Der Rote Baron - Joachim Castan - E-Book

Der Rote Baron E-Book

Joachim Castan

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Beschreibung

Manfred von Richthofen (1892 – 1918) ist der berühmteste Jagdflieger des Ersten Weltkriegs. Das Buch erzählt die bislang weitgehend unbekannte Geschichte jenseits gängiger Mythen und Legenden. "Die Lebensgeschichte des gefeierten Soldaten weiß der Historiker und Dokumentarfilmer Joachim Castan spannend zu erzählen." Rainer Blasius, Franfurter Allgemeine Zeitung "Man muss dieses Buch uneingeschränkt empfehlen, weil es schonungslos aufräumt mit der Vorstellung, dass in einem modernen Krieg irgendeine Art von Schönheit, Gerechtigkeit oder Wahrhaftigkeit Platz haben könnte, und dies mit Quellen und einer überzeugenden Argumentation untermauert." Andreas Baum, Deutschlandradio Kultur

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Seitenzahl: 620

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Joachim Castan

Der Rote Baron

Die ganze Geschichte des Manfred von Richthofen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2007/2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Erstmals 2007 bei Klett-Cotta erschienen.

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © ullstein bild - Imagno

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94932-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10700-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gewidmet dem Andenken an meinen Großvater Wilhelm G. Castan (1895–1976), der die Westfront trotz Verwendung als berittener Nachrichtenoffizier überlebte und in zwei Söhnen, fünf Enkeln und bislang fünf Urenkeln fortlebt.

Inhalt

1. Richthofen – Ritter der Lüfte – verewigt in Heldengesängen

2. Familiärer Hintergrund und die Formung zum Offizier

3. »Hurra, endlich Krieg!«, 1914–1915

4. Aus den Gräben in die Lüfte, 1915–1916

5. Der fliegende Holländer und Grenzüberschreitungen im Kriegsrausch, 1916

6. Der Rote Baron – ein Mythos wird geboren, 1917

7. Richthofen – Jagdflieger mit Leib und Seele

8. Heldenmythos und Heldenschonung, 1917–1918

9. Mit Höchstleistung in den Untergang, 1918

10. Die vielen Tode des Manfred von Richthofen

11. Postume Heldenkulte, 1919 bis heute

12. Richthofen – Held, Mensch und Mythos

ANHANG

I. Abschußliste von Manfred von Richthofen 1916–1918

II. Anmerkungen

III. Literatur

IV. Bildnachweis

V. Danksagungen

1. Kapitel RICHTHOFEN – RITTER DER LÜFTE – VEREWIGT IN HELDENGESÄNGEN

»Er war zum Ruhm geboren, ein preußischer Aristokrat. Kein Schriftsteller könnte eine romantischere oder unglaublichere Figur schaffen. […] Bereits zu seiner Lebenszeit eine Legende, wurde der gutaussehende Aristokrat mit der ernsten Erscheinung eine noch größere Legende nach seinem geheimnisvollen Tod.«1

Pasquale Carisella (1922–1991) über Manfred v. Richthofen

Westfront. Ein klarer Frühlingstag Anfang April 1917. Strahlend blaues Firmament, nur wenige weiße Wolken an Flanderns Himmel. Dienstgipfelhöhe 3000 Meter. Ein Geschwader der Kaiserlichen Fliegertruppe auf Patrouillenflug. Keines der Jagdflugzeuge ist in Tarnfarben angestrichen: die Bemalungen reichen von Hellblau über Zitronengelb bis zu Hellgrün. Der Anführer der Staffel: Rittmeister Baron Manfred von Richthofen. Er fliegt einen roten Fokker-Dreidecker – ein in jeder Hinsicht überlegenes Jagdflugzeug – eine Legende wie er selbst. Wegen der Farbe seines Flugzeugs wird der preußische Edelmann bei Landsleuten »Roter Baron«, bei seinen Feinden »Roter Teufel« genannt. Unvermittelt gibt Richthofen Handzeichen an seine fliegenden Kameraden – doch niemand außer ihm kann auch nur ein einziges feindliches Flugzeug ausmachen. Nach einigen Sekunden können auch die übrigen das erkennen, was der Geschwaderführer bereits vorher erspäht hat: einige hundert Meter über dem Boden eine englische Fliegerstaffel – lediglich erkennbar als kleine, sich bewegende dunkle Punkte, die über Flanderns Äcker huschen. Der Baron gibt das Zeichen zum Angriff. Schnell wird das Zahlenverhältnis ermittelt: acht Deutsche gegen 16 Engländer. Es gibt kein Zurück. Richthofen und seine Leute sind keine Zauderer – sie wissen, daß sie die Besten sind. Der Begriff der »Angst« ist ihnen gänzlich unbekannt. Im Sturzflug geht es herunter an den Feind. Der abrupte Höhenunterschied bringt nur einen Fluganfänger an die Grenze der physischen Belastbarkeit.

Major Hawkins hatte sich auf einen ruhigen Aufklärungsflug über die deutschen Artilleriestellungen eingestellt. Von dem legendären »Petit Rouge«, wie die Franzosen Richthofen nannten, hatte er natürlich schon gehört. Noch glaubt er dabei allerdings an ein Phantom. Ehe sich Sergeant Brinsley, der unmittelbar neben Hawkins fliegt, versieht, hat sich bereits ein Dreidecker aus Richthofens Geschwader an seine Fersen geheftet. Brinsley wendet sich panisch nach hinten, kann aber nichts erkennen, da ihn die Sonne blendet. Nur einen kurzen Blick auf das Mündungsfeuer des Maschinengewehrs kann er erheischen. Schon sind seine Tragflächen von Geschossen getroffen. Brinsley versucht, nach unten wegzutauchen. Der deutsche Jagdflieger läßt nicht locker. In wilder Jagd geht es nur wenige Meter über die Baumkronen. Noch tiefer kann er nicht fliegen. Eben streift eine seiner Tragflächen bereits einen Baum. Brinsley versucht nun, durch einen abrupten Steigflug wieder an Höhe zu gewinnen. Tatsächlich ist er innerhalb von wenigen, für ihn unendlich langen Sekunden wieder auf 400 Meter Höhe. Sein Kopf scheint aufgrund der Steilkurve dem Zerplatzen nahe. Der Deutsche läßt aber dennoch nicht von ihm ab – das Maschinengewehr feuert in regelmäßigen Salven weiter auf sein bereits durchsiebtes Flugzeug. Schließlich ist der Treibstofftank getroffen. Eine weiße Rauchwolke steigt auf, der Motor explodiert. Brinsleys Maschine stürzt brennend zu Boden und zerschellt. Major Hawkins verliert mit Brinsley einen gerade einmal 19jährigen Flieger, in den er große Hoffnungen gesetzt hatte.

Doch für Trauer bleibt keine Zeit, denn an seinen eigenen Fersen klebt jetzt ebenfalls der »Rote Baron« – höchstpersönlich. Nun gilt es nur noch, seine Haut zu retten. Hawkins macht schnelle Links- und Rechtskurven – der rote Dreidecker läßt sich nicht abschütteln. Wenigstens gelingt es ihm, daß er nicht Richtung Erdboden gedrückt wird. Hawkins versucht nun, schnell an Höhe zu gewinnen. Das Manöver scheint geglückt – Richthofen ist weit und breit nicht mehr zu sehen. Plötzlich ist Hawkins’ Motor getroffen. Doch er scheint Glück zu haben. Für ihn unfaßbar: Seine Maschine befindet sich nun selbst von hinten im Anflug auf den »Roten Teufel« – direkt im Visier seines Maschinengewehrs. Eine einmalige Chance, sich das Victoriakreuz und 5000 englische Pfund Kopfprämie, die auf den deutschen Teufel ausgesetzt sind, zu verdienen – und nicht nur mit dem Leben, sondern als Nationalheld davonzukommen. Doch was ist das? Sein Maschinengewehr streikt und hat Ladehemmung. Hawkins ist entsetzt. Richthofen und Hawkins fliegen jetzt fast genau parallel. Hawkins schließt mit seinem Leben ab. Völlig unerwartet sieht er plötzlich ein heftiges Winken des Gegners: Er bedeutet ihm, daß er landen soll. Auf ihn wird nun nicht mehr geschossen. Er kann jetzt sogar das Gesicht des Barons erkennen: Er meint, ein Lächeln zu entdecken. Minuten später stehen sein zerschossenes englisches Jagdflugzeug und der rote Dreidecker einträchtig nebeneinander. Der Baron in perfektem Englisch mit leichtem deutschen Akzent: »Ich mag euch Engländer – denn auch ich liebe ›fair play‹. Als ich sah, daß Sie Ladehemmung haben, konnte ich Sie unmöglich weiter verfolgen – geschweige denn einfach vom Himmel holen.« Richthofen bietet Hawkins erst einmal eine Zigarette an. Beide besprechen den soeben erlebten Luftkampf. Die Stimmung ist so entspannt wie nach einem sportlichen Wettkampf. Schnell sind das englische und deutsche Jagdflugzeug von deutschen Bodentruppen umringt. Der Major soll in ein Gefangenenlager für Offiziere gebracht werden. Doch Richthofen schreitet ein und lädt ihn höflich ein, ihn zu begleiten. Gemeinsam fahren sie mit einer Limousine zu einem nahe gelegenen französischen Schloß, in dem Richthofen sich ein gediegenes Offizierskasino eingerichtet hat. Der englische Major ist erstaunt, wie es deutsche Offiziere verstehen, zu leben. Zögerlich betritt er einen mit Stuck aus dem 18. Jahrhundert und kostbaren Gobelins verzierten Salon. Einige Herren in schmucken, eleganten Uniformen spielen Billard, andere haben ein Champagnerglas in der Hand. Die meisten erzählen von ihren noch frischen Fliegererlebnissen – andere debattieren über die aktuelle Kriegslage oder über die »Große Weltpolitik«. Wieder andere disputieren über intellektuelle Fragen der Kunst, Philosophie und Literatur. Der englische Major meint, unversehens in einem College von jungen »Lords« in Oxford gelandet zu sein – offenbar ist hier nicht nur die kriegerische, sondern auch die geistige Elite des Deutschen Reiches versammelt. Die anwesenden Herren – die meisten von ihnen stammen aus uraltem preußischen Adel oder den besten bürgerlichen Familien des Reiches – haben längst entdeckt, daß Richthofen wieder einmal einen englischen »Gast« mitgebracht hat. Schnell wird auch dem englischen Gentleman ein Glas Champagner angeboten. Plötzlich sind alle Augen auf Richthofen und Major Hawkins gerichtet. Einer der Offiziere, der über die geschliffensten Umgangsformen verfügt, läßt beide hochleben, und die Gesellschaft erhebt für sie ihre Champagnerschalen. Major Hawkins meint zu träumen: Wenige Stunden zuvor glaubte er noch von einem »Hunnen« brennend abgeschossen zu werden – nun debattiert er mit gleichaltrigen, kultivierten Fliegeroffizieren über Luftkampfstrategie. Offenbar ist die Staffel des Freiherrn von Richthofen einer der letzten Horte von Ehre und Ritterlichkeit innerhalb eines mörderischen Vernichtungskrieges geworden, der andernorts die Gemüter irreparabel verroht und entmenschlicht hat.

