Der Schulhof als bewegungsorientierter Sozialraum - Ahmet Derecik - E-Book

Der Schulhof als bewegungsorientierter Sozialraum E-Book

Ahmet Derecik

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Beschreibung

Ommo-Grupe-Preisträger 2011 Der vorliegende Band hat sich als Ziel gesetzt, die Bedeutung von Schulhöfen in Ganztagsschulen als Orte des informellen Lernens und der Raumaneignung hervorzuheben. Aus diesem Grund wird die Frage verfolgt, welche informellen Tätigkeiten von Heranwachsenden der Klassen eins bis zehn auf Schulhöfen in Ganztagsschulen ausgeübt werden. Dabei wird sich nicht mit einer Beschreibung dieser begnügt. Die informellen Tätigkeiten werden, in Abhängigkeit des Alters und Geschlechts, aus einer sozialräumlichen Aneignungsperspektive interpretiert. Die theoretischen Grundlagen dafür werden geschaffen, indem die Theorien des informellen Lernens, des Raumbegriffs sowie des Aneignungskonzepts miteinander verknüpft und auf die Ganztagsschule bezogen werden. Resümierend bedarf informelles Lernen der Bereitstellung von angemessenen Räumen und kann auf der Handlungsebene mit dem Aneignungskonzept erfasst werden. Das Aneignungskonzept beschreibt dabei die eigentätige Entwicklung von Heranwachsenden als Wechselwirkungsverhältnis zwischen Räumen und Subjekten. Den empirischen Ergebnissen zufolge ist der Schulhof weit mehr als ein Ort der Frischluftzufuhr. Schulhöfe stellen für Heranwachsende eine gegenwartsorientierte Gegenwelt zum zukunftsorientierten Unterricht dar und können, wenn sie adressatengerecht gestaltet sind, als bedeutender bewegungsorientierter Sozialraum verstanden werden, in dem Heranwachsende über Aneignungsprozesse informell lernen, sich entwickeln und bilden können.

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Sportforum

Band 28

Der Schulhof als bewegungsorientierter Sozialraum

Sportforum

Dissertations- und Habilitationsschriftenreihe

Band 28

Ahmet Derecik

Der Schulhof als bewegungsorientierter Sozialraum

Eine sportpädagogische Untersuchung zum informellen Lernen in Ganztagsschulen

Inaugural-Dissertation zur

Erlangung der Doktorwürde des

Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg/Lahn

vorgelegt von Ahmet Derecik

aus Gelsenkirchen

Marburg/Lahn 2010

Vom Fachbereich Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen am 24. Februar 2011

Abschluss der mündlichen Prüfung am 03. März 2011

Betreuer: Prof. Dr. Ralf Laging Zweitgutachter: Prof. Dr. Nils Neuber

Meyer & Meyer Verlag

Herausgeber der Schriftenreihe Sportforum:

Prof. Dr. Hans-Peter Brandl-Bredenbeck

Prof. Dr. Wolf-Dietrich Brettschneider

Prof. Dr. Christoph Breuer

Prof. Dr. Ulrike Burrmann

Prof. Dr. Dieter Hackfort

Prof. Dr. Erich Müller

Prof. Dr. RalfSygusch

Prof. Dr. Walter Tokarski

Der Schulhof als bewegungsorientierter Sozialraum Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothekverzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht derVervielfältigung und Verbreitung sowie das Recht der Übersetzung, Vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren – ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

©2011 by Meyer & MeyerVerlag, Aachen

Auckland, Beirut, Budapest, Cairo, Cape Town, Dubai, Indianapolis,

Kindberg, Maidenhead, Sydney, Olten, Singapore, Tehran, Toronto

Member of the World

Sport Publishers’Association (WSPA)

