Der Siegeszug des Neozionismus - Tamar Amar-Dahl - E-Book

Der Siegeszug des Neozionismus E-Book

Tamar Amar-Dahl

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Beschreibung

Ausgehend von den Folgen der Zweiten Intifada (2000–2005) geht es in diesem Buch um drei Schlüsselbegriffe: Okkupation, Zivilmilitarismus und Neozionismus. Nur mit diesen, so Tamar Amar-Dahl, wird ein fundiertes Verständnis der israelischen Besatzungsmacht zu Beginn des neuen Millenniums verständlich. Die Jahrtausendwende markierte eine Zäsur: Israels politische Entscheidung, den bewaffneten Volksaufstand der Palästinenser gegen die Besatzer als Terrorismus zu bezeichnen und niederzuschlagen, diente zur Legitimation des Besatzungsregimes und legte einen immer vehementeren Zivilmilitarismus der israelischen Gesellschaft offen. Verheerende Kriege folgten, und der einst in der israelischen Gesellschaft stark vorhandene Linkszionismus verlor massiv an Einfluss. Mit ihm verschwand zugleich die alte Friedensideologie. In der tiefsten Sinnkrise des zionistischen Israel verschoben sich die politischen Verhältnisse, sodass rechte Kräfte salonfähig wurden. Die Wiederwahl von Benjamin Netanjahu 2009 und 2022 markiert den Siegeszug der Neozionisten. Mit ideologiekritischem Ansatz fragt die israelisch-deutsche Historikerin: Wie verhält sich die Okkupation zum Zivilmilitarismus (sprich zum gesellschaftlichen Konsens für Israels Kriegspolitik)? Und inwieweit haben diese beiden israelischen Phänomene den Neozionismus genährt? Erleben wir mit der seit Jahren andauernden Regierungskrise eine Art Implosion des politischen Systems? Oder stabilisiert sich ein rechts- bzw. neozionistisches Israel?

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Tamar Amar-DahlDer Siegeszug des Neozionismus

  

Israel im neuen Millennium

© 2023 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-907-7(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-514-7)

Coverfoto: Unsplash.com/Toa Heftiba

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Das zionistische Israel und der Oslo-Friedensprozess
2000: Eine Zäsur der israelischen Zeitgeschichte
Die politische Person und die israelische Geschichte
Zum Oslo-Friedensprozess und dessen Scheitern
2000: Das Jahr der Entscheidung
Camp David, Juli 2000: Die Wende von Oslo
Baraks Wahrheit und die linkszionistischen Intellektuellen
Ehud Baraks Altlast
2. Von Oslo zu Al-Aqsa: Intifada, Neuer Krieg, Zivilmilitarismus
Oktober-»Pogrome«
Das alt-neue Kriegsnarrativ
Zur Ideologisierung des Friedens
Israels Kampf gegen die Zweite Intifada
Zur Ideologisierung des Krieges: Von Zivilmilitarismus und Sicherheitsmythos
Neuer Krieg gegen den Volksaufstand
Ariel Sharons Krieg gegen die Palästinenser
Die Kriegsdynamik: Gezielte Tötungen versus Selbstmordattentate
Die Tötungspolitik und ihre sicherheitspolitische Logik
Die israelischen Medien und die Tötungspolitik
Israels Menschenjagd gegen die palästinensische Führung
Die israelische Arafat-Besessenheit
Militärische Operation »Schutzschild« 2002: Terrorismusbekämpfung oder Überfall?
»Schutzschild« in der israelischen Presse: Angriffsmodus mit Belagerungsbewusstsein
Das Kriegsnarrativ und Israels Zivilmilitarismus
3. Von Kriegsdienstverweigerung, Boykott und Protest
Die innerisraelische Debatte um die Boykottfrage
Umfassender oder nur akademischer Boykott?
Das Dilemma um den Pragmatismus
Der politische Linkszionismus zur Boykottfrage
Breaking the Silence: Gegen das Schweigen, gegen das Außen-vor-Lassen, gegen das Verdrängen
Breaking the Silence und die Gaza-Kriege 2008–2014
Breaking the Silence »brechen«
Von israelischem Konsens um die Besatzung
4. Neozionismus: Rechtsruck, Okkupation, Nationalstaatsgesetz
Von Postzionismus zu Neozionismus
Neozionismus und Neoliberalismus in einer Gesellschaft ohne Opposition
Neozionistische Gesetzgebung
Ungeklärte Staatsbürgerschaft
Israels liberales Oberstes Gericht gefangen zwischen Sicherheit, Demografie und Rechtsstaatlichkeit
Das Nationalstaatsgesetz 2018: Manifestation des Neozionismus
Das Nationalstaatsgesetz: Disput um Inhalt oder Form?
Linkszionistische Kritik: Kontrollverlust oder Scheindebatte?
Die israelische Rechte zum Nationalstaatsgesetz: Wehrhafter Zionismus?
Neozionismus, das Oberste Gericht für Gerechtigkeit und das Nationalstaatsgesetz: Clash der Kulturen?
5. Benjamin Netanjahu und das neozionistische Israel
Machtbesessener und Neozionist
Netanjahus politischer Werdegang
Netanjahus Projekt der Entmachtung der linkszionistischen Eliten
Netanjahu und die Palästina-Frage
Verwendete Literatur
Artikel israelischer Publizistik
Dokumentationen israelischer Medien
Weitere Quellen

Über die Autorin

Tamar Amar-Dahl, 1968 in Nahariya (Israel) geboren, ist Zeithistorikerin und beschäftigt sich mit Israels Geschichte und Politik. Sie studierte Geschichte und Philosophie in Tel Aviv, Hamburg und München. Amar-Dahl lebt und arbeitet in Berlin.

Einleitung

Zum Jahrtausendwechsel befand sich der jüdische Staat an einem Scheideweg seiner zionistischen Geschichte. Denn er war konfrontiert mit tiefen Widersprüchen bezüglich der Identität der Immigranten-Siedler-Gesellschaft, des Staatsverständnisses, der politischen Kultur des Landes sowie der Frage des Selbstbildes einer quasi offenen Gesellschaft und pluralistischen Demokratie. So verdichteten sich im Jahr null des neuen Millenniums sämtliche Kernprobleme des zionistischen Israel bis hin zur geschichtsträchtigen, beispiellos blutigen Auseinandersetzung mit den Palästinensern. Ende September 2000 brach die Zweite Intifada aus. Sehr bald geriet dieser Volksaufstand zu einem präzedenzlosen, neuen Krieg zwischen Israel und den Palästinensern. Dieser fünfjährige Waffengang (2000−2005) – so wird das vorliegende Buch zeigen – prägte Israels Politik, dessen politische Kultur und schrieb damit Zeitgeschichte. Er führte zu einem Rechtsruck in der israelischen Gesellschaft und dem Kollaps des Friedenslagers, und somit zum Untergang des in der politischen Gesellschaftsordnung gewichtigen Linkszionismus. Dadurch wurde der Weg für ein neues Phänomen geebnet, nämlich die Bewegung des Neozionismus. Nach dem rasanten Kollaps der linkszionistischen Regierung Ehud Barak (1999−2000), welche die Regierung Benjamin Netanjahu (1996−1999) abgelöst hatte, dominierten in Jerusalem rechtszionistische Regierungen unter Ariel Sharon (2001−2006), Ehud Olmert (2006−2009) und Benjamin Netanjahu (2009−2021).1

Der vorliegende Ansatz stellt die zeithistorische Frage nach der Bedeutung der Zweiten Intifada für Israel im neuen Jahrtausend. Er fragt nach der Wirkmächtigkeit des schicksalhaften Jahres 2000 auf Israels Politik, Geschichte und politische Kultur. Mit dem Ziel, den israelischen Zeitgeist in dieser Zeitgeschichte zu erfassen, sucht er, die Veränderungen in Staatsbild, Selbstbild und Feindbild besser zu verstehen. Der Ansatz übt Ideologiekritik, wobei Israels zionistische Staatsideologie den Dreh- und Angelpunkt der Analyse darstellt. Deren Kern ist jedoch nicht der historische Zionismus, sprich die Idee eines jüdischen Staates, sondern der gelebte Zionismus in der de facto binationalen Demografie in Eretz Israel/Palästina.