Szenenwechsel: Anfang 1918. Es ist bitterkalt, doch die Luft hell und klar. Nach seinem Abschuß hat Manfred von Richthofen eine schwere Kopfverletzung davongetragen. Zur Erholung befindet er sich auf dem altehrwürdigen Schloß seiner Vorfahren im heimischen Schlesien. Eben ist er von der Fasanenjagd zurückgekommen und trifft im weiträumigen Schloßpark seinen Vater. Beide gehen ein Stück nebeneinander auf dem Weg zum Schloß. Der alte Herr meint, daß der Krieg bald zu Ende sei, und glaubt unbeirrbar an einen deutschen Sieg. Lediglich die umtriebigen Sozialisten im eigenen Land machen ihm etwas Sorge. Aber auch diese »Erscheinung« wird bald wieder verschwinden – so meint er zumindest. Sein Sohn ist da skeptischer: Er kennt die zahlenmäßige Übermacht der Engländer an der Westfront – auch das Eingreifen der Amerikaner in den Krieg könnte ein fatales Vorzeichen einer drohenden Niederlage sein. Sein Vater will von solchen Dingen nichts wissen. Das Kaiserreich wird siegen, weil mit ihm die Werte des Abendlandes verteidigt werden. Volksherrschaften sind nur Utopien, die Chaos und Anarchie verursachen. Herrschen kann und darf nur der allwissende Kaiser. Auf seine adeligen Standesgenossen, zu denen seit Jahrhunderten auch die Richthofens gehören und die seit Generationen Teil des preußischen Offizierskorps sind, kann sich »Seine Majestät« jederzeit verlassen. Diese Kaisertreue über Generationen brachte den Richthofens ihr prächtiges Schloß ein, das in seiner Pracht und seinen Ausmaßen einem Fürsten zur Ehre gereichen würde. Manfred gibt zaghaft zu bedenken, ob die Meinung seines Vaters nicht zu elitär und arrogant sei. »Vielleicht« – so meint er – »sind wir die letzten Vertreter unseres Standes. An der Front erlebe ich tagtäglich, daß es bald keine Ritterlichkeit mehr gibt, für die meine Kameraden und ich tagtäglich einstehen. Heutige Kriege sind Kriege der Maschinen, Techniker und Menschenmassen. Mit unseren Begriffen von Ruhm, Ehre und Ritterlichkeit hat zumindest dieser Krieg nicht mehr viel zu tun.« Sein Vater schweigt zu diesen Worten seines Sohnes – im Innersten seines Herzens spürt er: sein Sohn hat recht. Es dämmert und beide begeben sich zum Diner. Das Personal hat bereits serviert – es ist wahrlich erstaunlich, was trotz allgemeiner Lebensmittelknappheit noch auf der großen Tafel der Freiherrenfamilie kredenzt werden kann.

Der junge, gutaussehende Rittmeister kennt beileibe nicht nur seinen Dienst am Vaterland. Als Idol seiner Zeit könnte er jede junge Frau im Kaiserreich »haben« – vorerst begnügt er sich allerdings damit, sich noch nicht zu binden. Zusammen mit Kameraden kann man sich auch gegen Bares – ohne Verpflichtungen und ohne schlechtes Gewissen – nächtelang mit bildhübschen Französinnen vergnügen – man darf sich dabei nur nicht von seinen Vorgesetzten erwischen lassen. Hier kann Richthofen mit Unmengen von Wein und Champagner entspannen und sich von den Strapazen des Luftkampfes erholen. Hier spürt er, daß er ein ganzer Kerl ist, aus Fleisch und Blut und nicht nur ein Kampfpilot ist. Die »Damen« sehen es jeweils als eine besondere Auszeichnung an, wenn gerade sie vom charmanten wie berühmten »Roten Baron« ausgewählt werden. Ein amouröser »Pour le Mérite« – wenn auch nur für eine Nacht. Doch diese Art von Entspannung ödet Richthofen inzwischen an. Seine große Liebe gilt einer Krankenschwester namens Käte, die ihm nach seinem Abschuß wieder auf die Beine geholfen hat. Käte ist wunderschön, und er überlegt, ob es mit ihr nach dem Kriege eine gemeinsame Zukunft geben könnte. Was würden aber seine adeligen Eltern zu einer bürgerlichen Braut sagen? Doch was war das überhaupt für ein Krieg? Seitdem er Käte kennt, beginnt er, an seinem Tun gänzlich zu zweifeln. 1918 ist er kurz davor, sein mörderisches Handwerk zu hassen. Er überlegt, alles hinzuschmeißen.

April 1918 ist Richthofen wieder zurück an der Westfront – mitten im Kampfgeschehen. Inzwischen sind die ambitionierten Jagdflieger Ernst Udet und Hermann Göring zu ihm gestoßen. Hermann Göring war ihm von vornherein unsympathisch. In Göring sieht er den typischen bürgerlichen Emporkömmling, dem Begriffe wie Tradition, Edelmut und Ritterlichkeit völlig fremd sind. Voll Entsetzen muß er von seinem Freund Udet hören, daß Göring soeben einen englischen Flugplatz angegriffen und nach der Zerstörung am Boden stehender Maschinen auf aus Sanitätsbaracken flüchtende Krankenschwestern geschossen hat. Richthofen stellt Göring dazu unmißverständlich zur Rede. Göring lacht ihn lediglich selbstgefällig an: »So, das hat Herrn Rittmeister also nicht gefallen! Wissen Sie was, ›Herr‹ Rittmeister? Eure Zeit ist vorbei! So wie ihr euch in der Luft aufführt, kann man einen Krieg nicht gewinnen. Der Zweck heiligt die Mittel. Der Stärkere wird und muß überleben. Wir, die Görings, Schmidts, Schulzes und Ranzens, sind diejenigen, die diesen und kommende Kriege gewinnen werden. Eure Klasse dagegen ist dem Untergang geweiht.« Richthofen ist geschockt und weiß nicht mehr, was er sagen soll.

Der Kalender zeigt den 21. April 1918 – ein nebel-diesiger Tag. Der Himmel klart nur ab und zu auf. Richthofen und seine Männer steigen auf – Dienst ist Dienst. Das Geschwader ist schnell in einen unübersichtlichen Luftkampf verwickelt. Richthofen sieht, wie sich ein Engländer davonmachen will. Schnell klemmt er sich hinter ihn, und eine wilde Verfolgungsjagd beginnt. Richthofen will die finale Salve abfeuern und bemerkt, daß ausgerechnet jetzt sein Maschinengewehr streikt. Richthofen ist völlig hilflos und will mit den letzten Litern Benzin den Heimflug antreten. Plötzlich hört er das Knattern eines Maschinengewehrs hinter sich. Major Brown hat nur darauf gewartet, den Roten Baron endlich vor seine Flinte zu bekommen. Unbarmherzig treibt er den wehrlosen Rittmeister vor sich her. Richthofen versucht, noch die eigenen Linien zu erreichen. Doch zu spät – eine MG-Salve Browns hat von hinten seinen Sitz durchlöchert. Mit weit aufgerissenen Augen blickt er anklagend auf Brown, sein Körper bäumt sich im Todeskampf noch einmal auf und bricht dann in sich zusammen – ein entsetzliches Bild, das Brown nie vergessen wird. Brown denkt: mein Gott, was habe ich getan – zu was hat uns der Krieg werden lassen? Nach der Landung wird Brown auf den Schultern seiner Kameraden zum Offizierskasino getragen – für seine kanadischen Kameraden ist er schon jetzt ein Nationalheld. Brown selbst ist nicht zum Feiern zumute. Er zieht sich in seine Baracke zurück, da ihm speiübel ist.

Dies ist die Geschichte des berühmten »Roten Barons«, Manfred von Richthofen. Eine Geschichte von Heldenmut, Ritterlichkeit und vorbildhaftem, militärischem Verhalten. Diese Geschichte ist ganz oder in Teilen jedem mehr oder weniger bekannt. Sie wurde in Teilen schon im Kaiserreich erzählt – in Erinnerungen dieser Art schwelgten Veteranen des Ersten Weltkriegs noch für Jahrzehnte. Kleine Jungen nahmen sich während der Zeit des »Dritten Reichs« aufgrund dieser Geschichte Richthofen zum Vorbild. Der Richthofen-Biograph Italiaander bekannte: »Als ich noch ein kleiner Schulbub war, wünschte ich mir zu einem Geburtstag nur eins: ein Bild des blendenden Dreigestirns am deutschen Fliegerhimmel – Immelmann, Richthofen, Boelcke. Ich bekam das Bild und hängte es sofort neben mein Bett, wo es übrigens noch heute hängt. [...] Von dem Bilde ging ein geheimnisvoller Zauber aus, der mich wieder in seinen Bann schlug. Und noch heute birgt es diesen jenseitigen Zauber, der es in mir hell macht, der mich belebt. [...] ›Es ist ein Götterliebling‹, sagte sich damals der begeisterte Knabe. [...] Und heute, wo ihm vollauf zum Bewußtsein gekommen ist, daß wir derartige Heldenideale dringender notwendig haben als das tägliche Brot, blickt er erst recht bewundernd, verehrend und voller Andacht zu der Größe eines Richthofen auf.«2Der »Zauber« der Richthofen-Geschichte wurde durch zahlreiche Kinofilme als modernes Heldenepos auf die Leinwand gebracht und damit in ungeahnte Dimensionen gesteigert. Prägend für unser heutiges Bild über Richthofen ist vor allem der amerikanische Richthofen-Film »Der Rote Baron« von Roger Corman aus dem Jahr 1971. Der deutsche Richthofen-Spielfilm von Nikolai Müllerschön aus dem Jahr 2008 zählt zu den bislang teuersten deutschen Kinoproduktionen und erzählt diese Geschichte in einer abgewandelten, aber nicht gänzlich neuen Form. Dieser Film zeigt erstmals neben dem »klassischen« Helden nun auch die bislang unbekannte romantische, lebensfrohe und sogar pazifistische Seite Richthofens.

