Der Sommer der Puppen - Monika Held - E-Book
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Der Sommer der Puppen E-Book

Monika Held

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Beschreibung

»In diesem Haus wohnen alte Geschichten.« 

Frankfurt, 1984: Pias Mutter liegt im Krankenhaus. Sie soll sich um die Pension an der Nordsee kümmern, doch zu schwierig ist das Verhältnis zur Mutter, geprägt von jahrelangem Schweigen. Schließlich fährt Pia doch und trifft auf eine Schar Sommergäste – und eine rätselhafte Sammlung kaputter Puppen. Was hat es mit dem Tick der Mutter auf sich, alles Versehrte bei sich aufzunehmen? Und wer war ihre Mutter, bevor sie zu dieser unnahbaren Frau wurde? Warum verschweigt sie der Tochter ihr Leben? Hätte Pia fragen müssen? Aber wonach fragen, wenn nicht gesprochen wird? 

Eine feinsinnig erzählte Geschichte über den außergewöhnlichen Lebensweg einer Frau in den Zeiten des Wirtschaftswunders und über eine ungewöhnliche Mutter-Tochter-Beziehung.

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Seitenzahl: 219

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Über das Buch

Ein nächtlicher Anruf reißt Pia aus dem gewohnten Leben: Ihre Mutter hatte einen Schlaganfall, und Pia soll sie in der Pension an der Nordsee vertreten. Sie zögert. Zu schwierig ist das Verhältnis zur Mutter, deren verschlossene Art ihr rätselhaft ist. Schließlich fährt sie doch. In der Pension erwarten sie Sommergäste, die Pias Mutter besser kennen als sie selbst. Es ist an der Zeit, Fragen zu stellen: Warum gibt es in allen Zimmern beschädigte Puppen? Wer ist die Frau auf der Zeichnung, die Pia im Sekretär der Mutter findet – und wer ist dieser Herr Bittermann, der seine Sommer im Keller der Pension verbringt und dem Pia eine weiße Lilie ans Bett stellen soll?

Über Monika Held

Monika Held wuchs in Hamburg und Cuxhaven auf. Sie ist Journalistin und Autorin und hat für verschiedene Rundfunkanstalten und Zeitschriften gearbeitet. Ihre Reportagen wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sie schreibt Romane und lebt in Hamburg und Nordfriesland.

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Monika Held

Der Sommer der Puppen

Roman

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Inhaltsverzeichnis

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Steh nicht auf! Stopf dir Watte in die Ohren! Schlaf weiter!

Was ist schlimm an einem Anruf in der Nacht?

Da ruft der Teufel an, mein Kind, das kannst du mir glauben.

Sie muss es wissen. Am späten Abend wurde meiner Mutter der Unfalltod ihres Mannes mitgeteilt. Als sich ihr Bruder Hans das Leben genommen hatte, rief man sie morgens um vier an, und irgendwann, ohne Vorwarnung, sagte eine junge Stimme fünfzehn Minuten nach Mitternacht: Ich heiße Katja König. Ihr Mann ist mein Vater.

Was tun, wenn das Klingeln den Traum zerreißt? Wenn es gar nicht der Teufel ist, der mit dir sprechen will?

Ich stehe auf. Es ist meine Mutter, die mit merkwürdig verzerrter Stimme sagt: Bin im Krankenhaus. Sie vermeidet lange Sätze: Flurteppich, sagt sie, ausgerutscht. Liegen geblieben. Schwarzes Loch. Ihre Aussprache ist verschwommen, als wäre sie betrunken. Was ich allmählich verstehe: Die Schwestern Gewiese, die Gäste aus Zimmer 2, Haus 1, hatten sie beim Heimkommen gefunden und den Notarzt gerufen. Diagnose: Schlaganfall. Kleiner Schlaganfall, nicht so schlimm.

Dann ist es still in der Leitung.

Mama, wie geht es dir?

