Der Ruf des weißen Pfaus - Usch Luhn - E-Book

Der Ruf des weißen Pfaus E-Book

Usch Luhn

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Beschreibung

Feline kann sich an Großmutter Felicitas gar nicht erinnern. Warum soll sie also in deren alten Herrenhaus ihre Ferien verbringen? Das riesige Anwesen ist so verwildert, dass sie sich wie in einem Labyrinth darin verirrt. Warum schimmert der kleine See im Park nur so mysteriös? Fast wäre sie hineingefallen, hätte der Junge Pavo sie nicht im letzten Moment festgehalten. Außerdem sind da noch die grässlichen Rufe der Pfaue, die sie auf Schritt und Tritt verfolgen – sogar bis in ihre Träume! Und auch Großmutter Felicitas verhält sich sehr merkwürdig. Wer ist das fremde Mädchen, das ihr aus den Spiegeln entgegenschaut und nachts durch die verborgenen Gänge des Hauses spukt? Mit Pavos Hilfe nimmt Feline schließlich Kontakt mit einer geheimnisvollen Welt auf der anderen Seite des Spiegelsees auf. Doch damit hat ihr Abenteuer gerade erst begonnen …

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Seitenzahl: 247

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Inhalt

1. Die Ankunft

2. Pavo

3. Der Teich

4. Das Haus

5. Der Traum

6. Die Großmutter

7. Das Abendessen

8. Eine unruhige Nacht

9. Der Gast aus Haiti

10. Der Garten

11. Das Café

12. Friedhof der Kuscheltiere

13. Das Dorf

14. Das verbotene Zimmer

15. Das Gewitter

16. Der weisse Pfau

17. Viola

18. Auf Violas Spuren

19. Noch mehr Geheimnisse

20. Die Wahrheit

21. Neben der Spur

22. Erkenntnisse

23. Verschiedene Welten

24. Der Dritte im Bunde

25. Alles magisch

26. Im Feenreich

27. Der Fluch

1. Die Ankunft

»So alt habe ich mir das Haus aber nicht vorgestellt!«, sagte Feline. Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. Ihre Tante Nadia brachte das Auto direkt an der halbhohen Mauer, die das Anwesen umschloss, zum Stehen und schwieg einen Augenblick.

»Und so riesig«, setzte Feline nach. »Wohnt Oma wirklich allein in dem Kasten?«

Nadia atmete tief durch. »Wahnsinn. Ich war so lange nicht mehr hier. Ich kann nicht fassen, dass sich die Rosen schon bis zum Dachfenster hinauf ranken.«

Sie schüttelte den Kopf und nahm erst jetzt die Hände vom Lenkrad.

»Nadia, antworte mir«, drängelte Feline. Sie nannte ihre Tante immer nur beim Vornamen. Vielleicht weil die zehn Jahre jünger war als Felines Mutter Sara.

»Ja, natürlich wohnt sie darin.« Jetzt klang Nadia genauso ungeduldig wie Feline. »Warum sind wir sonst hier?«

Feline schürzte die Unterlippe. »Das frage ich mich auch.« Und weil Nadia nichts erwiderte, murmelte sie ein »Echt tolle Ferien …« hinterher.

Nadia seufzte. »Feline, wir haben das doch besprochen. Deine Großmutter braucht unsere Hilfe. Ihr Beinbruch ist kompliziert, und sie ist mutterseelenallein. Ich bin sicher, sie freut sich riesig auf dich.«

Feline war nicht überzeugt. »Ach, auf einmal. Bisher hat sie sich auch nicht für mich interessiert. Ich kenne sie ja überhaupt nicht.« Sie stellte mit Genugtuung fest, dass ihrer Tante darauf keine Antwort einfiel.

Stattdessen öffnete Nadia die Autotür und stieg plötzlich sehr entschlossen aus. »Auf geht’s«, bestimmte sie mit fester Stimme. »Es gibt keine andere Lösung.« Sie steuerte das schmiedeeiserne Portal an und drückte auf einen winzigen Klingelknopf, der unter dicht wucherndem Grünzeug verborgen lag. »Da muss wirklich mal ein Gärtner ran«, rief sie betont fröhlich.

Feline blieb trotzig sitzen. Es gab jede Menge besserer Lösungen, fand sie.

Ihre kostbaren Sommerferien an diesem öden Ort zu verschwenden, war die am wenigsten verlockende.

Eigentlich waren ja ihre Eltern an allem schuld.

Als Ärzte für eine Hilfsorganisation waren sie in Krisengebieten unterwegs, deshalb besuchte Feline ein Internat. Das war kein Problem, sie ging dort gerne zur Schule und teilte sich ein Zimmer mit ihrer besten Freundin Mila. Dafür verbrachte sie die Sommermonate gemeinsam mit ihren Eltern. Nur dieses Jahr war plötzlich alles anders.

Ihre Eltern arbeiteten auf einem Hospitalschiff im Mittelmeer und hatten spontan entschieden, den Familienurlaub auf den Winter zu verschieben.