Diese Geschichte um Richthofen berührt und ergreift bis heute. Mit dieser Geschichte könnte man das vorliegende Buch an dieser Stelle beenden.

Das Problem besteht jedoch darin, daß die eben erzählte Geschichte in dieser Form in weiten Teilen nichts mit der historischen Wahrheit zu tun hat. Sie ist die Summe der größten Übertreibungen, gängigsten Klischees, schönsten Wunschvorstellungen, purer Phantasie, beliebtesten Legenden und verbreitetsten sachlichen Fehler, die sich seit 1917 um Manfred von Richthofen ranken und seine Person inzwischen völlig überlagern.

Doch welcher Kern steckt in der Figur Richthofen? Wer war der eigentliche Mensch, der sich hinter dem Namen »Manfred von Richthofen« verbarg? Nahezu unbekannt ist, daß sich bereits seine Zeitgenossen darüber wunderten und sogar amüsierten, welche unglaublichen Geschichten über ihren bewunderten Geschwaderführer schon zu seinen Lebzeiten in den Zeitungen veröffentlicht wurden.

Einer, der es wissen mußte, war sein Kamerad Leutnant Richard Wenzl (12 Luftsiege, †1957). Wenzl hatte Richthofen 1918 aus nächster Nähe erlebt: »Wieviel in der Presse bisweilen fantasiert wird, das habe ich bei Richthofen gesehen. Höchstens der zehnte Teil von allem war wahr.«3

Wie wirkte Richthofen auf sein unmittelbares Umfeld? Derjenige, der sein Geschwader nach seinem Abschuß im April 1918 übernahm, war ein gewisser Hauptmann Wilhelm Reinhard (1891–1918). Reinhard berichtete über ihn: »Unser Rittmeister war ein ganzer Mann. Eine fest durchgebildete Persönlichkeit, jedoch auf den ersten Blick für jemanden, der nur kurze Zeit mit ihm verkehrte, schwer zu verstehen. [...] Es gab viele, besonders in der Fliegertruppe, die der Ansicht waren, unser Rittmeister sei stolz und unnahbar. [...] Er war zurückhaltender Natur, und sein Inneres stand nur denen offen, die er im Lauf der Zeit als Persönlichkeiten schätzen gelernt hatte.«4 Es ist schon merkwürdig, daß ausgerechnet ein Jagdflieger, zu dessen Wesen es zwangsläufig gehört, anzugreifen und aggressiv zu sein, im persönlichen Umgang offensichtlich eher schüchtern und besonnen wirkte. Sein Innerstes hat er offenbar nicht einmal seinen engsten Kameraden offenbart.

Man darf annehmen, daß seine Mutter, Kunigunde von Richthofen, Manfreds Wesen am besten kannte. Bei einer »Heldenmutter« im Ersten Weltkrieg wäre zu vermuten, daß sie davon schwärmt, was für ein »guter und lieber Junge« ihr Sohn immer schon gewesen sei, und welcher Stolz sie nun erfüllt, daß er als Offizier in der Kaiserlichen Armee jetzt »vortreffliche« Dinge leistet. Doch selbst die Beschreibung der eigenen Mutter über ihren erst 23jährigen Sohn Manfred wirkt erstaunlich distanziert: »Tolles Draufgängertum war durchaus nicht Manfreds Art. Sein Lebensstil ist das ›Erst wägen – dann wagen‹. In einem klaren Kopf wurde ein Vorhaben gefaßt und als richtig erkannt – dann aber vermochte nichts mehr, ihn irre zu machen. An Mut und Energie, seine Pläne zu verwirklichen, fehlte es ihm nicht. Er konnte auch blitzschnell einen Entschluß fassen, er wußte immer sofort, was er tun mußte. Er schwankte niemals mit seiner Ansicht herum.«5 Offenbar machte Manfred von Richthofen viele Dinge mit seinem Verstand aus. Selbstbeherrschung und eine gewisse Kühle selbst gegenüber der eigenen Mutter scheinen bei ihm zentrale Charaktereigenschaften gewesen zu sein.

Wie aber wirkte Richthofen auf gänzlich Außenstehende? Der berühmte Geograph und Weltreisende Prof. Georg Wegener (1863–1939) begegnete ihm 1917. Es ist erstaunlich, daß sich selbst dieser gestandene Gelehrte einer gewissen Faszination gegenüber diesem jungen Mann keinesfalls entziehen konnte: »Er war wie Boelcke, nur mittelgroß, kräftig gebaut, sein Kopf mit der gewölbten Stirn und den germanisch hellen und blauen Augen – deren Ausdruck auffallend an die Boelckes erinnerte – setzte mich in Verwunderung durch die fast rosige Frische der Farbe. Da stand nichts geschrieben von der ungeheuren Nervenanspannung, die mit den täglichen Einzelkämpfen auf Leben und Tod verbunden gewesen ist. Auch sein ganzes Wesen war von einer überraschend ruhigen, zurückhaltenden, fast zarten Art, überaus wohltuend zu sein und ganz einfach, ohne einen Schatten von Ruhmredigkeit, wenn auch der freudige Stolz auf seinen jungen Glanz in der Seele erkennbar war (und seine Ruhe hätte gemacht sein müssen, wenn das nicht so gewesen wäre). Einzig das stark gebildete Kinn vielleicht verriet, wie er auf seine ganze Umgebung wirkte, die an ihrem Führer sichtlich mit einer ganz eigenartigen Mischung von froher Kameradschaft, begeisterter Bewunderung und absoluten Fügen hing...«6 Wieder fällt in dieser Beschreibung der Widerspruch einer gewissen »Zartheit« des Wesens und seiner enormen, selbstbeherrschten Willensstärke auf.

Die Beschreibung eines niederländischen Kriegsberichterstatters aus der gleichen Zeit läßt erahnen, wie dieser Widerspruch entstanden sein könnte: »Ein junger Mann noch, von höchstens fünfundzwanzig Jahren, mit hellblauen, gutmütig blickenden Augen und einem gemütlich lachenden Munde. [...] Seine Nerven sind wie die Spanndrähte seines Flugzeuges kräftig und stets gespannt. Sein Mund bleibt verschlossen, sein Blick ruhig. [...] In dem Schuppen von Richthofen stand kurze Zeit [...] eine ›Spad‹-Maschine. Der Sitz des Führers, die Tragflächen, das Maschinengewehr voller Blutflecke. Dem Engländer muß die Kugel durch eine Schlagader geflogen sein. Mit solchen Bildern vor Augen wurde aus dem verwegenen Jüngling ein ernster, schweigsamer Mann.«7

Man könnte dieses banal damit erklären, daß der Krieg diesen Jüngling rasch zum schweigsamen Mann gemacht hat. Aber selbst das Flieger-As Ernst Udet (1896–1941) – der ebenfalls bereits viele harte Luftkämpfe erlebt hatte – liefert ein ambivalentes Bild von Richthofen – angelegt zwischen Erschaudern und Bewunderung: »Ein ruhiges, völlig beherrschtes Gesicht, große, kalte Augen, von schweren Lidern halb bedeckt. Das ist der Mann, der schon jetzt siebenundsechzig heruntergeholt hat, der Beste von uns allen. [...] Ich sehe ihm nach, wie er, schmal und schlank, zierlich fast, die steile Böschung herunterklettert, in seinen Wagen steigt und um die nächste Wegbiegung im Schleier des Regens verschwindet.«8

Der geniale Flugzeugkonstrukteur Anthony Fokker (1890–1939) besaß auch in menschlichen Dingen einen schneidenden, analytischen Verstand. Als einer der wenigen scheint er Richthofens Wesen in Grundzügen verstanden zu haben, wenn er mit einem zynischen Unterton schreibt: »Wenn ich [deutsche Jagdflieger] in ihren Quartieren an der Front besuchte, da waren sie lustig und guter Dinge, als ob nicht der Engel des Todes stets vor ihrem Geschwader herflöge, und wenn sie auf zwei Wochen Urlaub nach Berlin kamen, lebten sie so fröhlich, als ob sie überhaupt keine Sorgen hätten. Einige Ausnahmen gab es allerdings, darunter Richthofen, der ruhig, kalt und ehrgeizig war, der geborene Führer und Deutschlands grösster Luftheld. Richthofen, Boelcke und Immelmann, die drei hervorragenden deutschen Jagdflieger, kannte ich sehr gut, so gut zum mindesten, wie man Männer kennen kann, die dem Tod so oft ins Antlitz geblickt haben, dass sie schliesslich lernten, eine Maske zu tragen, damit nicht eine gelegentliche menschliche Schwäche das Bild ihrer fast hypnotischen Tapferkeit störte.«9

Richthofen hatte sich folglich einen gewissen Schutzpanzer um seinen Charakter und seine Seele geschmiedet, der selbst von seinem engsten Umkreis kaum zu durchstoßen war. An dieser nahezu undurchdringlichen Außenhaut versagten bislang zahlreiche Unternehmen von Biographen, sein innerstes Wesen irgendwie verstehen zu wollen. Der Herausgeber von Richthofens Autobiographie »Der Rote Kampfflieger«, der Philosoph und Schriftsteller Friedrich Wilhelm Korff (*1939), meinte hellsichtig wie frustriert: »Man prallt bei Richthofen gegen eine Wand. In seiner [Autobiographie] ist [...] selbst das Chaos gekämmt, die Fröhlichkeit ist aufdringlich, zu direkt.«10