Alles gut, nuschelt sie. Ist, wie es ist. Aus dem Alltag geflogen, nicht aus dem Leben.

Eine Feststellung, keine Klage. So ist sie, meine Mutter. Sie lebt, und der Rest lässt sich regeln.

Und weiter?

Eine Pension ohne Wirtin ist wie ein Schiff ohne Kapitän.

Ja, Mama, ich weiß.

Ich frage nach Judy, meiner Schwester, die es näher zu ihr hat. Zwei Stunden statt sechs.

Judy hat Urlaub.

Super. Passt doch.

Passt nicht. Meine Schwester Judy sitzt auf gepackten Koffern, der Flug ist gebucht – ich könne doch nicht wollen, dass sie ihren wohlverdienten, wertvollen …?

Doch. Genau das will ich.

Sie holt tief Luft. Schweigt. Ist das das Ende ihrer Geduld oder der Anfang einer Panik? Gleich wird sie sagen: Judy kann das nicht!

Ich weiß, dass sich meine Schwester vor Menschen fürchtet. Und ich? Darf ich mich nicht vor einer vollgestopften Pension fürchten?

Mama, bist du noch da?

Judy kann das nicht!

Mama, ehrlich: Wie viele Gäste?

Hochsaison. Ausgebucht.

Ich sehe auf die Uhr. Halb sechs. Meine Mutter hatte sich noch vor dem Ende der Nachtschicht ein Telefon ans Bett organisiert.

Ich rechne: fünf Einzelzimmer, drei Doppelzimmer, zwei Ferienwohnungen, eine umgebaute Garage mit Doppelbett. Der Gast für das Zimmer im Keller kommt in zwei Tagen, in der Stube unter dem Dach wohnt ein junges Paar. Ich rechne. Das sind zwanzig Erwachsene und ein paar Kinder. Der Trost: Gäste in Ferienwohnungen machen nur Arbeit, wenn sie aus- oder einziehen.

Es wird still zwischen uns. Unmöglich – ich kann hier nicht weg. Ich recherchiere für ein Drehbuch. Ich habe einen Abgabetermin für das Exposé. »DieEdith« ist die Geschichte einer Frau, die in weißen Gewändern durch die Stadt geistert und abends verschwindet, niemand weiß wohin. Eine gepflegte Dame, keine Bettlerin, aber eine Streunerin, die Flaschen sammelt, als handle es sich um Schätze. Was wird aus dem Projekt, wenn ich jetzt aus der Stadt verschwinde? Ich habe Termine, bin mit Menschen verabredet, die darüber entscheiden, ob aus einem Exposé eine Komödie oder Tragödie werden soll oder überhaupt ein Film. Ich kann nicht weg – und ich will es auch nicht. Ich habe hier Freunde, ich lebe in einem Stadtteil, in dem jeder jeden kennt. Hier ist mein Kiez mit Bäcker, Metzger, Kino und Café.

Vielleicht können Nachbarn einspr…? Keine gute Idee. Alle Familien haben im Sommer das Haus voller Kurgäste. Ich könnte das Arbeitsamt anrufen und – was fragen? Haben Sie einen Mutterersatz?

Als habe sie mir beim Nachdenken zugehört, nuschelt meine Mutter: Ich dulde keine Fremden in meinem Haus.

Aber Mama …

Wozu das Geld, das man einnimmt, für Personal ausgeben!

Ich sehe sie vor mir. Die Decke zurückgeworfen, als wolle sie aus dem Bett springen. Sie trägt das von zwei Frauen schnell in eine Tasche gestopfte Seidennachthemd. Sie braucht Unterwäsche. Sie braucht Schuhe, Waschlappen, Seife, eine Dose Nivea, Zahnbürste, Zahnpasta, Bücher. Kamm, Bürste, Haarshampoo. Sie braucht einen Morgenrock und Hausschuhe. Sie ist eitel. Sie braucht eine Pinzette für nachwachsende Kinnhaare, den blassen Lippenstift und das helle Puder. Man muss ihr einen Koffer packen, einen richtigen Krankenhauskoffer. Ich sollte jetzt schnell und energisch Nein sagen – aber meine Mutter würde verrückt bei der Vorstellung, dass fremde Menschen durch ihre führungslose Pension geistern und in ihren Schränken wühlen. Ein Schiff ohne Kapitän ist dem Untergang geweiht, das weiß jeder, der am Wasser lebt.

