Der Schneeleopard - Tess Gerritsen - E-Book
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Der Schneeleopard E-Book

Tess Gerritsen

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Beschreibung

In der Wildnis lauert das Böse ...

Die Polizei von Boston ermittelt in einem bizarren Mordfall. Die Leiche eines Jägers und Tierpräparators wurde gefunden – ausgeweidet und aufgehängt wie eines seiner Beutetiere. In den Wäldern werden Knochenreste eines weiteren Opfers entdeckt. Doch Boston ist nicht das einzige Jagdrevier des Killers. Es scheint eine Verbindung zu einem fünf Jahre zurückliegenden Vorfall in Afrika zu geben, wo die Teilnehmer einer Safari förmlich abgeschlachtet wurden. Nur eine Frau entkam dem Massaker und könnte Jane Rizzoli helfen, den Mörder zu identifizieren ...

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Seitenzahl: 507

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Tess Gerritsen

Der Schneeleopard

Ein Rizzoli-&-Isles-Thriller

Deutsch von Andreas Jäger

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Die Again« bei Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Random House LLC., a Penguin Random House Company, New York.

Copyright der Originalausgabe © 2014 by Tess Gerritsen

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2015 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published by Arrangement with Tess Gerritsen Inc.

Dieses Werk wurde im Auftrag von Jane Rotrosen Agency LLC vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: plainpicture/Lena Kah

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-12393-2V006www.limes-verlag.de

Für Levina

1

Okavangodelta, Botswana

Im schrägen Licht des Tagesanbruchs entdecke ich ihn, die Konturen fein wie ein Wasserzeichen, eingeprägt in die nackte Erde. Mittags, wenn die afrikanische Sonne heiß und grell niederbrennt, hätte ich ihn vielleicht glatt übersehen, doch am frühen Morgen werfen auch die flachsten Mulden und Vertiefungen einen Schatten, und als ich aus unserem Zelt trete, fällt mir dieser einzelne Abdruck sofort auf. Ich sinke davor in die Hocke, und es überläuft mich plötzlich eiskalt, als mir klar wird, dass nur die dünne Zelthaut uns geschützt hat, während wir schliefen.

Richard kriecht aus dem Zelt und ächzt zufrieden, als er sich aufrichtet und streckt. Begierig saugt er den Duft des taubedeckten Grases ein, des Holzrauchs und des Frühstücks, das auf der Feuerstelle brutzelt. Die Düfte Afrikas. Dieses Abenteuer ist Richards Traum. Es war immer schon Richards Traum, nicht meiner. Ich bin die Freundin, die ein guter Kumpel sein will und daher im Zweifel immer sagt: Natürlich bin ich einverstanden, Schatz. Auch wenn es achtundzwanzig Stunden in drei verschiedenen Flugzeugen bedeutet, von London nach Johannesburg, von Johannesburg nach Maun und von dort weiter in den Busch, mit einer klapprigen Kiste, die von einem verkaterten Piloten geflogen wird. Selbst wenn es zwei Wochen in einem Zelt bedeutet und man unentwegt die Moskitos verjagen und zum Pinkeln hinter einen Busch gehen muss.

Selbst wenn es bedeutet, dass ich sterben könnte. Das denke ich jetzt, während ich auf diesen Abdruck in der nackten Erde starre, nicht einmal einen Meter von der Stelle entfernt, wo Richard und ich diese Nacht geschlafen haben.

»Riech die Luft, Millie!«, jubiliert Richard. »Nirgendwo sonst riecht sie so wie hier!«

»Da war ein Löwe«, sage ich.

»Ich wünschte, ich könnte sie in Flaschen abfüllen und mit nach Hause nehmen. Das wäre doch ein tolles Souvenir – der Duft des Buschs!«

Er hört mir nicht zu. Er ist zu berauscht von Afrika, geht völlig auf in seinem Traum vom großen Safari-Abenteuer, in dem alles super und fantastisch ist, sogar das gestrige Abendessen, das aus Schweinefleisch mit Bohnen aus der Dose bestand. »So gut hat es mir noch nie geschmeckt!«, erklärte er.

Jetzt wiederhole ich mit lauterer Stimme: »Es war ein Löwe hier, Richard. Er war direkt neben unserem Zelt. Er hätte leicht die Zelthaut aufreißen können.« Ich will ihn beunruhigen, ich will, dass er sagt: Mein Gott, Millie, das ist wirklich schlimm.

Stattdessen ruft er den anderen Mitgliedern unserer Gruppe vergnügt zu: »He, schaut euch das mal an! Wir hatten letzte Nacht einen Löwen hier!«

Die Ersten, die sich zu uns gesellen, sind die beiden jungen Frauen aus Kapstadt, die ihr Zelt neben unserem aufgeschlagen haben. Sylvia und Vivian haben holländische Nachnamen, die ich weder buchstabieren noch aussprechen kann. Sie sind beide in den Zwanzigern, braun gebrannt, langbeinig und blond, und ich hatte anfangs Mühe, sie auseinanderzuhalten, bis Sylvia mich schließlich entnervt anfuhr: »Es ist ja nicht so, als ob wir Zwillinge wären, Millie! Sehen Sie denn nicht, dass Vivian blaue Augen hat und ich grüne?« Als die Mädchen sich jetzt links und rechts von mir hinknien, um den Tatzenabdruck zu begutachten, bemerke ich, dass sie auch verschieden riechen. Die blauäugige Vivian duftet wie frisches Gras, der unverbrauchte, unverdorbene Duft der Jugend. Sylvia strömt den Geruch der Zitronengras-Lotion aus, mit der sie sich immer einschmiert, um die Moskitos abzuhalten, denn DEET ist ein Gift. Das wissen Sie doch, oder? Sie flankieren mich wie Buchstützen in Form von blonden Göttinnen, und ich kann nicht übersehen, dass Richard wieder einmal Sylvias Dekolleté beäugt, das sie in ihrem tief ausgeschnittenen Tanktop so offen zur Schau trägt. Für eine Frau, die sich immer so gewissenhaft mit Insektenschutzmittel einreibt, bietet sie den Moskitos alarmierend viel nackte Haut zum Stechen an.

Elliot lässt natürlich auch nicht lange auf sich warten. Er ist immer in der Nähe der beiden Blondinen, die er erst vor ein paar Wochen in Kapstadt kennengelernt hat. Seitdem klebt er an ihnen wie ein treues Hündchen, das darauf wartet, dass sie ihm ein Häppchen von ihrer Aufmerksamkeit zuwerfen.

»Ist das ein frischer Abdruck?«, fragt Elliot. Er klingt besorgt. Wenigstens einer, der meine Beunruhigung teilt.

»Gestern habe ich ihn noch nicht hier gesehen«, sagt Richard. »Der Löwe muss letzte Nacht hier vorbeigekommen sein. Was für eine Vorstellung – du kriechst nachts aus dem Zelt, um dein Geschäft zu verrichten, und plötzlich siehst du das.« Er macht »Grrrr!«, formt die Finger zu Krallen und schlägt nach Elliot, der erschrocken zurückzuckt. Richard und die Blondinen lachen, denn Elliot ist für alle nur der Pausenclown, der ängstliche Amerikaner, der seine Taschen mit Hygienetüchern und Insektenspray vollgestopft hat, mit Sonnencreme und Desinfektionsmittel, mit Pillen gegen Allergien und Jodtabletten und allem, was man sonst noch zum Überleben braucht.

Ich stimme nicht in ihr Gelächter ein. »Einer von uns hätte hier draußen sterben können«, gebe ich zu bedenken.

»Aber so was passiert halt bei einer richtigen Safari, hm?«, entgegnet Sylvia munter. »Im Busch gibt es nun mal Löwen.«

»Sieht nicht nach einem besonders großen Löwen aus«, meint Vivian, die sich vorgebeugt hat, um den Abdruck zu inspizieren. »Vielleicht ein Weibchen, was meint ihr?«

»Ob Männchen oder Weibchen, töten können sie einen beide«, sagt Elliot.

Sylvia gibt ihm einen spielerischen Klaps. »Oje. Hast du etwa Angst?«

»Nein. Nein, ich hatte nur gedacht, Johnny hätte übertrieben, als er uns am ersten Tag diesen Vortrag gehalten hat. Bleibt im Jeep. Bleibt im Zelt. Sonst werdet ihr sterben.«

»Wenn Sie hundertprozentige Sicherheit wollen, Elliot, hätten Sie vielleicht lieber in den Zoo gehen sollen«, sagt Richard, und die Blondinen lachen über seine bissige Bemerkung. Alle huldigen Richard, dem Alphamännchen. Ganz wie die Helden, die er in seinen Romanen beschreibt, ist er ein Mann, der zupackt und die Situation rettet. Das glaubt er jedenfalls. Hier draußen in der Wildnis ist er auch nur ein hilfloser, ahnungsloser Londoner, und redet doch daher, als sei er der große Survivalexperte. Das ist noch etwas, was mich an diesem Morgen nervt, neben der Tatsache, dass ich Hunger habe, dass ich schlecht geschlafen habe und dass die Moskitos mich inzwischen entdeckt haben. Wie immer. Kaum trete ich aus dem Zelt, ist es, als ob sie die Essensglocke gehört hätten. Schon klatsche ich mir wieder hektisch auf Hals und Gesicht.

Richard ruft dem afrikanischen Fährtensucher zu: »Clarence, komm her! Schau dir an, was da letzte Nacht durchs Camp geschlichen ist!«

Clarence hat mit Mr. und Mrs. Matsunaga am Lagerfeuer gesessen und Kaffee getrunken. Jetzt schlendert er auf uns zu, seine Blechtasse in der Hand, und kauert sich hin, um den Abdruck zu inspizieren.