Bekannt sind Richthofens Luftkämpfe und die Maschinen, auf denen sie ausgefochten wurden. Selbst die Kurzbiographien sämtlicher abgeschossener Gegner sind inzwischen in einem Buch11 recherchiert worden. Doch trotz aller Detailfülle gab es bislang keine eigentliche Richthofen-Biographie. Offenbar weiß jeder von Richthofen, ohne ihn zu kennen. Niemand kann auf die Fragen antworten: Was war Richthofen für ein Mensch? Was steckte wirklich hinter dieser Hülle des strahlenden, nervenstarken Helden, der schon zu Lebzeiten zum Idol einer ganzen Nation geworden war? Wird man bereits als »Held« geboren? Inwieweit war Richthofen das »Ergebnis« seiner Ahnen und seiner Familie? Machte ihn seine Ausbildung so beherrscht und nervenstark, oder besaß er solcherlei Charaktereigenschaften von Anfang an? Welche Motivation bringt einen Menschen dazu, »freiwillig« fast täglich mehrfach sein Leben für Ruhm und Ehre und für das Vaterland aufs Spiel zu setzen? Gab es eine innere Kraft, die ihn beherrschte? Wodurch wurde diese Kraft gespeist? Ist bereits in jungen Jahren etwas mit Richthofen geschehen, das ein Schlüsselerlebnis für sein kurzes restliches Leben werden sollte und mit dem sich dieses rätselhafte Leben überzeugend erklären ließe?

Um Richthofen aus und in seiner Zeit zu verstehen und nicht von vornherein einer ahistorischen Be- und Verurteilung zu erliegen, sollte man sich zunächst auf eine ideologische Zeitreise begeben. Worin bestand die zeitgenössiche »Hefe«, aus der ein Mensch wie Richhofen später »aufgehen« würde?

dulce et decorum est pro patria mori

Es ist süß und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben

Horaz, carmina III, 2, 13

Dieser berühmte Satz von Horaz, der aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert stammt, kann als Leitsatz gelten, um nachvollziehen zu können, wie Manfred von Richthofen aufgewachsen ist, was ihn bewegte und was schon zu Lebzeiten aus ihm gemacht wurde. Aus der heutigen Perspektive wirkt dieser Satz wie aus einer gänzlich anderen Welt. Es wäre ein leichtes, die Ideologie, die dieser Satz repräsentiert, zu hinterfragen, darüber entsetzt zu sein oder sie lächerlich zu machen. Ein solches Vorgehen trägt allerdings nicht dazu bei, die Zeit zu verstehen, in der dieser Satz benutzt wurde. Dieser Ausspruch bildete im Deutschen Reich bis 1945 den geistigen Nährboden, mit dem Generationen von jungen Männern auf den Krieg vorbereitet wurden. Er suggeriert unsterblichen Ruhm für denjenigen, der selbstlos sein Leben für das Überleben, Verteidigen und Erstarken seines Vaterlandes aufs Spiel setzt, und die Aussicht besteht, dieses Spiel unter Umständen zu verlieren. Dieser Satz gehört zu den Kerngedanken, mit denen die Kriegsbegeisterung der Deutschen beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs ideologisch zu erklären ist. Die damalige Ideologie, in den Krieg zu ziehen, war der Dienst am Vaterland im »Ehrenkleid der Nation« – nämlich im Waffenrock. Was konnte es in der Vorstellung eines damaligen deutschen Oberschülers oder Kadetten »Schöneres« geben, als sein Leben für unsterblichen Ruhm zu riskieren? Der Dank seines Kaisers, der mit Gottesgnadentum regierte, der Stolz seiner Familie und die Begeisterung junger Damen, die ihn dafür bewunderten, waren ihm gewiß – so meinte er. Der Dienst am Vaterland wurde durch den Kaiser höchstpersönlich in Kriegszeiten in die Nähe eines »Gottesdienstes« gerückt – so befremdlich das heute auch wirken mag. Der Spruch auf den damaligen Koppelschlössern an den Gürteln der kaiserlichen Soldaten: »Gott mit uns!« war keine leere Floskel. Ideologisch war gerade der Kaiser davon überzeugt, auf der »guten« Seite zu stehen, auf der sich Gott befände, und damit einen »gerechten« Krieg zu führen. Die meisten seiner Untertanen folgten ihm in dieser Auffassung. Problematisch war dabei allerdings, daß sich auch die alliierten Gegner von Gott »erwählt« fühlten, um den deutschen »Hunnen« bzw. »Boche« endlich in seine Schranken zu verweisen.

Manfred von Richthofen gehört zu den zentralen Persönlichkeiten aus dem Ersten Weltkrieg, die die Phantasie und romantische Vorstellungen der Menschen über den Krieg seit jeher beflügeln. Bis heute wird dieser Mythos in Büchern und Spielfilmen weitergegeben – aber nie grundsätzlich hinterfragt. Eine Einschätzung von 1994 skizziert die Problemlage: »Aus glaubwürdigen Äußerungen von Richthofens Staffelkameraden ist zu entnehmen, daß sie ihren Geschwaderführer mit Ehrfurcht und Bewunderung betrachteten, und das nicht nur in fliegerischer Hinsicht. Richthofen habe sich einem besiegten Gegner gegenüber stets ritterlich, oft kameradschaftlich verhalten, heißt es. Gefangene und verwundete Gegner hätten von ihm kleine Geschenke erhalten, und Kriegsgefangenen habe er das Ehrenwort abgenommen, nicht zu fliehen, und darauf verzichtet, sie einzusperren. [...] Trotz der bis 1918 eingetretenen Härte im Luftkrieg sind derartige menschliche Gesten denkbar. Doch neben den gängigen, oft pathetischen Klischees zu dem Kriegshelden Manfred von Richthofen gab es immer wieder auch kritische Behauptungen, zum Beispiel daß sich Richthofen in Luftkämpfen keineswegs immer selbstlos verhalten habe.«12 Äußerungen, die das bis heute strahlende Image des jungen Fliegerhelden relativieren, tauchen in der bisherigen Richthofen-Literatur nicht auf. Von Interesse ist eher das Mirakel, warum der »zackige« Rittmeister in einem modernen Krieg des 20. Jahrhunderts offenbar stets handeln konnte wie ein Edelmann aus dem 18. Jahrhundert.

Die Begeisterung für den jungen deutschen Fliegeroffizier, der den Waffenrock einer Kavallerieeinheit trug, hält bis zum heutigen Tage an. Erstaunlich ist dabei der Befund, daß Richthofen inzwischen in England und den USA fast bekannter und »beliebter« ist als in seinem Heimatland Deutschland. Noch erstaunlicher ist, daß sich bislang kein Historiker daran gesetzt hat, eine umfassende Biographie über Richthofen zu schreiben – weder in Deutschland noch in England oder den USA.13 Bücher gerade in englischer Sprache über Richthofen gibt es viele – sie dokumentieren einen Sachverstand, der sich teilweise aus einer dreißig- bis vierzigjährigen Beschäftigung mit der Thematik ergibt. In technikbegeisterten Expertenkreisen ist nahezu jede Schraube von Richthofens Flugzeugen namentlich bekannt und sytematisch katalogisiert. Versäumt wurde aber bislang, Richthofens Lebensweg umfassend darzustellen, kritisch zu hinterfragen und ihn historisch in die Zusammenhänge seiner Zeit und den Kriegsverlauf des Ersten Weltkriegs einzuordnen. Problematisch ist ferner, daß unter den Autoren neben einer exzellenten Detailkenntnis ein gewisses »Richthofen-Virus« grassiert. Von diesem »befallen« zu sein, äußert sich darin, daß sie sich mit der beschriebenen Person unmerklich immer stärker identifizieren und danach die offensichtliche oder verdeckte Begeisterung für den Kriegshelden Richthofen kaum noch Grenzen kennt. Die Autoren dieser Bücher sind Journalisten, Kriegsveteranen, ehemalige Militärs, Hobbyhistoriker oder Experten der Technik des Flugwesens im Ersten Weltkrieg. Deshalb fehlt es meist an Analysen, und die Darstellungen begnügen sich mit einer positivistischen Faktengeschichte. Nicht nachzuvollziehen ist beispielsweise der Streit, der die gelehrten Gemüter seit 1918 heftig erhitzt: die Frage, wie Richthofen am 21. April 1918 zu Tode gekommen ist. Die anglo-amerikanische Literatur über Richthofen hat sich in diese Streitfrage regelrecht »verbissen«, ohne daß die großen Zusammenhänge, in die Richthofen einzuordnen ist, überhaupt deutlich sind. Unzählige Artikel und Büchern gehen lediglich dieser historisch relativ belanglosen Frage nach.14 Dieser Streit erinnert an verbissene, scholastische Streitereien von Universitätsgelehrten im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Zur historischen Aufklärung über die Person und die Zeit Richthofens trägt er wenig bis gar nichts bei. Erstaunlich ist, daß diese Streitfrage in der Richthofen-Literatur einen solch breiten Raum einnimmt, ohne daß bislang eine einzige umfassende Biographie über Richthofen vorliegt.

Trotz dieses gerade bei Richthofen grassierenden Positivismus blieb die eigentlich zentrale Frage ausgespart: Wodurch wurde Richthofens ungeheuerliche Motivation in seinem Wesenskern letztendlich gespeist?