Ich höre ihren Atem. Er ist leicht und flach. Sie hat Angst. Sie wartet. Sie hält die Luft an. Wenn sie wenigstens sagen würde: Bitte, Pia, hilf mir doch. Ich sehe ihr Gesicht. Wenn sie Angst hat, werden ihre Augen hell und klein, und zwischen den Augenbrauen steht eine steile Falte, und ihre Lippen, weil sie die bei Stress nach innen zieht, werden schmal wie ein Bindfaden. In all den Jahren als Pensionswirtin ist sie noch nie ausgefallen. Nie. Keine Erkältung, kein Unfall, immer gesund.

Meine Mutter hasst Bitten und Betteln. Lieber schweigt sie das Kind an, das sie für das stabilste hält. Und das freundlichste. Pia ist lieb. Pia hat ein gutes Herz. Pia kann man ausnutzen. Pia gibt ihr letztes Hemd, wenn es sein muss. Pia bin ich. Und vor allem bin ich das Kind, das keinen Urlaub nehmen muss, weil es ja immer Urlaub hat. Die scheue Judy ist die rechte Hand eines Patentanwalts mit blitzblankem Messingschild an der Kanzleitür. Meine Schwester hat sich in einem edlen Büro ein Nest gebaut, beschützt von Zahlen, Paragrafen, Gesetzen, Ordnern und Aktenschränken. Judy, unser Reh.

Meine Schwester hat ihren Namen dem »Zauberer von Oz« zu verdanken, einem Film, den meine Mutter als junge Frau so oft gesehen hat, dass sie die Dialoge bis heute auswendig kann. Judy Garland spielte das Mädchen Dorothy. Lange, dunkle Zöpfe, große Augen, sehnsüchtig zum Himmel gerichtet, singt sie mit heller Stimme: Somewhere over the rainbow. Birds fly over the rainbow, why them, oh, why can’t I?

Aus meiner Schwester ist keine Judy Garland geworden. Zu scheu, zu ängstlich, dünne, helle Haare. Kein Mädchen, das mit einem treuen Hund, einer Vogelscheuche, die gerne klug wäre, einem Blechmann ohne Herz und einem feigen Löwen gegen das Böse der Welt antritt. Meine Schwester als Pensionswirtin – sie würde sich in der Küche verstecken oder zwischen der Bügelwäsche im Keller: Ich kann nicht. Ich mag nicht. Ich fürchte mich. So baut man sich aus kleinen Sätzen einen sicheren Raum.

Also ich. Oder?

Ich schreibe Drehbücher, was man, da hat meine Mutter recht, immer und überall tun kann. Im Zug, im Café, auf der Parkbank – auch in einem Pensionsbetrieb, in dem meine Mutter in den Sommermonaten zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang einer aufgezogenen Maus gleicht? Speedy Gonzales. Und heute wieder frech und froh: die schnellste Maus von Mexiko.

Mama?

Ich hasse Schweigen, aber ich kann es auch. Länger als sie.

Du kannst doch, sagt sie endlich mit der neuen, fremden Stimme, du kannst doch abends, wenn die Gäste auf ihren Zimmern sind … Du musst ja nicht fernsehen. Lange Abende auf der Terrasse sind etwas sehr Geruhsames. Da könnte ich mir, sagt sie, und ich höre wieder die Angst in ihrer Stimme, hübsche Geschichten ausdenken. Manchmal wolle jemand ein Bier oder eine Flasche Wein oder ein bisschen plaudern – das störe ja nicht – oder?