»Er ist frisch«, sagt Richard, unser neuer Buschexperte. »Der Löwe ist sicher erst letzte Nacht vorbeigekommen.«

»Kein Löwe«, stellt Clarence fest. Er sieht blinzelnd zu uns auf, und sein tiefschwarzes Gesicht glänzt in der Morgensonne. »Leopard.«

»Wie kannst du dir so sicher sein? Es ist doch nur ein einzelner Tatzenabdruck.«

Clarence malt den Umriss über dem Abdruck in die Luft. »Sehen Sie, das ist die Vorderpfote. Sie ist rund, wie bei einem Leoparden.« Er erhebt sich und lässt den Blick über die Landschaft schweifen. »Und es ist nur ein einzelnes Tier, das heißt, es jagt allein. Ja, das war bestimmt ein Leopard.«

Mr. Matsunaga macht mit seiner riesigen Nikon Fotos von dem Abdruck. Das Teleobjektiv seiner Kamera sieht aus wie ein Raumschiff. Er und seine Frau tragen identische Safarijacken, Kakihosen, Baumwollschals und breitkrempige Hüte. Bis aufs letzte i-Tüpfelchen im Partnerlook. In Touristengebieten rund um die Welt trifft man auf Paare wie dieses, angetan mit identischen, bizarr gemusterten Outfits. Man fragt sich, ob diese Leute eines Morgens aufgewacht sind und sich gedacht haben: Also, heute wollen wir die Leute mal so richtig zum Lachen bringen!

Während die Sonne höher steigt und die Schatten, die diesen Tatzenabdruck so deutlich haben hervortreten lassen, allmählich verblassen, fotografieren die anderen wie wild gegen das immer greller werdende Licht an. Sogar Elliot holt seine Pocketkamera hervor, aber ich vermute, dass er es nur tut, weil alle anderen es auch tun, und er nicht ausgeschlossen sein will.

Ich bin die Einzige, die darauf verzichtet, ihre Kamera zu holen. Richard macht genug Fotos für uns beide, und er benutzt seine Canon, die gleiche Kamera, die auch die Fotografen von National Geographic benutzen! Ich trete in den Schatten, aber selbst hier, wo ich vor der Sonne geschützt bin, spüre ich, wie der Schweiß mir aus den Achseln herabrinnt. Schon jetzt baut sich die Hitze auf. Im Busch gibt es nur heiße Tage.

»Jetzt wisst ihr, warum ich euch immer sage, ihr sollt nachts in euren Zelten bleiben«, sagt Johnny Posthumus.

Ich habe gar nicht bemerkt, dass unser Guide vom Fluss zurückgekehrt ist, so lautlos hat er sich genähert. Ich drehe mich um und sehe Johnny direkt hinter mir stehen. Posthumus – so ein makaber klingender Name, aber er hat uns versichert, dass er unter den burischen Siedlern, von denen er abstammt, gar nicht so selten ist. In seinen Gesichtszügen sehe ich das Erbe seiner kräftig gebauten holländischen Vorfahren. Seine blonden Haare sind von der Sonne gebleicht, seine Augen blau, und die stämmigen Beine, die in Kakishorts stecken, tief gebräunt. Die Moskitos scheinen ihm nichts auszumachen, ebenso wenig wie die Hitze, und er trägt keinen Hut, benutzt kein Insektenschutzmittel. Er ist in Afrika aufgewachsen, und das hat anscheinend seine Haut gegerbt, hat ihn gegen die Unbilden des Kontinents immun gemacht.

»Sie ist kurz vor Anbruch der Dämmerung hier durchgekommen«, sagt Johnny und deutet auf ein Dickicht am Rand unseres Lagerplatzes. »Sie ist dort aus dem Gebüsch aufgetaucht, ist ganz gemächlich aufs Feuer zugetrottet und hat mich von Kopf bis Fuß gemustert. Ein Prachtexemplar, groß und gesund.«

Es verblüfft mich, wie ruhig er ist. »Sie haben sie tatsächlich gesehen?«

»Ich war hier draußen und habe das Feuer fürs Frühstück in Gang gebracht, als sie plötzlich dastand.«

»Was haben Sie gemacht?«

»Ich habe das gemacht, wozu ich Ihnen allen geraten habe für solche Situationen. Ich habe mich gerade aufgerichtet und mich so gestellt, dass sie mein Gesicht gut sehen konnte. Beutetiere wie Zebras und Antilopen haben die Augen an der Seite des Kopfs, aber die Augen eines Raubtiers sind nach vorn gerichtet. Zeigen Sie der Katze immer Ihr Gesicht. Lassen Sie sie sehen, wo Ihre Augen sind, und sie wird wissen, dass Sie auch ein Raubtier sind. Dann wird sie es sich gut überlegen, ob sie angreifen will.« Johnny sieht seine sieben Schützlinge, die ihn dafür bezahlen, dass er sie in dieser Wildnis fernab der Zivilisation am Leben hält, der Reihe nach an. »Vergessen Sie das nicht, okay? Wir werden noch mehr Großkatzen sehen, wenn wir tiefer in den Busch eindringen. Wenn Ihnen eine über den Weg läuft, machen Sie sich so groß, wie Sie nur können. Schauen Sie das Tier direkt an. Und was immer Sie tun, laufen Sie nicht weg. So haben Sie die besten Überlebenschancen.«

»Sie waren hier draußen, Auge in Auge mit einem Leoparden«, sagt Elliot. »Warum haben Sie nicht das da benutzt?« Er deutet auf das Gewehr, das Johnny stets über der Schulter trägt.

Johnny schüttelt den Kopf. »Ich schieße nicht auf einen Leoparden. Ich töte überhaupt keine Großkatzen.«

»Aber haben Sie nicht genau dafür das Gewehr? Um sich selbst zu schützen?«

»Es gibt nicht mehr genug von ihnen auf der Erde. Ihnen gehört dieses Land, und wir sind hier die Eindringlinge. Wenn ein Leopard mich anfallen würde, glaube ich nicht, dass ich es fertigbringen würde, ihn zu erschießen. Nicht einmal, um mein eigenes Leben zu retten.«

»Aber das gilt nicht für uns, nicht wahr?« Elliot lacht nervös auf und blickt sich unter unserer Reisegruppe um. »Sie würden doch einen Leoparden erschießen, um uns zu schützen, oder etwa nicht?«

Mit einem ironischen Lächeln erwidert Johnny: »Das werden wir sehen.«

Am Mittag haben wir alles zusammengepackt und sind bereit, tiefer in die Wildnis einzudringen. Johnny fährt den Jeep, während Clarence auf dem Trackersitz hockt, der vor der Stoßstange montiert ist. Ich finde es ziemlich bedenklich, wie er da sitzt und die Beine frei baumeln lässt, leichte Beute für jeden Löwen, der ihn zu fassen bekommt. Aber Johnny versichert uns, dass wir nichts zu befürchten haben, solange wir beim Fahrzeug bleiben, weil die Raubtiere dann glauben, wir seien alle Teil eines einzigen riesigen Tieres. Aber entferne dich vom Jeep, und du wirst gefressen. Hat das jeder verstanden?

Jawohl, Sir. Ist angekommen.

Hier draußen gibt es überhaupt keine Straßen, nur eine Bahn mit leicht flach gedrücktem Gras, wo der magere Boden von den Reifen vieler Fahrzeuge verdichtet ist. Ein einziger Lastwagen kann Narben in der Landschaft hinterlassen, die monatelang zu sehen sind, sagt Johnny, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass viele so weit in das Delta vordringen. Wir sind drei Tagesfahrten von der Landebahn im Busch entfernt, wo wir abgesetzt wurden, und wir haben in dieser Wildnis noch keine anderen Fahrzeuge gesehen.

Noch vor vier Monaten, als ich in unserer Londoner Wohnung saß und der Regen an die Fenster prasselte, konnte ich mir eine solche Wildnis nicht im Entferntesten vorstellen. Als Richard mich an seinen Computer rief und mir Fotos von der Botswana-Safari zeigte, die er für unseren Urlaub buchen wollte, sah ich Löwen und Flusspferde, Nashörner und Leoparden, all die Tiere, die einem aus Zoos und Wildparks vertraut sind. Und ich bildete mir ein, dass es genau so sein würde – ein riesiger Wildpark mit komfortablen Lodges und Straßen. Also jedenfalls mit Straßen. Laut der Website gehörte zum Programm auch »Campen im Busch«, aber da hatte ich vor meinem geistigen Auge schöne große Zelte mit Duschen und Wasserklosetts gesehen. Ich hatte nicht geglaubt, dass ich für das Privileg bezahlen würde, im Gebüsch die Hosen runterzulassen.

Richard hat überhaupt kein Problem damit, auf Bequemlichkeit zu verzichten. Er ist voll auf dem Afrika-Trip, und das Klicken seiner Kamera begleitet uns auf jedem Meter unserer Fahrt. Mr. Matsunaga bietet ihm mit seiner Kamera Paroli, Klick für Klick, aber mit einem längeren Objektiv. Richard würde es nie zugeben, aber er leidet unter Objektivneid, und wenn wir wieder in London sind, wird er wahrscheinlich sofort ins Internet gehen, um herauszufinden, was Mr. Matsunagas Ausrüstung kostet. So duellieren Männer sich heutzutage, nicht mit Speeren und Schwertern, sondern mit Kreditkarten. Mein Platin schlägt dein Gold. Der arme Elliot mit seiner Unisex-Minolta zieht eindeutig den Kürzeren, aber es scheint ihm nichts auszumachen, denn er hat es sich wieder mal zwischen Vivian und Sylvia bequem gemacht. Ich drehe mich zu den dreien um und erhasche einen Blick auf Mrs. Matsunagas resolute Miene. Sie ist auch so ein »guter Kumpel«. Bestimmt hat sie sich unter einem Traumurlaub auch etwas anderes vorgestellt, als ihr Geschäft hinter einem Busch verrichten zu müssen.