Feline war alles andere als begeistert gewesen, besonders als sie erfuhr, dass sie auf dem Hospitalschiff nicht mitfahren durfte. Leider war auch in dem Feriencamp, in dem Mila einen Tauchkurs belegte, so kurzfristig kein Platz mehr frei.

Zum Glück bot sich Nadia an, mit ihr zu verreisen.

Nadia war Felines Patentante und die kleine Schwester ihrer Mutter. Feline war sofort einverstanden, denn sie fand Nadia richtig cool, und Nadia hatte etwas Wertvolles, was Felines Eltern nicht hatten: Zeit. Als Reisejournalistin war es Nadia ohnehin gewohnt, überall zu arbeiten. Sie war immer bereit für Neues und hatte große Lust, mit Feline tauchen zu lernen.

Gerade als Feline begann, sich auf das Tauchabenteuer mit Nadia zu freuen, trudelte die zweite Hiobsbotschaft ein. Ihre bislang unbekannte Großmutter Felicitas war in dem Herrenhaus, das sie ganz allein bewohnte, eine Treppe hinuntergestürzt und brauchte dringend Hilfe.

Nach einem Telefonat zwischen Nadia und Felines Mutter Sara war klar, dass auch der Tauchurlaub gestorben war und Nadia sich mit Feline auf zur Großmutter ins Herrenhaus machen würde.

Von wegen Herrenhaus, dachte Feline. Ein staubiger Steinhaufen war das.

In Felines Rucksack brummte es. Eilig fummelte sie ihr Handy heraus.

Eine Nachricht von Mila. Endlich!

Hey, gut gelandet? Wie ist die Oma denn so? Hier im Camp ist es richtig cool.

Vermiss dich. Knutsch.

Feline starrte sehnsüchtig auf das Selfie, das Mila ihr geschickt hatte. Ihre Freundin saß in einem knallroten Badeanzug am Pool, mit einer froschgrünen Taucherbrille auf dem Kopf, die sie wie eine Sonnenbrille in die Haare geschoben hatte, und grinste breit. Feline seufzte.

Mila schien ja richtig Spaß zu haben.

Sitze noch im Auto. Von der Oma keine Spur. Kann gerne wegbleiben. Hdgdl.

Melde mich später.

Sie endete mit einem Tränen-Emoji und steckte das Handy zurück in den Rucksack.

Nadia stand immer noch vor dem verschlossenen Portal und rüttelte an der Klinke. »Hallo?«, rief sie. »Hallo! Mutter, wir sind da.«

Schließlich ging sie zurück zum Auto und öffnete die Beifahrertür.

»Ich glaube, die Klingel ist kaputt. Jedenfalls hängen da ein paar lose Drähte. Es gibt aber einen Seiteneingang in den Garten. Ich probiere es mal dort. Magst du mitkommen?«

Feline schüttelte den Kopf. Nachdem sie Milas fröhliches Selfie gesehen hatte, war ihre Lust, ausgerechnet hier Ferien zu machen, unter null gerutscht.

Nadia lächelte aufmunternd. »Kopf hoch. Erst mal ankommen, und dann sehen wir weiter. Wenn du dich eingewöhnt hast, wird es dir bestimmt gefallen. In so einem alten Gebäude kann man tolle Fotos machen. Wir könnten uns zusammen eine spannende Fotostory ausdenken für mein Reisemagazin. Ich schreibe den Text, du machst die Fotos. Das wäre doch doll.« Sie zwinkerte Feline verschwörerisch zu.

Feline presste die Lippen aufeinander. Sie hatte gerade beschlossen, möglichst lange schlecht gelaunt zu sein. Es gab ja auch wirklich keinen Anlass zur Freude. Obwohl sich Nadias Idee ehrlicherweise ziemlich cool anhörte. Aber das wollte sie ihr nicht zeigen.

Sie sah zu, wie Nadia die Mauer entlanglief und verschwand. Sie zog das Handy wieder hervor, aber Mila hatte noch nicht geantwortet.

Eine ganze Weile starrte Feline einfach nur auf das Selfie vom Pool. Herrlich! Aber sie hatte auch Sehnsucht nach ihren Eltern. Seit Weihnachten hatten sie sich nur über Videocalls gesehen.

Sie war auf einmal stinksauer.

Warum war ihren Eltern das Hospitalschiff wichtiger als Feline? Das war einfach nur gemein.

»Schön, dass wir so eine vernünftige Tochter haben«, hatte ihr Vater sie gelobt. Aber Feline wollte nicht vernünftig sein. Die fremde Oma war ihr völlig egal. Die Eltern ihres Vaters waren vor Felines Geburt gestorben.

Und Felines Mutter hatte ihren Vater schon früh, durch einen Unfall, verloren.

Dass noch eine Großmutter am Leben war, wusste sie erst seit diesem Sommer, und niemand hatte Felines Frage, warum es so lange keinen Kontakt zu ihr gegeben hatte, befriedigend beantwortet.