Die Beschäftigung mit Richthofen gibt Anlaß, über grundsätzliche Fragen nachzudenken: Warum tun sich deutsche Autoren heute mit der Person »Richthofen« so schwer? Warum wurde er bislang gerade von deutschen Historikern weitgehend ignoriert? Die Gründe, sich in Deutschland mit »Helden« im allgemeinen und »Kriegshelden« im besonderen schwer zu tun, sind offensichtlich: Nach der »Vergötterung« eines militärisch auftretenden »Heroen« namens »Adolf Hitler«, der sich als einer der größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts herausstellte, ist man in Deutschland weitgehend von der Vorstellung geheilt, daß »Helden« eine Nation, die ganze Welt oder zumindest Teile davon »retten« können. Nach zwei verlorenen Kriegen, die jeweils ein Desaster auch für die Überlebenden bedeuteten, ist es schwierig bis unmöglich geworden, in Deutschland »Kriegshelden« zu Vorbildern aufzubauen. Der Blick auf alles Militärische – ja gar eine Bewunderung oder Begeisterung dafür – ist den Deutschen weitgehend »abhanden« gekommen. Seit dem totalen Zusammenbruch von 1945 haben die Deutschen zudem Schwierigkeiten mit ihrer nationalen Identität. Diese Schwierigkeiten äußern sich in selbstverleugnendem Leisetreten, permanenten Selbstbespiegelungen, beständigen Bedenken von kritischen wie untätigen Bedenkenträgern und der kritik- wie hirnlosen Übernahme anglo-amerikanischer Kultur, Sprache und Lebensweise. Der vorauseilende Kulturgehorsam in einer globalisierten Welt bescherte Deutschland windschnittige Anglizismen wie »Handy« und »Servicepoint« – Begriffe, die international klingen, tatsächlich aber engleutsche Neuschöpfungen sind, die sowohl einem Engländer wie einem Amerikaner erklärt werden müssen. Welche Rolle spielt also ein junger Jagdflieger aus dem Ersten Weltkrieg namens »Richthofen« überhaupt noch in einer Zeit technologischer Beschleunigung, einer Informationsgesellschaft, die gerade dabei ist, Bildung und Tradition auf den Schrotthaufen einer entweder unbekannten oder verleugneten Geschichte zu werfen? Wäre es abwegig, gerade anhand einer im öffentlichen Bewußtsein weitgehend positiv besetzten Figur wie Richthofen sich mit den Begriffen »Held« und »Kriegsheld« wieder zu »versöhnen«, um daraus eine neudeutsche, wiedervereinigte Erinnerungskultur für verdiente Krieger zu schaffen? Könnten nicht gerade der offensichtliche »Heldenmut« und die »Ritterlichkeit« eines Manfred von Richthofen die offenbar notwendige historische Identität stiften, bei einer Bundeswehr, die von einer »Heimatarmee« von Staatsbürgern in Uniform mit dem Risikopotential einer örtlichen Freiwilligen Feuerwehr zu einer schnellen, kriegstauglichen NATO-Einsatztruppe gegen globale Terrorismusgefahrenherde mutiert oder mutiert werden soll?

Lediglich vereinzelte national Gesonnene, Militär- und Waffenfreunde, Reserveoffiziere oder Nostalgiker hegen und pflegen bis heute in Deutschland das Bild des »Helden Richthofen« als deutscher »Ritter der Lüfte«. Heutzutage als Deutscher auf deutsche Helden »stolz« zu sein, gehört nicht mehr – oder vielleicht noch nicht – zur »political correctness«. Gerade deshalb sind ultrarechte Kreise auf »problematische« traditionelle »Helden« stolz, um damit »unerschrocken« dokumentieren zu können, daß ihnen die »re-education« nach dem Kriege nichts »anhaben« konnte. Für diese lohnt es sich deshalb nicht, an dieser Stelle weiterzulesen, da die latente Gefahr besteht, daß das überlieferte Richthofenbild entgegen gewohnter Vorstellungen revidiert werden könnte.

Völlig anders als in Deutschland stellt sich die Lage in England und den USA dar: Dort ist der »Red Baron« jedem Schulkind ein Begriff. Richthofens Image ist gleichzeitig weltweit eine feste Größe im Heldenarsenal der Musik, in Kinofilmen und selbst in Cartoons. In dieser Popkultur steht »Richthofen« als Synonym für den preußisch-deutschen Offizier im Ersten Weltkrieg schlechthin: sei es als nobler »Gentleman« oder als unbarmherziger »Killer«. Mit dieser Form von Abziehbildern wird man der Person Richthofen natürlich nicht gerecht. Außerhalb der Popkultur dienen in den USA Richthofens Taten dazu, ein Beispiel für makellose Kriegerehre und Mannesmut abzugeben. Äußerungen von 1996 wie: »Of the many forms of human greatness, [Richthofen] might not be admitted by pacifists or those who have suffered [...]. He was, however, a great patriot, a great leader of men, a great inspiration not only to his fellow airmen but also to the ground troops who saw and admired his bravery«15 sind typisch und keineswegs die Ausnahme. Daß ein deutscher Autor heute ähnliches über Manfred von Richthofen schriebe, erscheint bislang noch als undenkbar.

Neueste Tendenzen zeigen, daß auch in Deutschland die Helden im allgemeinen und alte Kriegshelden im besonderen allmählich zurückkehren. Der renommierte, konservative Journalist Jürgen Busche (*1944) schrieb im Jahr 2004 über die Suche nach historischer Identität anhand von Biographien von »Helden« aus dem Ersten Weltkrieg: »Die nachgeholte [...] Heldenprüfung ist zu empfehlen, weil die deutsche Geschichte mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des letzten Krieges wieder den Einsatz deutscher Soldaten unter Kriegsbedingungen zu verzeichnen hat. Am Ende des 20. Jahrhunderts flogen Piloten der Luftwaffe Angriffe gegen feindliche Stellungen in Serbien. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kreuzen Schiffe der Bundesmarine – eingesetzt zur Terroristenbekämpfung – am Horn von Afrika. [...] Die Siegermächte der Weltkriege haben wenig Schwierigkeiten mit den Hauptsträngen ihrer Tradition. Sie haben ihre Feiertage, die sie mit Pomp und Gloria begehen, und es ist nicht ihre Sache, darüber nachzudenken, wie sich die Geschlagenen von Gestern dabei fühlen.«16 Die gedankliche Zielführung wird einige Sätze später klar: »Die deutsche Politik ist gegenwärtig weiter von pazifistischen Grundsätzen entfernt als je in der Geschichte der Bundesrepublik, aber zugleich waren die militärischen Leistungen der Deutschen im 20. Jahrhundert noch nie so sehr tabuisiert wie heute. Das ist ein bedenkenswerter Widerspruch in der Gestaltung des politischen Lebens angesichts der Tatsache, daß die Regierenden wieder von den Soldaten des Landes militärische Leistungen erwarten. Auch unter Einsatz ihres Lebens. [Bedingt durch den Zweiten Weltkrieg gibt es] als militärische Tradition der Deutschen [nichts, was] jener der Engländer oder Franzosen an die Seite zu stellen wäre.«17 Folglich ließe sich mit einer »intakten« eigenen, nationalen Militärtradition leichter in zukünftigen Kriegen, Konflikten und allgemeinen Bedrohungssituationen »verteidigen« als ohne. Ein Rückgriff auf »Helden« des Zweiten Weltkrieges ist aus leicht nachvollziehbaren Gründen jenseits von postum bundesrepublikanisch untadeligen »Lichtgestalten« wie »Rommel« oder »Stauffenberg« heute nur noch in »Landserheften« möglich. Was liegt da näher, Militärs des Ersten Weltkriegs einer »Eignungsverwendungsprüfung« zum deutschen Helden zu unterziehen? Aus unerfindlichen Gründen spart Busche in seinem Buch ausgerechnet »Richthofen« aus. Aber schon die Darstellung der »Heldenleben« anderer – heute inzwischen fast unbekannter – Protagonisten veranlaßte die jungnationale Presse zu enthusiastischen Beifallsstürmen: »Busche ist vernünftig genug, Mythisierungen gar nicht entmythologisieren zu wollen. Zu einem Helden gehört sein Mythos, die Ausschmückung um einen Wesenskern, der auch den ›Erfindungen‹ zu einer inneren Wahrheit verhilft. Denn das Erfundene bestätigt ja nur, was in Herz und Charakter ohnehin vorhanden war. Gerade deshalb konnten ›Sieger‹, die dennoch zu Besiegten wurden, in ein beziehungsreiches Zwielicht geraten, in dem Busche sie verständnisvoll beläßt.«18

Der »Held« und sein »Mythos« sind offenbar untrennbar miteinander verknüpft. Macht aber der Held den Mythos aus oder überwölbt der Mythos den Helden? Der »Held« ist genuin ein Begriff aus der Literatur. Beliebt sind Helden in Büchern oder Filmen, die nach dem Kampf gegen Ungeheuer oder dunkle Mächte siegen und von der Gesellschaft dafür entsprechend belohnt werden. Der natürliche Lebensraum eines Helden ist in der Antike das Epos, im Mittelalter die Handschrift, seit dem 17. Jahrhundert die Oper und seit dem 20. Jahrhundert die Kinoleinwand. Der Personalbestand der typischen Helden reicht von Achilles über Siegfried bis hin zu Superman. Besonders beliebt ist nach dem Niederkämpfen von Drachen als Belohnung die Hand einer holden Jungfrau. Seit jeher bemühen sich Kriegsberichterstatter, Militärhistoriker und Schriftsteller darum, reale Personen aus dem militärischen Bereich zu »Helden« zu machen. Spätestens seit dem Kult um Friedrich den Großen und seine Generäle besitzt die Stilisierung von Personen aus dem Militärbereich auch eine politische Funktion. Seit dem 20. Jahrhundert haben Militärstrategen und Journalisten, die mit den Möglichkeiten von Propaganda und psychologischer Kriegführung vertraut sind, erkannt, daß militärische Helden sowohl als Identifikationsmuster, Propagandawaffe, aber auch als Motivationshilfe dienen können.