»Löwen! Löwen!«, schreit Richard. »Da drüben!«

Die Kameras klicken schneller, während wir so nahe heranfahren, dass ich die schwarzen Fliegen ausmachen kann, die auf der Flanke des männlichen Löwen sitzen. Nicht weit entfernt rekeln sich drei Weibchen im Schatten eines Ahnenbaums. Plötzlich ertönt hinter mir ein Schwall Japanisch, und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass Mr. Matsunaga aufgesprungen ist. Seine Frau krallt sich in den Rücken seiner Safarijacke und versucht verzweifelt, ihn daran zu hindern, vom Jeep zu springen, um ein besseres Foto machen zu können.

»Hinsetzen!«, befiehlt Johnny mit einer Donnerstimme, die weder Mensch noch Tier ignorieren kann. »Sofort!«

Augenblicklich lässt Mr. Matsunaga sich auf seinen Sitz fallen. Selbst die Löwen wirken erschrocken, und sie starren alle das mechanische Biest mit den achtzehn Armen an.

»Wissen Sie noch, was ich Ihnen gesagt habe, Isao?«, schimpft Johnny. »Wenn Sie aus dem Jeep steigen, sind Sie tot!«

»Ich habe es vergessen. Die Aufregung …«, murmelt Mr. Matsunaga und senkt schuldbewusst das Haupt.

»Hören Sie, ich versuche doch nur, Sie vor Schaden zu bewahren.« Johnny stößt einen tiefen Seufzer aus und sagt leise: »Tut mir leid, dass ich Sie angebrüllt habe. Aber letztes Jahr war ein Kollege von mir auf einer Wildsafari mit zwei Gästen. Ehe er sie aufhalten konnte, sind sie beide aus dem Jeep gesprungen, um Fotos zu schießen. Die Löwen haben sie sofort erwischt.«

»Sie meinen – sie wurden getötet?«, sagt Elliot.

»Darauf sind Löwen nun mal programmiert, Elliot. Also bitte, genießen Sie die Aussicht, aber bitte aus dem Inneren des Jeeps, ja?« Johnny lacht, ein Versuch, die Spannung abzubauen, aber wir sind alle noch eingeschüchtert, eine Gruppe ungezogener Kinder, die gerade gemaßregelt wurden. Die Klicks der Kameras klingen jetzt halbherzig, sie fotografieren nur noch, um ihr Unbehagen zu kaschieren. Wir sind alle erschrocken, wie hart Johnny Mr. Matsunaga angefasst hat. Ich starre Johnnys breiten Rücken an, der direkt vor mir aufragt, und ich sehe seine Nackenmuskeln, die sich wie Schlingpflanzen abzeichnen. Er lässt den Motor wieder an. Wir lassen die Löwen zurück und fahren weiter zu unserem nächsten Lagerplatz.

Als die Sonne untergeht, werden die Alkoholika ausgepackt. Nachdem die fünf Zelte aufgeschlagen sind und das Lagerfeuer brennt, öffnet Clarence, der Fährtensucher, die Cocktailbox aus Aluminium, die den ganzen Tag lang auf der Ladefläche des Jeeps herumgerutscht ist, und stellt die Flaschen mit Gin und Whiskey, Wodka und Amarula hin. An Letzterem habe ich ganz besonders Geschmack gefunden, es ist ein süßer Sahnelikör, der aus den Früchten des afrikanischen Marulabaums hergestellt wird. Er schmeckt wie tausend hochprozentige Kalorien mit Kaffee- und Schokoladenaroma, wie etwas, woran ein Kind heimlich nippen würde, wenn seine Mutter gerade nicht hinschaut. Clarence zwinkert mir zu, als er mir ein Glas reicht, als ob ich das ungezogene Gör in der Gruppe wäre, denn alle anderen trinken Erwachsenen-Drinks wie warmen Gin Tonic oder Whiskey pur. Das ist die Stunde, in der ich denke: Ja, es ist gut, in Afrika zu sein. Wenn die Unannehmlichkeiten des Tages, die Mücken und die Spannungen zwischen mir und Richard sich in einem angenehmen, beschwipsten Nebel auflösen und ich es mir auf meinem Campingstuhl bequem machen kann, um den Sonnenuntergang zu bewundern. Wenn Clarence aus Schmorfleisch, Brot und Früchten eine einfache Abendmahlzeit bereitet und Johnny den Absperrdraht spannt, der mit kleinen Glöckchen behängt ist, die uns vor unerwünschtem Besuch warnen sollen. Ich sehe, wie Johnnys Silhouette vor dem glutroten Sonnenuntergang plötzlich reglos verharrt, wie er den Kopf hebt, als wolle er die Luft schnuppern, die tausend Gerüche wittern, von denen ich nicht einmal ahne, dass es sie gibt. Er ist wie ein Geschöpf des Buschs, so zu Hause in dieser Wildnis, dass es mich kaum überraschen würde, wenn er den Mund aufreißen und wie ein Löwe brüllen würde.

Ich drehe mich zu Clarence um, der den blubbernden Eintopf im Kessel umrührt. »Wie lange arbeiten Sie schon mit Johnny zusammen?«, frage ich.

»Mit Johnny? Das erste Mal.«

»Sie haben noch nie für ihn den Fährtensucher gemacht?«

Clarence würzt den Eintopf kräftig mit Pfeffer. »Mein Cousin ist Johnnys Tracker. Aber diese Woche ist Abraham zu einer Beerdigung in seinem Heimatdorf. Er hat mich gebeten, ihn zu vertreten.«

»Und was hat Abraham über Johnny gesagt?«

Clarence grinst, und seine weißen Zähne funkeln im Dämmerlicht. »Oh, mein Cousin erzählt viele Geschichten über ihn. Viele Geschichten. Er meint, Johnny hätte als Shangaan auf die Welt kommen sollen, weil er genau wie wir ist. Nur mit einem weißen Gesicht.«

»Shangaan? Ist das Ihr Volk?«

Er nickt. »Wir kommen aus der Provinz Limpopo. In Südafrika.«

»Ist das die Sprache, die ich Sie beide manchmal sprechen höre?«

Er lacht schuldbewusst. »Wir sprechen sie, wenn Sie nicht verstehen sollen, was wir sagen.«

Ich kann mir vorstellen, dass es wenig Schmeichelhaftes ist. Mein Blick geht zu den anderen, die um das Lagerfeuer herum sitzen. Mr. und Mrs. Matsunaga begutachten gewissenhaft die Fotoausbeute des Tages auf seiner Kamera. Vivian und Sylvia rekeln sich in ihren tief ausgeschnittenen Tanktops und strömen Pheromone aus, die den armen, unbeholfenen Elliot wie üblich verzweifelt um ihre Aufmerksamkeit buhlen lassen. Ist euch nicht kalt, Mädels? Soll ich euch eure Pullover holen? Darf’s noch ein Gin Tonic sein?

Richard kommt aus unserem Zelt, angetan mit einem frischen Hemd. Neben mir wartet ein freier Stuhl auf ihn, aber er geht einfach daran vorbei. Stattdessen setzt er sich neben Vivian und lässt gleich seinen Charme spielen. Wie gefällt Ihnen unsere Safari? Sind Sie ab und zu auch mal in London? Ich schicke Ihnen und Sylvia gerne signierte Exemplare von Blackjack zu, wenn das Buch rauskommt.

Natürlich wissen sie inzwischen alle, wer er ist. Bei jedem hat Richard binnen einer Stunde nach dem Kennenlernen dezent den Hinweis fallen lassen, dass er der Thrillerautor Richard Renwick ist, der Schöpfer des MI5-Helden Jackman Tripp. Dummerweise hatte keiner von ihnen je von Richard oder seinem Helden gehört, was dazu führte, dass er am ersten Tag der Safari ungewöhnlich dünnhäutig war. Aber jetzt ist er wieder in gewohnter Form, und er tut das, was er am besten kann: sein Publikum bezirzen. Er trägt zu dick auf, finde ich. Viel zu dick. Aber ich weiß schon genau, was er sagen wird, wenn ich mich später darüber beklage. Als Schriftsteller musst du das machen, Millie. Du musst kontaktfreudig sein und neue Leser gewinnen. Komisch nur, dass Richard nie seine Zeit damit vergeudet, ältliche Damen als Leserinnen zu gewinnen. Nein, es sind immer junge und möglichst attraktive Frauen. Ich weiß noch, wie er mich vor vier Jahren mit ebendiesem Charme umgarnt hat, als er in der Buchhandlung, in der ich arbeite, Exemplare von Kill Option signierte. Wenn Richard seine Nummer abzieht, ist er unwiderstehlich, und jetzt sehe ich ihn Vivian anschauen, wie er mich schon seit Jahren nicht mehr angeschaut hat. Er steckt sich eine Gauloise zwischen die Lippen, beugt sich vor und hält eine Hand schützend um die Flamme seines Feuerzeugs aus Sterling-Silber, genau wie sein Held Jackman Tripp es tun würde, mit filmreifer Machogeste.