»Unsere Mutter ist viel gereist in den letzten Jahren«, war Nadia geschickt ausgewichen. »Wir alle waren ständig unterwegs. Da verliert man sich schnell aus den Augen«, fügte Felines Mutter hinzu.

Eine ziemlich faule Ausrede. Das fand Mila auch.

Eltern und Kinder verloren sich doch nicht einfach aus den Augen. Mila riet Feline, ihre Oma direkt zu fragen, was zu dem Schweigen geführt hatte. Aber dafür musste diese erst mal auftauchen.

Plötzlich ertönte ein lautes Kreischen, und Feline zuckte zusammen.

Erst als es erneut lärmte, begriff sie, dass ein Vogel schrie. Das Tier hockte vermutlich in der hohen Kastanie, deren Äste über die Mauer ragten.

Neugierig stieg sie aus dem Auto. Der Lautstärke nach zu urteilen, war der Vogel riesig. Mila hätte sofort gewusst, was das für ein Schreihals war. Sie war verrückt nach Vögeln aller Art und durfte im Internat sogar ihre Wellensittiche halten.

Das Tier schrie schon wieder ohrenbetäubend los. »Halt die Klappe«, rief sie.

»Halt du doch selber die Klappe«, antwortete eine fremde Jungenstimme.

Feline erschrak. Sie spähte durch die rostigen Stäbe des Portals in einen Park, konnte aber niemanden entdecken.

»Misch dich nicht ein«, sagte sie schroffer als beabsichtigt.

»Du hast Artus erschreckt«, sagte der unsichtbare Junge. »So schreit er nur, wenn er Angst hat.«

»Ich hab doch gar nichts gemacht«, verteidigte sich Feline empört. »Wer ist Artus?«

Die Antwort gab Artus selber, denn in diesem Augenblick löste sich ein Vogel mit einem prächtigen blauen Schweif aus der Baumkrone, breitete seine Federn aus und segelte in den Garten davon.

»Ein Pfau!«, rief Feline überrascht. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten.

Der Junge lachte. »Na, was denn sonst. Ein fliegender Elefant?«

Wie frech! Aber bevor Feline eine patzige Antwort einfiel, fragte er: »Bist du Fee?«

Feline runzelte die Stirn. »Fee?«, wiederholte sie verblüfft. »Nee. Feline. Ich heiße Feline.« Der Junge lachte schon wieder. »Okay. Der Name passt auch besser zu dir.«

Feline rüttelte ungeduldig an den Stäben, und es rieselte Rost auf ihren Kopf.

»Was redest du für einen Quatsch? Zeig dich endlich!«

2. Pavo

Der Junge, der am Portal auftauchte, war nicht viel älter als Feline, und seine Haare hatte er zu einem Dutt gebändigt. Als er näher kam, entdeckte Feline, dass er nicht nur Sommersprossen hatte, sondern auch unterschiedliche Augenfarben. Die linke Iris war grün, die rechte hellbraun. Feline starrte ihn verblüfft an.

»Wie eine Fee siehst du wirklich nicht aus«, grinste der Junge.

Feline schüttelte ungehalten den Kopf. »Wie kommst du denn auf Fee? Das hört sich voll albern an. Wer bist du überhaupt? Warum beobachtest du mich?« Sie fühlte sich unbehaglich und hielt nach Nadia Ausschau, aber die war nirgends zu sehen.

»Ich heiße Pavo, und ich wohne hier. Deine Großmutter hat dich Fee genannt«, antwortete er. »Ich hab dich nicht beobachtet, ich habe Ausschau nach euch gehalten. Ich wusste ja, dass ihr kommt.«

Jetzt war Feline wirklich überrascht. »Du wohnst hier?«, wiederholte sie. »Aber hier wohnt doch nur meine Oma.«

Pavo schüttelte den Kopf. »Deine Großmutter, mein Vater und ich. Oder glaubst du, dass sie das mit dem Café alleine schafft? Mit dem Gipsbein sowieso nicht. Deshalb sind wir hier eingezogen. Ist ja Platz genug. Ich mach dir auf.«

Er holte einen Schlüssel aus der Hosentasche, schloss ganz selbstverständlich auf und schob das ächzende Portal zur Seite. »Wo ist deine Tante?«, fragte er.

»Sie ist zum Seiteneingang gelaufen«, antwortete Feline und bereute im gleichen Moment, dass sie so bereitwillig Auskunft gab. »Die Klingel geht nicht.« Sie betrat zögernd den Garten.

Pavo nickte. »Hier ist ziemlich viel kaputt. Mein Vater kann nicht alles gleichzeitig machen. Das Café hat jetzt Vorrang, und dass wir es wie geplant eröffnen. Es ist wirklich toll, dass ihr Zeit habt. Komm!« Er ging voran.