Nein, Mama, das stört nicht. Gar nicht. Sie hat recht: Zwischen Mitternacht und Morgengrauen ruft manchmal doch der Teufel an.

Ich stopfe den halben Inhalt meines Kleiderschranks ins Auto, packe alles, was ich zum Schreiben brauche, in einen großen Koffer, sage Termine ab, rufe Freunde an, sage auf Anrufbeantworter eine Telefonnummer – null, vier, sieben und so weiter –, eine Nummer, die auf Anhieb verrät, dass sie zum Norden gehört. Ich verkneife mir, meine Schwester aus dem Schlaf zu reißen, und fahre in das Dorf am Meer, an dessen Rand meine Eltern vor langer Zeit nur ein bescheidenes Haus bauen wollten für Vater, Mutter und zwei Kinder – woraus sich, nicht geplant, doch wie organisch, die Pension »Ebbe und Flut« entwickelte.

Sechs Stunden im Auto sind Zeit genug, um abwechselnd vorwärts und rückwärts zu denken. Vor mir die öde Autobahn und ganz am Ende: die Pension. Ich lese die Schilder: Kassel, Hannover, Göttingen, Bremen, Bremerhaven. Ich höre Radio. Nachrichten und Musik. Musik und Nachrichten. In Äthiopien rechnet man in diesem Jahr mit zwanzigtausend unterernährten Kindern. Der Wetterbericht kündigt Regen und Hagel an, Überschwemmungen im Süden, im Norden klagen Urlauber über starken Wind, der Tourismus fürchtet leere Strandkörbe. Kein Grund zu frohlocken. Leider. Die Pension meiner Mutter ist auch voll, wenn es schneit. Es folgt der Hit des Jahres 1984. Udo Jürgens: »Die Sonne und du.« Ich singe mit, laut und falsch und mit Wut. Das war ein super Sommer … und wenn mich heute einer fragt: Wie definierst du Glück? Dann brauch ich gar nicht lang zu überlegen: Die Sonne und du, du, du gehör’n dazu.

Ich fahre an Wiesen und Feldern vorbei, die den Wiesen und Feldern in meiner Heimat glichen, bevor man sie in kleine Parzellen zerstückelt hat und eine Zukunft für junge Paare schuf mit dem Traum vom Wohnen im eigenen Haus, vom Aufstieg des Mieters mit Bausparvertrag zum hoch verschuldeten Eigentürmer. Die letzte Parzelle am Ende des Feldweges gehörte uns. Tausendzweihundert Quadratmeter. Noch nicht exakt vermessen, aber es gab schon einen Architekten, der das Traumhaus zeichnete. Voll unterkellert mit Heizungsraum, Waschküche, Werkstatt, Bügelzimmer und Kellerfenstern für halbes Tageslicht. Im Erdgeschoss das Wohnzimmer: vierzig Quadratmeter. Große Fenster. Zwei Terrassen. Eine kleine Küche mit einer Durchreiche zum schmalen Esszimmer. Im ersten Stock: zwei Kinderzimmer, ein Elternschlafzimmer mit Balkon und im Treppenhaus eine ausziehbare Holzleiter zum Dachboden.

Und wir Kinder? Durften auch unser Traumhaus entwerfen. Judy war zwölf und malte ein Schloss, das im Wald stand, und einen Turm mit einem kleinen Fenster, aus dem eine Frau mit langen, blonden Haaren winkte. Ich wünschte mir einen flachen, weißen Bungalow. In den Innenhof malte ich einen knorrigen Feigenbaum und um ihn herum eine runde Bank.