Der leere Stuhl neben mir kommt mir vor wie ein schwarzes Loch, in dem meine ganze gute Laune verschwindet. Ich will schon aufstehen und in mein Zelt zurückgehen, als Johnny sich unvermittelt auf den Platz neben mir setzt. Er sagt nichts, lässt nur den Blick über unsere Gruppe schweifen, als ob er uns taxieren will. Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, dass er uns so kritisch beobachtet, und ich frage mich, was er wohl sieht, wenn er mich anschaut. Bin ich wie all die anderen resignierten Ehefrauen und Freundinnen, die sich in den Busch mitschleifen lassen, damit ihre Männer ihre Safari-Fantasien ausleben können?

Sein Blick verunsichert mich, und ich sehe mich gezwungen, das Schweigen zu brechen. »Funktioniert das wirklich mit diesen Glöckchen am Absperrdraht?«, frage ich. »Oder sind die nur dazu da, dass wir uns sicherer fühlen?«

»Sie dienen als erste Warnung.«

»Letzte Nacht habe ich sie aber nicht gehört, als der Leopard in unser Lager kam.«

»Ich schon.« Er beugt sich vor und wirft noch ein Stück Holz aufs Feuer. »Heute Nacht werden wir diese Glöckchen wahrscheinlich wieder hören.«

»Sie glauben, hier streifen noch mehr Leoparden umher?«

»Diesmal sind es Hyänen.« Er deutet hinaus in die Dunkelheit jenseits unseres vom Feuer erhellten Kreises. »In diesem Moment sind es ungefähr ein halbes Dutzend, die uns beobachten.«

»Was?« Ich spähe angestrengt in die Nacht hinaus. Jetzt erst erkenne ich die funkelnden Augen, die uns aus der Dunkelheit anstarren.

»Sie sind geduldig. Sie warten und hoffen, dass etwas Essbares für sie abfällt. Wenn Sie allein da rausgehen, werden Sie ihr Nachtmahl.« Er zuckt mit den Achseln. »Aber deswegen haben Sie mich ja engagiert.«

»Um zu verhindern, dass wir gefressen werden.«

»Ich würde nicht bezahlt werden, wenn ich zu viele Kunden verlieren würde.«

»Wie viele sind denn zu viele?«

»Sie wären erst die Dritte.«

»Das ist doch ein Witz, oder?«

Er lächelt. Obwohl er in Richards Alter ist, haben die Jahre unter der afrikanischen Sonne tiefe Falten um Johnnys Augen gegraben. Er legt mir beschwichtigend die Hand auf den Arm, was mich verblüfft, denn er ist nicht der Typ, der ohne Not Körperkontakt sucht. »Ja, es ist ein Witz. Ich habe noch nie einen Kunden verloren.«

»Es fällt mir schwer zu merken, wann Sie es ernst meinen.«

»Wenn ich es ernst meine, werden Sie es schon wissen.« Er wendet sich Clarence zu, der gerade etwas auf Shangaan zu ihm gesagt hat. »Das Essen ist fertig.«

Ich sehe zu Richard hinüber, um festzustellen, ob er bemerkt hat, wie Johnny mit mir geredet und mir die Hand auf den Arm gelegt hat. Aber Richard ist so auf Vivian fixiert, dass ich ebenso gut unsichtbar sein könnte.

»Als Schriftsteller musst du so was machen«, sagt Richard wenig überraschend, als wir an diesem Abend in unserem Zelt liegen. »Ich werbe nur neue Leser.« Wir unterhalten uns im Flüsterton, denn die Zelthaut ist dünn, die Zelte stehen dicht nebeneinander. »Außerdem fühle ich mich ein bisschen verantwortlich. Sie sind ganz allein, zwei junge Frauen hier draußen im Busch. Ganz schön abenteuerlustig, wenn man bedenkt, dass sie gerade mal Anfang zwanzig sind, findest du nicht? Dafür muss man sie doch bewundern.«

»Elliot bewundert sie offensichtlich«, bemerke ich.

»Elliot würde alles bewundern, was zwei X-Chromosomen hat.«

»Also sind sie ja doch nicht so allein. Er hat die Reise gebucht, um ihnen Gesellschaft zu leisten.«

»Und das muss ihnen doch gewaltig auf den Geist gehen, wie er ihnen auf Schritt und Tritt folgt und sie mit seinem Dackelblick anschmachtet.«

»Die beiden haben ihn eingeladen. Sagt Elliot.«

»Aus Mitleid höchstens. Er quatscht sie in einem Nachtklub an und hört, dass sie auf Safari gehen. Wahrscheinlich haben sie gesagt: Hey, überleg dir doch, ob du nicht auch Lust auf einen Ausflug in den Busch hast! Ich wette, sie hätten nie gedacht, dass er sich tatsächlich anmeldet.«

»Warum machst du ihn immer so runter? Ich finde, er ist ein sehr netter Mann. Und er weiß ungeheuer viel über Vögel.«

Richard schnaubt verächtlich. »Das macht einen Mann ja auch so interessant.«

»Was ist los mit dir? Wieso bist du so gereizt?«

»Dasselbe könnte ich dich fragen. Ich plaudere nur ein bisschen mit einer jungen Frau, und du hast gleich ein Problem damit. Diese Mädels wissen wenigstens, wie man sich amüsiert. Sie haben die richtige Einstellung.«

»Ich versuche ja, den Urlaub zu genießen. Ich gebe mir wirklich alle Mühe. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es hier draußen so primitiv sein würde. Ich dachte, es gäbe wenigstens …«

»Frotteehandtücher und Schokoladentäfelchen auf dem Kopfkissen.«

»Sei nicht so ungerecht. Ich bin schließlich hier, oder nicht?«

»Ja, und die ganze Zeit beschwerst du dich nur. Diese Safari war mein Traum, Millie. Mach mir nicht alles kaputt.«

Inzwischen flüstern wir nicht mehr, und ich bin sicher, dass die anderen uns hören können, falls sie noch wach sind. Ich weiß, dass Johnny es ist, weil er die erste Wache hat. Ich stelle mir vor, wie er am Lagerfeuer sitzt, auf unsere Stimmen lauscht und merkt, wie sie immer angespannter werden. Sicherlich hat er es schon mitbekommen. Johnny Posthumus ist ein Mann, dem nichts entgeht; nur so hat er in dieser Gegend überlebt, wo es über Leben und Tod entscheiden kann, ob man das Bimmeln eines Glöckchens an einem Draht hört oder nicht. Er muss uns alle doch für absolut ahnungslos und oberflächlich halten. Wie viele Ehen hat er schon zerbrechen sehen, wie viele selbstgefällige Männer, die von Afrika in die Knie gezwungen wurden? Der Busch ist mehr als nur ein Reiseziel: Hier lernt man, wie unbedeutend man in Wirklichkeit ist.

»Es tut mir leid«, flüstere ich und taste nach Richards Hand. »Ich wollte dir nicht den Urlaub verderben.«

Meine Finger umfassen seine, doch er erwidert die Geste nicht. Seine Hand liegt wie ein toter Gegenstand in meiner.

»Du hast dem Ganzen einen Dämpfer aufgesetzt. Ich weiß, diese Reise ist nicht gerade das, was du dir unter einem Traumurlaub vorgestellt hast, aber hör doch um Gottes willen auf, mit dieser Leichenbittermiene herumzulaufen. Sieh dir nur an, wie Sylvia und Vivian sich amüsieren! Sogar Mrs. Matsunaga schafft es, kein Spielverderber zu sein.«

»Vielleicht liegt es ja nur an diesen Malariatabletten, die ich nehme«, gebe ich mit matter Stimme zu bedenken. »Der Arzt hat gesagt, sie könnten depressiv machen. Er meinte, manche Leute wären davon schon verrückt geworden.«

»Also, mir macht das Mefloquin gar nichts aus. Die Mädels nehmen es auch, und die sind doch ganz gut drauf.«

Wieder die Mädels. Immer vergleicht er mich mit den Mädels, die neun Jahre jünger sind als ich, neun Jahre schlanker und frischer. Welche Frau kann nach vier Jahren in einer gemeinsamen Wohnung mit einem gemeinsamen Klo immer noch so frisch sein wie am ersten Tag?

»Ich sollte die Tabletten absetzen«, sage ich.

»Was denn, und dir Malaria holen? Ach ja, klingt wirklich sinnvoll.«

»Was soll ich denn deiner Meinung nach tun, Richard? Sag mir bitte, was ich tun soll.«

»Ich weiß es nicht.« Er seufzt und dreht sich von mir weg. Sein Rücken ist wie eine kalte Betonwand, eine Wand, die sein Herz einschließt, unerreichbar für mich. Nach einer Weile sagt er leise: »Ich weiß nicht, wie es mit uns weitergehen soll, Millie.«

Aber ich weiß, wie es mit Richard weitergeht. Er driftet weg von mir. Schon seit Monaten entfernt er sich mehr und mehr von mir, so allmählich und in so kleinen Schritten, dass ich mich bis jetzt geweigert habe, es zu sehen. Ich hatte immer meine Erklärungen parat: Oh, wir hatten beide so viel zu tun in letzter Zeit. Er war vollauf mit der Überarbeitung des Manuskripts von Blackjack beschäftigt. Ich musste mich durch die Jahresinventur in unserer Buchhandlung kämpfen. Wenn wir erst einmal beide zur Ruhe kommen, wird es auch wieder besser laufen zwischen uns. Das habe ich mir die ganze Zeit eingeredet.