Feline hatte das Gefühl, dass sie sich in einem komplett falschen Film befand. »Stopp!«, rief sie. »Sofort stopp.« Sie stampfte wie ein Kind mit dem Fuß auf und spürte, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde. Das passierte ihr eigentlich nur, wenn sie gar nicht mehr weiterwusste.

»Ich verstehe gerade nur Bahnhof.« Ihre Stimme zitterte heftig.

»Mama hat gesagt, Oma ist ganz allein, sie hat sich das Bein gebrochen und braucht Hilfe. Nur deshalb hat Nadia unseren Tauchkurs abgesagt. Dabei hatte ich mich so darauf gefreut. Ich kenne diese Frau überhaupt nicht, und sie ist mir total egal. Sie weiß ja anscheinend nicht mal meinen richtigen Namen. Ich habe absolut keine Lust, hier zu sein, nur damit du es weißt. Scheinbar ist sie ja gar nicht allein, und von so einem Café höre ich zum ersten Mal.« Ihr wurden die Knie weich, und sie sank in das hohe Gras. Tränen schossen aus ihren Augen, und Feline schlug die Hände vors Gesicht. Sie musste so heftig schluchzen, dass es sie schüttelte.

»He, Feline. Das hab ich nicht gewusst, und es tut mir sehr leid. Tauchen stelle ich mir cool vor. Mein Vater und ich wandern meistens in den Bergen.«

Pavos Stimme hörte sich ehrlich betroffen an, und er kitzelte sie mit einer Pfauenfeder am Ohr.

»Die Feder ist von Artus, du kannst sie behalten. Ich hab noch mehr davon. Guck mal, sieht aus wie Augen.«

Feline schüttelte den Kopf und wischte sich die Tränen mit dem Arm aus dem Gesicht. »Danke, aber ich mag Pfauen nicht. Als ich klein war, hat einer nach mir gehackt.« Sie tippte auf ihre Hand. »Hier habe ich eine Narbe davon.«

Pavo verzog das Gesicht. »Dann hatte dein Pfau sicher Angst. Ich liebe Pfauen, beim Teich findest du noch mehr. Seit ein Reporter im Wochenblatt eine Story über sie gemacht hat, klettern fremde Leute auf und über die Mauer, um sie zu fotografieren. Beim Teich steht auch das Teehaus, aus dem das Café wird. Deine Großmutter hat meinen Vater für den Umbau angeheuert, die Möbel sind alle aus dem Herrenhaus. Mit den Pfauen als Anreiz wird das bestimmt der absolute Renner.«

Feline war fassungslos.

Anscheinend hatte ihre Großmutter sie nur hierhergelockt, weil sie billige Hilfe für ein Café brauchte, und nicht, weil sie allein und bedürftig war. Total egoistisch, ihre Ferienpläne so zu durchkreuzen.

Keine Sekunde glaubte Feline daran, dass Nadia diesen Schwindel mitmachen würde. Vielleicht klappte es mit dem Tauchen ja doch noch. Das wäre so toll.

»Jetzt komm aber«, holte Pavo sie aus ihren Gedanken. »Ich bringe dich zum Haus, damit du dich nicht verläufst. Lass die Pfauen einfach in Ruhe, dann tun sie nichts.«

Feline verzog das Gesicht. »Ich hatte nicht vor, mit ihnen zu kuscheln. Wie viele Pfauen sind es denn?«, fragte sie.

Pavo strahlte. »Inzwischen fünf, zwei Hähne und drei Hennen. Ich versorge sie ganz allein, die jüngste Henne habe ich mit einer Wärmelampe aufgezogen, sie heißt Ava und läuft mir wie ein Welpe hinterher. Sie ist total zutraulich.«

Feline zuckte mit den Schultern. Dieses Federvieh war ihr genauso egal wie ihre Großmutter. Aber sie nahm sich vor, Pavos Rat zu befolgen und ihnen aus dem Weg zu gehen. So wie sie die Sache einschätzte, waren sie und Nadia ohnehin bald wieder weg. Sie freute sich schon, Nadia explodieren zu sehen, wenn sie erfuhr, was hier gespielt wurde. Ihre Tante konnte sehr energisch werden, wenn ihr was nicht passte.

Das Gelände war riesig, und seine Farbenpracht erinnerte Feline an einen Park oder den botanischen Garten. Die Blumenbeete bildeten Muster und waren nach ihren Farben angepflanzt worden. Ziemlich außergewöhnlich und vor allem aufwendig.

Das konnte die Großmutter unmöglich alles alleine in Schuss halten. Also hatte sie dafür Hilfe und ausreichend Geld, es zu bezahlen. Warum stellte sie nicht auch Leute für das Caféprojekt an? Das würde Nadia hoffentlich gerade klären und ihre Mutter zur Rede stellen.

Feline gab es nicht gerne zu, aber sie war froh, dass Pavo voranlief, denn sie hatte schon nach der zweiten Abzweigung die Orientierung verloren. Die engen Kieselwege wurden von dicht gewachsenen Hecken begrenzt und bildeten ein unübersichtliches Labyrinth.