Der Feldweg zum neuen Baugebiet wurde zur Pilgerstrecke junger Familien. Am Anfang standen alle vor einem Acker. Später starrten wir in Gruben, die mir wie große Gräber vorkamen, dann auf graue Fundamente. Die ersten Mauern deuteten die Kellerräume an, neue Wörter zogen in unsere Sprache und Gedanken ein. Estrich. Dachstuhl. Bauherr. Massivbauweise. Fertigbauweise. Spitzdach. Walmdach. Strangdach. Biberschwanzziegel. Hohlpfannendachziegel. Krempziegel und Doppelmuldenpfalzziegel. Flachdachziegel in Rot oder Braun, Blau, Schwarz oder Grün. Oder Grau. Richtfest: Stein und Mörtel bauen ein Haus, Geist und Liebe schmücken es aus. Judys Schloss und meine spanische Villa blieben Entwürfe. Als die Häuser fertig waren, sahen alle gleich aus. Kleiner Vorgarten. Gelbe Klinker oder rote Klinker, unser Haus war weiß. Ein weißes Ytong Bausatzhaus.

Wir waren die Ersten, die einzogen, und die Letzten am Ende des Weges, der noch keinen Namen hatte. Wir nannten ihn Matschweg. Matschweg Nummer 53. Hinter dem Haus Kühe und Schafe. Dann kamen immer mehr Möbelwagen und immer mehr Nachbarn, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Nachts schliefen mein Vater und ich in dem kalten Rohbau, um das Werkzeug vor Dieben zu schützen.

Wenn alle anpacken, sagte mein Vater, dann sparen wir Geld. Er stellte sich an den Betonmischer, kaufte meiner Mutter Arbeitshandschuhe und Arbeitskittel und ließ sie Steine schleppen. Ich lernte für die Schule wie nie zuvor, saß wie festgenagelt am Schreibtisch und musste trotzdem helfen. Ich sah das Haus wachsen, es wuchs viel zu schnell. Hier würden lauter junge Paare mit kleinen Kindern einziehen. Ich wollte hier nicht wohnen. Meine Freundinnen lebten in der Stadt. Ich würde mit dem Bus zur Schule fahren müssen oder auf dem Fahrrad gegen den Wind strampeln – aber meine Eltern waren glücklich, und Kinder wurden nicht gefragt. Der Traum von einer Familie im Eigenheim durfte endlich gelebt werden. Mein Vater würde mit zehn Musterkoffern voller edler Marken-Herrenschuhe zwischen Flensburg und Frankfurt Schuhgeschäfte besuchen. Ein selbstständiger, gut verdienender Handelsvertreter, der die Erlaubnis hatte, seine Ware mit einer Waffe zu schützen, die Walther PPK heißt. Da er nie überfallen wurde, schossen wir die Patronen Silvester in dicke Bäume. Ein perfekter Lebensentwurf. Nach dem Überleben in einer brennenden Stadt und mageren Nachkriegsjahren: Glück und Wohlstand. Meine Mutter würde die Kinder hüten, einkaufen, kochen, auf pünktliche Mahlzeiten bestehen, das Haus sauber halten. Wir würden zur Schule gehen, danach in der Stadt eine Lehre machen oder irgendwo studieren. Im Urlaub die Eltern besuchen, Freunde mitbringen, in den verwaisten Kinderzimmern übernachten und irgendwann eigene Kinder mitbringen. Beim Richtfest rief der Bauleiter: Liebe und Glück, so will mir scheinen, soll der Mörtel sein zu euren Ziegelsteinen.

Der Traum vom Glück platzte am 25. Juni 1967. Da war ich dreiundzwanzig Jahre alt. Meine Schwester war neunzehn und meine Mutter vierundvierzig.

Gehen Sie über den Hof, sagt der Pförtner, am Ententeich vorbei, Haus 2A, im zweiten Stock liegen die Schlaganfälle. Der Name? Er sah nach: Zimmer 8.