Draußen ist die Nacht von den Geräuschen des Deltas erfüllt. Unser Lager ist nicht weit von einem Fluss entfernt, an dem wir vor einer Weile Flusspferde gesehen haben. Ich glaube, sie jetzt hören zu können, und dazu das Krächzen, Schreien und Grunzen zahlloser anderer Lebewesen.

Aber in unserem Zelt herrscht nur Schweigen.

Dies ist also der Ort, an dem die Liebe stirbt. In einem Zelt im afrikanischen Busch. Wenn wir zu Hause in London wären, würde ich aufstehen, mich anziehen und zu meiner Freundin fahren, um mich mit Brandy und einem offenen Ohr verwöhnen zu lassen. Aber hier bin ich in einem Zelt gefangen, umringt von Kreaturen, die mich fressen wollen. Die nackte Klaustrophobie packt mich, und ich würde am liebsten aus dem Zelt stürmen und schreiend in die Nacht hinausrennen. Es müssen diese Malariatabletten sein, die mein Gehirn durcheinanderbringen. Ich will, dass es die Tabletten sind, denn das würde bedeuten, dass es nicht meine Schuld ist, dass ich mir so nutzlos vorkomme. Ich muss sie wirklich absetzen.

Richard schläft inzwischen tief und fest. Wie kann er nur – wie kann er einfach friedlich schlummern, während ich dem Nervenzusammenbruch nahe bin? Ich höre ihn ein- und ausatmen, so entspannt, so regelmäßig. Der Soundtrack seiner Gleichgültigkeit.

Er schläft immer noch fest, als ich am nächsten Morgen aufwache. Als das bleiche Licht der Morgendämmerung durch die Ritzen unseres Zelts sickert, denke ich mit Schrecken an den Tag, der vor mir liegt. Wieder viele Stunden im Jeep, Stunden, in denen wir angespannt Seite an Seite sitzen und uns bemühen, höflich zueinander zu sein. Wieder einen Tag lang nach Moskitos schlagen und zum Pinkeln ins Gebüsch gehen. Wieder einen Abend lang zusehen, wie Richard flirtet, und spüren, wie noch ein Stück von meinem Herzen abbröckelt. Dieser Urlaub kann unmöglich noch schlimmer werden, denke ich.

Und dann höre ich den schrillen Schrei einer Frau.

2

Boston

Es war der Briefträger, der die Polizei alarmierte. Um elf Uhr fünfzehn kam der Anruf von einem Mobiltelefon, und eine zittrige Stimme sagte: Ich bin in der Sanborn Avenue, West Roxbury, Postleitzahl 02132. Der Hund – ich habe den Hund am Fenster gesehen … Und so wurde das Boston PD auf den Fall aufmerksam. Eine Kette von Ereignissen, in Gang gesetzt durch einen aufmerksamen Postboten, einen von einer ganzen Armee von Fußsoldaten, die an sechs Tagen in der Woche in Wohngebieten überall in Amerika im Einsatz sind. Sie sind die Augen der Nation, manchmal die einzigen Augen, denen auffällt, wo eine ältere Witwe ihren Briefkasten nicht geleert hat, wo ein alter Junggeselle nicht auf die Türklingel reagiert, und wo sich auf der Veranda die vergilbenden Zeitungen stapeln.

Der erste Hinweis darauf, dass in dem großen Haus in der Sanborn Avenue etwas nicht stimmte, war der überquellende Briefkasten, was dem Postboten Luis Muniz am zweiten Tag erstmals auffiel. Ein seit zwei Tagen nicht geleerter Briefkasten war noch nicht unbedingt ein Anlass zur Beunruhigung. Die Leute fahren übers Wochenende weg und vergessen, einen Lagerauftrag für die Post zu erteilen.

Am dritten Tag jedoch begann Muniz, sich Sorgen zu machen.

Als er dann am vierten Tag den Briefkasten öffnete und ihn immer noch randvoll mit Katalogen, Zeitschriften und Rechnungen fand, wusste er, dass er etwas unternehmen musste.

»Also klopft er an die Haustür«, berichtete der Streifenpolizist Gary Root. »Niemand macht auf. Da sagt er sich, ich frage mal bei der Nachbarin, ob sie weiß, was da los ist. Dann schaut er durchs Fenster und entdeckt den Hund.«

»Den Hund dort drüben?«, fragte Detective Jane Rizzoli und deutete auf einen freundlich aussehenden Golden Retriever, der jetzt am Pfosten des Briefkastens angebunden war.

»Ja, das ist er. Laut dem Namensschild an seinem Halsband heißt er Bruno. Ich habe ihn aus dem Haus geholt, bevor er noch mehr …« Gary Root schluckte. »… Schaden anrichten konnte.«

»Und der Briefträger? Wo ist der?«

»Hat sich den Rest des Tages freigenommen. Wahrscheinlich musste er sich auf den Schreck erst mal was Hochprozentiges genehmigen. Ich habe seine Kontaktdaten, aber er kann Ihnen wahrscheinlich auch nicht mehr sagen als das, was ich Ihnen gerade erzählt habe. Er ist gar nicht ins Haus gegangen, sondern hat gleich den Notruf gewählt. Ich war als Erster vor Ort und fand die Haustür unverschlossen. Ich bin reingegangen und …« Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan.«

»Haben Sie sonst noch mit irgendwem gesprochen?«

»Mit der netten Dame von nebenan. Sie ist rausgekommen, als sie die Streifenwagen hier draußen parken sah, und wollte wissen, was passiert ist. Ich habe ihr nur gesagt, dass ihr Nachbar tot ist.«

Jane drehte sich zu dem Haus um, in dem Bruno, der freundliche Retriever, eingesperrt gewesen war. Es war ein älteres zweigeschossiges Einfamilienhaus mit einer Doppelgarage und alten Bäumen im Vorgarten. Das Garagentor war geschlossen, und ein schwarzer Ford Explorer, zugelassen auf den Hausbesitzer, parkte in der Einfahrt. An diesem Morgen gab es auf den ersten Blick nichts, was dieses Haus von den anderen gepflegten Residenzen in der Sanborn Avenue unterschieden hätte, nichts, was einen Polizisten dazu veranlasst hätte, noch einmal genauer hinzuschauen und sich zu sagen: Augenblick mal, hier stimmt etwas nicht. Doch jetzt parkten zwei Streifenwagen mit flackerndem Blaulicht am Straßenrand, und damit war jedem, der hier vorbeikam, sofort klar, dass in der Tat etwas nicht stimmte. Etwas, womit Jane und ihr Partner Barry Frost jeden Moment konfrontiert würden. Auf der anderen Straßenseite stand ein Grüppchen von Nachbarn und starrte zum Haus hinüber. Hatte irgendeiner von ihnen bemerkt, dass der Bewohner des Hauses sich schon seit ein paar Tagen nicht hatte blicken lassen, dass er weder seinen Hund ausgeführt noch seine Post hereingeholt hatte? Jetzt tuschelten sie einander wahrscheinlich zu: Hab ich’s doch gewusst, dass da was nicht stimmt. Hinterher sind alle immer superschlau.

»Wollen Sie uns durchs Haus führen?«, fragte Frost Gary Root.

»Also, wenn ich ehrlich bin – lieber nicht«, antwortete der Streifenpolizist. »Ich bin froh, dass ich endlich den Geruch nicht mehr in der Nase habe, und ich habe keine große Lust, mich dem noch einmal auszusetzen.«

Frost schluckte. »Ähm … so schlimm?«

»Ich war vielleicht dreißig Sekunden da drin, maximal. Mein Partner hat’s nicht mal so lange ausgehalten. Es ist ja auch nicht so, als ob ich Ihnen da irgendwas zeigen müsste. Sie können es sowieso nicht übersehen.« Er sah zu dem Golden Retriever, der mit ausgelassenem Gebell reagierte. »Armes Hundchen, war da drin ohne einen Krümel Futter eingesperrt. Ich weiß, es blieb ihm nichts anderes übrig, aber trotzdem …«

Jane sah Frost von der Seite an. Er starrte das Haus an wie ein zum Tode Verurteilter den Galgen. »Was hattest du zum Mittagessen?«, fragte sie ihn.

»Ein Truthahnsandwich. Und Kartoffelchips.«

»Ich hoffe, es hat geschmeckt.«

»Das ist nicht sehr hilfreich, Rizzoli.«

Sie stiegen die Verandastufen hinauf und blieben stehen, um Handschuhe und Schuhüberzieher anzulegen. »Übrigens«, sagte Jane, »es gibt da ein Medikament namens Compazine.«

»Ach ja?«

»Hilft ganz gut bei Schwangerschaftsübelkeit.«

»Prima. Falls ich mal schwanger werden sollte, probier ich’s gerne aus.«

Sie wechselten einen Blick, und Jane sah, dass er tief einatmete, genau wie sie selbst. Noch eine letzte Lunge voll frischer Luft. Mit einer behandschuhten Hand öffnete sie die Tür, und sie traten ein. Frost hob den Arm, um sich die Nase zuzuhalten und diesen Geruch abzuhalten, mit dem sie beide nur allzu vertraut waren. Ob man es nun Cadaverin oder Putrescin nannte oder mit irgendwelchen chemischen Formeln bezeichnete, letzten Endes war es einfach der Gestank des Todes. Aber es war nicht der Geruch, der Jane und Frost gleich hinter der Schwelle innehalten ließ – es war das, was dort an den Wänden hing.

Wohin sie auch blickten, überall starrten Augen auf sie herab. Eine ganze Galerie von toten Kreaturen empfing sie.