Je länger sie darin herumliefen, um so verrückter fand Feline es, dass ihre Großmutter ganz allein auf einem so riesigen Anwesen wohnte, von Pavo, seinem Vater und ein paar nervigen Pfauen abgesehen. Es raschelte in einem Holunderbusch, und im nächsten Moment tauchte ein weiterer Pfau auf.

Er war kleiner und hatte einen türkisen Hals. Ansonsten war sein Gefieder eher schlammbraun. »Wieso hat dieser Pfau nicht so viele blaue Federn wie Artus?«, fragte Feline.

»Weißt du das wirklich nicht?«, wunderte sich Pavo. »Nur die Pfauenmännchen haben so schöne Schleppen. Sie schlagen damit Räder, um die Hennen anzulocken. Das hier ist Ava, die Henne, die ich aufgezogen habe. Die braucht mit ihren Federn niemanden zu beeindrucken.« Er ließ einen lockenden Pfiff hören und streckte die Hand aus. Der Vogel lief auf ihn zu und drückte seinen Kopf dagegen.

»Krass«, staunte Feline. »Du bist ja ein Pfauenflüsterer.«

Pavo nickte stolz. »Alles eine Sache des Vertrauens. Sie weiß, dass ich sie mag.«

Der Pfau flog auf, und Pavo folgte ihm. »Komm, Ava will dir das Teehaus zeigen.«

Obwohl Feline das Verhalten des Pfaus befremdlich fand, folgte sie den beiden und bemühte sich, Pavo nicht aus den Augen zu verlieren. Um in den anderen Teil des Gartens zu gelangen, musste man erneut eine Pforte durchqueren. Diese Tür war aber nur angelehnt. Die Pfauendame trippelte hoheitsvoll hindurch.

Das Teehaus war ein achteckiges Gebäude, dessen Holz nach frischem Lack roch. Feline schaute neugierig durch die bunten Glasfenster, die bis zum Boden gingen, und entdeckte eine halbrunde Theke aus schwarzem Klavierlack mit frei stehenden Regalen dahinter, die noch komplett leer waren. Davor standen zierliche Tische mit verschnörkelten Stühlen, und an der gegenüberliegenden Seite unter einer weiteren Fensterreihe gab es ein rotes Sofa.

»Cool, oder?«, sagte Pavo stolz, als wäre er dafür verantwortlich.

»Das soll ein Café werden?«, zweifelte Feline. »Sieht eigentlich mehr aus wie eine Voliere für Vögel. Hat sich das alles dein Vater ausgedacht? «

Pavo nickte. »Passt super zu dem Pfauenmotto, sagt er. Man muss den Leuten ja was Besonderes bieten, damit sie hierherkommen.«

Im selben Moment tauchte Artus auf und schlug ein Rad.

Feline musste zugeben, dass diese Demonstration ziemlich beeindruckend war. Trotzdem hielt sie lieber respektvoll Abstand. Man konnte ja nicht wissen, was so ein Vogel sonst noch im Schilde führte.

»Ist dein Vater Architekt?«, fragte sie.

»Bildhauer«, antwortete Pavo, und Feline hörte den Stolz in seiner Stimme. »Deine Großmutter hat seine Ausstellung im Künstlerdorf besucht und ihn zum Kaffee eingeladen. Als er das Teehaus sah, hatte er die Idee mit dem Café, und deine Großmutter war gleich Feuer und Flamme. Sie bezahlt ihn als Hausmeister, damit er ganz in Ruhe an dem Caféprojekt werkeln kann. Komm!«

Er lief einfach los, und Feline blieb nichts anderes übrig, als sich ihm anzuschließen, wenn sie mit den Pfauen nicht allein zurückbleiben wollte.

3.Der Teich

Ava lief weiter Richtung Teich, als hätte sie jedes Wort verstanden, und Feline folgte kopfschüttelnd. Dieses seltsame Verhalten des Pfaus musste sie unbedingt mit Mila besprechen. Sie war überrascht, wie groß der Teich war und dass sein Ufer ganz mit Schilf zugewuchert war. »Der Teich ist ja riesig, das ist eigentlich schon ein See«, sagte sie. »Ich dachte, das wäre so eine Pfütze mit einem Wasser speienden Frosch aus Stein und Seerosen.«

Ava kauerte zwischen den Rohrkolben, die am Ufer wuchsen, und starrte Feline regungslos an. »Na, was guckst du so?«, fragte Feline herausfordernd.

»Wetten, das Vieh stürzt sich gleich auf mich und hackt?« Sie lachte unsicher.

»So war das mit dem Pfau damals auch.« Sie tippte auf ihre Hand.

»Quatsch«, sagte Pavo, und er hörte sich fast ein wenig verärgert an. »Ava kann wirklich nichts dafür, dass du keine Tiere magst.«

Die Henne stieß einen lauten Schrei aus. Wie auf Kommando trudelten noch mehr Pfauen ein und tippelten pickend durch das Schilf.