Das Krankenhaus steht außerhalb der Kreisstadt in einem Park mit alten Bäumen. Kleine Fenster zwischen roten Backsteinen, eine Mischung aus Knast, Kaserne und Psychiatrie. Kein anheimelnder Bau. Aber innen ist alles frisch und freundlich und weiß gestrichen. Auf den Fluren liegt hellgraues Linoleum mit weißen Punkten, wie frisch gefallene Schneeflocken. Ich gehe gerne über die langen Flure, lese die Schilder an den Türen, stelle mir zu den Namen Menschen vor, die betreut werden, in ihren Betten liegen oder sitzen, mit Schläuchen, aus denen Flüssigkeit in die Venen tropft, die Schmerzen lindert, Entzündungen heilt, Hunger stillt oder Durst löscht. Windpocken, Blinddarm, Tuberkulose – ich habe oft und lange in Krankenhäusern gelegen. Ich liebe den Geruch in den Gängen. Vielleicht eine alte Erfahrung: Wo es nach Desinfektionsmittel und Scheuerpulver riecht, ist es sauber, und wo es sauber ist, wird alles wieder gut.

Über die Flure schlurfen Menschen in Bademänteln und Pantoffeln. Alle, so sieht es aus, auf dem Wege der Genesung. Schwestern, Pfleger und Ärzte gehen eilig an mir vorüber, verschwinden in den Krankenzimmern, die Gesichter ernst und konzentriert. Ihre weißen Kittel versprechen Wissen und Kompetenz. Ich hätte Medizin studieren sollen, statt zu lernen, wie man Bücher bestellt, auspackt, in die Regale stellt und verkauft. Obwohl: Ich habe schon vor der Ausbildung begonnen, wie besessen zu lesen. Ich war süchtig nach Büchern. Dazu kam, dass dem Vater meiner Freundin das »Gloria« gehörte, ein Kino mit Plüschsesseln. Weich und weinrot. Schon als Kinder gingen wir in jeden Film, der dort lief. Krimi, Western, Liebesschnulze – egal. Hauptsache Kino. Wir bezahlten nichts, bekamen Eis spendiert, und Gilas Vater war es egal, ob wir Horror, Mord und Totschlag verkrafteten. Irgendwann, wie von selbst, wuchsen beide Leidenschaften zusammen, und ich interessierte mich für Bücher, aus denen Filme wurden. Ich war zehn, als ich »Das doppelte Lottchen« las. In die Verfilmung gingen wir mit sechzehn. Nicht aus Neugier auf einen zehn Jahre alten Kinderfilm, sondern weil wir Wiederholungs- und Allesgucker waren. Manchmal gingen wir so oft in denselben Film, bis wir die Dialoge auswendig konnten.

Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich wusste, was ich werden wollte. Im »Gloria« ging das Licht aus. Der schwere Samtvorgang teilte sich, ein tiefer Gong ertönte, und als wir den langen Vorspann überstanden hatten, erschien auf der Leinwand ein Mann mit schwarzer Brille. Er schaute eine Weile in ein Buch, hob den Kopf, nahm die Brille ab und sagte mit sonorer Stimme:

Die Geschichte, um die es sich handelt, beginnt im Gebirge. In Seebühl. Kennen Sie eigentlich Seebühl? Am Bühler See?

Er sah mir direkt in die Augen. Er meinte mich. Ich schüttelte den Kopf.

Nein? Nicht?

Wieder hatte ich das Bedürfnis, ihm zu antworten. Er sagte:

Sonderbar, höchst sonderbar. Keiner, den man fragt, kennt Seebühl!

Der Schwarz-Weiß-Film war altmodisch und ziemlich kitschig, dennoch packten mich die Worte Erich Kästners, der als Erzähler durch die Handlung führte: Es ist Nacht, alle Kinder schlafen. Es war die Stimme, die für die Atmosphäre im Film sorgte, die Melodie. Sie versprach ein Geheimnis. Der Erzähler beschrieb das Ferienheim für kleine Mädchen, den Trubel am Tag, die Stille der Nacht: Freilich abends, da setzt sich zuweilen der graue Zwerg Heimweh an die Betten im Schlafsaal, zieht sein graues Rechenheft und den grauen Bleistift aus der Tasche und zählt ernsten Gesichts die Kindertränen ringsum zusammen, die geweinten und die ungeweinten.