»Du liebe Zeit«, murmelte Frost. »War er so was wie ein Großwildjäger?«

»Also, das ist eindeutig Großwild«, sagte Jane. Sie sah zu dem ausgestopften Kopf eines Flusspferds auf und fragte sich, was für eine Kugel es wohl brauchte, um so einen Giganten zu erlegen. Oder auch den Kaffernbüffel daneben. Langsam schritt sie an der Trophäensammlung vorüber. Ihre Schuhüberzieher glitten raschelnd über den Holzboden, während sie die Tierköpfe bestaunte. Sie wirkten so lebensecht, dass sie halb damit rechnete, der Löwe würde sie anbrüllen. »Ist das überhaupt legal? Wer zum Teufel schießt denn heutzutage noch Leoparden?«

»Sieh mal. Der Hund war nicht das einzige Haustier, das hier rumgelaufen ist.«

Verschiedene rötlich-braune Pfotenabdrücke zogen sich über den Holzboden. Die größeren stammten wohl von Bruno, dem Golden Retriever, doch überall im Zimmer waren auch kleinere zu sehen. Braune Schmierflecken waren am Fensterbrett zurückgeblieben, wo Bruno die Vorderpfoten aufgestützt hatte, um zum Briefträger hinauszuschauen. Aber es war nicht nur der Anblick eines Hundes, der Luis Muniz veranlasst hatte, die Notrufnummer zu wählen. Es war das, was aus dem Maul des Hundes ragte.

Ein menschlicher Finger.

Jane und Frost folgten den Pfotenabdrücken, unter den glasigen Blicken eines Zebras und eines Löwen, einer Hyäne und eines Warzenschweins. Dieser Sammler war nicht allein auf Großwild fixiert, selbst die kleinsten Wesen hatten ihren unrühmlichen Platz an diesen Wänden, darunter vier Mäuse, die mit winzigen Porzellantassen in den Pfötchen um einen Miniaturtisch saßen. Eine groteske Teegesellschaft wie aus Alice im Wunderland.

Als sie das Wohnzimmer durchquerten und in den angrenzenden Flur traten, wurde der Verwesungsgeruch immer heftiger. Noch konnten sie nicht sehen, wo er herkam, doch Jane hörte schon das ominöse Summen der Insekten, die er angelockt hatte. Eine fette Schmeißfliege umkreiste ein, zwei Mal taumelnd ihren Kopf und flog durch einen offenen Türspalt davon.

Immer den Fliegen folgen. Sie wissen, wo das Festmahl bereitet ist.

Die Tür war angelehnt. Im gleichen Augenblick, als Jane sie weiter aufstieß, schoss etwas Weißes heraus und strich an ihren Beinen vorbei.

»Verdammt!«, schrie Frost auf.

Mit pochendem Herzen blickte Jane sich zu dem Augenpaar um, das unter dem Wohnzimmersofa hervorlugte. »Es ist nur eine Katze.« Sie lachte erleichtert auf. »Das erklärt die kleineren Pfotenabdrücke.«

»Moment mal, hörst du das?«, fragte Frost. »Ich glaube, da drin ist noch eine Katze.«

Jane holte Luft und trat durch die Tür in die Garage. Eine graue Tigerkatze stakste heran, um sie zu begrüßen, und schlängelte sich geschmeidig um ihre Beine herum, doch Jane ignorierte sie. Ihr Blick heftete sich auf das, was am Haken des Flaschenzugs hing. Der Fliegenschwarm, der den gut abgehangenen Leckerbissen umschwirrte, war so dicht, dass sie das Brummen in den Knochen zu spüren glaubte. Die Haut war abgezogen worden, sodass sie noch leichter an das rohe Fleisch herankamen, in dem es bereits von Maden wimmelte.

Frost wich schwankend zurück und würgte.

Der nackte Mann hing kopfüber von der Decke, die Fußknöchel mit orangefarbenem Nylonseil gefesselt. Wie bei einem Schweinekadaver im Schlachthaus hatte man ihm den Bauch aufgeschlitzt und sämtliche Organe entnommen. Beide Arme baumelten frei, und die Hände hätten fast den Boden berührt – wenn er noch Hände gehabt hätte. Wenn der Hunger nicht Bruno, den Hund, und vielleicht auch die zwei Katzen gezwungen hätte, am Fleisch ihres Besitzers zu nagen.

»Jetzt wissen wir also, wo dieser Finger herkam«, sagte Frost, die Stimme gedämpft durch den Ärmel, den er sich vor den Mund hielt. »Mein Gott, das ist ja der schlimmste Albtraum, den man sich vorstellen kann. Von der eigenen Katze gefressen zu werden …«

Auf die drei hungernden Haustiere hatte das, was da am Haken hing, gewiss wie ein Festmahl gewirkt. Die Tiere hatten schon die Hände abgetrennt und so viel Haut, Muskeln und Knorpel vom Gesicht abgerissen, dass der Knochen der einen Augenhöhle freigelegt worden war – ein weißlich schimmernder Wulst, der durch das zerfetzte Fleisch hervorblitzte. Die Gesichtszüge waren durch den Tierfraß bis zur Unkenntlichkeit entstellt, doch die grotesk geschwollenen Genitalien ließen keinen Zweifel daran, dass es sich um einen Mann handelte – einen älteren Mann, nach den silbergrauen Schamhaaren zu schließen.

»Aufgehängt und ausgeweidet wie ein Stück Wild«, ertönte eine Stimme hinter ihr.

Jane fuhr erschrocken herum und sah Dr. Maura Isles in der offenen Tür stehen. Selbst an einem so bizarren Leichenfundort wie diesem schaffte es Maura, elegant auszusehen, ihr schwarzes Haar glatt wie ein glänzender Helm, der graue Hosenanzug maßgeschneidert für ihre schlanke Taille und Hüfte. In ihrer Gegenwart kam Jane sich vor wie die schlampige Cousine, mit ihren fliegenden Haaren und den abgestoßenen Schuhen.

Maura schritt geradewegs auf den Leichnam zu, ohne auf die Fliegen zu achten, die im Sturzflug ihren Kopf attackierten. »Das ist verstörend«, sagte sie.

»Verstörend?«, schnaubte Jane. »Eine total kranke Sauerei, hätte ich eher gesagt.«

Die graue Tigerkatze ließ von Jane ab und ging zu Maura, um sich laut schnurrend an ihrem Bein zu reiben. So viel zum Thema Katzen und Treue.

Maura schob die Katze mit dem Fuß weg, ohne ihre Aufmerksamkeit von der Leiche zu wenden. »Bauch- und Brustorgane fehlen. Ein einziger Schnitt, der sehr entschlossen wirkt, vom Schambein bis zum Brustbein. So würde ein Jäger mit einem Hirsch oder einem Wildschwein verfahren. Aufhängen, ausweiden und dann reifen lassen.« Sie blickte zu dem Flaschenzug auf. »Und das sieht aus wie eine Apparatur zum Aufhängen von Wild. Dieses Haus gehört offensichtlich einem Jäger.«

»Die sehen auch aus wie etwas, was ein Jäger benutzen würde«, bemerkte Frost. Er deutete auf die Werkbank in der Garage, über der an einem Magnetbrett ein Dutzend Messer hingen, die allesamt wie potenzielle Mordwaffen aussahen. Alle schienen sauber zu sein, die Klingen glänzten hell. Jane starrte das Ausbeinmesser an. Sie malte sich aus, wie diese scharfe Klinge das Fleisch durchschnitt wie Butter.

»Seltsam«, sagte Maura, die inzwischen den Rumpf inspizierte. »Diese Wunden hier sehen nicht so aus, als ob sie von einem Messer stammen.« Sie wies auf drei Einschnitte, die sich längs über den Brustkorb zogen. »Sie sind vollkommen parallel, wie von drei zusammengebundenen Klingen.«

»Die sehen aus wie Kratzspuren«, sagte Frost. »Könnte das ein Tier gewesen sein?«

»Für eine Katze oder einen Hund sind sie zu tief. Es scheint sich um postmortale Verletzungen zu handeln, mit minimalem Blutverlust …« Sie richtete sich auf und betrachtete den Boden. »Wenn er hier ausgenommen wurde, muss das Blut mit einem Schlauch weggespritzt worden sein. Seht ihr diesen Gully im Beton? So etwas lässt ein Jäger sich einbauen, wenn er einen Raum zum Ausweiden und Abhängen von Fleisch benutzen will.«

»Wozu ist dieses Abhängen eigentlich gut?«, fragte Frost. »Ich habe nie verstanden, warum man das mit Fleisch macht.«

»Die Enzyme, die nach dem Tod freigesetzt werden, machen das Fleisch auf natürliche Weise zarter, aber das wird normalerweise bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt gemacht. Hier drin ist es schätzungsweise um die zehn Grad warm. Warm genug, um die Verwesung einsetzen zu lassen. Und warm genug für die Maden. Ich bin nur froh, dass wir November haben. Im August wäre der Gestank noch wesentlich schlimmer.« Mit einer Pinzette pflückte Maura eine der Maden ab und betrachtete sie, wie sie sich in ihrem behandschuhten Handteller wand. »Die hier sind dem Anschein nach im dritten Larvenstadium. Der Tod dürfte demnach vor etwa vier Tagen eingetreten sein.«

»All die ausgestopften Köpfe im Wohnzimmer«, sagte Jane. »Und jetzt hängt er da wie irgendein erlegtes Tier. Das riecht mir doch ganz nach einer gezielten Inszenierung.«

»Ist das Opfer der Hausbesitzer? Habt ihr seine Identität schon festgestellt?«

»Na ja, ohne Gesicht und Hände ist eine Identifizierung durch Augenschein ein bisschen schwierig. Aber ich würde sagen, das Alter passt. Laut Melderegister ist der Hausbesitzer ein gewisser Leon Godt, vierundsechzig. Geschieden, allein lebend.«

»Gestorben ist er jedenfalls nicht allein«, meinte Maura und starrte den klaffenden Schnitt in der ausgeweideten Höhle des Rumpfs an. »Wo sind sie?«, fragte sie und drehte sich plötzlich zu Jane um. »Der Mörder hat die Leiche hier aufgehängt. Was hat er mit den Organen gemacht?«

Einen Moment lang war das einzige Geräusch in der Garage das Summen der Fliegen, während Jane sich alle Großstadtlegenden über gestohlene Organe ins Gedächtnis rief, die sie je gehört hatte. Dann fiel ihr Blick auf den abgedeckten Mülleimer, der in der hinteren Ecke stand. Als sie darauf zuging, wurde der Verwesungsgestank noch stärker, und eine Wolke gieriger Fliegen umschwirrte sie. Sie verzog angewidert das Gesicht, als sie vorsichtig den Deckel anhob. Ein kurzer Blick, mehr war nicht drin, ehe der Gestank sie würgend zurückweichen ließ.