Druck: Beltz Druckpartner GmbH & Co. KG

ISBN 9783898997126

eISBN 9783840334900

E-Mail: verlag@m-m-sports.comwww.dersportverlag.dewww.wissenschaftundsport.de

Inhalt

Danksagung

1     Einleitung

1.1      Problemstellung der Arbeit

1.1.1   Bedeutung der Bewegung für Aneignungsprozesse

1.1.2   Beitrag von Bewegung für die Ganztagsschulentwicklung

1.1.3   Forschungsstand zur Aneignung von Schulhöfen

1.2      Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

2     Informelles Lernen in der Ganztagsschule

2.1      Begründungsmuster und Organisationsformen von Ganztagsschulen

2.2      Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe

2.3      Schulhof als Ort des informellen Lernens

2.3.1   Bestimmung des informellen Lernens

2.3.2   Verortung des informellen Lernens in der Ganztagsschule

2.3.3   Funktionen von Schulhöfen

2.3.4   Schulhof als pädagogisch wirkende Umwelt

3     Raumbegriff

3.1      Gegensätzliche Betrachtungsweisen des Raums

3.2      Gelebter Raum

3.3      Zusammenhang von Bewegung und Raum

3.3.1   Sport-, Spiel- und Bewegungsräume

3.3.2   Ruhe- und Kommunikationsräume

3.4      Raum als eine „relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern“

3.5      Sozialraum

4     Aneignungskonzept

4.1      Klassisches Aneignungskonzept

4.1.1   Aneignung der gegenständlichen und symbolischen Kultur

4.1.2   Zusammenhang von Aneignung und Raum

4.1.3   Sozialökologische Raumvorstellungen

4.2      Erweitertes Aneignungskonzept

4.2.1   Neue Raumvorstellungen

4.2.2   Aneignung als Spacing und als Verknüpfung von Räumen

4.3      Operationalisierung der Aneignungsdimensionen

5     Zusammenfassung und Fragestellung

6     Untersuchungskonzeption

6.1      Verortung der Forschungsfragen im Gesamtdesign des Forschungsprojekts StuBSS

6.1.1   Stichprobe

6.1.2   Erhebungsmethoden

6.1.3   Datenerhebung und Erstellung der wissenschaftlichen Quellentexte

6.1.3.1 Datenerhebung und Datenaufbereitung

6.1.3.2 Wissenschaftlicher Quellentext als Triangulationsstrategie und Zwischenschritt

6.2      Typenbildung als Auswertungsstrategie

6.2.1   Empirisch begründete Typen

6.2.2   Stufenmodell der Typenbildung

6.2.2.1 Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen

6.2.2.2 Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkeiten

6.2.2.3 Analyse der inhaltlichen Sinnzusammenhänge und Typenbildung

6.2.2.4 Charakterisierung der gebildeten Typen

7     Untersuchungsergebnisse

7.1      Sporträume

7.1.1   Fußballplätze

7.1.1.1 Altersgemischte Klassenwettkämpfe auf zwei Tore – Spielräume

7.1.1.2 Jahrgangsklassenwettkämpfe auf zwei Tore – Sporträume

7.1.1.3 Klasseninterne Fußballspiele auf ein Tor – Sporträume

7.1.1.4 Charakterisierung der Fußballplätze

7.1.2   Einzelne Basketballkörbe und Basketballplätze

7.1.2.1 Körbe werfen – Bewegungsräume

7.1.2.2 Freiwurfwettbewerbe austragen – Sporträume

7.1.2.3 Streetball spielen auf einen Korb – Trendsporträume

7.1.2.4 Basketball spielen auf zwei Körbe – Sporträume

7.1.2.5 Charakterisierung der einzelnen Basketballkörbe und Basketballplätze

7.1.3   (Beach-)Volleyballplätze

7.1.3.1 (Beach-)Volleyball spielen – (Trend-)Sporträume

7.1.3.2 Charakterisierung der (Beach-)Volleyballplätze

7.1.4   Tischtennisplatten

7.1.4.1 Rundlauf mit Händen und verschiedenen Bällen – Spielräume

7.1.4.2 Rundlauf, z. T. mit Tischtennisschlägern – Spiel und Sporträume

7.1.4.3 Rundlauf mit genormten Materialien – Sporträume

7.1.4.4 Sitzen und Unterhalten – Ruhe und Kommunikationsräume

7.1.4.5 Charakterisierung der Tischtennisplatten

7.1.5   Charakterisierung der Sporträume

7.2      Schulhofflächen

7.2.1   Untergründe

7.2.1.1 Asphaltflächen

7.2.1.1.1   Fußballfelder improvisieren und Fußball spielen – Spielräume

7.2.1.1.2   Fußballturnier organisieren und durchführen – Spielräume

7.2.1.1.3   Kicken mit einem Softball – Spielräume

7.2.1.1.4   Gummitwist und Seilspringen – Spielräume

7.2.1.1.5   Lauf und Fangspiele – Spielräume

7.2.1.1.6   Mädchen jagen Jungen und umgekehrt – Spielräume

7.2.1.1.7   Fahren mit Rollgeräten – Bewegungsräume

7.2.1.1.8   Skateboard fahren – Trendsporträume

7.2.1.1.9   Rugby spielen – Trendsporträume

7.2.1.1.10 Parteiball mit einem Football spielen – Spielräume

7.2.1.1.11 Hacky Sack spielen – Trendspielräume

7.2.1.1.12 Volleyball im Kreis – Spielräume

7.2.1.1.13 Umherwandern und Unterhalten – Ruhe und Kommunikationsräume

7.2.1.1.14 „Cool“ in Ecken stehen und flanieren – Ruhe und Kommunikationsräume

7.2.1.1.15 Charakterisierung der Asphaltflächen

7.2.1.2 Rasenflächen

7.2.1.2.1   Fußballfelder improvisieren und Fußball spielen – Spielräume

7.2.1.2.2   Raufen – Spielräume

7.2.1.2.3   Rollenspiele praktizieren – Rollenspielräume

7.2.1.2.4   Sitzen und Unterhalten – Ruhe und Kommunikationsräume

7.2.1.2.5   Charakterisierung der Rasenflächen

7.2.2   Strukturelemente

7.2.2.1 Podestartige Stufen und Treppen

7.2.2.1.1   Lauf und Fangspiele – Spielräume

7.2.2.1.2   Sitzen und Unterhalten – Ruhe und Kommunikationsräume

7.2.2.1.3   Charakterisierung der podestartigen Stufen und Treppen

7.2.2.2 Bänke

7.2.2.2.1   Sitzen und Unterhalten – Ruhe und Kommunikationsräume

7.2.2.2.2   Sonnenbaden und Mädchen anschauen – Ruheräume

7.2.2.2.3   Fangen spielen – Spielräume

7.2.2.2.4   Karten spielen – Spielräume

7.2.2.2.5   Charakterisierung der Bänke

7.2.3   Charakterisierung der Schulhofflächen

7.3      Spielplätze

7.3.1   Spielplätze mit fest montierten Geräten

7.3.1.1 Balancierbalken

7.3.1.1.1   Balancieren – Bewegungs und Spielräume

7.3.1.1.2   Sitzen – Ruheräume

7.3.1.2 Reckstangen

7.3.1.2.1   Schwingen und Rollen – Bewegungsräume

7.3.1.3 Schaukeln

7.3.1.3.1   Schaukeln – Bewegungsräume

7.3.1.4 Rutschen

7.3.1.4.1   Rutschen – Bewegungsräume

7.3.1.5 Klettergerüste

7.3.1.5.1   Klettergerüstfangen – Bewegungs und Spielräume

7.3.1.5.2   „Abhängen“ und Unterhalten – Ruhe und Kommunikationsräume

7.3.1.5.3   Felgaufschwünge am wackeligen Seil – Bewegungsräume

7.3.1.6 Sandplätze

7.3.1.6.1   Landschaften bauen – Spielräume

7.3.1.7 Charakterisierung der Spielplätze mit fest montierten Geräten

7.3.2   Naturnahe Nischen mit mobilen Materialien

7.3.2.1 Bäume

7.3.2.1.1   Schwingen und Klettern – Bewegungsräume

7.3.2.1.2   Sitzen und Unterhalten – Ruhe und Kommunikationsräume

7.3.2.2 Büsche

7.3.2.2.1   Verstecken – Spielräume

7.3.2.2.2   Zurückziehen und Unterhalten – Ruhe und Kommunikationsräume

7.3.2.3 Mobile Materialien (Baumstämme, Baumstümpfe und Lastwagenreifen)

7.3.2.3.1   Balancieren und Springen – Bewegungsräume

7.3.2.3.2   Konstruktionen bauen – Spielräume

7.3.2.3.3   Sitzen, Lesen und Unterhalten – Ruhe und Kommunikationsräume

7.3.2.4 Naturnahe Nischenflächen

7.3.2.4.1   Spielen mit Naturmaterialien – Bewegungs und Spielräume

7.3.2.4.2   Rollenspiele praktizieren – Rollenspielräume

7.3.2.5 Charakterisierung der naturnahen Nischen mit mobilen Materialien

7.3.3   Charakterisierung der Spielplätze

7.4      Zusammenfassende Diskussion der Untersuchungsergebnisse

8     Fazit und Ausblick

9     Literatur

10   Anhang

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Danksagung

Nicht selten entstehen Dissertationen im Rahmen eines Forschungsprojekts. So ist auch die vorliegende Arbeit im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekts „Studie zur Entwicklung von Bewegung, Spiel und Sport in der Ganztagsschule“ (StuBSS) entstanden. Federführend wurde das Gesamtprojekt von Prof. Dr. Ralf Laging (Marburg) betreut, gemeinsam mit Prof. Dr. Reiner Hildebrandt-Stramann (Braunschweig) und PD Dr. Jürgen Teubner (Jena). Mein erster und aufrichtiger Dank gilt meinem Doktorvater Ralf Laging, der mir einerseits die Freiheit gegeben hat, mein Dissertationsthema eigenständig zu wählen und mir andererseits den notwendigen Rückhalt gesichert hat, meine Promotion konsequent zu verfolgen. Nicht allzu oft findet der wissenschaftliche Nachwuchs so gute Bedingungen, immer wieder „in Klausur gehen“ zu dürfen, wie es mir mein Doktorvater ermöglicht hat. Gleichzeitig hatte ich immer wieder die Gelegenheit, mit ihm in einen äußerst fruchtbaren und gewinnbringenden wissenschaftlichen Diskurs einzutreten.

Ein weiterer inniger Dank gilt – neben den weiteren Leitern des Verbundprojekts StuBSS – den Mitarbeitern des Projektteams. Namentlich zu nennen sind Cordula Stobbe, Tanja Bartmann, Dr. Petra Böcker (Marburg), Katrin Riegel, Jeannine Raddatz (Braunschweig), Dr. Oliver Senff, Dr. Anne Leschinski (Jena) und als assoziierte Mitarbeiterin Dr. Maud Hietzge (Gießen). Ohne sie alle wäre eine Datenerhebung im vorliegenden Umfang nicht möglich gewesen. Viele meiner Ideen und Vorhaben konnten zudem in den regelmäßigen Projekttreffen reifen und zusammen reflektiert werden. Innerhalb dieser Projektgruppe möchte ich ganz besonders Cordula Stobbe danken. Sie hat mir in vielen kollegialen Beratungsgesprächen überaus konstruktive Rückmeldungen gegeben und mich mit ihren ausgezeichneten Fähigkeiten als Lektorin bis zum Druck der Arbeit begleitet.

In der Reihe der Danksagungen nimmt mein Zweitgutachter Prof. Dr. Nils Neuber einen ganz besonderen Platz ein. Seit meinen Studententagen in Bochum hat er mich freundschaftlich in meinem Werdegang unterstützt und so zu meiner wissenschaftlichen sowie persönlichen Entwicklung maßgeblich beigetragen.

Diese Arbeit widme ich meiner Familie. Zunächst meinen Eltern, weil sie vor Jahrzehnten den Mut hatten, nach Deutschland auszuwandern. Ohne diesen Schritt wären mir ein akademischer Werdegang und die vorliegende Promotion sicherlich verwehrt geblieben. Des Weiteren widme ich meine Dissertation meiner langjährigen Lebensgefährtin Kristin Enderweit („Elchin“), die meine liebste „Heimatinsel“ ist und mir fortwährend zur Seite steht. Vor allem aber widme ich diese Arbeit meinen Geschwistern Ismail Derecik und Dr. Kezban Würfel (und ihren Lebensgefährten), die mir stets als Vorbild dienen und mich von Kindesbeinen an intellektuell und persönlich herausgefordert haben. Dafür gebührt ihnen meine größte Dankbarkeit und Anerkennung!

1    Einleitung

Spätestens seit den Ergebnissen der PISA-Studien und dem Ausbau von Ganztagsschulen wird in der Politik, der Wissenschaft und der Öffentlichkeit wieder verstärkt über Lernen diskutiert. Dabei hatte bereits vor 20 Jahren der Club of Rome1 das Dilemma der Bildung darin gesehen, „dass das Lernen der Menschen nicht Schritt hält mit den neuen Anforderungen und wachsenden Problemen im Verhältnis zu ihrer sich immer schneller verändernden Umwelt“ (Dohmen, 2001, S. 10). In Anbetracht dieser Tatsache stellt sich Lernen in der heutigen schnelllebigen Zeit als ein notwendiger lebenslanger Prozess dar, in dem die Menschen auf die sich verändernden Herausforderungen der Umwelt reagieren und sich an diese anpassen müssen (vgl. Neuber, 2007, S. 91-94).

Aus diesem Grund spricht die OECD (2001, S. 7) von einem grundlegenden Bruch gegenüber den bisherigen Ansichten von Lernen und fordert „die Anerkennung einer Vielzahl von Formen und Wegen des Lernens“. Lernen wird meist als das Ergebnis von Erfahrungen aufgefasst, die zu einer relativ überdauernden Verhaltensänderung führen. Die Erfahrungen werden wiederum in der aktiven Interaktion mit und in einer Umwelt erworben (vgl. Zimbardo, 1992, S. 227; Treml & Becker, 2006, S. 104). Lernen ist in diesem Sinn zwar ein gängiger Begriff, seine genauere analytische Bestimmung entfaltet sich allerdings erst, wenn er in begriffliche Verbindungen gesetzt und damit in ein erziehungswissenschaftliches bzw. bildungspolitisches Konzept eingebunden wird (vgl. Vogel, 2008, S. 119).

Unter diesem Aspekt haben sich in der internationalen und nationalen Diskussion die differenzierenden Definitionen formales Lernen, nicht-formales Lernen und informelles Lernen durchgesetzt (vgl. Overwien, 2006, S. 46).2

-  Formales Lernen findet üblicherweise in einer Bildungs- oder Ausbildungseinrichtung statt. In Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung ist es strukturiert und führt zur Zertifizierung. Aus der Sicht des Lernenden ist formales Lernen zielgerichtet.

-  Nicht-formales Lernen findet üblicherweise nicht in Bildungs- oder Berufsbildungseinrichtungen statt und führt üblicherweise nicht zur Zertifizierung. Den noch ist es in Bezug auf Lernziele, Lerndauer und Lernmittel organisiert und systematisch. Aus Sicht der Lernenden ist es ebenfalls zielgerichtet, aber freiwillig.

-  Informelles Lernen wird als Lernen im Alltag, am Arbeitsplatz, im Familienkreis oder in der Freizeit bezeichnet. Es ist in Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung nicht strukturiert und führt üblicherweise nicht zur Zertifizierung. Informelles Lernen kann zielgerichtet, aber auch an der Gegenwart orientiert sein (vgl. Europäische Kommission, 2001, S. 33, 35).

Die Europäische Kommission (2001, S. 9) liefert diese grundlegende Dreiteilung des Lernens als breit gefasste Definition für „lebenslanges Lernen“. Mit dem damit verbundenen übergreifenden bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Konzept soll eine Vernetzung verschiedener Lernformen bzw. Lernmodalitäten erreicht werden, in denen sich das gesamte Spektrum des Lernens widerspiegelt. Das Lernen geht dabei vom Subjekt aus, wird aber vordergründig an der Organisationsform des Lernens festgemacht, d. h. die Aufmerksamkeit richtet sich auf verschiedene soziale und räumliche Lernumgebungen bzw. Settings.3

Innerhalb des Konzepts des lebenslangen Lernens bzw. der drei Lernformen steht das informelle Lernen hoch im aktuellen Diskurs. Der Faure-Kommission (1973) zufolge findet 70 % des menschlichen Lernens durch informelles Lernen statt, weshalb die Bedeutung dieser Form des Lernens in Bezug auf die Gestaltung des eigenen Lebensalltags gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann (vgl. Dohmen, 2001, S. 15). Informelles Lernen wird bei Dohmen (2001) bereits im Titel als bislang allgemein vernachlässigte „Grundform menschlichen Lernens für das lebenslange Lernen aller“ angesehen und als unverzichtbare Voraussetzung des Lernens bezeichnet, auf dem formales und nicht-formales Lernen aufbauen. Formales Lernen wird lediglich als „Spitze eines sehr viel umfangreicheren ‚Eisbergs‘ menschlichen Lernens“ begriffen (Dohmen, 2001, S. 2). Damit soll nicht die Funktion und Leistung der Schule abgewertet werden, aber ihre Monopolstellung als Bildungsinstitution wird zunehmend in Frage gestellt (vgl. Dohmen, 2001, S. 8).

Die Schule konzentriert sich in erster Linie auf die Vermittlung von tradiertem Wissen durch formales Lernen. Die durch das formale Lernen vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten haben aber in Anbetracht gesellschaftlicher Veränderungsprozesse kaum lange genug Bestand. Umso wichtiger ist es, das informelle Lernen nicht aus der Schule auszuschließen, dies nicht zuletzt, um das Fundament des formalen Lernens sichern zu können. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung definiert informelles Lernen jedoch als „alle (bewussten und unbewussten) Formen des praktizierten Lernens außerhalb formalisierter Bildungsinstitutionen und Lernveranstaltungen“ (BMBF, 2004, S. 29, Hervorhebung A. D.). Damit wird die Möglichkeit der Förderung informellen Lernens innerhalb der Schule kategorisch ausgeklammert und ignoriert. Es fragt sich, ob das ein tragfähiger Ansatz ist.