Die Analyse in diesem Buch ergibt drei Schlüsselbegriffe: Okkupation, Zivilmilitarismus und Neozionismus. Dabei stützt sie sich auf den geschichtsphilosophischen Ansatz des deutschen Hermeneutikers und Philosophen Hans-Georg Gadamer: »Der wahre historische Gegenstand ist kein Gegenstand, sondern […] ein Verhältnis, in dem die Wirklichkeit der Geschichte ebenso wie Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens besteht.«2 Eben in der spezifischen Verflechtung dieser drei Phänomene in der israelischen Ordnung findet sich ein Schlüssel für ein fundiertes Israel-Verständnis im neuen Jahrtausend. Doch während »Zivilmilitarismus« und »Neozionismus« im inner-israelischen Mainstream-Diskurs ohnehin kaum Verwendung finden, verliert in den letzten Jahren auch »Okkupation« als politischer Begriff zunehmend an Relevanz. Indessen geben gerade diese Begriffe in der kritischen Analyse der israelischen Zeitgeschichte einen erhellenden Aufschluss für eine meist schwer nachvollziehbare kulturpolitische Ordnung.

Okkupation (Hebr. Kibusch), sprich die israelische Besatzungsordnung in den 1967 eroberten palästinensischen Gebieten, wurde nach der Ersten Intifada der Jahre 1987−1993 sukzessive politisiert, allen voran vom Linkszionismus. Dieses große Lager, das sich um die historisch dominante oftmals regierende Arbeitspartei herausgebildet hatte, drängte Anfang der 1990er Jahre immer mehr darauf, den als Anomalie, als Abweichung vom zionistischen Staatsprojekt begriffenen Kibusch aufzuheben. Deshalb setzten die Linkszionisten ihre Hoffnungen in den Oslo-Friedensprozess von 1993−2000. Doch ab 2000 verliert die Besatzung immer mehr an politisch-diskursiver Relevanz, und dies, obwohl sie immer wirkmächtiger wurde, immer eindringlicher, immer konstitutiver für die »israelische Ordnung«. Die israelische Ordnung habe ich an anderer Stelle bereits definiert als »die durch die israelische Staatsräson bzw. das zionistische Projekt geprägten Verhältnisse zwischen den jeweiligen staatlichen Institutionen, mithin die politische Kultur des Landes. Dabei handelt es sich um den Habitus der politischen und militärischen Eliten im Hinblick auf das nationalstaatliche Projekt der ›Judaisierung‹ des Landes und die eng daran gekoppelte Aufgabe der Staatssicherheit.«3

Im Zuge der Zweiten Intifada entschied sich das politische und militärische Israel mit seiner Kriegspolitik nicht nur dafür, die Besatzung weiterzuführen, sondern sie sogar noch zu verfestigen. In dem Verständnis, dass sie unerlässlich für die jüdisch-nationalstaatliche Existenz sei, galt es, die Besatzung stärker in die israelische Ordnung zu integrieren – mit all den Konsequenzen, über die das vorliegende Buch ausführlich berichtet. Doch wie erklärt sich dieser scheinbar abrupte Richtungswechsel? Weshalb scheiterte der politische Prozess, der angeblich die Besatzung zu beenden trachtete? Damit verbunden ist die Frage, wie das zionistische Israel die im Kern des Konflikts stehende Palästina-Frage verstand.Hatte das Land in den 1990ern überhaupt die politischen und ideologischen Kapazitäten, die Besatzung wirklich zu beenden? War die Zweistaatenlösung das eigentliche Ziel, das Israel mit Oslo verfolgte? Tatsächlich gab es Anfang 2001 in Israel schon keine politische Macht mehr für eine solche Lösung, auch nicht für den politischen Prozess. Im Gegenteil nahm das Militär die palästinensische Erhebung gegen die Besatzung zum Anlass, seine Herrschaft in den palästinensischen Gebieten weiter zu vertiefen und dabei einen blutigen Krieg gegen die Palästinenser zu führen. Die Folgen dieses fünfjährigen Waffengangs entpolitisierten nicht nur die Okkupation, sondern machten diese auch zum geschichtsträchtigen, zugleich jedoch verleugneten, großen Elefanten im Raum der israelischen Ordnung.

Denn Okkupation bedeutet Dauerkrieg. Der Dauerkrieg bedarf eines gesellschaftlichen Konsenses in Form des Zivilmilitarismus. Dieser Begriff meint hier den von der israelischen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit getragenen Militarismus, womit sich der zivilgesellschaftliche Konsens für den Krieg in Israel, mithin für die Okkupationsordnung immer wieder herstellen lässt. Das Phänomen ist historisch gewachsen, bedingt durch die lange Konfliktgeschichte. Doch im neuen Jahrtausend bekommt der israelische Zivilmilitarismus eine neue Qualität. Wenn früher der israelische Linkszionismus die Friedensideologie als Aussicht, als Hoffnung auf künftige Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern geboten hatte, so markiert das Jahr 2000 mit der Niederschlagung des palästinensischen Volksaufstandes den Beginn einer neuen Kriegsära. Nicht nur sind Israels Neue Kriege im neuen Millennium immer häufiger und fataler geworden, ihr erklärtes Ziel ist dabei auch ausdrücklicher: die Herrschaftsverhältnisse der Okkupation einmal mehr zu vertiefen, um diese längerfristig zu verfestigen.

Etablierte Okkupation, Neue Kriege und Zivilmilitarismus ohne Friedensideologie besiegelten – so die Hauptthese dieses Buches – ein neozionistisches Israel. Der Neozionismus hat sich vor allem aufgrund des Scheiterns des historischen Prozesses der 1990er-Jahre um die ur-zionistische Palästina-Frage durchgesetzt. Diese geschichtsträchtige Frage meint in aller Kürze das Verständnis – und die Auseinandersetzung der zionistischen Bewegung mit – der Frage des Territoriums für die jüdische Nationalstaatlichkeit, ein Territorium, das jedoch bereits von einem anderen Volk besiedelt war und noch immer ist: das historische Palästina. Vom Zionismus wurde es schon immer als Eretz Israel bezeichnet und als Land des jüdischen Volkes verstanden. Bekanntlich hat Israel ebendieses Verständnis vom Territorium im Jahre 1948 übernommen, was seine politische Ordnung tief greifend prägen sollte. Nicht zuletzt deshalb geriet das Land am Scheideweg 2000 in die tiefste Sinnkrise seiner Geschichte. Mit dem Ausbruch der Zweiten Intifada sah sich Israel nicht nur weit entfernt vom erhofften »finalen Friedensvertrag«, der das linkszionistische Staatsprojekt quasi vollenden hätte sollen. Vielmehr war das Land höchst besorgt um das gesamte Staatsprojekt, sah sich unmittelbar bedroht und führte nicht zuletzt deshalb einen präzedenzlos heftigen »Krieg um die Heimat«.4

Diese zionistische Heimat stand Ende 2000 gefühlsmäßig auf der Kippe, weshalb gerade im Zuge des damaligen zähen Waffenganges das Land massiv nach rechts rückte, da sich immer mehr jüdische Israelis auf die vertraute, altgediente Staatsideologie zurückbesannen. Den Zionismus als die ultimative Antwort auf Israels vertrackte Problemlage bot eben eine neozionistische Bewegung, welche »sämtliche Gefahren« für das zionistische Israel – ob es sich hierbei um den Friedensprozess, die Friedensideologie oder den sich anbahnenden Postzionismus handelte – ebenso entschlossen wie erbarmungslos bekämpfte. Der Neozionismus konnte sich nur deshalb immer mehr durchsetzen, weil »die ultimative zionistische Lösung« sowohl sicherheitspolitisch als auch im Sinne des Siedlungsprojekts in den besetzten Gebieten ohnehin die einzig vertraute, die einzig relevante für Israels Entscheidungsträger war.