»Ich mag Tiere schon«, verteidigte sich Feline. »Nur diese großen Vögel sind mir ein wenig unheimlich. Ich hatte früher Mäuse und für eine Weile eine Vogelspinne, die nur ich füttern durfte. Sie ist aber leider abgehauen.«

Jetzt war es Pavo, der ein entsetztes Gesicht machte. »Ich hasse Spinnen«, sagte er. »Und Mäuse mag ich auch nicht besonders. Du bist seltsam. Du magst giftige Spinnen, aber vor einem schönen Pfau fürchtest du dich.«

Feline kicherte. »Vogelspinnen sind eigentlich ganz kuschelig. In dem alten Gemäuer hier wohnen bestimmt jede Menge Nager. Da bist du ja ständig auf der Flucht. Und wie stehst du zu Fledermäusen …« Täuschte sie sich, oder war Pavo gerade blass um die Nase geworden. Es fühlte sich gut an, dass sich auch Pavo vor etwas fürchtete. Seit sie mit ihm in diesem unheimlichen Garten war, hatte er ihr das Gefühl gegeben, ihr in allem haushoch überlegen zu sein.

Mit neuem Selbstbewusstsein trat sie so nahe wie möglich an das Ufer heran und starrte auf das Wasser.

»Wie tief ist der Teich?«, fragte sie. »Kann man darin schwimmen? Vielleicht besser nicht, da sind jede Menge Schlingpflanzen, und es sieht morastig aus«, dachte sie laut. »Wird er denn zwischendurch sauber gemacht?«

Pavo zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Dieser Teil des Gartens war abgesperrt, bis mein Vater mit dem Umbau begann. Da ist wohl mal ein Unfall passiert.«

Feline starrte immer noch auf das Wasser. »Moment mal«, sagte sie.

»Da bewegt sich was. Sind das Goldfische?« Sie ging in die Hocke, um besser sehen zu können. »Nee, keine Fische«, murmelte sie. »Sieht aus wie ein Netz. Oder nein. Ein Stück Stoff. Scheint hineingefallen zu sein.« Sie tunkte die Hand ins Wasser, um ihn herauszuziehen, und verlor beinahe das Gleichgewicht.

Im letzten Moment packte Pavo sie an ihrem Shirt und hielt sie fest. »Mensch, pass doch auf!«, rief er, und er hörte sich tatsächlich erschrocken an.

»Hab es«, rief Feline und zog etwas Nasses aus dem Wasser. »Ein Schal«, sagte sie überrascht. »Der ist aber schön! Ich wette, der war richtig teuer.« Sie zupfte das nasse Stück auseinander, um es besser betrachten zu können. Es war aus sehr dünnem Stoff, vermutlich Seide. Auf die weiße Seide war ein Tiermuster gestickt.

»Schon wieder Pfauen«, sagte Feline. »Das scheint hier ja ein Motto zu sein. Guck mal, die Vögel sehen deinem Artus ähnlich.« Sie musste zugeben, dass der Schal wirklich edel aussah, auch wenn sie Pfauen nicht besonders leiden konnte.

»Schau mal«, sagte Pavo. »In der Mitte ist sogar ein weißer Pfau.« Er berührte die Umrisse des Tieres fast ehrfürchtig.

Erst jetzt erkannte Feline, dass er recht hatte. Weil die Seide nass war, hatte sie die helle Stickerei gar nicht gesehen.

»Cool«, sagte Pavo. »Das ist ein richtiges Kunstwerk. Ich hätte für mein Leben gerne einen weißen Pfau. Aber die sind ganz selten und richtig teuer. Mein Vater sagt, ich soll mir das aus dem Kopf schlagen.«

Feline fand, dass es auf dem Anwesen schon genug Pfauen gab, aber sie verkniff sich eine spitze Bemerkung. Pavo hatte so einen sehnsüchtigen Blick bekommen, als er von dem weißen Pfau sprach. Diesen Ausdruck kannte sie von sich selber, wenn sie etwas wirklich gerne wollte. Zum Beispiel tauchen zu lernen. Sie fand es plötzlich gemein, seinen Wunsch lächerlich zu machen. Eigentlich war der Junge ja ganz nett.

Feline trat erneut an das Teichufer. »Vielleicht entdecken wir noch mehr Sachen«, sagte sie. Sie kniff die Augen zusammen und starrte in das trübe Wasser. Zwischen den Schlingpflanzen sah sie etwas Helles. Das sah ja fast wie ein Pfau aus. Verrückt.

Plötzlich blendete sie etwas, und eine helle Stichflamme schoss nach oben.

»Feuer!«, schrie sie und stolperte zurück. Sie atmete schnell, und es wurde ihr schwindlig. »Hey, was ist los?«, fragte Pavo erschrocken und fing sie auf.