1.1   Problemstellung der Arbeit

Der Grundgedanke des informellen Lernens bezieht sich im Wesentlichen darauf, dass es in der Lebenspraxis stattfindet und zur Lösung einer Aufgabe in einer aktuellen Situation dient (vgl. Dohmen, 2001, S. 19). Dies kann intentional erfolgen, es kann aber auch beiläufig entstehen. Zudem ist entscheidend, dass kein direktes Einwirken von Lehrkräften erfolgt. Eine Arbeitsdefinition von informellem Lernen könnte demzufolge lauten: Als informelles Lernen gelten alle (bewussten und unbewussten) Formen des Lernens, die zur Lösung einer Aufgabe in einer aktuellen Situation dienen und ohne das direkte Einwirken von Lehrkräften erfolgen. Ohne an dieser Stelle genauer auf den Begriff eingehen zu wollen, kann mit dieser vorläufigen Begriffsklärung eine Grundlage geschaffen werden, die es erlaubt, informelles Lernen auch innerhalb von Institutionen, wie der Schule, zu verorten (vgl. Kap. 2.3.1).

Der kanadische Forscher Schugurensky (2000) weist explizit darauf hin, dass informelles Lernen ebenfalls in formalisierten Bildungsinstitutionen stattfindet. In der Auseinandersetzung mit vielfältigen Bewegungs-, Spiel- und Sportformen werden Schüler4 z. B. auf Schulhöfen mit verschiedenen (Bewegungs-)Aufgaben konfrontiert, die sie zu Lösungen zur Befriedigung ihrer aktuellen Situation anregen. Auf diese üben Aufsicht führende Lehrer i. d. R. keinen Einfluss aus, es sei denn, es wird gegen eine Pausenordnung verstoßen. Damit kann der Schulhof im formalen Setting der Schule – so meine These – als ein spezifischer Ort des informellen Lernens aufgefasst werden.

Bei der Analyse informellen Lernens können zum einen die konkreten Formen der (kognitiven) Verarbeitung neuen Wissens untersucht werden, wie dies z. B. in kognitiven Lerntheorien der Fall ist, die stärker die im Lernenden vorgehenden kognitiven Prozesse thematisieren. Zum anderen kann die Lernumgebung zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Die vorliegende Arbeit fokussiert explizit nicht innerpsychische Prozesse, sondern richtet die Sicht auf die Lernenden in ihrer Lernumgebung und orientiert sich somit an einem Situationsansatz (vgl. Lave & Wenger, 1991). Dabei greift sie auf das Aneignungskonzept der Sozialpädagogik zurück, das seinen Ursprung im Aneignungskonzept der kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie hat (vgl. Kap. 4).

Das Aneignungskonzept zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es Aneignung als Entwicklung der Heranwachsenden in eigentätiger Auseinandersetzung mit der Umwelt interpretiert (vgl. Deinet, 2010, S. 85). Die Interaktion der Heranwachsenden mit der Umwelt wird als Wechselwirkung zwischen objektiven Strukturen des Raums und subjektiven Sinndeutungen des Menschen betrachtet, weshalb das Aneignungskonzept als dialektische Entwicklungstheorie5 bezeichnet werden kann. Dieser Ansatz wird in klassischen sozialökologischen Entwicklungstheorien aufgegriffen (vgl. Bronfenbrenner, 1981; Fuhrer, 1996), die als Rahmentheorien zur „Forschung über den Alltag und die Entwicklung junger Menschen“ dienen können (Engelbert & Herlth, 2002, S. 113, Hervorhebung im Original). Der Mensch wird in sozialökologischen Entwicklungstheorien als „aktiver Gestalter seiner Entwicklung begriffen, und zwar als Akteur, der sich die kulturellen Inhalte seiner Gesellschaft in sozialer Kooperation mit anderen aneignet“ (Fuhrer & Quasier-Pohl, 1997, S. 181).

Entwicklung vollzieht sich dabei in aufeinander aufbauenden Lernstufen6 (vgl. Holzkamp & Schurig, 1973, S. XLII), die nicht völlig selbstgesteuert sind. In der Wechselwirkung zwischen Umwelt und Mensch wird die eigentätige Aneignung durch äußere Bedingungen wie Schuleintritt, Schulwechsel und Pubertät beeinflusst (vgl. Leontjew, 1973; Böhnisch, 2008). Im Konzept der Aneignung kann der Mensch also nur durch seine Umwelt und die Umwelt nur durch die Menschen verstanden werden (vgl. Graumann, 1990a, S. 129). Die vorliegende Arbeit zum informellen Lernen in Ganztagsschulen zielt somit – anknüpfend an das sozialpädagogische Aneignungskonzept – in erster Linie auf die Bestimmung der Wechselbeziehungen zwischen Räumen und Heranwachsenden. Als Setting der vorliegenden Untersuchung werden Schulhöfe in Ganztagsschulen gewählt, in denen Aneignungsprozesse im Medium von Bewegung, Spiel und Sport empirisch untersucht werden sollen.

Damit kann die vorliegende Arbeit wissenschaftstheoretisch im Schnittfeld zwischen Schul-, Sozial- und Sportpädagogik verortet werden. Es wird ein sozialpädagogischer und ein bewegungsorientierter Zugang zur Ganztagsschulentwicklung angestrebt, wobei die Ganztagsschule von einem sportpädagogischen Standpunkt aus betrachtet wird. Zur Verortung von informellem Lernen in der Ganztagsschule liegen noch keine theoretischen Konzepte vor, geschweige denn empirische Studien zur Aneignung von Schulhöfen. Aus diesem Grund müssen Aneignungsprozesse auf Schulhöfen zunächst explorativ mit verschiedenen qualitativen Methoden sondiert werden.

Bevor konkrete Zielsetzungen formuliert werden und auf den Aufbau der Arbeit eingegangen wird (Kap. 1.2), soll zunächst in zwei Exkursen der wesentliche sportpädagogische Bezug der Untersuchung dargelegt werden. Zum einen wird die Bedeutung der Bewegung für Aneignung zugespitzt. Dafür wird Bewegung in Beziehung zum Aneignungskonzept gesetzt (Kap. 1.1.1). Zum anderen wird in einem übergeordneten Sinn die Bedeutung von Bewegung, Spiel und Sport für die Ganztagsschulentwicklung charakterisiert. In einer (phänomenologisch) anthropologischen Auslegung wird Bewegung als fundamentale Grundvoraussetzung für die Auseinandersetzung mit der Umwelt aufgefasst (Kap. 1.1.2). In einem weiteren Schritt wird der Forschungsstand zu Schulhöfen dargestellt. Da bislang sowohl Studien zu Schulhöfen in Ganztagsschulen als auch zu Schulhöfen aus einer Aneignungsperspektive fehlen, werden die bisher existierenden Untersuchungen zu Schulhöfen aufgeführt (Kap. 1.1.3).

1.1.1  Bedeutung der Bewegung für Aneignungsprozesse

Die Bedeutung der Bewegung lässt sich im (sport-)pädagogischen Kontext damit begründen, dass die Bewegungstätigkeiten stets in ein Handlungsgeschehen eingebunden sind und mehr bedeuten als die äußerlich beobachtbare Motorik oder die messbare Fitness. Bewegungen finden in einem gesellschaftlich und kulturell definierten Raum statt, weshalb sie von vielfältigen Sinn- und Bedeutungsdimensionen durchzogen sind (vgl. Grupe, 1982). Bewegung ist damit immer eingebettet in einen Kontext, der maßgebend für die Bewältigung und Gestaltung von (Bewegungs-)Aufgaben ist. Aus phänomenologischer Perspektive wird Bewegung als „eine grundlegende Weise unseres Zur-Welt-Seins und unseres Weltverstehens“ verstanden (Laging, 2006a, S. 2; vgl. Merleau-Ponty, 1966). Mittels Bewegung lernen Heranwachsende etwas über die materiellen und symbolischen Gegenstände, indem sie sich aktiv handelnd mit ihnen auseinandersetzen. Bewegung stellt eine „nicht mehr hintergehbare Weise der Weltaneignung“ dar (Laging, 2007, S. 69).

Die Ursprünge der anthropologischen Betrachtung auf Bewegung weichen zwar von der Tätigkeitstheorie7 des Aneignungskonzepts ab, weisen jedoch auf der Handlungsebene eine grundlegende Gemeinsamkeit auf. Diese liegt in der bewegungsorientierten bzw. tätigen Auseinandersetzung der Heranwachsenden mit der (Um-)Welt. Sowohl im Aneignungskonzept als auch in der sportpädagogischen Anthropologie werden Bewegungshandlungen in einer interaktionistischen Sichtweise betrachtet, die gleichermaßen die Wichtigkeit der Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Umwelt in den Vordergrund stellt. Genau in diesem Kontext wird der Bezug von Bewegung zum Aneignungskonzept hergestellt. Der Sinn von Bewegungshandlungen konstituiert sich jeweils in der Situation, die als Grundeinheit von Umwelt-Mensch-Bezügen verstanden wird (vgl. Graumann, 1990b, S. 97). Im tätigkeitsorientierten Ansatz ist Aneignung in bewegungsorientierten Situationen an das Bewegungshandeln des Subjekts gebunden. Auf diese grundlegende Erkenntnis verweist auch die phänomenologische Anthropologie (vgl. Merleau-Ponty, 1966; Gebauer & Wulf, 1998).

Für die Bestimmung von Bewegungshandlungen sind zwei wesentliche Merkmale von Bedeutung. Das erste Merkmal ist die Intentionalität bzw. die Zielgerichtetheit und das zweite der Gegenstandsbezug des Handelns (vgl. Oerter, 1993, S. 3). Im zweiten Merkmal – dem Gegenstandsbezug des Handelns – kann der Zusammenhang von Bewegung und Aneignung weiter konkretisiert werden. Handeln kann sowohl den Umgang mit Gegenständen als auch die Herstellung eines Gegenstands implizieren. Im Aneignungskonzept spielen beide Aspekte eine zentrale Rolle. Im Umgang mit Gegenständen geht es im Prozess der Aneignung für den Heranwachsenden darum, sich die materiellen und symbolischen Bedeutungen von Gegenständen anzueignen bzw. diese zu begreifen (Gegenstandsbedeutung). Die Herstellung eines Gegenstandes wird dagegen als Vergegenständlichung bezeichnet. Dieser Begriff wird im Aneignungskonzept als dialektischer Gegenbegriff zur Gegenstandsbedeutung aufgefasst (vgl. Kap. 4.1.1).

Die notwendigen lösungsbezogenen Tätigkeiten zum Umgang mit Gegenständen und zu deren Herstellung werden auch im phänomenologischen Bewegungskonzept als intentionales und mit subjektivem Sinn besetztes Bewegungshandeln begriffen (vgl. Laging, 2008a, S. 255; Tamboer, 1979; Trebels, 1992). Jegliches Handeln ist auf Gegenstände bzw. Menschen gerichtet, weshalb ohne einen Gegenstand auch keine intentionale Handlung möglich ist. Umgekehrt kann ohne einen Gegenstand auch nicht gelernt werden, was die zentrale Rolle des Gegenstandsbezugs für das Lernen des Menschen und seine Entwicklung verdeutlicht (vgl. Oerter, 1993, S. 4).