»Ich nehme an, du hast sie gefunden«, sagte Maura.

»Ja«, murmelte Jane. »Zumindest die Gedärme. Die komplette Inventur der Organe überlasse ich dir.«

»Sauber.«

»Oh ja, das wird sicher ein Riesenspaß.«

»Nein, ich meinte, dass der Täter sauber gearbeitet hat. Der Einschnitt. Die Entfernung der Eingeweide.« Die Schuhüberzieher aus Papier knisterten, als Maura auf den Abfalleimer zuging. Jane und Frost wichen beide zurück, als Maura den Deckel aufstemmte, doch selbst in der gegenüberliegenden Ecke der Garage stieg ihnen der Übelkeit erregende Gestank der verfaulenden Organe in die Nase. Der Geruch schien die graue Tigerkatze zu animieren, die sich noch eifriger an Mauras Beinen rieb und miaute, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.

»Du hast eine neue Freundin gewonnen«, sagte Jane.

»Das normale Markierverhalten von Katzen. Sie beansprucht mich als ihr Revier«, erklärte Maura, während sie mit einer behandschuhten Hand in den Mülleimer griff.

»Ich weiß, du legst großen Wert auf Gründlichkeit, Maura«, sagte Jane. »Aber wie wär’s, wenn du die mitnimmst und sie in der Rechtsmedizin unter die Lupe nimmst? In einem isolierten Schutzraum oder so?«

»Ich brauche Gewissheit …«

»Worüber? Du kannst doch riechen, dass sie da drin sind.« Angewidert beobachtete Jane, wie Maura sich über den Abfalleimer beugte und noch tiefer in dem Eingeweidehaufen wühlte. Im Sektionssaal sah sie oft zu, wie Maura Leichen aufschnitt und ihnen die Kopfhaut abzog, wie sie das Fleisch von Knochen abschabte und Schädel mit der Knochensäge auftrennte, alles mit lasergesteuerter Präzision. Mit dem gleichen eiskalt-konzentrierten Blick wühlte sie jetzt in der schleimigen Masse in dem Abfalleimer, ohne auf die Fliegen zu achten, die in ihren modisch kurz geschnittenen schwarzen Haaren herumkrabbelten. Gab es irgendeine andere Frau, die bei einer so ekelerregenden Beschäftigung noch so elegant wirken konnte?

»Komm schon, es ist doch nicht so, als ob du noch nie Gedärme gesehen hättest«, sagte Jane.

Maura antwortete nicht und griff noch tiefer in den Eimer.

»Okay.« Jane seufzte. »Dafür brauchst du uns ja sicher nicht. Frost und ich schauen uns inzwischen den Rest des Hauses …«

»Es ist zu viel«, murmelte Maura.

»Was ist zu viel?«

»Das ist nicht das normale Volumen von Eingeweiden.«

»Du erzählst uns doch immer von den Bakteriengasen, die alles aufblähen.«

»Das hier lässt sich aber nicht durch Aufblähen erklären.« Maura richtete sich auf, und als Jane sah, was sie in der Hand hielt, erschauderte sie.

»Ein Herz?«

»Das hier ist kein normales Herz, Jane«, sagte Maura. »Ja, es hat vier Kammern, aber mit diesem Aortenbogen stimmt etwas nicht. Und die großen Blutgefäße sehen auch nicht richtig aus.«

»Leon Godt war vierundsechzig«, bemerkte Frost. »Vielleicht hatte er was an der Pumpe.«

»Das ist das Problem. Das hier sieht nicht aus wie das Herz eines vierundsechzigjährigen Mannes.« Maura griff noch einmal in den Abfalleimer. »Aber das hier schon«, sagte sie und streckte die andere Hand aus.

Jane blickte zwischen den beiden Organen hin und her. »Moment mal. Da drin waren zwei Herzen?«

»Und zwei vollständige Lungen.«

Jane und Frost starrten einander an. »Oh, verdammt«, sagte er.

3

Frost durchsuchte die unteren Räume, Jane übernahm das Obergeschoss. Systematisch ging sie von Zimmer zu Zimmer, öffnete Schränke und Schubladen, schaute unter die Betten. Weit und breit keine ausgeweideten Leichen, auch keine Anzeichen eines Kampfs, dafür aber jede Menge Staubmäuse und Katzenhaare. Mr. Godt – falls er es wirklich war, der dort unten in der Garage hing – hatte nicht allzu viel Wert auf Sauberkeit und Ordnung gelegt, und auf seiner Schlafzimmerkommode lagen alte Kassenzettel aus dem Baumarkt herum, Batterien für ein Hörgerät, eine Brieftasche mit drei Kreditkarten, achtundvierzig Dollar in bar sowie ein paar einzelne Gewehrkugeln. Was ihr verriet, dass Mr. Godt mehr als nur ein bisschen nachlässig mit Schusswaffen umgegangen war. So war sie nicht überrascht, als sie seine Nachttischschublade aufzog und darin eine Glock fand, durchgeladen und schussbereit. Das ideale Spielzeug für den paranoiden Hausbesitzer.

Zu dumm, dass die Waffe oben gelegen hatte, während dem Hausbesitzer unten in der Garage die Eingeweide herausgerissen wurden.

Im Badezimmerschrank fand sie ein Sortiment von Pillen, wie man es bei einem Vierundsechzigjährigen erwarten konnte. Aspirin und Ibuprofen, Cholesterinsenker und Mittel gegen Bluthochdruck. Und auf der Ablage lagen zwei Hörgeräte – von der teureren Sorte. Er hatte sie nicht getragen, was bedeutete, dass er einen Eindringling vielleicht nicht hatte kommen hören.

Als sie wieder nach unten ging, klingelte im Wohnzimmer das Telefon. Noch ehe sie dort ankam, schaltete sich schon der Anrufbeantworter ein, und sie hörte, wie ein Mann eine Nachricht hinterließ.

Hallo, Leon, du hast dich gar nicht mehr gemeldet wegen des Ausflugs nach Colorado. Sag doch Bescheid, wenn du mit uns kommen willst. Wird bestimmt lustig.

Jane wollte gerade die Nachricht noch einmal abspielen, um die Nummer des Anrufers zu sehen, als ihr auffiel, dass die Abspieltaste mit etwas verschmiert war, das wie Blut aussah. Laut der blinkenden Anzeige waren zwei Nachrichten darauf, und sie hatte gerade eben die zweite gehört.

Mit einem behandschuhten Finger drückte sie auf PLAY.

Dritter November, neun Uhr fünfzehn: »… und wenn Sie sofort zurückrufen, können wir Ihre Kreditkartengebühren senken. Lassen Sie sich dieses einmalige Angebot auf keinen Fall entgehen.«

Sechster November, vierzehn Uhr: »Hallo, Leon, du hast dich gar nicht mehr gemeldet wegen des Ausflugs nach Colorado. Sag doch Bescheid, wenn du mit uns kommen willst. Wird bestimmt lustig.«

Der dritte November war ein Montag gewesen, heute war Donnerstag. Diese erste Nachricht war noch nicht abgehört worden, weil Leon Godt am Montagmorgen um neun Uhr vermutlich bereits tot gewesen war.

»Jane?«, sagte Maura. Die graue Tigerkatze war ihr in den Hausflur gefolgt und schlängelte sich um ihre Knöchel.

»An diesem Anrufbeantworter ist Blut«, sagte Jane und drehte sich zu ihr um. »Warum hat der Täter ihn wohl angefasst? Wieso hat er sich für die Nachrichten des Opfers interessiert?«

»Komm mal mit und sieh dir an, was Frost im Garten gefunden hat.«

Jane folgte Maura in die Küche und zur Hintertür hinaus. In einem umzäunten, nur mit einem lückenhaften Rasen bepflanzten Garten stand ein Nebengebäude mit metallverkleideten Wänden. Der fensterlose Bau, zu groß für einen schlichten Geräteschuppen, sah aus, als könne er alle möglichen Gräuel verbergen. Als Jane eintrat, schlug ihr ein chemischer Geruch entgegen, scharf wie Alkohol. Leuchtstoffröhren tauchten das Innere in ein kaltes, grelles Licht.