»Feuer!«, stammelte sie. »Im Teich brennt es.«

Pavo lachte ungläubig. »Wasser brennt nicht. Das weißt du doch.«

Er half Feline, sich hinzusetzen, und sah sicherheitshalber nach.

»Da ist nichts«, wiederholte er. »Das war vermutlich eine Reflexion. Die Sonne ist am Nachmittag noch enorm stark. Hast du genug Wasser getrunken?« Er musterte sie ehrlich besorgt.

Feline kam sich plötzlich sehr kindisch vor. »Alles gut«, antwortete sie ruppig.

Ihr war auf einmal kalt, und sie spürte, wie sich eine Gänsehaut vom Kopf bis in die Zehen ausbreitete. »Können wir endlich zum Haus gehen?«, bat sie. »Nadia sucht mich sicher schon überall.« Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass es am besten wäre, so schnell wie möglich wieder abzureisen. Nadia würde das auch finden.

Sie sah sich um und bemerkte, dass sich inzwischen alle fünf Pfauen versammelt hatten. Sie standen still wie Wachtposten um sie herum und starrten sie an.

»Na klar«, sagte Pavo, und es kam Feline so vor, als wäre er ein wenig enttäuscht.

»Ich wollte dir einfach alles zeigen, solange es noch hell ist. Hier wird es immer schnell dunkel, auch im Sommer.«

Er reichte ihr seine Hand, um sie hochzuziehen, aber Feline sprang alleine auf. Sie vermied es, auf das Wasser zu schauen, und entfernte sich eilig vom Ufer. »Alles gut«, sagte sie gewollt munter. »Ich muss einfach was trinken. Ich trinke sonst so viel wie ein Kamel, sagt Mila immer.« Es tat ihr gut, über Mila zu reden. »Meine allerbeste Freundin Mila kennt mich besser als ich mich selber«, fuhr sie fort. »Wir teilen uns ein Zimmer im Internat. Sie lernt auch gerade tauchen, und sie weiß alles über Vögel. Sie wäre begeistert von den Pfauen.«

»Du gehst ins Internat?«, fragte Pavo. »Das tut mir leid.«

Feline schüttelte den Kopf. »Wieso denn. Im Internat ist es total entspannt, und man ist nie allein.« Pavo zuckte mit den Achseln. »Bin ich auch nicht. Hier ist genug Trubel.«

Feline guckte ungläubig. »Dass hier der Bär steppt, finde ich nicht. Dann wagen wir uns mal in die Höhle des Löwen. Also meine Oma kennenlernen.« Der dünne Stoff des Schals war inzwischen fast trocken, und Feline steckte ihn einfach ein.

Sie beeilte sich, mit Pavo Schritt zu halten, der es plötzlich eilig zu haben schien, sie ins Herrenhaus zu bringen.

»Das war früher der Dienstboteneingang«, erklärte er, als sie vor einer schmalen Tür aus hellgrünem Holz stehen blieben.

Gerade als er die Klinke herunterdrücken wollte, ging die Tür von selber auf.

»Da bist du ja endlich!«, rief Nadia erleichtert. »Ich hab dich schon überall gesucht.« Sie schaute Pavo neugierig an. »Und du bist …«

»Pavo«, unterbrach sie Feline. »Er hat mir das Portal aufgesperrt, und wir waren beim Teehaus. Weißt du, dass Oma dort ein Café eröffnet? Pavos Vater hat es für sie umgebaut. Echt krass, oder?« Sie wartete gespannt auf Nadias Reaktion.

Nadia nickte. »Ich habe es gerade von deiner Großmutter erfahren. Das ist eine großartige Idee.«

Feline guckte entsetzt. »Das heißt also, du willst hierbleiben?«

Nadia strich Feline über das Haar. »Wir bleiben hier und schauen uns das in Ruhe an. So ein Gartencafé kann doch richtig spannend sein, besser, als nur rumhängen.«

Feline machte ein enttäuschtes Gesicht. »Ich war sicher, du bist deswegen sauer.«

Nadia lachte. »Aber warum denn? Der alte Kasten, wie du ihn vorher genannt hast, kann eine kleine Veränderung gebrauchen. Aber jetzt komm ins Haus. Deine Großmutter Felicitas hat sich allerdings hingelegt, du wirst sie also erst später kennenlernen.«

Feline war seltsam erleichtert. Dieses riesige Haus schüchterte sie ein. Vielleicht legte sich das mulmige Gefühl, wenn sie eine Weile mit Nadia zusammen war.

»Ich gehe auch mal nach Hause«, sagte Pavo.

»Ich dachte, ihr wohnt auch hier?«, fragte Feline.

Pavo schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Wir wohnen im Gartenhaus. Dort hat mein Vater inzwischen auch sein Atelier.«

Nadia lächelte Pavo an. »Danke, dass du Feline aufgepickt hast. Meine Mutter lässt später für uns alle ein Abendessen vorbereiten. Ich freue mich schon, deinen Vater kennenzulernen.«

Pavo drehte den Daumen nach oben. »Alles klar.« Feline und Nadia sahen zu, wie er vom dichten Grün des Gartens verschluckt wurde.