Vor diesem Hintergrund kann eine direkte Beziehung zwischen Aneignung und (informellem) Lernen hergestellt werden. In der gegenwärtigen Diskussion um Lernen und Lernumgebung fehlt bislang auf der Handlungsebene ein tragfähiger Begriff, der die Vielschichtigkeit der Lernprozesse fassen kann (vgl. Deinet & Reutlinger, 2005, S. 310). Genau diese Lücke kann mit dem Aneignungskonzept geschlossen werden, welches Aneignung in Situationen als Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt versteht. Da informelles Lernen auf eigenen Erfahrungen beruht, die zur Lösung einer Aufgabe in einer aktuellen Situation dienen und ohne das direkte Einwirken von Lehrkräften erfolgen, liegt es nahe, informelles Lernen etwas differenzierter zu betrachten und in Bezug zum Aneignungskonzept zu setzen.

Dies wurde im Rahmen eines größeren kanadischen Forschungsprojekts zum lebenslangen Lernen angestrebt. Livingstone (1999, S. 68-69, Hervorhebung A. D.) definiert als „Wesensmerkmal des informellen Lernens […] die selbständige Aneignung neuer signifikanter Erkenntnisse oder Fähigkeiten, die lange genug Bestand haben, um im Nachhinein noch als solche erkannt zu werden.“8 Auch wenn in dieser Definition das implizite (unbewusste) Lernen vernachlässigt wird9, kann der analytische Unterschied zwischen den Begriffen informelles Lernen und Aneignung folgendermaßen interpretiert werden: Aneignung findet auf der Ebene der Handlung und informelles Lernen findet auf der Ebene der Kognition statt.

In der Aneignungstheorie ist die Tätigkeit das entscheidende Bindeglied zwischen Mensch und Umwelt, beim informellen Lernen erfolgt eine Übertragung und Verinnerlichung (Interiorisierung) der Handlungen in kognitive Strukturen, die zu einer relativ überdauernden Verhaltensänderung führen können (vgl. Kap. 4.1.1). Informelles Lernen geht also aus der Tätigkeit hervor. Informelles Lernen und Aneignung sind in ihren Denk- und Handlungsdimensionen allerdings so eng miteinander verbunden, dass sie eine dialektische Einheit bilden. In der Praxis lassen sich Aneignung und informelles Lernen nicht trennen. Gemeinsam tragen sie zur Entwicklung von Heranwachsenden in der Auseinandersetzung mit der Umwelt bei. Aufgrund der bisher skizzierten Bedeutung von Bewegung für Aneignung, Lernen und Entwicklung kann Bewegung einen besonderen Beitrag für die Ganztagsschulentwicklung leisten.

1.1.2  Beitrag von Bewegung für die Ganztagsschulentwicklung

Aus schulpädagogischer Perspektive kann es nach Holtappels und Serwe (2009, S. 67) bei der Entwicklung von Ganztagsschulen „nicht darum gehen, einzig auf kognitive Lernleistungen und deren Effektivierung durch Stilllegung des Körpers zu setzen“. Bewegung sollte aufgrund ihrer Bedeutung für Aneignung, Lernen und Entwicklung vielmehr offensiv zur pädagogischen Entwicklung von Ganztagsschulen forciert werden. Die Ergebnisse der PISA-Studien lassen sich auf der Basis der einleitenden Bestimmung des informellen Lernens auch dahingehend interpretieren, „dass Heranwachsenden heute wesentliche Aneignungserfahrungen als Grundlage für die Herausbildung höherer geistiger Fähigkeiten und der Entwicklung ihres Wissens fehlen“ (Deinet, 2005a, S. 222).

Das Lernen in der Ganztagsschule sollte generell als eine „grundständig andere Weise des Weltverstehens in der [tätigen] Auseinandersetzung mit Gegenständen, Situationen und Themen der Welt“ aufgefasst werden, die über Aneignungsprozesse gefördert werden können (Laging, 2005, S. 160). Der Bewegung kommt dabei eine besondere Rolle zu, da sie als grundlegende Weise des Zugangs zur Welt begriffen werden muss. Bewegung, Spiel und Sport könnten in einer sogenannten „Bewegungsraumschule“ (Stibbe, 2006) in ein umfassendes Bildungskonzept eingefügt werden. In einer Bewegungsraumschule könnte der Schulsport einen besonderen Beitrag zur Ganztagsschulentwicklung leisten, wenn Bewegung als programmatische Säule des Bildungskonzepts der Ganztagsschule verankert wird (vgl. Laging, 2010; Neuber, 2009; Holtappels & Serwe, 2009, S. 76).

Bewegung, Spiel und Sport werden im Kontext von Ganztagsschulen momentan aber vornehmlich auf die Kooperation mit Sportvereinen beschränkt, was nur einen möglichen Aspekt der bewegungsorientierten Gestaltung von Ganztagsschulen darstellt (vgl. Laging, 2008a, S. 254). Eine bewegungsorientierte Ganztagsschulentwicklung bietet aber ebenso ein besonderes Potenzial zur Auflockerung des Tagestaktes sowie zur Förderung eines handlungsorientierten Unterrichts. Die Schule könnte demnach mit Bewegung, Spiel und Sport zu einem umfassenden Lern-, Erfahrungs- und Lebensraum gestaltet werden, der den lebensweltlichen Hintergrund von Heranwachsenden berücksichtigt und „dem komplexen Prozess sport- und bewegungsbiografischer Entwicklung Rechnung trägt“ (Holtappels & Serwe, 2009, S. 71).

Aus sportpädagogischer Perspektive ist für die Entwicklung von Heranwachsenden kennzeichnend, dass sich ihr Leben in den letzten 20 Jahren vor allem durch den zunehmenden Verlust an Handlungsräumen auszeichnet, deren Auswirkungen sich bis hin zu den Schulleistungen erstrecken. Insgesamt werden in der Umwelt von Heranwachsenden die Freiräume für informelles Lernen und Aneignung immer geringer (vgl. Laging & Schillack, 2007, S. 10-12). Aus diesem Grund wird die Entwicklung einer „Bewegten Schule“ empfohlen, die sich auf einen reformpädagogischen Begründungshorizont bezieht und in ihrer Grundidee zu einer veränderten Lern- und Schulkultur beitragen will. Damit handelt es sich um ein integratives Konzept zur Schulentwicklung, welches Bewegung als fundamentales Gestaltungselement von Ganztagsschule versteht (vgl. Laging, 2008a; Hildebrandt-Stramann, 2007). In einer Vielzahl an unterschiedlichen Konzeptionen und Initiativen zur „Bewegten Schule“ werden unterschiedliche Forderungen an die Schulen gestellt (vgl. Laging & Klupsch-Sahlmann, 2001). Dem Schulhof als einem ausgewählten Baustein einer „Bewegten Schule“10 kommt aufgrund des größeren Zeitbudgets insbesondere in Ganztagsschulen eine besondere Bedeutung zu, weil der Schulhof als ein vielversprechender Lern-, Erfahrungs- und Lebensraum charakterisiert werden kann (vgl. Laging, 2006a, S. 2; Laging, 2010). Auf Schulhöfen agieren Heranwachsende in informellen Situationen und können über Bewegung, Spiel und Sport vielfältige Aneignungsprozesse vollziehen. Für eine derartige Perspektive fehlt bislang allerdings eine theoretische Konzeption und es liegen erst recht keine empirischen Ergebnisse vor.

1.1.3  Forschungsstand zur Aneignung von Schulhöfen

Zur Aneignung von Räumen existiert eine Vielzahl an Untersuchungen, allerdings beziehen sich diese weder explizit auf informelles Lernen noch auf Aneignung auf Schulhöfen in Ganztagsschulen. Sie beschränken sich vordergründig auf den öffentlichen Raum, wodurch die räumlichen Lebensbedingungen außerhalb der Schule und deren Aneignung durch Heranwachsende im Vordergrund stehen. Die Untersuchungen bestätigen meist geschlechterstereotypes Nutzungsverhalten von öffentlichen Räumen (vgl. u. a. Zinnecker, 1978; Zeiher, 1983, 1995; Behnken, 1990; Zeiher & Zeiher, 1994; Hitzler, 1995; Fölling-Albers & Hopf, 1995; Flade & Kustor, 1996; Benard & Schlaffer, 1997; Nissen, 1998). Studien explizit zum informellen Lernen sind in Deutschland neueren Datums und werden eher mit dem Begriff der Kompetenz in Verbindung gesetzt als mit dem Aneignungskonzept (vgl. zusammenfassend Neuber, Breuer, Derecik, Golenia & Wienkamp, 2010). Zum informellen Lernen und zu Aneignungsprozessen auf Schulhöfen existieren bisher keine Studien.

Generell liegen nur wenige Studien zum Schulhof vor. Die bekannteste Studie zu Schulhöfen liegt über 30 Jahre zurück und beruht auf freien Aufsätzen von ca. 500 Schülern des vierten bis 11. Schuljahres. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit der Frage, welchen Handlungen Schüler während der Pause auf dem Schulhof nachgehen. Dem Schulhof wird dabei die Bedeutung als „Gefängnishof“, „als Straßenöffentlichkeit“, als „Jugendtreff“ und als „öffentlicher Spielplatz“ zugeschrieben (vgl. Reinert & Zinnecker, 1978). Daneben existiert eine Studie zu Räumen zum Lernen und Spielen von Kindern in der Schule, bei der vor allem das Interaktionsverhalten von Kindern in Pausenhofsituationen untersucht wird (vgl. Forster, 2000). Zuvor wurden Studien zu sozialen Interaktionen von Krappmann und Oswald (1995) und von Kauke (1995) durchgeführt. Diese thematisieren die Verletzung und Einhaltung von Territoriumsnormen auf Schulhöfen. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass Kinder im Alter von 10-12 Jahren ihre Zeit vorrangig mit gleichgeschlechtlichen Kindern verbringen und nur wenige Interaktionen zwischen Mädchen und Jungen vorhanden sind. Daneben können praxisorientierte Arbeiten angeführt werden, die sich mit einer kindgerechten Pausenhofgestaltung beschäftigen (vgl. Besele, 1999; Hahn & Wetterich, 1996). Benninghoven (1993, S. 18-19) schildert Projektergebnisse einer Befragung, bei der Eltern gemeinsam mit ihren Kindern Wunschlisten bezüglich einer idealen Schulhofgestaltung erstellten. Ziel dieser Studie war es, den tristen, grauen und langweiligen Schulhof einer Schule in einen bewegungsfreundlichen Schulhof zu verändern, der den Interessen und Bedürfnissen der Kinder entspricht.

