich habe Ihnen den lückenlosen Beweis geliefert.«

»Ja, der Beweis ist lückenlos. Aber was nützt Ihnen das, Tschanz?« wollte Bärlach wissen.

»Das ist nun eben so. Alles, was wir wissen, hilft uns weiter«, gab der zur Antwort.

»Da haben Sie wieder einmal recht«, sagte darauf der Alte und spähte nach dem Bielersee. Es regnete nicht mehr. Nach Neuveville kam der See aus den Nebelfetzen zum Vorschein. Sie fuhren in Ligerz ein. Tschanz fuhr langsam und suchte die Abzweigung nach Lamboing.

Nun kletterte der Wagen die Weinberge hinauf. Bärlach öffnete das Fenster und blickte auf den See hinunter. Über der Petersinsel standen einige Sterne. Im Wasser spiegelten sich die Lichter, und über den See raste ein Motorboot. Spät um diese Jahreszeit, dachte Bärlach. Vor ihnen in der Tiefe lag Twann und hinter ihnen Ligerz.

Sie nahmen eine Kurve und fuhren nun gegen den Wald, den sie vor sich in der Nacht ahnten. Tschanz schien etwas unsicher und meinte, vielleicht gehe dieser Weg nur nach Schernelz. Als ihnen ein Mann entgegenkam, stoppte er. »Geht es hier nach Lamboing?«

»Nur immer weiter und bei der weißen Häuserreihe am Waldrand rechts in den Wald hinein«, antwortete der Mann, der in einer Lederjacke steckte und seinem Hündchen pfiff, das weiß mit einem schwarzen Kopf im Scheinwerferlicht tänzelte.

»Komm, Ping-Ping!«

Sie verließen die Weinberge und waren bald im Wald. Die Tannen schoben sich ihnen entgegen, endlose Säulen im Licht. Die Straße war schmal und schlecht, hin und wieder klatschte ein Ast gegen die Scheiben. Rechts von ihnen ging es steil hinunter. Tschanz fuhr so langsam, daß sie ein Wasser in der Tiefe rauschen hörten.

»Die Twannbachschlucht«, erklärte Tschanz. »Auf der andern Seite kommt die Straße von Twann.«

Links stiegen Felsen in die Nacht und leuchteten immer wieder weiß auf. Sonst war alles dunkel, denn es war erst Neumond gewesen. Der Weg stieg nicht mehr, und der Bach rauschte jetzt neben ihnen. Sie bogen nach links und fuhren über eine Brücke. Vor ihnen lag eine Straße. Die Straße von Twann nach Lamboing. Tschanz hielt.

Er löschte die Scheinwerfer, und sie waren in völliger Finsternis.

»Was jetzt?« meinte Bärlach.

»Jetzt warten wir. Es ist zwanzig vor acht.«

Fünftes Kapitel

Wie sie nun warteten und es acht Uhr wurde, aber nichts geschah, sagte Bärlach, daß es nun Zeit sei, von Tschanz zu vernehmen, was er vorhabe.

»Nichts genau Berechnetes, Kommissär. So weit bin ich im Fall Schmied nicht, und auch Sie tappen ja noch im Dunkeln, wenn Sie auch einen Verdacht haben. Ich setze heute alles auf die Möglichkeit, daß es diesen Abend dort, wo Schmied am Mittwoch war, eine Gesellschaft gibt, zu der vielleicht einige gefahren kommen; denn eine Gesellschaft, bei der man heutzutage den Frack trägt, muß ziemlich groß sein. Das ist natürlich nur eine Vermutung, Kommissär Bärlach, aber Vermutungen sind nun einmal in unserem Berufe da, um ihnen nachzugehen.«

Die Untersuchung über Schmieds Aufenthalt auf dem Tessenberg durch die Polizei von Biel, Neuenstadt, Twann und Lamboing habe nichts zutage gebracht, warf der Kommissär ziemlich skeptisch in die Überlegungen seines Untergebenen ein.

Schmied sei eben einem Mörder zum Opfer gefallen, der geschickter als die Polizei von Biel und Neuenstadt sein müsse, entgegnete Tschanz.

Bärlach brummte, wie er das wissen wolle?

»Ich verdächtige niemanden«, sagte Tschanz. »Aber ich habe Respekt vor dem, der den Schmied getötet hat; insofern hier Respekt am Platz ist.«

Bärlach hörte unbeweglich zu, die Schultern etwas hochgezogen: »Und Sie wollen diesen Mann fangen, Tschanz, vor dem Sie Respekt haben?«

»Ich hoffe, Kommissär.«

Sie schwiegen wieder und warteten; da leuchtete der Wald von Twann her auf. Ein Scheinwerfer tauchte sie in grelles Licht. Eine Limousine fuhr an ihnen Richtung Lamboing vorbei und verschwand in der Nacht.