Der Neozionismus entstand aus der Sinnkrise des zionistischen Israel. Er ist im Kern eine stärker ideologisierte, nationalistischere und dazu auch selbstbewusstere Version des historisch umgesetzten Zionismus des 20. Jahrhunderts. Der Neozionismus betrachtet ganz Eretz Israel als ausschließlich jüdisches Land, Israel als einen ausschließlich jüdischen Staat und das jüdische Volk als unhinterfragtes Staatssubjekt. Angesichts dieses Selbstverständnisses existiert für den Neozionismus weder die völkerrechtlich relevante Okkupation noch die ur-zionistische Palästina-Frage, und ebenso wenig die Palästinenser-Frage. Vielmehr richtet sich das neozionistische Augenmerk ausschließlich auf das eigene Staatsprojekt der fortwährenden Judaisierung des Landes, und zwar allen innenpolitischen sowie außenpolitischen Zwängen zum Trotz. Daher hat das neozionistische Israel besagtes Staatsprojekt nicht nur derart stark ideologisiert, dass es gänzlich resistent gegen jede Kritik ist, sondern hat darüber hinaus auch den eng daran gekoppelten hundertjährigen Konflikt gänzlich entpolitisiert.

Zur Entpolitisierung, geradezu Aufhebung der Palästina-Frage im israelischen Politdiskurs trug wie kaum ein anderer der neozionistische Premier Benjamin Netanjahu bei. Vor allem in der letzten Dekade gelang es dem umstrittenen Ministerpräsidenten, sich vom im zionistischen Israel über Jahrzehnte hinweg eingesetzten Politikinstrument der Friedensideologie zu verabschieden. Netanjahu setzte nicht nur offen und unmittelbar darauf, die Palästina-Frage von der israelischen Tagesordnung zu verdrängen. Unter ihm verabschiedete Israel darüber hinaus nach sieben Jahrzehnten nationalstaatlicher Souveränität das umstrittene Nationalstaatsgesetz (2018). Wie im Weiteren noch ausführlich dargelegt werden wird, spiegelt dieses Grundgesetz Israels staatsideologische Sinnkrise prägnant wider.

Das vorliegende Buch ist in folgende Themenblöcke unterteilt: »Das zionistische Israel und der Oslo-Friedensprozess« stellt den israelischen Beweggrund für und die wichtigen Ereignisse rund um den politischen Friedensprozess der 1990er-Jahre bis 2000 dar. Im Fokus steht hier das Verhältnis zwischen der historisch gewachsenen, konflikthaften israelischen Ordnung einerseits und dem neuen Friedensdiskurs andererseits. Im großen Themenkomplex »Von Oslo zu Al-Aqsa: Intifada, Neuer Krieg, Zivilmilitarismus« werden Ursachen, Verlauf, Dynamiken und vor allem die zeitgeschichtliche politische und kulturpolitische Bedeutung des ersten Krieges im neuen Jahrtausend eingehend behandelt. Wie die Analyse zeigen wird, hat dieser Waffengang das Land tief greifend verwandelt, was das Jahr 2000 zu einer entscheidenden Zäsur in der israelischen Zeitgeschichte macht. Im darauffolgenden Abschnitt »Kriegsdienstverweigerung, Protest, Boykott« werden innerisraelische Debatten thematisiert, die sich rund um die Frage der Kritik und Kritikfähigkeit in Sachen Kriegspolitik, Kriegslogik und Besatzungsordnung entfalteten. Dabei gilt es vor allem zu klären, welche Erfolgschancen Kriegsdienstverweigerung in einer vom Zivilmilitarismus geprägten politischen Kultur hat. Wie werden Boykottaufrufe aus dem Ausland in Israel debattiert? Wie geht das politische Israel mit Kritik an der Besatzung um? Gekoppelt an diesen äußerst heiklen innenpolitischen Disput ist der vierte große Abschnitt »Neozionismus: Okkupation, Rechtsruck, Nationalstaatsgesetz«. Dieser Themenkomplex verschafft Einblicke in das neozionistische Israel nach der Zweiten Intifada. Im Fokus steht dabei die Frage, wie die Politik nach der sukzessiven Aufgabe der Friedensideologie das zionistische Staatsprojekt zu sichern beabsichtigt. Wie hierzu dargelegt wird, stützt sich die Politik der binationalen Demografie im Lande vermehrt auf neozionistische Gesetzgebung, allen voran das Staatsbürgerschaftsgesetz (2002) und das Nationalstaatsgesetz (2018). Hier rufen Israels Exekutive und Legislative das judikative Israel auf den Plan und lösen damit heftige, für unseren Zusammenhang höchst relevante Debatten um Israels Staatsverständnis, Feindbilder und Identität(en), kurzum um seine Zukunft, aus.

Israels nahe Zukunft ist vom bedeutendsten Premier des neuen Jahrtausends geprägt worden. In dem abschließenden Abschnitt »Benjamin Netanjahu und das neozionistische Israel« wird Netanjahus Beitrag zum Neozionismus näher erörtert. Die Leitfrage dabei lautet, wie es ihm gelungen ist, nicht nur die längste, sondern auch die turbulenteste Regierungszeit zu absolvieren, und diese dann auch noch mit dem historischen Finale einer präzedenzlosen Politkrise (vorübergehend) zu beenden? Wie verhält sich die »Netanjahu-Krise« der Jahre 2019−2021 zu der in diesem Buch behandelten Sinnkrise des zionistischen Israel?

Abschließend ist zu betonen, dass der vorliegende ideologiekritische Ansatz eine Auseinandersetzung mit innerisraelischen Debatten darstellt. Meine jüdisch-israelische Perspektive mit meinem unmittelbaren Zugang zu u. a. hebräischsprachigen Quellen dient dem ausdrücklichen Ziel, den israelischen Diskurs zu beleuchten. Vom deutschen Diskurs um Israel, Palästina oder den Nahostkonflikt wird hier Abstand gehalten, nicht zuletzt, weil er wenig Relevanz für innerisraelische Debatten hat. Weder die diesem zugrunde liegende Antisemitismus-Debatte noch die deutsch-israelischenSonderbeziehungen geben in diesem Kontext Aufschluss. Im Gegenteil, sie versperren geradezu den Zugang zum Untersuchungsobjekt des vorliegenden Ansatzes. Dieser erlaubt sich vielmehr, ganz im Sinne Walter Benjamins, »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten«.5

Berlin, im Januar 2023, Tamar Amar-Dahl

1 Bei den Parlamentswahlen im November 2022 erreichte Netanjahus rechtes Bündnis die Mehrheit. Im Dezember 2022 trat das Kabinett Netanjahu VI an.

2Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 305.

3 Tamar Amar-Dahl: Shimon Peres. Friedenspolitiker und Nationalist, Paderborn 2010: S. 165.

4 Der hebräische Slogan dieses Krieges.

5 Walter Benjamin 1940: »Über den Begriff der Geschichte«, 7. These. In: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart: Reclam 2019, S. 145.

1. Das zionistische Israel und der Oslo-Friedensprozess

»Israels Sieg im Sechs-Tage-Krieg hat nicht nur das Schicksal des jüdischen Staates besiegelt, womöglich auch das Schicksal des ganzen jüdischen Volkes«

Yeshayahu Leibowitz, 19816

2000: Eine Zäsur der israelischen Zeitgeschichte

Das Jahr 2000 stellt eine einschneidende Zäsur in der Zeitgeschichte Israels dar. In den Ereignissen dieses schicksalhaften Jahres zeigt sich im vollen Maße die für die israelische Politik so bezeichnende Spannung zwischen Besatzungspraxis und Friedensgesprächen, zwischen Rückzug und Wiedereroberung fremder Gebiete, zwischen Friedensideologie und Kriegslogik, kurzum zwischen Krieg und Frieden. Diese äußerst irritierende, der politischen Ordnung des Staates immanente Diskrepanz bedarf einer Erklärung. Die Wende vom vermeintlich optimistischen Jahrzehnt des Oslo-Friedensprozesses der 1990er zu einem beispiellos heftigen Krieg gegen die Palästinenser Ende 2000 verwirrte vor allem den israelischen Linkszionismus.

Dieses seinerzeit bedeutsame Friedenslager der israelischen Gesellschaft hatte das politische Israel Anfang der 1990er tatsächlich dahin bewegt, das eigentliche, ur-zionistische Problem, nämlich die territorialePalästina-Frage, in einem politischen Prozessanzugehen. Die neu gewählte, linkszionistische Regierung in Jerusalem (1992−1996), geführt von Yitzhak Rabin und Shimon Peres, sah sich nach jahrzehntelanger Stagnation gezwungen, die Besatzung und somit die Frage der Palästinenser erstmals zum Politikum zu machen. Doch der Oslo-Friedensprozess, welcher auf die historische gegenseitige Anerkennung zwischen Israel und der PLO als Vertreterin der Palästinenser im September 1993 (verankert in der Prinzipienerklärung Oslo I) folgte, kollabierte binnen weniger Wochen im Oktober 2000 vollständig. Dadurch geriet der israelische Linkszionismus derart unter Druck – er rang angesichts der Eskalation geradezu um Rechtfertigungen –, dass er den sich anbahnenden und sich sehr bald als brutal erweisenden Krieg des israelischen Militärs gegen die aufständischen Palästinenser schließlich mittrug. Wie genau dieser Wandel zustande kam und welche Verschiebungen er nach sich zog, bedarf einer tiefergreifenden Erörterung.

Das Schicksal, oder besser gesagt die politische Kultur Israels wollte es, dass auch kurz vor dem Jahrtausendwechsel ausgerechnet ein Militär an der Spitze der israelischen Regierungspartei stand: Ehud Barak, dem ehemaligen Generalstabschef der israelischen Armee (1991−1994), war der rasante Wechsel vom Militär zur Politik gelungen. Yitzhak Rabin (Generalstabschef der Jahre 1964−1968) hatte Barak schon 1995, kurz nach dessen Abschied vom Militärdienst, zum Innenminister ernannt. Barak selbst machte jedoch schon damals keinen Hehl aus seiner Skepsis gegenüber dem umstrittenen Oslo-Prozess. Den Rückzug aus Teilen der besetzten palästinensischen Gebiete, wie er im Vertrag Oslo II vom Oktober 1995 vereinbart worden war, wollte der neue Innenminister nicht unterstützen und enthielt sich bei der entsprechenden Abstimmung im Kabinett der Stimme – zum Erstaunen des unter enormem Druck stehenden Premierministers.

Kurz nach der Ermordung Rabins im November 1995 übernahm Barak im Zuge der Abwahl der Arbeitspartei unter Shimon Peres im Mai 1996 den Parteivorsitz. Bereits im Mai 1999 wurde er von einer großen Mehrheit der Israelis gewählt und löste damit die Regierung Netanjahus ab. Denn um die Jahrtausendwende herrschte in Israel noch immer ein nicht zu unterschätzender Konsens über einen Ausgleich mit den Palästinensern auf der Grundlage der Teilung des Landes, wenn auch nur, um beide Völker endlich voneinander zu trennen. Mit seiner sicherheitspolitischen »Aura« versprach Barak unter dem Bündnis Israel Ahat (Ein Israel), Israels akute sicherheitspolitische Probleme zu lösen, indem er die Konfliktherde Libanon, Syrien und die Palästina-Frage tatkräftig anging.

Doch so groß Baraks Anspruch auf eine »umfassende regionale Lösung« war, so ernüchternd war seine Niederlage. Schon im Sommer 2000 begann seine Regierung auseinanderzufallen, und Ende des Jahres musste er unter dem Druck der sicherheitspolitischen Eskalation Neuwahlen ausrufen. Zu diesem Zeitpunkt war die Hoffnung einer ganzen Generation auf ein Friedensabkommen und damit die Aussicht auf eine Zukunft jenseits von Besatzung und Dauerkrieg bereits gänzlich geschwunden. Rückblickend lässt sich feststellen, dass ausgerechnet der als vielversprechender Hoffnungsträger des Linkszionismus angetretene Sicherheitspolitiker dem großen Friedenslager der 1990er-Jahre den Todeskuss gab. Und so wird sich Ehud Barak auch als bislang letzter Chef einer linkszionistischen Regierung erweisen. Seither hat der Linkszionismus immer mehr an machtpolitischer Relevanz verloren und musste schließlich zugunsten des Neozionismus seinen Platz räumen. Symptomatisch für diesen Prozess war die immer offensichtlichere Abwertung des Begriffs »Links« (Hebr. »Smol«, gemeint ist hier »Linkszionismus«), der vor allem während der zweiten Amtszeit von Benjamin Netanjahu (2009−2021) zum Schimpfwort degradiert wurde. Netanjahu machte seine Machtbasis an der israelischen Rechten fest, welche sich aus den rechtszionistischen, nationalreligiösen und orthodoxen Parteien zusammensetzte.

Der Untergang des Linkszionismus im neuen Jahrtausend brachte eine Verschiebung des politischen Parteisystems mit sich und ist somit von erheblicher Bedeutung für die israelische Zeitgeschichte. Doch was zeichnet den Linkszionismus aus? Wie kam es zum Bedeutungsverlust dieses wichtigen Lagers nur wenige Jahre nach dem historischen Durchbruch von 1992/1993? Und weshalb genoss 2001−2005 ausgerechnet der rechtszionistische Politiker Ariel Sharon beträchtlichen Konsens, obwohl er nicht zuletzt wegen des Libanon-Krieges 1982 gerade unter Linkszionisten sehr umstritten war? Dazu unterstützten viele auch Sharons Krieg gegen die Palästinenser.