Speziell zur Genderperspektive existieren einige wenige Einzeluntersuchungen (vgl. Zinnecker, 1995; Breidenstein & Kelle, 1998; Burdewick, 1999, 2001; Hottenträger, 2005; Wagner-Willi, 2005). Die Ergebnisse dieser Studien werden von einer aktuellen österreichischen Forschungsstudie zum Verhalten von Mädchen und Jungen im Alter von 6-14 Jahren an insgesamt 20 Schulen bestätigt, in der Schulhöfe als „Aushandlungsorte für Geschlechterverhältnisse“ bezeichnet werden (Diketmüller, Berghold, Förster, Frommhund, Witzeling & Studer, 2007, S. 30). Die Tätigkeiten von Jungen und Mädchen auf Schulhöfen decken sich dabei mit geschlechterstereotypen Tätigkeiten in öffentlichen Räumen. Bei dieser beachtenswerten österreichischen Studie wird zwar der Raumbegriff thematisiert, allerdings wird versäumt, die Tätigkeiten von Schülern auf Schulhöfen in Bezug zum Aneignungskonzept zu setzen. Diesem Forschungsdesiderat widmet sich die vorliegende sportpädagogische Untersuchung, indem sie die informellen Tätigkeiten von Heranwachsenden auf Schulhöfen unter einer Aneignungsperspektive analysiert. Damit kann gleichzeitig eine empirische Untersuchung vorgelegt werden, die Forschungen zum informellen Lernen und zur Aneignung erstmalig vereint.

1.2   Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

Anhand der Problemstellung der Arbeit wird als erste Zielsetzung die theoretische Verortung informellen Lernens auf Schulhöfen in der Ganztagsschule verfolgt. Mit der Hinwendung zum Aneignungskonzept werden des Weiteren die Lerninhalte und die Lernprozessgestaltung im Medium von Bewegung, Spiel und Sport auf Schulhöfen untersucht. Damit geht es bei der zweiten Zielsetzung weniger um das (kognitive) Lernen als vielmehr um die empirische Untersuchung von Aneignungsprozessen auf Schulhöfen in Ganztagsschulen. Der Forschungsstand zu Schulhöfen legt eine alters- und geschlechtsspezifische Analyse der informellen Tätigkeiten von Schülern nahe (vgl. Kap. 1.1.3). Demzufolge sollen die Aneignungsprozesse von Schülern der Klassen 1-10 untersucht werden, wobei das Geschlecht stets mitberücksichtigt wird.

Diese beiden Zielsetzungen der vorliegenden Arbeit werden verfolgt, indem zunächst informelles Lernen in der Ganztagsschule charakterisiert wird (Kap. 2). Dafür wird die Entwicklung der Ganztagsschule anhand ihrer Begründungsmuster und Organisationsformen dargestellt (Kap. 2.1). Zum jetzigen Zeitpunkt wird in der Ganztagsschulentwicklung primär versucht, eine Qualitätsentwicklung der Ganztagsschule durch eine Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe11 voranzutreiben. Als wesentliches Merkmal dieser Kooperation können unterschiedliche Arbeitsweisen ausgemacht werden, in denen informelles Lernen jedoch kaum Berücksichtigung findet (Kap. 2.2). Informelles Lernen kann während der Diskussionen um die Entwicklung von Ganztagsschulen stärker in das Bewusstsein gerückt werden, wenn der Schulhof als ein Ort des informellen Lernens aufgefasst wird (Kap. 2.3). Aus sozialökologischer Perspektive stellt der Schulhof eine „pädagogisch wirkende Umwelt“ dar (Dietrich, Hass, Marek, Porschke & Winkler, 2005, S. 18-19), die besondere Möglichkeiten zur Förderung des informellen Lernens durch Bewegung, Spiel und Sport bieten kann (Kap. 2.3.4).

Der räumlichen Gestaltung der Umwelt bzw. Schulhöfe kommt dabei eine große Bedeutung zu, weil diese eine Grundbedingung zur Ermöglichung von informellen Lernprozessen darstellt (vgl. Deinet, 2010). Da in der wissenschaftlichen Betrachtung des Raums grundlegende Unterschiede existieren, wird der Raumbegriff der vorliegenden Arbeit definiert (Kap. 3). Die gegensätzlichen Betrachtungsweisen des Raums sind in ihrem Ursprung vorwiegend naturwissenschaftlich begründet und differenzieren den Raumbegriff in absolute und relative Räume (Kap. 3.1). Der gelebte Raum legt eine anthropologische Betrachtungsweise des Raums nahe und erfasst die Konstitution der Räume durch die Menschen, so wie sie sich ihnen erschließen (Kap. 3.2). Hierbei müssen allerdings auch Strukturen mitberücksichtigt werden, die sich in Räumen manifestieren. Zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts wird der Zusammenhang von Bewegung und dem gesellschaftlich strukturierten Raum erörtert (Kap. 3.3). Gleichzeitig dient dies der bewegungsorientierten Fundierung des im Anschluss zu formulierenden soziologischen Raumbegriffs.

Für eine Definition des Raumbegriffs ist sowohl eine naturwissenschaftliche als auch eine geisteswissenschaftliche Betrachtungsweise zu berücksichtigen. Dies gelingt Löw (2001, S. 159-160), indem sie Raum „als eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern“ bezeichnet (Kap. 3.4). Mit dieser Definition werden die ursprünglich naturwissenschaftlich orientierten, absoluten und relativen Raumverständnisse versöhnlich zusammengeführt und zugleich auf eine gesellschaftliche Ebene transformiert. Von einem relativen Standpunkt aus konstituiert sich der Raum erst durch Handlungen von Menschen. Der absolute Raum wird dagegen „als Synonym für Erdboden, Territorium oder Ort verwendet" (Löw, 2001, S. 264). Löws anzuerkennendes Verdienst ist es, einer gleichzeitigen Existenz eines absoluten und eines relativen Raums zuzustimmen und die beiden diametral entgegengesetzten Raumverständnisse zu einem relationalen Raumverständnis zu integrieren. Da Menschen in soziale Handlungen verstrickt sind, weisen Räume auch immer eine soziale Dimension auf. Dem relationalen Raumbegriff folgend, wird der Sozialraum definiert als eine Lebenswelt von Menschen, die sowohl einen objektiv begrenzten Ort als auch jeweils eine subjektiv wahrgenommene Interpretation dessen aufweist (Kap. 3.5). Der Raum bzw. der Sozialraum wird dann im Folgenden wiederum in Bezug zum Aneignungskonzept gesetzt.

Als erster wichtiger Vertreter der sozialräumlichen Diskussion weitet Deinet (1992) das Aneignungskonzept der sowjetischen Psychologie auf (sozial-)pädagogische Kontexte aus (Kap. 4). Aneignung im klassischen Aneignungskonzept (Kap. 4.1) vollzieht sich über die eigentätige Auseinandersetzung mit der gegenständlichen und symbolischen Kultur. Veränderte Raumvorstellungen führen zu einem erweiterten Aneignungskonzept (Kap. 4.2). Aus der Zusammenführung dieser zwei Facetten des Aneignungskonzepts kann für die vorliegende explorative Untersuchung eine Operationalisierung der Aneignungsdimensionen vorgenommen werden (Kap. 4.3).

Nach den theoretischen Ansätzen erfolgt eine Zusammenfassung und Formulierung der Fragestellungen (Kap. 5), woran sich die Darstellung der Untersuchungskonzeption anschließt (Kap. 6). Die vorliegende Arbeit basiert auf Daten der Studie zur Entwicklung von Bewegung, Spiel und Sport (StuBSS), deshalb wird dann die Verortung der eigenen Forschungsfragen im Gesamtdesign von StuBSS dargelegt (Kap. 6.1). Darauf aufbauend, wird die eigene Auswertung vorgestellt, die sich an einem vierstufigen Modell zur empirischen Typenbildung orientiert (Kap. 6.2). Mithilfe dieser Auswertungsmethode können die Tätigkeiten von Schülern auf Schulhöfen zunächst beschrieben und anschließend im Hinblick auf Aneignungsprozesse analysiert werden.

Die Untersuchungsergebnisse (Kap. 7) werden differenziert nach Sporträumen (Kap. 7.1), Schulhofflächen (Kap. 7.2) und Spielplätzen präsentiert (Kap. 7.3). Innerhalb dieser werden jeweils verschiedene Orte identifiziert, in denen die Wechselbeziehungen zwischen Raum und Schülern in Abhängigkeit ihres Alters und Geschlechts als Aneignungsprozesse analysiert werden. Die Ergebnisdarstellung wird abgeschlossen durch eine zusammenfassende Diskussion der Untersuchungsergebnisse, in der die angeeigneten Raumtypen auf Schulhöfen aus der Perspektive der Heranwachsenden betrachtet werden (Kap. 7.4). Die Arbeit wird mit einem Fazit und Ausblick beendet (Kap. 8).

1 Der Club of Rome ist eine globale Vereinigung von Mitgliedern aus Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik und verfolgt das Ziel, sich für eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft der Menschheit einzusetzen. Dabei stellt er sich gegen kurzfristiges Denken und Handeln, wodurch er zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen will (vgl. Deutsche Gesellschaft Club of Rome, 2010).

2 Der Umgang mit diesen Begriffen kann minimale Abweichungen erfahren. Beispielsweise wird nicht-formales Lernen auch als non-formales Lernen formuliert (vgl. Rauschenbach et al., 2006, S. 7). Die dahinter stehenden Sachverhalte sind allerdings meist identisch.

3 Der Begriff der Lernumgebung wird in dieser Arbeit als Synonym für Setting aufgefasst, um den Einfluss des Individuums auf die Lernumgebung zu betonen. Unter Setting wird ein soziales System verstanden, in dem verschiedene relevante Umwelteinflüsse auf eine bestimmte Person bzw. Personengruppe wirken. Umgekehrt besitzen die Mitglieder eines Settings wiederum die Möglichkeit, auf diese Umwelt Einfluss zu nehmen und das Setting mitzugestalten (vgl. Bronfenbrenner, 1981, S. 95-115).

4 Im Folgenden steht das generische Maskulinum stellvertretend für beide Geschlechter.

5 Die meisten pädagogischen Entwicklungstheorien differenzieren nach zukunftsgerichteten und gegenwartsorientierten Konzepten. In Transitionskonzepten werden vordergründig zukunftsbezogene objektive Anforderungen in den Vordergrund gerückt, die als Entwicklungsaufgaben bezeichnet werden. In Moratoriumskonzepten stehen dagegen die gegenwartsbezogenen individuellen Entfaltungsbedürfnisse der Heranwachsenden im Mittelpunkt (vgl. zusammenfassend Neuber, 2007). Das Aneignungskonzept vermag zwischen diesen beiden Konzepten eine Mittlerfunktion einzunehmen, da es Aneignung im Sinne einer ökologischen Sozialisationsforschung als Mensch-Umwelt-Relation betrachtet und zugleich die Eigenaktivität von Heranwachsenden betont (vgl. Bronfenbrenner, 1990).