4.Das Haus

»Das ist nicht fair«, protestierte Feline, sobald Pavo fort war. »Und ich finde es hier gar nicht schön. Ohne Pavo hätte ich mich in dem doofen Labyrinth voll verlaufen. Und diese großen Vögel kann ich auch nicht leiden. Du weißt doch, mich hat mal ein Pfau angeknabbert.«

Nadia seufzte. »Feline, du bist doch kein kleines Kind mehr. Das mit dem Pfau ist ewig her. Wir versuchen, es uns jetzt bei deiner Großmutter nett zu machen, ganz ohne Jammern. Dieser Pavo ist in Ordnung, oder? Mit dem wirst du dich sicher gut verstehen. Ich wette, ihr werdet dicke Freunde.«

Feline sah Nadia entsetzt an. »Das ist ein Junge!«

Nadia guckte verständnislos. »Ja, und?« Feline schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde mich auf keinen Fall mit einem Jungen anfreunden.«

Nadia lachte laut auf. »Du machst Witze, Feline.«

Sie zog ihre sich sträubende Nichte mit sich ins Haus. »Zuerst zeige ich dir dein Zimmer. Dir werden die Augen aus dem Kopf fallen.«

Die Eingangshalle war kleiner, als Feline es von so einem Herrenhaus erwartet hatte. Sie bestand vor allem aus einer Holztreppe mit abgetretenen Stufen, die hinauf in die zwei oberen Stockwerke führte.

An den seitlichen Wänden waren bis unter die Decke Regale angebracht, vollgestopft mit Büchern. In den Zwischenräumen hingen gerahmte Fotografien in Schwarz-Weiß.

»Krass«, staunte Feline. »Hat die meine Großmutter alle gelesen?«

Zum ersten Mal sagte sie nicht Oma. Aber jemanden, der so viele Bücher besaß, konnte man nicht einfach Oma nennen. Milas Oma liebte Kreuzworträtsel und guckte Quizshows im Fernsehen. Felines Eltern lasen wissenschaftliche Bücher auf ihren Tablets. Noch nie hatte Feline so viele Bücher gesehen, außer in der Bibliothek.

»Hat Großmutter vielleicht eine Bibliothek aufgekauft?«, überlegte Feline.

Nadia schüttelte den Kopf. »Unsinn. Meine Mutter ist zwar eine Leseratte, aber viele der Bücher gibt es schon viel länger. Unsere Familie hat sie über lange Zeit gesammelt. Ich glaube, die ältesten Werke sind aus dem sechzehnten Jahrhundert. Meine Mutter weiß das besser.«

Feline schwieg beeindruckt. Ihre Gefühle schwankten zwischen Neugier, diese mysteriöse Verwandte endlich kennenzulernen, und dem Wunsch, so schnell wie möglich von diesem Ort zu verschwinden.

Am liebsten zu Mila an den Pool.

»Gibt’s hier keinen Aufzug?«, fragte sie, als sie mit Nadia die ungleichen Stufen erklomm. Die Kanten waren sehr glatt, und sie musste ein paarmal nach dem Geländer greifen, um nicht abzurutschen.

Nadia runzelte die Stirn. »Das ist keine ernst gemeinte Frage, oder? Das Haus ist schon sehr alt.«

In Feline regte sich Widerstand. »Eben deshalb. Museen auch sind oft historische Gebäude, und dort gibt es fast immer einen Aufzug. Wäre hier auch super – Oma ist doch auch die Treppen runtergefallen.«

Nadia schnaubte ungehalten. »Meine Mutter war immer sehr sportlich, das war einfach ein blöder Unfall. Das Haus steht unter Denkmalschutz, an solchen Gebäuden darf man nicht herumwerkeln.«

Und was ist mit dem Teehaus?, wollte Feline fragen. Doch der Ausdruck in Nadias Augen hielt sie davon ab. Vielleicht waren es aber auch die Blicke der fremden Kinder auf den Fotos, die sie neugierig anzustarren schienen.

Feline hatte plötzlich die irre Vorstellung, sie könnten jeden Moment lebendig werden, wie in einem Horrorfilm.

Sie schüttelte die sich neu ausbreitende Gänsehaut ab.

»Das sind coole Bilder«, sagte sie so unbefangen wie möglich. »Du musst mir mal erzählen, wer da alles drauf ist. Hängen hier auch Fotos von dir und Mama?«

Ihr fiel ein, dass sie noch nie Kinderfotos aus der Familie ihrer Mutter gesehen hatte. Ihr Vater besaß drei große Fotoalben mit Leineneinband seiner Eltern, die er immer mal wieder zusammen mit ihr anschaute. Viele dieser Fotos waren mit Geschichten verknüpft. Das war mit diesen Fotos an den Wänden sicher genauso.