Für die Verschiebung der politischen Verhältnisse im neuen Jahrtausend gilt es des Weiteren zu klären, inwieweit sich ein Sharon hinsichtlich seiner Friedens- und Sicherheitspolitik wirklich von einem Barak unterschied. War Barak ein echter Linkszionist, der die Friedenspolitik seiner Arbeitspartei unterstützte? Ferner drängt sich die Frage auf, ob die Friedenspolitik der Arbeitspartei, etwa eines Shimon Peres der Jahre 1995/1996 oder eines Yitzhak Rabin der Jahre 1992−1995, im Sinne der Teilung des Landes zwischen beiden Völkern, mithin einer echten Aussöhnung mit den Palästinensern, betrieben wurde. Denn dafür hätte gerade die Arbeitspartei ihre eigene Geschichte, sprich ihren eigenen Beitrag zur Besatzungsordnung, anerkennen und verarbeiten müssen. Hier ist zu hinterfragen, ob die Arbeitspartei (und mit ihr die linksliberale Meretz) dazu in der Lage war oder ob der Linkszionismus nicht vielmehr am altherkömmlichen, zionistischen Modell eines jüdisch-mehrheitlichen Staates in Eretz Israel festhielt.

Im Vordergrund steht dabei die ur-zionistische Palästina-Frage, die von der Politik angegangen werden musste. Doch nach zwei Jahrzehnten militärischer Besatzung (1967−1987) und einer fünfjährigen palästinensischen Erhebung (1987−1992) war es das Militär, welches die Besatzung auf Dauer für untragbar hielt. Weil die Militärführung keine effektive sicherheitspolitische Antwort auf den Volksaufstand der Ersten Intifada wusste, drängte es auf politische Verhandlungen. So kam also von ihm der eigentliche Impuls für den Politikwechsel. Diese Krise der Ersten Intifada war auch einer der Hauptgründe für den Machtwechsel in Jerusalem. Die neue linkszionistische Regierung der Jahre 1992−1996 sah sich gezwungen, politische Antworten auf die Palästina-Frage anzubieten.

Doch die neue Regierung wurde von sicherheitspolitisch orientierten Persönlichkeiten geführt. Rabin und Peres prägten nicht nur selbst über Jahrzehnte hinweg die ausgesprochen sicherheitspolitisch orientierte israelische Ordnung, beide waren darüber hinaus fest in dieser Ordnung gefangen. Sie hatten den Friedensprozess nämlich als sicherheitspolitisches Projekt des zionistischen Staats begriffen, weshalb sie auch sehr zäh und zögerlich vorankamen. Auch Barak und Sharon erhielten das Regierungsmandat letztendlich eben aufgrund ihrer sicherheitspolitischen Aura und blieben durchgehend der israelischen Ordnung verpflichtet. An dieser Stelle sei erneut betont, dass Israels politische, mithin sicherheitspolitische Ordnung eng mit der zionistischen Staatsräson eines jüdischen Nationalstaats im Lande Israel zusammenhängt. Diese wurde von allen hier genannten Politikern verfolgt, wodurch Israels Zeitgeschichte nachhaltig geprägt wurde.

Die politische Person und die israelische Geschichte

Welche Rolle spielt die politische Person in der Geschichte? Rabin, Peres, Netanjahu, Barak und Sharon prägten als Persönlichkeiten Israels Geschicke, ob als Fürsprecher oder Gegner, als aktive Unterstützer oder bittere Gegner politischer Prozesse. Doch die Person unterliegt der Geschichte und verhält sich dialektisch zu ihr. Und so lohnt sich bei der Frage nach Baraks Beitrag zum Scheitern im Jahr 2000 und zu den nachfolgenden blutigen Auseinandersetzungen ein genauerer Blick auf ihn und seine politischen Rivalen.

Denn Ariel Sharons Werdegang erzählt wie kaum ein anderer die Geschichte eines Israel, das hin und her irrt zwischen Krieg und Frieden, zwischen Okkupation und Rückzug aus besetzten Territorien.7 Sharons Laufbahn ist paradigmatisch für diese Irrfahrt in den Abgrund. Der Premier der Zweiten Intifada durfte nicht nur den Krieg gegen den palästinensischen Aufstand mit beispielloser Härte führen, sondern hatte zuvor schon die sogenannte palästinensische Option, die Teilung des Landes zwischen beiden Völkern, über Jahrzehnte rigoros bekämpft. In den 1950er- und 1960er-Jahren nahm der Militär Sharon an den sogenannten Grenzkriegen teil, um jegliche Rückkehrversuche vertriebener Palästinenser des ersten Kriegs von 1948 zu verhindern. In den 1970er-Jahren wurde er berühmt-berüchtigt für die Niederschlagung der palästinensischen Aufstände in Gaza, nachdem Israel 1967 den Streifen erobert hatte. Im Jahr 1982 schickte Sharon, nun als Verteidigungsminister unter Premierminister Menachem Begin, die Armee in den Libanon, um eine »neue Ordnung« in Nahost zu forcieren. Sharons anvisiertes Kriegsziel war unter anderem, die palästinensische Autonomie im Westjordanland und im Gazastreifen zu vereiteln.8 Die Autonomie war im Camp David Abkommen von 1979 zwischen Ägypten und Israel ausgehandelt worden, doch Israel weigerte sich, sie zu implementieren. Stattdessen griff Sharon mit der ausdrücklichen Unterstützung Begins zu militärischen Mitteln, um die Palästinenser-Frage über den Libanon im benachbarten Jordanien zu lösen.9 Das Anliegen war und blieb, das im Herzen des Landes liegende Westjordanland nicht aufgeben zu müssen. Die Regierung Begin (1977−1983) war zwar hinsichtlich dieser Kriegsziele nicht ganz im Bilde, doch sie blieb dem zionistischen Ansatz treu und betrieb ebenso wie ihre Vorgängerinnen weiterhin die Siedlungspolitik in den palästinensischen Gebieten.

Der Krieg artete bald zum »Libanon-Sumpf« aus. Nach drei Jahren erbittertem Kampf entschied die Regierung der Nationalen Einheit 1985 einen Teilrückzug aus dem Nachbarland. Premierminister Peres und Verteidigungsminister Rabin setzten sich gegen ihre Likud-Partner in der Regierung durch und ließen die israelischen Truppen aus dem Nordlibanon zurückziehen, um im Südlibanon einen sogenannten »Sicherheitsgürtel« einzurichten. Während das Militär die Zone als Puffer für die Sicherheit von Nordisrael verstehen wollte, entwickelte sich in Wirklichkeit ein erbitterter 15-jähriger Guerillakampf zwischen der israelischen Armee (IDF) und der mit ihr verbündeten South Lebanese Army (SLA) auf der einen Seite und der 1982 im Zuge des israelischen Einmarsches gegründeten schiitischen Miliz Hisbollah auf der anderen. Die Hisbollah (arab. Gotteskämpfer) wurde gerade in den 1990ern zu einer echten sicherheitspolitischen Herausforderung. De facto führte sie gegen Israel einen 18-jährigen »Krieg ohne Namen«.10

Der Guerilladauerkampf in der Sicherheitszone eskalierte zuweilen zu moralisch untragbaren, groß angelegten militärischen Einsätzen der IDF im Libanon, wie 1993 mit der Operation »Abrechnung« mit Barak als Generalstabschef und Rabin als Premier sowie 1996 mit der Operation »Früchte des Zorns« unter Barak als Innenminister und Peres als Premier- und Verteidigungsminister. Beide Militäroperationen gingen für die libanesische Bevölkerung im Südlibanon katastophal aus, ohne dass dabei nennenswerte Ziele erreicht wurden. Erst im Mai 2000 setzte Barak, nun in der Doppelfunktion als Premier- und Verteidigungsminister, den sogenannten einseitigen Rückzug durch, und zwar gegen die ausdrückliche Position der Generäle und vor allem des Generalstabschefs der bevorstehenden Zweiten Intifada, Shaul Mofas.