Eng mit Helden sind Mythen verbunden. »Mythen« sind ursprünglich sagenhafte Ausschmückungen der Beziehung von Sterblichen oder Halbgöttern zu ihren Göttern. »Moderne« Mythen greifen Bilder oder historische Momente auf, die in einer belletristischen Form verdichtet werden. Moderne Mythen können Identifikationsmuster für Gesellschaften bilden oder sogar zur kulturellen Grundlage ganzer Weltanschauungen werden. Mythen können sozialen Zusammenhalt erzeugen und Herrschaft sichern. Einem Objekt oder einer Person wird sowohl im klassischen wie im modernen Mythos eine irrational-übernatürliche Aura verliehen, die im übertragenen Sinne zu einer »Vergötterung« führt. Ernst Jünger (1895–1998) lieferte 1928 ein gutes Beispiel dafür, wie ein »Held« Qualitäten eines »Halbgottes« bekommt: »Wir lieben es, zu ehren, Ehrfurcht zu empfinden; und das Wort Furcht drückt die ganze Tiefe des Abstandes aus von dem, dem die Ehre gilt: Es ist der Held, der allen menschlichen Maßen entwachsen ist, und der wie Herkules an die Tafel der Götter gezogen wird. Der Held gehört nicht der Masse an. Wo der Deutsche aber verehrt, da widerstrebt es ihm auch, sich aus dem Holze der Masse einen Heiligen zu schnitzen, sondern diese Verehrung gilt immer einem ganz Bestimmten, Besonderen, Eigenartigen.«19 Der Held entschwebt nach dieser Mythenvorstellung seinem »gewöhnlichen« Menschsein in die verehrungswürdige Position eines Halbgottes. Folglich bedient der »Mythos« grundsätzlich eher die »Religion« und steht der historischen Wissenschaft diametral entgegen. Wenn man also einen Mythos genauer untersucht, mit Fakten konfrontiert und nach Plausibilitäten fragt, müßte es zwangsläufig möglich sein, einer historischen Wahrheit näherzukommen.

Doch was haben »Mythen« und »Heldentum« mit einem jungen deutschen Offizier namens »Manfred von Richthofen« zu tun, der zwischen 1916 und 1918 damit beschäftigt war, in einem kleinen Jagdflugzeug in Flandern feindliche Flugzeuge abzuschießen?

Rolf Italiaander (1913–1991) ließ sich 1938 zu Äußerungen hinreißen, die diesen Zusammenhang deutlich machen: Richthofen war im Juni 1917 mit einem Kopfschuß abgestürzt und erfüllte danach seinen Dienst am Vaterland entschlossener als vorher: »Jetzt wurde aus einem Nur-Menschen ein Übermensch im Sinne Nietzsches, einer der peinlichst ausgewählten Botschafter Zarathustras, die die gewaltige Aufgabe haben, der in einem materialistischen Zeitalter aufgewachsenen Jugend vom wahren Ziele zu künden, dessen uns gemäße Form das Preußentum ist. Ja, Fliegertum ist in der heutigen Zeit diejenige Lebensform, in der sich das Heldische am stärksten ausdrückt.«20 Diese Einschätzung, Manfred von Richthofen zu der mythischen Gestalt eines deutschen Nationalhelden zu machen, ist nicht nur zeittypisch für das »Dritte Reich«. Schon während der Trauerfeier am Gymnasium, das Manfred von Richthofen kurzzeitig als Schüler in seiner Heimatstadt besucht hatte, führte ein Studienrat 1918 aus: »Der jugendliche, herrliche Held und Mensch, er ist nicht mehr. Er, der edle, ritterliche [Knappe], starb unbesiegt. Diese Tatsache scheint festzustehen, obwohl sonst ja rätselhaftes Dunkel seinen Tod umhüllt, ein Dunkel, das wir wohl niemals werden völlig aufhellen können und auch nicht aufhellen wollen. Seine Siegfriedgestalt schläft nun in feindlicher Erde den ewigen Schlaf.«21

Die Geschichte des »Helden« Richthofen zu schreiben, kann eine vergleichsweise einfache Aufgabe sein. Fehlen die Fakten oder historischen Zusammenhänge, bleibt die dichterische »Freiheit«, die eine »runde« Herorengeschichte liefert. Die bisherige Richthofenliteratur liefert genügend Helden- wie Mythenstoff. Auch auf der Kinoleinwand bedient man sich dieser Vorgehensweise – seien dies amerikanische oder deutsche Produktionen.

Dieses Buch verfolgt einen anderen Ansatz: Hier soll der »Mensch« jenseits vom »Helden« und »Mythos« sichtbar gemacht werden. Wie wurde dieser Mensch erst zum Helden und dann zum Mythos? Es soll mittels einer Tiefenbohrung gezeigt werden, welcher Mensch unter den mittlerweile dicken historischen und ideologischen Ablagerungsschichten »Mythos« und »Held« vielleicht bereits zu Lebzeiten begraben und vergessen worden war.

Lohnt sich bei Manfred von Richthofen überhaupt der Versuch, hinter die Fassade des strahlenden, jungen Helden zu schauen? Besitzt ein 25jähriger Offizier, der eine schneidige, in Millionenauflage gedruckte Autobiographie mit dem Titel »Der Rote Kampfflieger« hinterließ, überhaupt genügend »Substanz«, um sich eingehender mit ihm zu beschäftigen? Was steckt wirklich hinter dieser glattgescheitelten Fassade des forschen, preußischen Offiziers, der auf eine mysteriöse Weise zu Tode kam und in den Köpfen vieler bis heute zum Inbegriff des »modernen« Helden zählt?

Begeben wir uns also auf einen Weg, der zeigen soll, wie Mensch und Mythos miteinander zusammenhängen und voneinander zu unterscheiden sind. Was trieb Manfred von Richthofen in seinem tiefsten Wesenskern dazu, zum erfolgreichsten Jagdflieger seiner Zeit zu werden? Nicht weniger spannend ist, wie der Mythos um ihn entstand und warum dieser Mythos bis auf den heutigen Tage eine derartige Faszination auf die Nachgeborenen ausübt.

2. Kapitel FAMILIÄRER HINTERGRUND UND DIE FORMUNG ZUM OFFIZIER

Anders als in bürgerlichen Familien, bei denen die Gegenwart und die persönliche Leistung ausschlaggebend für das Bewußtsein sind und waren, spielt bei adeligen Familien die Familiengeschichte, die sich meist über Jahrhunderte erstreckt, eine maßgebliche Rolle für das eigene Selbstverständnis. Die ruhmreichen Vorfahren besitzen für die gerade lebende Generation Vorbildfunktion – es gilt, den Ruhm der Vorfahren im eigenen Leben zu erkennen und selbst fortzuschreiben. Um sich das Standesbewußtsein Manfred von Richthofens vorstellen zu können, ist es daher fruchtbringend, einen kurzen Blick in die Richthofensche Familienchronik zu werfen.

Der Gutsherr Johann Praetorius (1611–1664), lutherischer Konfession, wurde von Kaiser Leopold I. (1640–1705) unter Hinzufügung des Beinamens »von Richthofen« am 29. Juli 1661 in den erblichen, böhmischen Ritterstand erhoben. Seitdem gehörte die Familie dem Adel des Deutschen Reiches an. Die Vermögenslage des Hauses war so prächtig, daß die Söhne dieses ersten »Richthofen« bereits über 16 Rittergüter in Niederschlesien verfügten. Am 30. März 1681 erfolgte die Aufnahme in den preußischen Ritterstand. Die Besitzungen der Familie lagen in Schlesien in den Kreisen Striegau, Jauer, Schweidnitz und Liegnitz. Die Familie von Richthofen wurde 1741 von Friedrich dem Großen (1712–1786) in den preußischen Freiherrenstand erhoben. Französischer Adelsnomenklatur entsprechend konnte man sie damit »Barone« nennen. Die Richthofens gehören somit nicht dem »Uradel« an, der sein Adelsprädikat aus dem Mittelalter ableitet. Sie sind damit aber auch keine Angehörigen des unter Adeligen geringgeschätzten »Beamtenadels«, der im 19. Jahrhundert inflationär in die Adelskaste aufgenommen wurde. Die Familie Richthofen verblieb im Freiherrenstand – ein weiterer Aufstieg in den »Hochadel«, der mit dem Grafenstand beginnt, war ihnen nicht mehr vergönnt. Adelsgeschichtlich lag die Familie Richthofen somit in jeder Hinsicht im »gesunden Mittelfeld«.

Die Richthofens sind ein weit verzweigtes Adelsgeschlecht, bei denen ein Außenstehender leicht den Überblick verlieren kann. Viele der heutige Namenträger »von Richthofen« suggerieren, aufs engste mit dem berühmten Manfred von Richthofen verwandt zu sein. Tatsächlich aber gehört der genealogische Zweig der Kernfamilie des Jagdfliegers zu einem relativ kleinen Ast im Stammbaum ohne weitreichende Verzweigungen. Diejenigen, die mit Manfred von Richthofen tatsächlich recht nah verwandt sind – und das sind die Nachkommen seiner Geschwister Ilse, Bolko und Lothar –, verzichten heute darauf, explizit auf diesen Kriegshelden hinzuweisen und sich so mit dessen Meriten zu schmücken. Dennoch melden sich immer wieder bislang unbekannte leibliche »Enkel« des Roten Barons bei Zeitungen, Filmgesellschaften und sonstigen Medien. Diese Verwandtschaft ist besonders merkwürdig, da Manfred von Richthofen niemals verheiratet war, keinerlei Kinder hatte und darüber hinaus ein besonderes Verhältnis zu Frauen besaß, auf das noch genauer einzugehen ist. Es geht diesen zahlreichen Richthofen-»Enkeln« folglich nicht um irgendeine tatsächliche Verwandtschaft, sondern darum, irgendwie vom Mythos Richthofen noch heute zu profitieren. Noch bizarrer ist es, wenn bei amerikanischen Internet-Auktionshäusern regelmäßig »garantiert« echte »Original-Haare« des Roten Barons auftauchen. Da die Klon-Technik noch nicht weit genug fortgeschritten ist, ist nicht davon auszugehen, daß bislang ein geklonter Manfred von Richthofen-Abkömmling aus der Erbinformation einer isolierten Haarzelle geschaffen worden sein kann. Im übrigen wird sich der tatsächliche Haarspender köstlich über die Einfalt von gutgläubigen Richthofen-Devotionaliensammlern amüsieren, die für solch ein Haar zwischen 500 und 2000 $ bezahlen. Klon- und Vermarktungsmöglichkeiten gäbe es bei dieser Geschäftsidee zur Genüge, da ein Mensch statistisch zwischen 100000 und 150000 Kopfhaare besitzt.