6 In jüngerer Zeit herrscht Einigkeit darüber, dass nicht alle Veränderungen als Abfolge von Schritten zu beschreiben sind. Zudem ist Entwicklung als Abfolge von Entwicklungsstufen nicht ausschließlich progressiv zu verstehen. Vielmehr muss Entwicklung als lebenslanger Prozess verstanden werden, der über die Adoleszenz hinausgeht. Damit gehören zur Entwicklung nicht nur die Aspekte des Wachstums oder des Gewinns, sondern ebenso Elemente des Stagnierens und des Abbaus (vgl. Montada, 2002, S. 3-11). Heute werden interaktionistische Entwicklungstheorien bevorzugt, die Entwicklung als einen aktiven Prozess verstehen, „der sowohl vom Individuum selbst als auch von seiner Umwelt beeinflusst wird“ (Neuber, 2007, S. 37). Das Aneignungskonzept kann in diesem Sinne als eine interaktionistische Entwicklungstheorie verstanden werden, wenn Entwicklung als lebenslanger Prozess verstanden wird.

7 Aus Überlegungen einer psychologischen Handlungstheorie heraus schlägt Oerter (1993, S. 180) in der westlich geprägten Psychologie statt Tätigkeit eher den Begriff Handlung vor. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden die Begriffe Tätigkeit und Handlung benutzt. Damit wird der tätigkeitstheoretische Ansatz von Leontjew (1973) als handlungstheoretischer Ansatz begriffen (vgl. Oerter, 1993). Die vorliegende Arbeit bezieht sich im Wesentlichen auf das sozialpädagogische Aneignungskonzept.

8 Neuere Erkenntnisse der jüngeren lernpsychologischen und neurobiologischen Forschung begreifen Lernen als einen aktiven, konstruktiven und kontinuierlichen Aneignungs- und Veränderungsprozess des Individuums (vgl. Düx & Rauschenbach, 2010; Spitzer, 2002).

9 Die Vernachlässigung des impliziten Lernens, womit unbewusste Lernprozesse gemeint sind, hat bereits zur Diskussion innerhalb der kanadischen Forschungsgruppe geführt (vgl. Overwien, 2008, S. 130; Schugurensky, 2000). In der vorliegenden Arbeit ist das implizite (unbewusste) Lernen im informellen Lernen inbegriffen (vgl. Kap. 2.3).

10 Weitere Bausteine einer „Bewegten Schulkultur“ sind „bewegungsorientierte Schulräume“, „Bewegungspause“ (im Unterricht), „Stille im Unterricht“, „themenerschließendes Bewegen im Unterricht“, „außerunterrichtliche Bewegungsangebote“ und „Bewegungs- und Sportunterricht“ (Laging & Klupsch-Sahlmann, 2001).

11 Wenn im Folgenden von Jugendhilfe gesprochen wird, ist immer die Kinder- und Jugendhilfe gemeint.

2    Informelles Lernen in der Ganztagsschule

Die Einführung der Ganztagsschule wurde in Deutschland nach den alarmierenden Ergebnissen der PISA-Studien vorrangig durch finanzielle Mittel und Auflagen des Investitionsprogramms „Zukunft, Bildung und Betreuung“ (IZBB) vorangetrieben. Die Umformung der herkömmlichen Halbtagsschule zur Ganztagsschule wird als eine sinnvolle Lösung betrachtet, um dem mittelmäßigen Abschneiden des deutschen Schulsystems im internationalen Vergleich ein Ende zu setzen (vgl. Fischer & Ludwig, 2009, S. 11). Seitdem erfahren Ganztagsschulen eine erhebliche pädagogische Aufmerksamkeit (vgl. Hildebrandt-Stramann & Laging, 2010, S. 6).

Im Rahmen der Diskussion über die Ganztagsschule werden verschiedene Begründungsmuster und Organisationsformen angeführt (Kap. 2.1). Bei der Einrichtung und Entwicklung von Ganztagsschulen spielen außerschulische Partner, insbesondere die Jugendhilfe, eine große Rolle. Auf der Basis von komplementären Bildungsverständnissen ist mit dem Begriff der Ganztagsbildung ein Entwurf zur Legitimierung und Gestaltung einer Institutionalisierungsform verbunden, mittels dessen durch Kooperation von Schule und Jugendhilfe Bildung als eine „Einheit aus Ausbildung und Identitätsbildung“ verstanden wird (Coelen, 2004, S. 247).12 Die komplementäre Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe ist vor allem durch unterschiedliche Arbeitsweisen der jeweiligen Systeme gekennzeichnet (Kap. 2.2).

Die Kooperation von Schule und Jugendhilfe ist zweifelsohne ein wichtiger Schritt zu einer Qualitätsverbesserung von Ganztagsschulen. Im Rahmen dieser Überlegungen wird allerdings das immer bedeutender werdende informelle Lernen für die Entwicklung von Ganztagsschulen nicht thematisiert. Ein wesentliches „Qualitätsmerkmal von Ganztagsschulen“ wird indessen auch darin gesehen, in welchem Umfang sie attraktive Aufforderungen für informelle Eigenaktivitäten bereitstellen (Scherr, 2004, S. 95-96, Hervorhebung im Original). Da die Ganztagsschule einen erheblichen Anteil der Lebenszeit von Heranwachsenden in Anspruch nimmt, ist sie gefordert, „sich gegenüber dem außerschulischen Lebenskontext, den alltäglichen Bewältigungsanforderungen und der informellen geselligen Praxis der Kinder und Jugendlichen“ zu öffnen (Sting, 2004, S. 82, Hervorhebung im Original). Dies kann in prädestinierter Weise geschehen, wenn der Schulhof als Ort des informellen Lernens eine verstärkte Berücksichtigung erfährt (Kap. 2.3).

2.1   Begründungsmuster und Organisationsformen von Ganztagsschulen

Für die Einführung von Ganztagsschulen sind hauptsächlich zwei Argumente kennzeichnend, die sich in sozialpolitische und in schulpädagogische Begründungsmuster unterteilen lassen. Die sozialpolitischen Begründungsmuster sind auf die tief greifenden Veränderungen des Familienlebens und die Berufstätigkeit von Eltern zurückzuführen. Die schulpädagogischen Begründungsmuster beruhen auf reformpädagogischen Argumentationen. Sie sind nicht in Konkurrenz zur sozialpolitischen Perspektive zu sehen, sondern ergänzen sie, indem sie u. a. mehr Zeit für das Lernen und alternative Lernformen fordern (vgl. Tillmann, 2004, S. 195). Weitere Differenzierungen werden zwar vorgenommen, allerdings können diese i. d. R. den sozialpolitischen und schulpädagogischen Argumentationen zugeordnet werden.

Holtappels (2005, S. 8-11; vgl. Neuber, 2009, S. 262) fasst die aktuellen Argumentationen zur Einführung von Ganztagsschulen zu vier Formen zusammen:

1. Der Betreuungsbedarf basiert auf gesellschaftspolitischen Begründungen und zielt auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dabei geht es nicht allein um die Ermöglichung der Erwerbstätigkeit von Eltern, sondern auch um die in der Folge große Zahl von „Schlüsselkindern“ (Reichmann, 2005).

2. Der Erziehungsbedarf ist eng mit einem Betreuungsbedarf verknüpft, geht aber über diesen hinaus. Ein nicht unerheblicher Anteil von Eltern ist auf eine Unterstützung bei der Erziehung angewiesen, da ihnen hierfür die nötige Zeit fehlt. Der Ganztagsschule kommt damit eine kompensatorische Funktion im Bereich der Erziehung und des sozialen Lernens zu (vgl. Hildebrandt-Stramann & Laging, 2010, S. 7).

3. Die Schulleistungsuntersuchungen zeigen aus bildungspolitischer Perspektive zudem einen erheblichen Bildungsbedarf auf, bei dem es nicht nur um die Forderung nach einer neuen Lernkultur geht, sondern ebenso um die Ermöglichung von Chancengleichheit für sozial Benachteiligte (vgl. Holtappels, 2006).

4. Mit dieser bildungspolitischen Begründung ist wiederum die schulpolitische Begründung eng verzahnt. Es geht um einen gesteigerten Förderbedarf und um die Forderung nach einer engeren Vernetzung von „Lern- und Erfahrungsschule“ (vgl. Neuber & Schmidt-Millard, 2006).

Die Umsetzung dieser Bedarfe bzw. Begründungsmuster kann in Ganztagsschulen aufgrund des größeren Zeitbudgets besser erfolgen als an Halbtagsschulen. Damit Schulen einen Status als Ganztagsschulen erlangen können, müssen sie mindestens an drei Tagen in der Woche ein Angebot von mehr als sieben Zeitstunden aufweisen. Zudem muss an diesen Tagen eine Mittagsmahlzeit eingenommen werden können und die Ganztagsangebote sollten in einen konzeptionellen Zusammenhang mit dem Unterricht gebracht werden (vgl. Kultusministerkonferenz, 2008, S. 9). Diese Forderungen können als Minimalanforderungen betrachtet werden, deren Organisation bundesweit nicht einheitlich geregelt ist (vgl. Rekus, 2005, S. 282; Hildebrandt-Stramann & Laging, 2010, S. 7). Anhand der organisatorischen Rahmenbedingungen werden drei Formen von Ganztagsschule unterschieden:

-  Voll gebundene Ganztagsschulen – alle Schüler sind verpflichtet, an mindestens drei Tagen in der Woche mindestens sieben Zeitstunden an den ganztägigen Angeboten der Schule teilzunehmen.

-  Teilweise gebundene Ganztagsschulen – ein Teil der Schüler (z. B. einzelne Klassen oder Jahrgangsstufen) ist an mindestens drei Wochentagen verpflichtet, mindestens sieben Zeitstunden an ganztägigen Angeboten der Schule teilzunehmen.

-  Offene Ganztagsschulen – einzelne Schüler nehmen auf Wunsch an ganztägigen Angeboten der Schule teil. Für diese Schüler ist ein Aufenthalt an mindestens drei Tagen der Woche im Umfang von mindestens sieben Zeitstunden möglich. Meist müssen die Angebote jedoch verbindlich für mindestens ein Schulhalbjahr wahrgenommen werden.

Diese drei grundsätzlich zu unterscheidenden Organisationsformen von Ganztagsschulen sind als ein Kontinuum zwischen offenen und gebundenen Ganztagsschulen zu verstehen. In der Praxis existiert gegenwärtig vielmehr eine Pluralität von Vorstellungen zu Begründungsmustern und Entwürfen zur Organisationsform der Ganztagsschule (vgl. Popp, 2006, S. 178). Gemein ist ihnen, dass die Ganztagsschule insgesamt zu einem umfassenden Lern-, Erfahrungs- und Lebensraum werden soll und damit die Hoffnung verbunden ist, „eine über den ganzen Tag gestaltete pädagogische Einheit von Unterricht, außerunterrichtlicher Gestaltung und frei verfügbarer Zeit am Schulort“ zu bilden (Prüß, 2009, S. 45). In diesem Zusammenhang wird in Deutschland aktuell eine sehr lebhafte Debatte um die Entwicklung von Ganztagsschulen geführt, an der vorwiegend Vertreter der Schule und der Jugendhilfe beteiligt sind (vgl. Otto & Coelen, 2004, S. 10).