»Einseitig« war der Rückzug in dem Sinne, als das Militär aus dem Libanon abtrat, ohne ein Abkommen mit der libanesischen Regierung oder der Besatzungsmacht Syrien, geschweige denn mit der Hisbollah, zu suchen. Die israelischen Militärs sahen in diesem einseitigen Rückzug, der ohne eine wirkliche Entscheidung gegenüber der Hisbollah erfolgte, nicht nur »Defätismus« und »Demütigung«, sondern fürchteten gar um die israelische Abschreckungsmacht. Hierbei hatten sie nicht zuletzt die palästinensische Front im Blick, welche 2000 ja ebenfalls auf der israelischen Tagesordnung stand. Wenn es der Hisbollah schließlich gelungen sei, Israel mithilfe eines Guerillakampfs zum Rückzug an die international anerkannte israelisch-libanesische Grenze zu zwingen, so könnten sich die Palästinenser hiervon inspirieren lassen und ebenfalls zur Waffe greifen. Doch während die Palästinenser die Grenzen vom 4. Juni 1967 als Verhandlungsbasis bei den Oslo-Gesprächen voraussetzten, galt dies keineswegs für das politische Israel. In einflussreichen sicherheitspolitischen Kreisen wurde der Ausbruch der Zweiten Intifada vielfach als die palästinensische Antwort auf den Rückzug aus dem Libanon aufgefasst.

Der bewaffneten Intifada der Jahre 2000−2005 war ein anderer, eher zivilgesellschaftlich orientierter und gut organisierter Aufstand der PalästinenserInnen vorangegangen: Als Ende 1987 die Erste Intifada ausbrach, welche auch als die Intifada der Steine bekannt wurde, zwang sie Jerusalem einen Kurswechsel auf. Zwei Jahrzehnte nach dem Eroberungskrieg von 1967 erhob sich die palästinensische Zivilgesellschaft in etlichen Flüchtlingslagern innerhalb der besetzten Gebiete gegen Israels Besatzungsordnung mit ihrer schleichenden und dezidierten Landenteignung für jüdische Siedlungen und den damit einhergehenden sozioökonomischen Krisen. Darüber hinaus fühlten sich die militärisch unterdrückten Palästinenser insgesamt unsicher, niedergehalten und ausgebeutet.

Denn zum einen erstarkte im Laufe der 1980er-Jahre ein jüdischer Terroruntergrund, der gezielt gegen palästinensische Bürgermeister und weitere Führerpersönlichkeiten der palästinensischen Gesellschaft vorging. Das Ziel des von jüdischen Siedlern betriebenen Terrorismus war es, die Palästinenser aus dem Land zu vertreiben und gleichzeitig die israelische Regierung unter Druck zu setzen, die nun »befreiten« Gebiete zu annektieren. 1984 deckte der Inlandgeheimdienst Schin Bet eine entsprechende Untergrundzelle auf. Deren Mitgliedern wurde zwar der Prozess gemacht, doch sie kamen allesamt mit geringen Strafen davon.11

Zum anderen kam der sogenannte politische Prozess kaum voran. 1987 lehnte die israelische Regierung das mit viel Mühe erzielte London-Abkommen ab, das zwischen Außenminister Peres und Jordaniens König Hussein ausgehandelt worden war. Die Vereinbarung sah vor, dass Jordanien die Kontrolle über das Westjordanland zurückbekäme und auf dieser Basis mit Israel einen Friedensvertrag schließen würde.12 Peres konnte sich jedoch nicht gegen seine Koalitionspartner im Likud durchsetzen, woraufhin König Hussein seinen Anspruch auf das Westjordanland aufgab und Jordanien sich von sämtlichen Pflichten gegenüber den Einwohnern zurückzog. 1987 war das zionistische Israel weit davon entfernt, die Palästina-Frage ernsthaft anzuerkennen. Stattdessen bevorzugte die politische Führung den mit der Besatzungsordnung einhergehenden, konflikthaften Status quo.

Der Aufstand Ende 1987 wurde entfacht durch einen Verkehrsunfall in Gaza, bei dem vier palästinensische Arbeiter ums Leben kamen. In Gaza hielt man den Unfall wegen des beteiligten israelischen LKW für einen gezielten Anschlag. Der Aufruhr verbreitete sich wie ein Lauffeuer bis ins Westjordanland und nach Jerusalem. Sehr bald wurde der Widerstand durch lokale Kommissionen übernommen und organisiert. Mit dem Ziel, die Besatzungsmacht »abzuschütteln« (dies bedeutet der arabische Begriff »Intifada«) , wurden zunächst gewaltlose Proteste in Form von Generalstreiks in Handel und Steuerwesen organisiert, später wurden auch Hauptstraßen durch Barrikaden versperrt und Soldaten mit Steinen angegriffen.

Militär und Politik zeigten sich hiervon sehr überrascht, nicht zuletzt aufgrund ihres Selbstverständnisses, um nicht zu sagen ihrer Arroganz, als Regionalmacht, die davon ausging, dass die Palästina-Frage längst in ihrem Sinne geklärt sei. Daher rechneten Israels Entscheidungsträger nicht mit dem Anhalten der Aufstände, ebenso wenig mit der kritischen Reaktion der internationalen Weltgemeinschaft auf die militärische Niederschlagung der Erhebung, bei der Verteidigungsminister Rabin eine wichtige Rolle spielte. Er hatte mit Stöcken bewaffnete Militäreinheiten in die Gebiete geschickt, um die Protestierenden buchstäblich zu brechen. Bilder von Soldaten, die brutal auf palästinensische Jugendliche einschlugen, gingen um die Welt und zeigten ein hässliches Gesicht der israelischen Okkupation.

Aber nicht nur das Image einer modernisierenden, »aufgeklärten Besatzung« war in diesen Jahren dahin. Das Militärregime im Westjordanland und in Gaza schien nicht mehr tragbar, jedenfalls nicht in seiner seit 1967 bestehenden Form. Im Zuge dieser Ersten Intifada wurde die israelische Gesellschaft, die schon durch den Libanon-Krieg immer stärker auseinanderdriftete, zunehmend polarisiert. Dabei handelte es sich um eine innerisraelische, sozusagen zionistische Debatte. Der linkszionistische Verteidigungsminister Rabin, selbst erstverantwortlich für die gewalttätige Unterdrückung des Aufstandes, erkannte allmählich den Schaden für Israel, da die Besatzungsordnung längerfristig auf ausdrücklich rassistische Verhältnisse hinauslief. Demgegenüber begründete der rechtszionistische Premierminister Yitzhak Shamir (1986−1992) seine strikte Weigerungshaltung gegen jegliche Verhandlungen damit, dass die »Araber« (gemeint sind die Palästinenser) sowieso das ganze Land und eben nicht nur die 1967 eroberten Gebiete beansprucht hätten, so dass es keinerlei Verhandlungsbasis gebe.13

Dieser Disput prägte seit den 1980er-Jahren den israelischen Diskurs. Beide Lager, Rechtszionisten wie Linkszionisten, verfolgten zwar in der Praxis und in der Ideologie ähnliche zionistische Ziele der Judaisierung des Landes, weshalb sie über Jahrzehnte auch gut kooperieren konnten, doch sie unterschieden sich in ihrer Rhetorik. Während der Rechtszionismus offen und klar zur Bedeutung der zionistischen Politik im ganzen Land stand, und zwar ungeachtet der Demografie und des Völkerrechts, befürchtete der Linkszionismus zunehmend die binationale Demografie im Lande sowie die sich daraus ergebende Besatzungsordnung als »Achillesferse« des zionistischen Staatsprojekts. Beide beeinträchtigten massiv die israelische Demokratie und Israels Ansehen in der Weltgemeinschaft, so dass man sie für längerfristig untragbar hielt.