Manfred von Richthofen gehört zur Linie Richthofen-Gäbersdorf, Haus Romberg, die von seinem Urgroßvater, Julius von Richthofen (1799–1862), begründet worden war. Julius hatte 1827 eine gewisse Thekla von Berenhorst (1807–1890) geheiratet. »Berenhorst« war ein anhaltisches Adelsgeschlecht, das aus der nebenehelichen Verbindung des Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau (1676–1747) mit einer Bediensteten am Dessauer Hof namens Sophie Eleonore Söldner (1710–1779) hervorgegangen war. Thekla von Berenhorst war somit genealogisch die Enkelin des »Alten Dessauers«. Dieser Leopold von Anhalt-Dessau gehört zu den berühmtesten Heerführern in der Armee Friedrichs des Großen.1

Manfreds unmittelbaren Vorfahre hatten im 18. und 19. Jahrhundert als Gutsherren ihre landwirtschaftlichen Güter in Schlesien bewirtschaftet und gingen gerne auf die Jagd in den umliegenden Wäldern und Fluren. Irgendwelche Berühmtheiten hatte dieser Zweig der Familie Richthofen in dieser Zeit nicht hervorgebracht: weder Gelehrte noch Offiziere oder gar Generäle. Erst Manfreds Vater, Albrecht Baron von Richthofen (1859–1920), war der erste aktive Offizier dieser Richthofen-Linie. Um dieses »Manko« zu kaschieren, keine berühmten Offiziere oder Heerführer in der direkten Namenslinie »Richthofen« vorweisen zu können, war es in diesem Zweig der Familie beliebt, die erwähnte Ahnenschaft über Thekla von Berenhorst mit Leopold von Anhalt-Dessau besonders hervorzuheben. Manfreds Bruder Bolko schrieb dazu 1933 stolz: »Wenn man will, darf man [...] annehmen, daß das Blut des Siegers von Höchstädt, Turin und Kesselsdorf auch in seinen Nachfahren unverändert wirksam geworden ist.«2 Diese zelebrierte »Blutsverwandschaft« kam natürlich nicht von ungefähr: Das »Siegerblut« eines Generals bei Friedrich dem Großen mußte auch im Körper des »Siegers« Manfred von Richthofen seine Wirkung zeigen. Damit war ein irrationaler Grundstein für die Errichtung der Richthofen-Legende gesetzt. Ein Gemälde des »Alten Dessauers« war in Manfred von Richthofens Elternhaus stets präsent und hat ihn und seine Geschwister die ganze Kindheit lang begleitet.3

Manfred von Richthofen selbst sah das Verhältnis zu seinen Ahnen und die fehlende militärische Anciennität erheblich entspannter als der Rest seiner Familie: »Die Familie Richthofen hat sich in den bisherigen Kriegen an führender Stelle eigentlich verhältnismäßig wenig betätigt, da die Richthofens immer auf ihren Schollen gesessen haben. Einen Richthofen, der nicht angesessen war, gab es kaum. War er’s nicht, so war er meistenteils in Staatsdiensten. Mein Großvater, und von da ab alle meine Vorväter, saßen in der Gegend von Breslau und Striegau auf ihren Gütern. Erst in der Generation meines Großvaters wurde ein Vetter meines Großvaters als erster Richthofen General. In der Familie meiner Mutter, einer geborenen von Schickfuß und Neudorf, ist es ähnlich wie bei den Richthofens: wenig Soldaten, nur Agrarier. Der Bruder meines Urgroßvaters Schickfuß fiel 1806. In der Revolution 1848 wurde einem Schickfuß eines seiner schönsten Schlösser abgebrannt. Im übrigen haben Sie’s alle bloß bis zum Rittmeister der Reserve gebracht. Auch in der Familie Schickfuß sowohl wie Falckenhausen – meine Großmutter ist eine Falckenhausen – kann man nur zwei Hauptinteressen verfolgen. Das ist Reiten, siehe Falckenhausen, und Jagen, siehe den Bruder meiner Mutter, Onkel Alexander Schickfuß, der sehr viel in Afrika, Ceylon, Norwegen und Ungarn gejagt hat. Mein alter Herr ist eigentlich der erste in unserem Zweig, der auf den Gedanken kam, aktiver Offizier zu werden. Er kam früh ins Kadettenkorps und trat später von dort bei den 12. Ulanen ein. Er ist der pflichttreueste Soldat, den man sich denken kann.«4 Manfred von Richthofen hatte es 1917 nicht mehr nötig, auf irgendwelche bedeutenden Vorfahren zu verweisen. Sein persönlicher Ruhm überstrahlte jegliche fahle Erinnerungen an die Heldentaten von friderizianischen Kavalleriegenerälen oder Feldherren des 18. Jahrhunderts bei weitem. Richthofen war sich bewußt, was er selbst geleistet hatte – sein Denken war in dieser Frage weniger ständisch-adelig, sondern eher bürgerlich-leistungsorientiert.

Bemerkenswert in der Familiengeschichte dieses Zweiges der Richthofens ist allerdings das Stammschloß, auf dem die Familie seit 1846 lebte und das diesem Zweig seinen Namen gab: das Schloß Romberg. Dieses Schloß war zwischen 1777 und 1781 vom berühmten Architekten Carl Gotthard Langhans (1732–1808) erbaut worden. Langhans’ Werke gehören zu den frühesten Bauten des Klassizismus in Deutschland. Sein bekanntestes Werk ist das Brandenburger Tor in Berlin. Das preußisch-schlichte Landschloß Romberg der Familie Richthofen zählt zu den schönsten klassizistischen Profanbauten während seiner schlesischen Schaffensperiode. »Schloß« ist dabei eigentlich ein falscher Begriff für dieses Gebäude: Die Bezeichnung »Herrenhaus« wäre aufgrund der Größe angebrachter. Manfreds Mutter bemerkte später über dieses Anwesen: »Als ich mein schwiegerelterliches Haus kennenlernte, lebte man dort auf einem recht bescheidenen Fuß. Es war so, wie auf vielen einfachen schlesischen Landsitzen. Aber es war doch ganz besonders reizvoll in Romberg. Das hochgelegene Schlößchen, die liebliche Umgebung, Es war ein kleines Idyll.«5 Julius von Richthofen, der Großvater des Kampffliegers, hatte 1866 an diesem Schloß stolz das Familienwappen über dem Hofportal angebracht.6

Manfred von Richthofen kam keineswegs auf diesem oder einem anderem Schloß auf die Welt, sondern in der elterlichen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in der Kaiser-Wilhelm-Straße 92–96, Ecke Goethestraße, in Breslau.7 Lediglich in den Ferien besuchten Manfred und seine Geschwister ihre Großeltern, die auf dem »Schloß« Romberg ihren Lebensabend verbrachten.8 Die Familie Richthofen konnte das Stammschloß Romberg allerdings nicht langfristig im Familienbesitz halten – es wurde nach dem Tode der Großmutter 1913 verkauft, existiert aber als Gebäude noch heute.

Manfred Albert von Richthofen wurde am 2. Mai 1892 geboren als Sohn des 33jährigen Hauptmanns Freiherr Albrecht von Richthofen (13.11.1859–08.03.1920) und seiner 24jährigen Gattin Freifrau Kunigunde von Richthofen (27.11.1868–24.04.1962) geborene von Schickfuß und Neudorff. Manfred war der älteste Sohn – er hatte noch drei Geschwister: Lothar Siegfried (27.09.1894–04.07.1922), Elisabeth Therese Luise Marie, genannt »Ilse« (08.08.1890–02.01.1963), verheiratet als Freifrau von Reibnitz, und Bolko Karl Alexander (16.04.1903–03.12.1971).

Die Richthofens zogen 1901 von Breslau nach Schweidnitz. Schweidnitz (heute Swidnica) war eine verträumte Kleinstadt in Niederschlesien, 50 Kilometer südwestlich der schlesischen Metropole Breslau gelegen. Zu Zeiten der Richthofens wohnten dort rund 30000 Einwohner. Schweidnitz war eine typische Kleinstadt, in die sich vornehmlich pensionierte, schlesische Offiziere zurückgezogen hatten.9 Die Lebensumstände der Familie Richthofen sind nüchtern betrachtet kaum als »adelig«, sondern eher als »großbürgerlich« zu kennzeichnen. Albrecht von Richthofen war kein adeliger Gutsherr auf seinem Stammschloß, der über seine Untergebenen »herrschte«, sondern wohnte als Pensionär mit Familie in einer normalen Wohnung zur Miete.

Die Kinderfotos, die den kleinen Manfred zeigen, lassen eher ein kleines Mädchen vermuten: zarte Gesichtszüge und ein schüchterner, fast ängstlicher Blick in die Welt. Bis zu seinem neunten Lebensjahr besuchte Manfred von Richthofen keine reguläre Schule, sondern wurde von seinen Eltern und Hauslehrern erzogen und unterrichtet.10

Um Manfreds spätere militärische Karriere zu verstehen, ist es interessant, sich den Lebensweg seiner Eltern zu vergegenwärtigen: Manfreds Vater, Albrecht von Richthofen, war der erste aktive Offizier dieser Richthofen-Linie. Er diente als Rittmeister im Leib-Kürassierregiment in Breslau. Bei der Rettung eines ihm untergebenen Soldaten aus dem Wasser hatte er sich ein schweres Ohrenleiden zugezogen, was eine lebenslange Schwerhörigkeit zur Folge hatte. Diese Schwerhörigkeit war so stark, daß er fast taub war. Aus diesem Grunde wurde Albrecht aus dem aktiven Militärdienst entlassen – war aber noch kurz vorher zum »Major« befördert worden. Albrecht blieb eine »Ehrentätigkeit« bei der Armee mit dem eigens für ihn geschaffenen Posten eines »Pferdevormusterungskommissars und Platzkommandanten« im Range eines Majors. Wenigstens konnte er sich damit seiner eigentlichen Leidenschaft, der Reiterei, weiter hingeben. Als frustrierter Frühpensionär also hatte er sich mit seiner Familie 1901 in das kleine Schweidnitz zurückgezogen. Wegen seines Leidens war seine militärische Karriere jäh beendet worden. Seine nur teilweise realisierten militärischen Ambitionen projizierte er fortan voll und ganz auf seinen ältesten Sohn Manfred. Albrechts große Leidenschaft war zeitlebens die Jagd: Über 400 Tierschädel von erlegtem Wild und Vögeln »zierten« die Räume in der Richthofenvilla. Das Verhältnis zu seiner Ehefrau war nicht spannungsfrei: Kunigunde, eine geborene von Schickfuß und Neudorff, stammte aus einer wohlhabenderen und angeseheneren Familie als er selbst. Eine repräsentative, großbürgerliche Villa konnte erst nach Kunigundes reicher Erbschaft nach dem Tode ihres Vaters 1903 gekauft werden. Seit dieser Zeit wohnten die Richthofens in einer schmucken, freistehenden Villa am Stadtrand von Schweidnitz. Das Haus besaß einen kleinen Garten und war in den 1880er Jahren erbaut worden. Die Adresse lautete »Striegauer Straße Nr. 10«.