2.2   Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe

Die Jugendhilfe richtet sich an alle jungen Menschen unter 27 Jahren und bezieht sich neben den Hilfen zu Erziehung, der Jugendsozialarbeit oder dem Kinder- und Jugendschutz insbesondere auf die Jugendarbeit. Die Leistungen der Jugendhilfe sind im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) beschrieben. Öffentliche Institutionen werden als Träger der Jugendarbeit bestimmt. Wohlfahrtsverbände, Jugendverbände, Kirchen und Sportvereine werden als freie Träger der Jugendhilfe anerkannt. Die Jugendhilfe ist der wichtigste Partner bei der Entwicklung von Ganztagsschulen. Eine Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe war aufgrund der angespannten Finanzlage öffentlicher Haushalte und der sich wandelnden Herausforderungen für das Lernen der Heranwachsenden in der heutigen Zeit von Anfang an geplant. Die Zusammenarbeit ist inzwischen in fast allen Bundesländern in sogenannten Rahmenkooperationsvereinbarungen im Schulgesetz verankert.13 In den Rahmenvereinbarungen sind u. a. die pädagogische Leitidee, die Bereitstellung von personellen und finanziellen Ressourcen und die Qualitätssicherung der Zusammenarbeit in der Ganztagsschule geregelt (vgl. Neuber, 2009, S. 265).

Die Jugendhilfe entwickelte sich „vornehmlich in den 1970er Jahren in Abgrenzung zu hierarchischen Eltern-Kind-Beziehungen, Leistungsbewertungen der Schule und der Arbeit, strengen Norm- und Wertvorstellungen und fehlenden Mitspracherechten“ (Pauli, 2005, S. 3). Die Abgrenzung von Jugendhilfe zur Schule deutet bereits an, dass in der Kooperation dieser bislang für sich autonomen Systeme zwei unterschiedliche Arbeitsweisen aufeinandertreffen. Die Angebote der Jugendhilfe sind „tendenziell durch Freiwilligkeit und Selbstbestimmung, Pluralität und Spontaneität, Prozessorientierung und Integration, Gegenwartsbezug und Bedürfnisorientierung gekennzeichnet“ (Neuber, 2009, S. 266). Damit soll an den individuellen Interessen junger Menschen angeknüpft werden (vgl. KJHG, § 11,1).

Die Schule verfolgt dieses Ziel ebenfalls, allerdings sind ihre zentralen Aufgabenbereiche die Qualifikation durch Vermittlung von Wissen und Selektion durch die Zuweisung von Zukunftschancen. Die Angebote der Schule sind demnach tendenziell eher durch „Verpflichtung und Fremdbestimmung, Standardisierung und Kontinuität, Ergebnisorientierung und Selektion, Zukunftsbezug und Entwicklungsorientierung charakterisiert“ (Neuber, 2009, S. 266). Diese Gegenüberstellung (vgl. Tab. 1) der unterschiedlichen Arbeitsweisen von Schule und Jugendhilfe ist „idealtypisch“ und dient in ihrer polarisierenden Darstellung der Akzentuierung der Unterschiedlichkeit der Systeme.

Tab. 1. Arbeitsweisen von Jugendhilfe und Schule (Neuber, 2009, S. 266)

JugendhilfeSchuleFreiwilligkeitVerpflichtungSelbstbestimmungFremdbestimmungPluralitätStandardisierungSpontaneitätKontinuitätProzessorientierungErgebnisorientierungIntegrationSelektionGegenwartsbezugZukunftsbezugBedürfnisorientierungEntwicklungsorientierung

Die Unterschiedlichkeit der Systeme Schule und Jugendhilfe bietet für die Zusammenarbeit im Rahmen der Ganztagschulentwicklung neue Möglichkeiten. Nach der Dreiteilung und Zuordnung der Lernformen zu den jeweiligen Settings (vgl. Kap. 1) wird innerhalb der spezifischen Lernumgebung Ganztagsschule das formale Lernen (als Kernbereich der Schule) dem Unterricht und das nicht-formale Lernen (als Kernbereich der Jugendhilfe) den Ganztagsangeboten zugeordnet. Der Unterricht wird zwar nach wie vor als das Kerngeschäft der Schule bezeichnet, „aber Schule ist mehr als Unterricht […], nämlich ein umfassendes Lern- und Erfahrungsfeld, das nicht allein durch die Stundentafel bestimmt sein kann und auch nicht bestimmt ist“ (Oelkers, 2004, S. 241).

Durch die Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe wird das nicht-formale Lernen in der Ganztagsschule anerkannt und gefördert, der Bereich des informellen Lernens bleibt allerdings als ein weiteres zentrales Lern- und Erfahrungsfeld in der Schule unberücksichtigt. Sowohl eine generelle Dreiteilung des Lernprozesses in autonome Settings sowie die weitgehende Ausklammerung14 des informellen Lernens aus Schule und Jugendhilfe sind in der Praxis nicht nachvollziehbar. Zudem führt die Zuweisung des formalen Lernens an die Schule und des nicht-formalen Lernens an die Jugendhilfe zu einer weitgehenden Parallelisierung der Settings und Lernformen (vgl. Overwien, 2005, S. 347).

In „sachlicher Hinsicht unpräzise“ ist die Parallelisierung aber schon deshalb, weil weite Bereiche der Jugendhilfe ebenfalls formales Lernen praktizieren (Stolz, 2006, S. 119, Hervorhebung im Original). Zum Teil hat auch die Jugendhilfe ein mehr oder weniger striktes oder flexibles Curriculum und sie vergibt auch Zertifikate, z. B. bei Angeboten zum Nachholen des Hauptschulabschlusses oder beim Erwerb einer Übungsleiterlizenz. Darüber hinaus kann, gerade in Bezug auf schulbezogene Ganztagsangebote, das Freiwilligkeitsprinzip der Jugendhilfe kaum eingehalten werden, da die halbtagsschulspezifischen Strukturen in den Ganztagsangeboten u. U. fortgesetzt werden und somit zu einer Formalisierung führen können. Vielleicht wird das Freiwilligkeitsprinzip zukünftig noch weniger eingehalten werden können, wenn z. B. auch auf unterrichtsbezogener Ebene kooperiert werden soll.

„Analytisch falsch“ ist die Parallelisierung, weil informelles Lernen aus der Schule und teilweise der Jugendhilfe ausgeschlossen wird (Stolz, 2006, S. 119, Hervorhebung im Original). Dabei umfassen die Aufgaben beider Institutionen immer mehr als ihr explizites pädagogisches Programm. Selbst ein strukturierter und geplanter Unterricht kann aufgrund seines sozialen Kontextes nicht auf formales Lernen beschränkt werden, erst recht nicht, wenn er handlungsorientiert gestaltet wird. Im Unterricht findet eine Sozialdisziplinierung im Sinne des „heimlichen Lehrplans“ statt, wodurch ein pädagogisch nicht intendiertes informelles Lernen entsteht.

Indem Coelen (2006, S. 132-133) zumindest die Existenz unterschiedlicher Mischungsverhältnisse von Lernformen innerhalb der verschiedenen Settings einräumt und Stolz (2006, S. 119) diese Ungleichheit der Zuordnung sogar explizit betont (und nicht etwa bagatellisiert), wirken beide der suggerierten Parallelisierungsthese aktiv entgegen. Die Lernformen dürfen nicht pauschal mit den Settings gleichgesetzt werden und erst recht darf informelles Lernen nicht aus Institutionen wie der Schule und Jugendhilfe ausgeschlossen werden. Die Lernformen sollten vielmehr im Kontext jedes einzelnen Settings ausgelotet werden. Dies soll nun für das spezifische Setting der Ganztagsschule erfolgen.

2.3   Schulhof als Ort des informellen Lernens

Für die Verortung des informellen Lernens in der Ganztagsschule ist zunächst eine nähere Bestimmung des Begriffs erforderlich (Kap. 2.3.1). Anschließend wird das Mischungsverhältnis der Lernformen in der Ganztagsschule dargestellt, woraus die Bereiche des informellen Lernens im Schulleben herausgefiltert werden können (Kap. 2.3.2). Nachdem der Schulhof als prädestinierter Ort des informellen Lernens in der Ganztagsschule bestimmt wird, werden die Funktionen entfaltet, die einem Schulhof zugeschrieben werden können (Kap. 2.3.3). Der Schulhof kann dabei als eine pädagogisch wirkende Umwelt betrachtet werden, die besondere Möglichkeiten zur Förderung des informellen Lernens durch Bewegung, Spiel und Sport bereitstellen kann (Kap. 2.3.4).

2.3.1  Bestimmung des informellen Lernens

Das informelle Lernen wurde bereits Anfang des vergangenen Jahrhunderts im englischsprachigen Raum, allen voran in den USA, als zentrale Lernform beschrieben (vgl. Overwien, 2005; Neuber et al., 2010). In Deutschland war die Bezeichnung informelles Lernen bis vor wenigen Jahren kaum verbreitet, dennoch ist die Diskussion über die damit verbundenen Inhalte nicht neu. Über die Bedeutung des informellen Lernens wird seit Längerem diskutiert, auch wenn dies unter anderen Begriffen erfolgt, die in ähnlicher Bedeutung verwendet werden, aber nicht deckungsgleich sind. Zu nennen wären u. a. Erfahrungslernen, implizites Lernen, Alltagslernen, selbstgesteuertes Lernen oder kompetenzentwickelndes Lernen (vgl. Dohmen, 2001).

Je nach Forschungsrichtung wird informelles Lernen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Die verwendeten Definitionen sprechen meist unterschiedliche Aspekte des Phänomens an, weshalb die Arbeiten oftmals nicht miteinander vergleichbar sind. Die Ursachen hierfür sind in den nicht thematisierten Unterschieden „der jeweiligen disziplinären Blickrichtung und des hinterlegten Lernbegriffs“ zu sehen (Overwien, 2005, S. 342). Auch wenn bislang keine einheitliche Definition existiert, ist allen gängigen Definitionen zum informellen Lernen eines als wichtigstes Kriterium gemein: Abgesehen davon, dass sie einer nicht nachvollziehbaren Parallelisierung von Settings und Lernformen folgen und damit informelles Lernen aus Institutionen ausschließen (vgl. Kap. 2.2), besteht die Basis der verschiedenen Definitionen darin, dass beim informellen Lernen die eigentätige Lösung einer Aufgabe in einer bestimmten Situationen im Vordergrund steht, die sich ohne das direkte Einwirken von Lehrkräften entwickelt.

Wie bereits einleitend angeführt (vgl. Kap. 1), wird deshalb für die vorliegende Arbeit informelles Lernen aufgefasst als alle (bewussten und unbewussten) Formen des Lernens, die zur Lösung einer Aufgabe in einer aktuellen Situation dienen und ohne das direkte Einwirken von Lehrkräften erfolgen. Die Differenzierung nach bewussten und unbewussten Formen des Lernens beruht auf unterschiedlichen Zugängen zum informellen Lernen, die in der vorgelegten Definition vereint werden. Auf diese wird nun zur differenzierteren Bestimmung des in dieser Arbeit verwendeten Begriffs des informellen Lernens näher eingegangen.