Tschanz setzte den Motor in Gang. Zwei weitere Automobile kamen daher, große, dunkle Wagen voller Menschen. Tschanz fuhr ihnen nach.

Der Wald hörte auf. Sie kamen an einem Restaurant vorbei, dessen Schild im Lichte einer offenen Türe stand, an Bauernhäusern, während vor ihnen das Schlußlicht des letzten Wagens leuchtete.

Sie erreichten die weite Ebene des Tessenbergs. Der Himmel war reingefegt, riesig brannten die sinkende Wega, die aufsteigende Capella, Aldebaran und die Feuerflamme des Jupiter am Himmel.

Die Straße wandte sich nach Norden, und vor ihnen zeichneten sich die dunklen Linien des Spitzbergs und des Chasserals ab, zu deren Füßen einige Lichter flackerten, die Dörfer Lamboing, Diesse und Nods.

Da bogen die Wagen vor ihnen nach links in einen Feldweg ein, und Tschanz hielt. Er drehte die Scheibe nieder, um sich hinausbeugen zu können. Im Felde draußen erkannten sie undeutlich ein Haus, von Pappeln umrahmt, dessen Eingang erleuchtet war und vor dem die Wagen hielten. Die Stimmen drangen herüber, dann ergoß sich alles ins Haus, und es wurde still. Das Licht über dem Eingang erlosch. »Sie erwarten niemand mehr«, sagte Tschanz.

Bärlach stieg aus und atmete die kalte Nachtluft. Es tat ihm wohl und er schaute zu, wie Tschanz den Wagen über die rechte Straßenseite hinaus halb in die Matte steuerte, denn der Weg nach Lamboing war schmal. Nun stieg auch Tschanz aus und kam zum Kommissär. Sie schritten über den Feldweg auf das Haus im Felde zu. Der Boden war lehmig und Pfützen hatten sich angesammelt, es hatte auch hier geregnet.

Dann kamen sie an eine niedere Mauer, doch war das Tor geschlossen, das sie unterbrach. Seine rostigen Eisenstangen überragten die Mauer, über die sie zum Hause blickten.

Der Garten war kahl, und zwischen den Pappeln lagen wie große Tiere die Limousinen; Lichter waren keine zu erblicken. Alles machte einen öden Eindruck.

In der Dunkelheit erkannten sie mühsam, daß in der Mitte der Gittertüre ein Schild befestigt war. An einer Stelle mußte sich die Tafel gelöst haben; sie hing schräg. Tschanz ließ die Taschenlampe aufleuchten, die er vom Wagen mitgenommen hatte: auf dem Schild war ein großes G abgebildet.

Sie standen wiederum im Dunkeln. »Sehen Sie«, sagte Tschanz, »meine Vermutung war richtig. Ich habe ins Blaue geschossen und ins Schwarze getroffen.« Und dann bat er zufrieden:

»Geben Sie mir jetzt eine Zigarre, Kommissär, ich habe eine verdient.«

Bärlach bot ihm eine an. »Nun müssen wir noch wissen, was G heißt.«

»Das ist kein Problem: Gastmann.«

»Wieso?«

»Ich habe im Telephonbuch nachgeschaut. Es gibt nur zwei G in Lamboing.«

Bärlach lachte verblüfft, aber dann sagte er: »Kann es nicht auch das andere G sein?«

»Nein, das ist die Gendarmerie. Oder glauben Sie, daß ein Gendarm etwas mit dem Mord zu tun habe?«

»Es ist alles möglich, Tschanz«, antwortete der Alte.

Und Tschanz zündete ein Streichholz an, hatte jedoch Mühe, im starken Wind, der jetzt die Pappeln voller Wut schüttelte, seine Zigarre in Brand zu stecken.

Sechstes Kapitel

Er begreife nicht, wunderte sich Bärlach, warum die Polizei von Lamboing, Diesse und Lignières nicht auf diesen Gastmann gekommen sei, sein Haus läge doch im offenen Feld, von Lamboing aus leicht zu überblicken, und eine Gesellschaft sei hier in keiner Weise zu verheimlichen, ja geradezu auffallend, besonders in einem so kleinen Jura-Nest. Tschanz antwortete, daß er dafür auch noch keine Erklärung wisse.

Darauf beschlossen sie, um das Haus herum zu gehen. Sie trennten sich; jeder nahm eine andere Seite.