Diesbezüglich wurde die Erste Intifada als Weckruf verstanden. Doch Israels reflexartige Reaktion auf den Aufstand der Zivilbevölkerung blieb zunächst im militärisch-operativen Denken verhaftet. Neben dem Einsatz von Stöcken als Waffe zur Unterdrückung der Intifada gründete das Militär auch eine neue Spezialeinheit: Die Mistaarvim, arabisch verkleidete Soldaten und Soldatinnen, sollten sich unter die Demonstranten mischen, um Anführer ausfindig zu machen und sie gezielt zu »neutralisieren«. Auf diese Weise sollten die Ziele der Intifada sabotiert werden.14 Eine weitere Maßnahme bestand darin, die Siedler zu bewaffnen, damit sich auch diese jüdisch-israelischen Zivilisten in den besetzten Gebieten am Kampf beteiligten konnten. Zwar erfolgte diese Maßnahme auf Druck des selbst ernannten Siedlerrats und traf auf Skepsis seitens des Militärs, doch sie führte wie erwartet zu einer weiteren Eskalation der Verhältnisse zwischen den ohnehin verfeindeten Bevölkerungsgruppen in den besetzten Gebieten.15

Der sechswöchige Golfkrieg im Winter 1991 trug noch mehr zur Verwirrung bei. Für die Israelis war es eine neue Erfahrung mit Krieg und Ohnmacht.16 Während Israel nicht in das Kampfgeschehen zwischen dem Irak und den US-Amerikanern und ihren Verbündeten eingreifen durfte, sodass die israelische Armee zur Zurückhaltung gezwungen war, stand das ganze Land Nacht für Nacht unter Schad-Raketen-Angriffen des irakischen Diktators. Es war ungewiss, welche Art von Waffen Saddam Hussen einsetzen würde, wobei auch der Einsatz chemischer oder biologischer Waffen zu befürchten war. Doch mit dem schnellen Sieg der westlichen Allianz, allemal mit der historischen Wende im Kalten Krieg, wurde eine neue weltpolitische Ordnung eingeläutet, in der sich auch Israel neu justieren musste.

In dieser neuen Weltordnung suchten US-Präsident George Bush und sein Außenminister James Baker auch sogleich, die historische Palästina-Frage anzugehen. Der Druck auf Israel wuchs zunehmend und die Regierung von Yitzhak Shamir wurde gezwungen, eine Delegation nach Madrid zu senden. Die Madrider Internationale Konferenz von 1991 war dazu konzipiert, alle Parteien des Nahostkonflikts an einen Tisch zu bringen, um ein Forum für bilaterale Verhandlungen zu schaffen. Die USA wollten Israel an einen politischen Prozess auf der Basis der UN-Sicherheitsresolutionen 242 und 338 binden. Hinsichtlich der Palästina-Frage hieß dies die Teilung des Landes und die Implementierung der Zweistaatenlösung auf der Basis der Grenzen vom 4. Juni 1967.

Ariel Sharon, der Minister für Handel und Industrie in der Regierung Shamir, führte die laute Opposition innerhalb der Partei, und das mit Erfolg. Der Premier sandte zwar eine israelische Delegation nach Madrid, erteilte ihr aber kein Mandat, mit der palästinensischen Delegation zu verhandeln. Die Madrider Gespräche mündeten schließlich in die Washington-Gespräche, welche ebenso ins Leere führten. Shamir spielte offensichtlich auf Zeit, um dem amerikanischen Druck standzuhalten. Doch während seine rechte Regierung an ihrer Verweigerungshaltung festhielt, geriet sie innenpolitisch immer stärker unter Druck und verlor nicht zuletzt aufgrund der bereits aufgenommenen Friedensgespräche die Macht. Allem Anschein nach zeichnete sich eine Wende in Jerusalem ab.

1991 öffnete sich die Arbeitspartei zunehmend für die Demokratisierung ihrer Institutionen, und es wurden erstmalig Vorwahlen abgehalten. Der langjährige Parteivorsitzende Shimon Peres (1977−1992) war abgewählt worden, sein langjähriger Rivale Yitzhak Rabin übernahm die Parteiführung und kurz darauf, im Juni 1992, gewann er die Parlamentswahl. Nach 15 Jahren bildete die Arbeitspartei erstmals eine Regierung ohne die Volkspartei Likud, mit der sie sechs Jahre gemeinsam regiert hatte (1984−1990).

Die nun linkszionistische Regierung setzte auf Friedenspolitik, sodass ein neuer Kurs in der Palästina-Frage möglich schien. Trotz seiner zweifelhaften Rolle in der Ersten Intifada wurde Rabin mit seinem Versprechen neuer nationaler Prioritäten, nämlich weg von der Investition jenseits des international anerkannten Staatsgebietes hin zum Kernland Israel, bald zum Hoffnungsträger des Friedenslagers.

Vor allem LinkszionistInnen wollten »die alte Welt« hinter sich lassen und sich in die neue Weltordnung integrieren. Die Globalisierung, Öffnung der Märkte und eine marktorientierte, neoliberale Gesellschaft schienen vielversprechend, daran wollten auch die israelischen Eliten teilhaben. Auch die starke jüdische Immigration aus der ehemaligen UdSSR von ca. einer Million Menschen sollte den Optimismus dieses Jahrzehnts – wohlgemerkt aus zionistischer Perspektive – abrunden.

Dabei erschienen Okkupation, Intifada, Palästina-Frage und Siedlerbewegung immer mehr wie lästige Hürden. Im linkszionistischen Friedenslager wollte man diese überwunden wissen und war daher bereit, sie nun endlich anzugehen. Hier drängt sich sogleich die Frage auf, warum ausgerechnet der Ex-General und Verteidigungsminister der Ersten Intifada für diesen Kurswechsel als geeignet galt. Genau hier kommt die Rolle der Person in der Geschichte zum Tragen, denn im Jahre 1992, in Israels aussichtsloser Lage und angesichts einer stagnierenden Politelite, schien Rabin im Vergleich zum hartnäckigen Verhandlungsverweigerer Shamir ausreichend flexibel. Es herrschte vielfach die Meinung, Rabin habe verstanden, dass sich die Zeiten verändert hätten. Er sei sich der großen Erwartungen seiner Wähler bewusst und würde schließlich bald liefern.17

In der Tat setzten Rabin und auch Peres die Friedensideologie18 bald geschickt ein und zeigten sich gesprächswillig. Die langjährigen Politrivalen, die in den 1990er-Jahren beide in ihrem achten Lebensjahrzehnt standen, strebten weiterhin nach politischer Macht. Zwar forcierte die junge Politikergeneration der Arbeitspartei einen Kurswechsel in der Friedenspolitik, doch sie scheute weitestgehend davor zurück, die alte Garde herauszufordern. Es mag dem israelischen Konformismus oder der politischen Kultur geschuldet sein, dass Rabin gerade seiner sicherheitspolitischen Aura wegen als charismatisch im Sinne Max Webers galt. Somit avancierte er zumHoffnungsträger für ein großes, sich nach Veränderung sehnendes Lager. Doch konnten diese sicherheitspolitisch orientierten Politiker, die die Arbeitspartei seit über zwei Jahrzehnten geführt und so die Geschicke des Landes durchaus mitgeprägt hatten, einen echten Wechsel in der israelischen Ordnung herbeiführen? In den Jahren 1992/93 sprach tatsächlich einiges dafür.