Wenn man zwischen den Zeilen ihrer veröffentlichten Tagebücher lesen kann, wird deutlich, daß Kunigunde von Richthofen ihrem Gatten keine sonderlich große Achtung entgegenbrachte. Ein erst vor kurzem wiederentdecktes, bislang gänzlich unbekanntes Manuskript bestätigt diese Vermutung. Kunigunde spricht hier ganz unumwunden ihre problematische Ehekonstellation an: »Ich heiratete [1889] mit 20 Jahren. [...] Eine schöne Hochzeit wurde mir ausgerichtet. Aber als unser alter Kutscher mich nach der Hochzeit im Wagen nach Breslau fuhr, habe ich dennoch so geweint, daß er, wie er sagte, am liebsten umgedreht wäre und mich wieder zurückgebracht hätte. Unsere Ehe begann auch bald mit allerlei Sorgen. Und zwar waren diese meist pekuniärer Art. [...] Nur wenige Monate nach unserer Hochzeit erklärte ihm sein Vater: ›Ich kann Dir jetzt keine Zulage mehr geben, ich brauche mein Geld nötig für meine anderen Kinder. Du bist ja nun versorgt, und wenn Ihr nicht auskommt, so wende Dich an Deinen reichen Schwiegervater.‹ Das war bitter. Mein Mann sagte es mir, ich solle mich an meinen Vater wenden! Mir war das peinlich. Ich tat es nicht. So lebten wir recht knapp, und ich wollte auch nicht, daß es bemerkt würde. [...] Mein Mann war schwerhörig [und] ein passionierter Soldat. Er konnte vorzüglich reiten. Und die Jagd war seine größte Passion. Vom praktischen Leben verstand er wenig und noch weniger von Geld.«11

Kunigunde war kultiviert, gebildet und vielseitig interessiert – die Interessen ihres Mannes beschränkten sich vornehmlich auf das Jagen und Reiten. Alle ihre Bewunderung und Sorge konzentrierte sie in erster Linie auf ihre Söhne Manfred und Lothar. Ilse war als Tochter »ein Fall für sich«, für die man eines Tages eine »gute Partie« finden mußte. Kunigunde bekannte später: »Wie ein Ausgleich des Schicksals erschienen mir stets unsere Kinder. Ich hatte oft Gelegenheit, sie mit anderen Altersgenossen zu vergleichen. [...] Sie waren wohlerzogen, bescheiden und schön. Sie sollten auch gut erzogen werden.«12 Bolko war das von den Eltern liebevoll behütete »Nesthäkchen«. Innerhalb dieser Familie spielte der fast taube Familienvater nur nach außen das patriarchalische »Familienoberhaupt« – tatsächlich führte Mutter Kunigunde das »Regiment« in der Familie und sollte dies auch bis an ihr Lebensende als hochbetagte Greisin tun. Was sie wollte, hatte zu geschehen – im Kleinen wie im Großen. Dieses Regiment ging so weit, daß sie auch nicht davor zurückschreckte, später die eigenen Enkel nach kleinen Mißgeschicken »anständig« zu verprügeln.13 Man kann sich leicht ausmalen, welche »preußische« Erziehung die eigenen Kinder unter einer solchen Mutter »genossen« haben müssen.

Das Verhältnis zwischen Manfred und seiner Mutter war trotzdem außerordentlich eng. Kunigunde erinnerte sich später: »Schon sehr jung war er sehr verständig und vernünftig. So kam es, daß ich mich gewöhnte, vieles mit ihm zu bereden, und er ist mir oft, trotz seiner Jugend, ein guter Ratgeber und Freund gewesen. Ich sehnte mich oft danach, dieses und jenes mit ihm zu besprechen, und er traf auch meistens das Richtige.«14 Diese Bemerkung läßt abermals eine merkwürdige Familienkonstellation erahnen. Normalerweise würde eine Ehefrau mittleren Alters, die um 1900 lebte, wichtige Dinge mit ihrem Ehemann und nicht mit dem jugendlichen Sohn besprechen. Sowohl bei Manfreds als auch Kunigundes Erzählungen spielt der »Familienvater« Albrecht von Richthofen so gut wie keine Rolle. Ihr Mann war in ihren Augen lediglich ein gescheiterter, mäßig bemittelter, ungebildeter Kavallerieoffizier. Im krassen Gegensatz dazu stand ihre mütterliche Bewunderung und Begeisterung für ihre Söhne. Eines vermißt man in Kunigundes zahlreichen Bemerkungen vor allem: daß sie sich auch nur einmal dazu bekannte, sowohl ihren Mann als auch ihre Söhne Manfred und Lothar zu »lieben«.

Albrecht von Richthofen hatte als Pensionär viel Freizeit. Seines Sohnes Manfred nahm er sich besonders an. Seine beiden Leidenschaften – die Jagd und das Reiten – brachte er frühzeitig Manfred nahe, der ebenfalls schnell Gefallen daran fand. Von Kindesbeinen an wurde Manfred zu einem guten Reiter und exzellenten Jäger erzogen. Schon als Knabe nahm er an großen Jagdgesellschaften teil. Während andere Kinder ihre Haustiere umsorgen und verhätscheln, lernte Manfred schon als Jugendlicher, auf Tiere zu schießen und diese nach dem Abschuß zu »versorgen« – wie es in der Jägersprache15 heißt: d.h. ihnen die Gedärme zu entnehmen oder ihnen nach einem Streifschuß den »Gnadenschuß« zu geben. Er wußte von Kindesbeinen an, was eine »Schweißspur« ist und daß der erfolgreiche Jäger dieser lediglich zu folgen braucht, um seine Beute aufzufinden. Für Nichteingeweihte: eine »Schweißspur« bezeichnet die Blutspur, die ein Wild hinterläßt, das sich angeschossen mit letzter Kraft noch irgendwo hinflüchten will und aufgrund einer großen Schußwunde allmählich doch irgendwo verblutet zusammenbricht. Das Vokabular der Jägersprache ist voll von ähnlichen Euphemismen: Das »Abnicken« bedeutet, ein verletztes Wild nach einem Schuß mit einer blanken Waffe, dem »Nicker«, das Rückenmark am Hals durchzuschneiden. Der Name rührt daher, daß der Kopf des Tieres nach vorne gebeugt werden muss, um die richtige Stelle zwischen Halswirbel und Hinterhauptloch zu treffen. Wenn einem Tier durch einen Bauchschuß bereits die Gedärme heraushängen und es immer noch lebt, sagt der Jäger dazu »waidwund«. Im »Wundbett« verendet schließlich das getroffene und verletzte Wild.

Manfred verinnerlichte diese Jägersprache – sie taucht des öfteren in seinen autobiographischen Äußerungen über seine Luftkämpfe auf. Diese Jägersprache ist abstrakt gesehen dadurch gekennzeichnet, daß Tötungshandlungen und alles, was damit zusammenhängt, durch harmlos klingende Begriffe verschleiert und »entschärft« werden. Mit Hilfe dieses Vokabulars wird es dem Jäger innerlich erleichtert, seine letzten Reste der normalerweise jedem Menschen angeborenen Tötungshemmung zu überwinden. Es geht schließlich nicht um das Töten von Lebewesen, sondern um das »Pflegen« seines Reviers. Ein regelrechtes »Jagdfieber«, das den Jäger selbst nach jahrelanger Routine kurz vor dem Abschuß ergreift, würde er gegenüber einem Nichtjäger nie zugeben.

Eine intellektuelle Erziehung, die über einfache Bildungsanforderungen und die eben beschriebenen Kenntnisse im Jagen und Reiten hinausging, vermittelte Albrecht von Richthofen weder Manfred noch Lothar. Lediglich für ein Jahr besuchte Manfred in seiner Heimatstadt Schweidnitz das dortige Gymnasium. Auch wenn Albrecht von Richthofen normalerweise in dieser Familie wenig zu sagen hatte: Für die Lebensplanung seines ältesten Stammhalters hatte er ganz präzise Vorstellungen, die er durchsetzen wollte – komme was da wolle. Diese Einstellung wird umso nachvollziehbarer, wenn man sich klarmacht, wie seine Gattin ihm ein Leben lang relativ unmißverständlich vor Augen geführt hatte, daß er selbst ein »Versager« sei. Manfred sollte das tun, was Albrecht verwehrt geblieben war: in der Armee Seiner Majestät »richtig« Karriere machen. So beschloß der Vater, daß sein Sohn auf die für Schlesien zuständige Kadettenanstalt in Wahlstatt bei Liegnitz (heute Legnickie Pole, Polen) geschickt wird. Es erschien ihm völlig undenkbar, daß sein Sohn etwas anderes als Offizier werden könne. Ob Manfred dies, seinen Neigungen entsprechend, überhaupt werden wollte, war für den Vater ohne jedes Interesse. Der Junge hatte zu gehorchen und damit basta. Manfreds Zeit in Wahlstatt begann im August 1903. Im Alter von 11 Jahren waren Manfreds Kindheit und Jugend damit faktisch abrupt beendet – von nun an zählten nur noch die Begriffe »Militär«, »Gehorsam« und »Drill«. Manfreds Äußerungen lassen aus der Rückschau durchscheinen, was diese Kadettenanstalt für ihn bedeutete: »Als kleiner Sextaner kam ich in das Kadettenkorps. Ich war nicht übermäßig gerne Kadett, aber es war der Wunsch meines Vaters, und so wurde ich wenig gefragt. Die strenge Zucht und Ordnung fiel einem so jungen Dachs besonders schwer.«16