Watkins und Marsick (1990; 1992) analysieren innerhalb des informellen Lernens besonders auch das inzidentelle Lernen, welches sich beiläufig und oftmals unbewusst als Nebenergebnis anderer Tätigkeiten ergibt (vgl. Dohmen, 2001, S. 19). Das ist z. B. der Fall, wenn aus Fehlern gelernt wird. Inzidentelles und informelles Lernen unterscheiden sich demnach im Grad der Absicht voneinander. Dem informellen Lernen wird eine intentionale Handlung beigemessen, dem beiläufigen Lernen naturgemäß keine (vgl. Overwien, 2005, S. 343). Ein Einschließen des inzidentellen Lernens in den Begriff informelles Lernen provoziert allerdings eine definitorische Herausforderung, da die beiläufigen Lernprozesse aus nicht-formalen und formalen Lernformen dem informellen Lernen zugeordnet werden. Dies führt dazu, dass die Grenzen zwischen den Lernformen verschwimmen, wodurch z. B. auch beim formalen Lernen im Unterricht informelle Lernprozesse ablaufen können, sobald sie nicht intendiert erfolgen.

Als weitere Eigenart des informellen Lernens bezieht sich implizites Lernen

„nicht auf Regelkenntnis, sondern auf eine mehr gefühlsmäßig-ganzheitliche Reizaufnahme, Situationserfassung, Gestaltwahrnehmung, die jeweils nicht zu explizitem Wissen führt, sondern mehr im Bereich von Intuition und Gespür, Einfühlung und Improvisation bleibt“ (Dohmen, 2001, S. 34).

Sowohl das implizite als auch das informelle Lernen sind in ganzheitliche Umwelterfahrungen eingebettet, die vor allem durch vielfältiges Tätigsein gekennzeichnet sind und z. B. durch Üben, Nachahmen und Spielen gefördert werden können. Im Gegensatz zum informellen Lernen bleibt implizites Lernen unbewusst (vgl. Dohmen, 2001, S. 34). Der Unterschied liegt also im Grad des Bewusstseins. Es könnte formuliert werden: Implizites Lernen ist der unbewusste Teil des informellen Lernens, welcher im Prozess des Aneignens auf der Handlungsebene „verhaftet“ bleibt. Es ist noch nicht zu einer kognitiven Struktur verarbeitet worden, die reflexiv zugänglich ist (vgl. Kap. 1).

Die unbewussten inzidentellen und impliziten Lernprozesse differenzieren und verkomplizieren den Bedeutungsgehalt des informellen Lernens, aber es wird auch darauf hingewiesen,

„dass das Ziel menschlichen Lernens nicht immer eine bewusste Erkenntnis ist, ja dass sogar bewusstes Wissen oft routinisiert werden, ins Gefühl gehen, ins Unterbewusste absinken muss, um das Verhalten im Alltag nachhaltig zu bestimmen. Wir können nicht jede Entscheidung immer wieder bewusst reflektiert fällen“ (Dohmen, 2001, S. 21).

Die Unterscheidungen des inzidentellen, impliziten und informellen Lernens sind vordergründig wissenschaftlich-analytischer Natur und spielen in der Praxis kaum eine Rolle, da das Subjekt die Nuancen des informellen Lernens in seiner Handlung kaum voneinander trennen kann. Zur theoretischen Bestimmung werden inzidentelles und implizites Lernen in dieser Arbeit dennoch in das informelle Lernen einbezogen, womit informelles Lernen als Oberbegriff für die verschiedenen Spielarten des Begriffs aufgefasst wird.

Die Bestimmung des informellen Lernens als Oberbegriff ist für wissenschaftliche Untersuchungen zu grob, da sich i. d. R. auf einen spezifischen Aspekt des informellen Lernens fokussiert werden sollte. Für eine umfassende Verortung des informellen Lernens in der Ganztagsschule ist sie allerdings notwendig. Die wissenschaftliche Eingrenzung des informellen Lernens wird in der vorliegenden Arbeit durch die Fokussierung auf die Handlungsebene und damit auf Aneignungsprozesse vorgenommen. Für die Praxis und zur vielfach gewünschten Förderung des informellen Lernens wird gefordert, die Aufmerksamkeit weniger auf die schwer greifbaren subjektiven Verarbeitungsmechanismen während der eigentätigen Auseinandersetzung mit der Umwelt zu richten. Vielmehr soll sich an der Lernumgebung und dem kontextuellen Rahmen von informellen Lernprozessen orientiert werden (vgl. Overwien, 2005; Dohmen, 2001).

2.3.2  Verortung des informellen Lernens in der Ganztagsschule

Marsick, Volpe und Watkins (1999, S. 91) formulieren fünf allgemeine Maßnahmen, durch die informelles Lernen unterstützt werden kann:

-  Zeit und Raum für Lernen schaffen,

-  Umfeld auf (Lern-)Gelegenheit überprüfen,

-  Aufmerksamkeit auf Lernprozesse lenken,

-  Reflexionsfähigkeit stärken und

-  Klima von Zusammenarbeit und Vertrauen schaffen.

Für die Ganztagsschule sind zunächst die ersten beiden Maßnahmen von großer Bedeutung. Die Schaffung von Zeit und Raum für eigentätige Handlungen ist eine zwingende Voraussetzung. Das informelle Lernen kann dabei von außen in erster Linie durch die Gestaltung der Lernumgebung15 gesteuert werden, wobei die konkreten Lernanlässe sich aus den Themen der Schüler entwickeln und von diesen selbst gesteuert werden. Die Schule ist mit der Aufforderung zur Gestaltung von verschiedenen Lernumgebungen keineswegs aus ihrer Lehrverantwortung entlassen, ihr kommt vielmehr „eine neue Bedeutung als Support-Struktur für lebenslange Lernprozesse“ zu (Icking, 2004, S. 199). In diesem Sinn sind die o. g. Maßnahmen zu verstehen, mit denen informelles Lernen unterstützt werden kann. Sie verweisen auf die erforderliche Vernetzung von informellem Lernen und formalem Lernen und dienen der Verstärkung und Reflexion der Lernprozesse. Ein vertrauensvolles Klima der Zusammenarbeit im gesamten Schulleben kann das informelle Lernen zusätzlich fördern, nicht zuletzt durch die Gestaltung des Schulhofs, was in einem Projektvorhaben gemeinsam geplant und umgesetzt werden kann (vgl. Laging, Derecik, Riegel & Stobbe, 2010).

Damit die allgemeinen Maßnahmen zur Unterstützung des informellen Lernens zielgerichtet angewendet werden können, sollten zunächst die „Orte“ des informellen Lernens lokalisiert werden. Dafür müssen die Mischungsverhältnisse der Lernformen für jedes Setting näher bestimmt werden (vgl. Overwien, 2005, S. 348). Ohne sämtliche Bereiche des Schullebens einzubeziehen, kann das spezifische Mischungsverhältnis der Lernformen in der Ganztagsschule exemplarisch folgendermaßen skizziert werden (Tab. 2):

Tab. 2. Mischungsverhältnis der Lernformen in der Ganztagsschule

LernformBereich des SchullebensInformelles Lernen

-  Selbst initiierte oder selbst geplante Tätigkeiten auf Schulhöfen

 

-  Implizite und inzidentelle Lernformen, die in allen Bereichen der Ganztagsschule unbewusst und beiläufig geschehen. Dazu zählen u.a. Schulhöfe, Ganztagsangebote und der Unterricht.

Nicht-formales Lernen

-  Teilnahme an Ganztagsangeboten der Schule ohne Qualifizierungsmaßnahmen

 

-  Teilnahme an Ganztagsangeboten in der Schule, die zu einer Qualifizierung führen, z. B. eine Sporthelferausbildung.

Formales Lernen

-  Formale Ausbildungsvorgaben aus den Richtlinien und Lehrplänen für die Schule, die zu einer Benotung von Unterrichtsfächern führen.

Mit dieser Verortung der verschiedenen Lernformen in der Ganztagsschule wird ersichtlich, dass sich informelles Lernen in allen Bereichen des Schullebens abspielt.16 Eine prädestinierte Möglichkeit, informelles Lernen zu stärken und zu fördern, bietet der Schulhof, da dieser „im relativ funktionsgebundenen Schulbau der Ort mit den höchsten ‚Freiheitsgraden’“ ist (Forster, 1997, S. 186). Aus diesem Grund steht im Weiteren der Schulhof als Ort des informellen Lernens in der Ganztagsschule im Mittelpunkt. Obwohl die auf dem Schulhof praktizierten Tätigkeiten in der als formal bezeichneten Institutionen Schule stattfinden, sind die Pausen „von einer geringen Regulationstiefe und einem reduzierten Institutionalisierungsgrad“ gekennzeichnet (Diketmüller et al., 2007, S. 32). Kottmann und Küpper (2004, S. 174) bestimmen die Pausen in der Institution Schule als Handlungsfeld, innerhalb dessen informelles Lernen „offenkundig ist und vielfältig realisiert werden kann“. Auf ihnen werden Schüler in Pausenzeiten mit vielfältigen Bewegungs-, Spiel- und Sportsituationen konfrontiert.

Da sich verschiedene Schülergruppen zur selben Zeit auf Schulhöfen versammeln, müssen die Pausenhöfe unterschiedlichsten und teilweise auch widersprüchlichen Raumfunktionen und -wünschen gerecht werden. Deswegen bietet sich generell an, die Schulhöfe in unterschiedliche „‚Nutzungsbereiche’“ zu gliedern (Dietrich et al., 2005, S. 55, Hervorhebung A. D.). Dieser Aspekt ist ein zentraler Gesichtspunkt in der vorliegenden Arbeit, da für die empirische Untersuchung die Räume auf Schulhöfen in verschiedene Nutzungsbereiche differenziert werden. Auf Schulhöfen können derartige Bereiche z. B. „an den Tischtennisplatten, um die Baumgruppe, hinter den Büschen, auf der Wiese“ oder an Bänken lokalisiert werden (Dietrich et al., 2005, S. 55). Diesen offenen Lern-, Erfahrungs- und Lebensräumen werden verschiedene Funktionen zugeschrieben, anhand derer die umfangreiche Bedeutung des Schulhofs in der Ganztagsschule theoretisch aufgedeckt werden kann.

2.3.3  Funktionen von Schulhöfen

In der Sportpädagogik wird dem Schulhof eine große Bedeutung zugesprochen. Die Funktion des Schulhofs darf nicht nur auf ein „‚Luftschnappen’“ zwischen den Unterrichtszeiten und auf ein „Austoben“ nach längerem Sitzen beschränkt werden (Dietrich et al., 2005, S. 17, Hervorhebungen im Original). Diese verkürzte Sichtweise wird dem