Frost stand neben einer großen Werkbank und studierte ein furchterregend aussehendes Werkzeug, das darauf montiert war. »Ich dachte zuerst, es wäre eine Tischsäge«, sagte er. »Aber diese Schneide ist anders als alles, was ich kenne. Und dann die Schränke da drüben.« Er wies zum anderen Ende der Werkstatt. »Wirf mal einen Blick hinein.«

Durch die Glastüren der Schränke erblickte Jane Kartons mit Latexhandschuhen und eine ganze Reihe gefährlich aussehender Instrumente, ausgebreitet auf den Regalbrettern. Skalpelle und Messer, Sonden, Zangen und Pinzetten. Chirurgenwerkzeug. An Wandhaken hingen Gummischürzen, übersät mit Spritzern, die nach Blut aussahen. Schaudernd wandte sie sich ab und starrte die Sperrholzplatte der Werkbank an, die Oberfläche voller Kerben und Kratzer. Darauf lag ein Klumpen rohes, erstarrtes Fleisch.

»Okay«, murmelte Jane. »Jetzt flippe ich aber wirklich gleich aus.«

»Das hier sieht ganz nach der Werkstatt eines Serienmörders aus«, meinte Frost. »Und auf dieser Werkbank hier hat er die Leichen zersägt und zerstückelt.«

In der Ecke stand ein weißes Zweihundert-Liter-Fass, verbunden mit einem Elektromotor. »Wozu ist das Ding da eigentlich gut?«, fragte Jane.

Frost schüttelte den Kopf. »Es sieht groß genug aus, um darin …«

Sie ging auf das Fass zu. Und hielt inne, als sie rote Sprenkel auf dem Boden entdeckte. Ein Schmierfleck in der gleichen Farbe zog sich zur Verschlussklappe. »Hier ist überall Blut.«

»Was ist in dem Fass?«, fragte Maura.

Jane zog kräftig am Verschlussriegel. »Und hinter Tür Nummer zwei ist …« Sie schaute hinein. »Sägemehl.«

»Sonst nichts?«

Jane griff durch die Öffnung, ließ die Späne durch ihre Finger gleiten und wirbelte eine Wolke von Holzstaub auf. »Nur Sägemehl.«

»Wir suchen also immer noch nach dem zweiten Opfer.«

Maura trat zu dem gruseligen Werkzeug, das Frost anfangs für eine Tischsäge gehalten hatte. Während sie die Schneide untersuchte, schlich die Katze wieder um ihre Beine herum, rieb sich an ihren Hosenbeinen und wollte einfach nicht von ihr ablassen. »Haben Sie sich dieses Ding genau angesehen, Detective Frost?«

»Na ja, ich bin nicht näher rangegangen als unbedingt nötig.«

»Sehen Sie, dass die Schneide dieses kreisförmigen Sägeblatts seitlich umgebogen ist? Dieses Werkzeug dient offensichtlich nicht zum Schneiden.«

Jane trat zu ihr an die Werkbank und berührte vorsichtig die Schneide. »Dieses Ding sieht aus, als könnte es einen in Fetzen reißen.«

»Und das ist wahrscheinlich genau seine Funktion. Ich glaube, das ist ein sogenannter Entfleischer. Er wird nicht zum Schneiden, sondern zum Abschaben von Fleisch benutzt.«

»Solche Maschinen werden tatsächlich hergestellt?«

Maura ging zu einem Wandschrank und öffnete die Tür. Der Schrank enthielt eine Reihe von Behältern, die wie Farbdosen aussahen. Maura griff nach einer großen Dose und drehte sie um, sodass sie das Etikett lesen konnte. »Spachtelmasse.«

»Für Autos?«, fragte Jane. Auf dem Etikett war ein Pkw abgebildet.

»Hier steht, dass es ein Kitt für Karosseriearbeiten ist. Zum Ausbessern von Dellen und Kratzern.« Maura stellte die Dose in den Schrank zurück. Sie konnte die graue Katze nicht abschütteln, die ihr folgte, als sie zu der Vitrine hinüberging und durch die Scheibe die Messer und Sonden musterte, ausgelegt wie auf einem OP-Tablett. »Ich glaube, ich weiß, wozu dieser Raum benutzt wurde.« Sie drehte sich zu Jane um. »Diese überzähligen Organe in dem Mülleimer – ich glaube nicht, dass sie von einem Menschen stammen.«

»Leon Godt war kein sympathischer Mann. Und das ist noch milde ausgedrückt«, sagte Nora Bazarian, während sie ihrem einjährigen Sohn einen Karottenbrei-Schnurrbart von der Oberlippe wischte. Mit ihrer verwaschenen Jeans, dem eng anliegenden T-Shirt und den blonden Haaren, die sie zu einem mädchenhaften Pferdeschwanz gebunden hatte, wirkte sie eher wie ein Teenager als wie eine dreiunddreißigjährige zweifache Mutter. Doch sie hatte die Multitasking-Fähigkeiten einer Mutter und schaffte es, ihrem Sohn immer wieder einen Löffel Karottenbrei in den Mund zu schieben, während sie die Spülmaschine einräumte, nach einem Kuchen im Ofen sah und Janes Fragen beantwortete. Kein Wunder, dass die Frau eine Taille wie ein Teenager hatte – sie saß nie auch nur fünf Sekunden still.

»Wissen Sie, wie er meinen Sechsjährigen angebrüllt hat?«, fuhr Nora fort. »Runter von meinem Rasen! Ich hatte immer gedacht, das gäbe es nur in Karikaturen von mürrischen alten Männern, aber Leon hat das tatsächlich zu meinem Sohn gesagt. Und nur weil Timmy nach nebenan gegangen war, um seinen Hund zu streicheln.« Nora schlug die Tür der Spülmaschine mit einem Knall zu. »Bruno hat bessere Manieren, als sein Herrchen sie hatte.«

»Wie lange kannten Sie Mr. Godt?«, fragte Jane.

»Wir sind vor sechs Jahren in dieses Haus gezogen, kurz nach Timmys Geburt. Wir fanden, dass das hier ein ideales Viertel für Kinder wäre. Sie sehen ja, wie gepflegt die meisten Gärten sind, und es wohnen noch andere junge Familien in dieser Straße, mit Kindern in Timmys Alter.« Mit der Grazie einer Balletttänzerin drehte sie sich zur Kaffeekanne um und schenkte Jane nach. »Ein paar Tage, nachdem wir eingezogen waren, habe ich Leon einen Teller Brownies gebracht, einfach so zur Begrüßung. Er hat sich nicht mal bedankt, sondern bloß gesagt, er esse keine Süßigkeiten, und mir den Teller gleich wieder zurückgegeben. Dann hat er sich beschwert, dass mein Baby zu viel schreien würde, und gefragt, wieso ich nicht dafür sorgen könnte, dass er nachts still ist. Ist das nicht unglaublich?« Sie setzte sich und gab ihrem Sohn noch ein paar Löffel Brei. »Und der Gipfel waren dann diese ganzen toten Tiere, die er an seinen Wänden hängen hat.«

»Sie waren also in seinem Haus?«

»Nur ein Mal. Er klang so stolz, als er mir erzählte, dass er die meisten selbst geschossen habe. Was sind das für Menschen, die Tiere töten, nur um sie als Wandschmuck zu benutzen?« Sie wischte dem Baby einen Karottenklecks vom Kinn. »Damals haben wir beschlossen, dass wir ihm in Zukunft einfach aus dem Weg gehen. Stimmt’s, Sam?«, gurrte sie. »Einfach einen großen Bogen um diesen gemeinen Mann machen.«

»Wann haben Sie Mr. Godt das letzte Mal gesehen?«

»Das habe ich alles schon Officer Root erzählt. Ich habe Leon das letzte Mal am Wochenende gesehen.«

»An welchem Tag?«

»Am Sonntagmorgen. Da habe ich ihn in seiner Einfahrt gesehen, wie er seine Einkäufe ins Haus getragen hat.«

»Haben Sie mitbekommen, ob er an diesem Tag irgendwelche Besucher hatte?«

»Ich war am Sonntag fast den ganzen Tag weg. Mein Mann ist diese Woche in Kalifornien, also bin ich mit den Kindern zu meiner Mutter nach Falmouth gefahren. Wir sind erst spätabends zurückgekommen.«

»Um wie viel Uhr?«

»So gegen halb zehn, zehn.«

»Und in dieser Nacht, haben Sie da irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche von nebenan gehört? Schreie, laute Stimmen?«

Nora legte den Löffel beiseite und sah Jane stirnrunzelnd an. Das hungrige Baby protestierte quäkend, doch Nora ignorierte es. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf Jane gerichtet. »Ich dachte … als Officer Root mir sagte, Leon habe in seiner Garage gehangen … da habe ich automatisch angenommen, es wäre Selbstmord gewesen.«

»Es handelt sich leider um Mord.«

»Wirklich? Sind Sie ganz sicher?«

Oh ja. Absolut sicher. »Mrs. Bazarian, wenn Sie versuchen könnten, sich an den Sonntagabend zu erinnern …«

»Mein Mann kommt erst am Montag zurück, und ich bin hier mit den Kindern allein. Sind wir in Gefahr?«

»Erzählen Sie mir von Sonntagabend.«

»Sind meine Kinder in Gefahr?«

Es war die erste Frage, die jede Mutter stellen würde. Jane dachte an ihre eigene Tochter, die dreijährige Regina. Sie überlegte, wie sie sich an Nora Bazarians Stelle fühlen würde, mit zwei kleinen Kindern, so nahe am Schauplatz einer Gewalttat. Was würde sie lieber hören – beschwichtigende Worte oder die Wahrheit? Denn die Wahrheit war, dass Jane die Antwort nicht wusste. Absolute Sicherheit konnte sie niemandem versprechen.