Zum Oslo-Friedensprozess und dessen Scheitern

Das Scheitern des einzigen politischen Prozesses für eine Friedenslösung der Jahre 1993−2000 bedarf eines genaueren Blicks auf die Dynamiken innerhalb der israelischen Gesellschaft. Der israelische Soziologe Uri Ben-Eliezer unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Lager, welche sich seit 1967 und insbesondere im Laufe der 1980er-Jahre herausgebildet hätten, nämlich die »Zivilgesellschaft« einerseits und die »militaristisch-religiöse Gesellschaft« andererseits. Während erstere als international orientiert galt und sich in die westlichen Demokratien und die Globalisierung einzugliedern suchte, richtete sich das militaristisch-religiöse Lager nach innen, indem es auf jüdischen Nationalismus, sprich auf »Rasse, Ethnie, Nation bzw. die Religion«, setzte.19

Bei dieser Unterscheidung zwischen einer offenen, säkularen Zivilgesellschaft und einer fundamentalistischen, militaristisch-national-religiösen Gesellschaftsgruppe wird jedoch nicht nur das spezifisch israelische Phänomen des Zivilmilitarismus (ein noch zu erörternder Schlüsselbegriff der Kriegspolitik u. a. in der Zweiten Intifada) übersehen, sondern auch die zionistische Staatsräson des Linkszionismus ausgeblendet, welche der israelisch-säkularen Gesellschaft zugrunde liegt. Tatsächlich eröffnete sich 1967 für nationalistische bzw. national-religiöse Strömungen innerhalb der israelischen Gesellschaft die Möglichkeit, das linkszionistische Staatsestablishment herauszufordern. Doch dies gelang ihnen nur deshalb, weil die Arbeitspartei seit 1967 nicht minder erpicht war, die eroberten Gebiete zu behalten und, was noch wichtiger ist, sie jüdisch zu besiedeln.

Ob nun auf der Halbinsel Sinai, im Gazastreifen, dem syrischen Golan oder dem Westjordanland – die Siedlungen wurden von der sicherheitspolitisch orientierten Regierung der Arbeitspartei auch als Sicherheitsvorposten verstanden, welche dem geografisch schmalen Land Verteidigungsgrenzen verliehen. So trug gerade die Arbeitspartei zu einem zivilmilitarisierten Verständnis des Siedlungsprojekts und schließlich zum ausgeprägten israelischen Gesellschaftscode des Sicherheitsmythos bei.20

Darüber hinaus sahen die religiösen Zionisten ebenso wie die säkularen Rechtszionisten »im Wunder vom Sechstagekrieg« ein Zeichen für die Verheißung des Landes. Eretz Israel wurde ab 1967 immer stärker Dreh- und Angelpunkt des zionistischen Staatsprojekts, sodass bald der Mythos von Großisrael zum Leitmotiv der Politik wurde.21 Gestärkt durch die 1974 gegründete, radikale Siedlerbewegung Gush-Emunim (Block der Gläubigen) strebten die Nationalreligiösen immer manifester danach, Israel in einen Halacha-Staat gemäß dem jüdischen Gesetz zu verwandeln.22

Betrachtet man die Kräfteverhältnisse zwischen Rechtszionisten und Linkszionisten in den Jahren 1993−2000, so muss man sich zunächst vor Augen führen, dass der Oslo-Friedensprozess von der Warte Israels aus in erster Linie eine Reaktion auf eine sicherheitspolitische Krise darstellte. Die Militärs erkannten nach dem fünfjährigen palästinensischen Aufstand ihre eigenen Grenzen und drängten die Politik zum Handeln. Tatsächlich befürchtete Rabin die Abnutzung der Armee in immer umfangreicheren polizeilichen Aufgaben der Besatzung und setzte 1992 auf einen innenpolitischen Kurswechsel. Dieser sollte, wie bereits erwähnt, weg vom großen nationalen Siedlungsprojekt jenseits der international anerkannten Staatsgrenzen hin zu mehr Investitionen innerhalb »Kleinisraels« führen.

Doch ohne eine jüdisch-zionistische Mehrheit konnte die neue Regierung in Jerusalem den Weg nach Oslo nur mit der Unterstützung der arabischen Parteien in der Knesset bahnen. In Norwegen liefen die Gespräche allerdings unter strenger Geheimhaltung, denn diesmal verhandelte Israel direkt mit Vertretern der PLO, was nach israelischem Gesetz seit 1985 verboten war. Das Gesetz musste also zuerst annulliert werden, um die Prinzipienerklärung (Oslo I) vom September 1993 überhaupt gültig zu machen. Darin erkannten sich die PLO und Israel zum ersten Mal gegenseitig an. Dafür musste die PLO auch ihr erklärtes Ziel, (ganz) Palästina zu befreien, von ihrer Charta streichen. Vom Oslo-Friedensprozess versprach sie sich einen palästinensischen Staat in den 1967 von Israel eroberten Gebieten im Westjordanland und Gaza.

Doch was genau erhoffte sich Israel von Oslo? Verfolgt man Israels Politik dieser Jahre, so lässt sich folgendes feststellen: Während das Militär und die Wirtschaft konkrete Ziele im Auge hatten, irrten Politik und Gesellschaft durch den Prozess und seine Folgen. Die Ereignisse zwischen September 1993 (Oslo I) und dem Mord am Premierminister Rabin im November 1995 zeugen von einem äußerst zähen, kaum durchsetzbaren Prozess. Israels erklärtes Ziel der Trennung beider Völker erwies sich als ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen. Denn ohne die konkrete Teilung des Landes, also unter Beibehaltung der Okkupation, war dies nur mit dramatischen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Palästinenser möglich.

Israel hatte bereits 1991 mit der Politik der Abriegelung experimentiert und verhängte diese ab 1993 im Zuge von Oslo immer häufiger. Die Grenzen zwischen dem Kernland und den besetzten Gebieten waren seitdem nicht ohne weiteres passierbar. Dies führte dazu, dass Israel die palästinensischen ArbeitnehmerInnen immer mehr aus der israelischen Wirtschaft verdrängte und stattdessen Gastarbeiter aus dem Ausland importierte, sodass Oslo für viele Palästinenser ökonomische Not bedeutete. Die sogenannte »Brot-Intifada« im Sommer 1994 war deren bekannter Ausdruck. Damals kam es zu massiven Unruhen am Gaza-Checkpoint Erez, als Palästinenser sich auf die Suche nach Arbeit in Israel machten.

In diesem Zusammenhang fragt der israelische Wirtschaftssoziologe Lev Grinberg, ob israelische Sozialhilfe als Übergangslösung für die akute palästinensische Wirtschaftskrise nicht der günstigere Weg zur Förderung des Friedensprozesses gewesen wäre. Doch seiner Einschätzung nach hatten Israels Eliten kaum Interesse an einer solchen Lösung; für das Militär sei die palästinensische Not ein effektives Druckmittel gegen Arafat gewesen, palästinensische Gewalt gegen Israel resolut zu bekämpfen, während die israelische Wirtschaft von der Abriegelungspolitik insofern profitierte, als sie den palästinensischen Markt in Abhängigkeit von Israel hielt. 1994 sei Israels Würgegriff in den Gebieten noch voll intakt gewesen.23