Nach neunzig Minuten im dunklen Saal verließen wir das Kino mit einem Satz, der in unserer Freundschaft nun für alles im Leben stand, was wir nicht verstanden: Sonderbar, höchst sonderbar. Keiner, den man fragt, kennt Seebühl. Und ich verließ das Kino mit einer Passion: Ich wollte hinter den Bildern die Machart erkennen, das Handwerk der Bücher und der Filme. Herausfinden, was das Buch vom Film unterscheidet und den Film vom Buch.

Die schönsten Sätze meines Studiums habe ich mir über den Schreibtisch gehängt: Das Drehbuch ist die Partitur des Films. Ich wollte Partituren schreiben. Und: Die besten Filme verdanken wir den besten Drehbüchern. Ich wollte beste Drehbücher schreiben.

Ich habe eine Drehbuchidee und einen Arbeitsplan. Irgendwann ist auch im turbulentesten Pensionsbetrieb Feierabend. Und wenn dann ein Kurgast nach einem Bier und ein anderer nach einer Flasche Wein fragt und ein dritter von seinem schönen Tag am Meer erzählen möchte? Dann stört mich das gar nicht, Mama.

Ich öffne leise die Tür zum Zimmer 8. Ihr Bett steht am Fenster, sie teilt das Zimmer mit zwei Frauen, die mich so herzlich anlächeln, als hätte ich den Pensionsbetrieb bereits gerettet. Meine Mutter versucht ein Lächeln, was ihrem Gesicht mit dem leicht schräg hängenden Mund etwas Verächtliches gibt.

Mama, was machst du für Sachen!

Sie sieht elend aus. Bleich, mit tiefen Ringen unter den Augen. Sie hebt die Hände. Kein Mitleid! Jetzt bloß kein Mitleid! Meine Mutter ist zweiundsechzig Jahre alt. In den Sommermonaten, wenn das Geschäft gut läuft, wenn sie braun gebrannt ist und in Bewegung, schmal und zäh, sieht sie aus, als wäre sie noch nicht einmal fünfzig. Sie hat kurze, braune Haare, die ihrem Gesicht, jetzt, da die Haare vom Kopf abstehen, einen aufsässigen Ausdruck verleihen.

Die Schwestern Gewiese hatten in ihrem Schrecken nur schnell den Notarzt gerufen, ein Nachthemd auf die Trage geworfen, die Handtasche meiner Mutter und ihren Bademantel. Ich verspreche, zu bringen, was sie braucht, noch heute, so schnell wie möglich.

Und bring die Elfi mit!

Natürlich bringe ich Elfi mit.

Ihre Hilflosigkeit und die Gewissheit, dass kein Trost sie beruhigt, ist schwer zu ertragen. Meine tüchtige, spröde Mutter kann weder um Hilfe bitten noch Danke sagen, aber sie hält meine Hände fest, streichelt sie vorsichtig und drückt sie dann kräftig, wütend über diesen verdammten Schwächeanfall.

Mama, ich bin da. Alles wird gut.

Sie schluckt und nickt. Ihre Durchhalteparole, mit der sie den Krieg überlebt hatte, hieß: Es ist, wie es ist – Augen auf und durch. Nun ist es wieder einmal, wie es ist, und sie erteilt mir langsam, mit verschwommener Stimme, die erste von vielen Lektionen in dieser Saison: Wer sein Geld mit Dienstleistung verdient, mein Kind, ist ein Dienender. Lerne Demut, übe sie, sie erspart dir Ärger, Frust und Müh.

Seit wann bist du demütig?

Sprich mit dem Arzt!

Mach ich.

Frag, wann ich rauskann!

Mach ich.

Sie weiß genau, wie sie aussieht. Der schiefe Mund ärgert sie, die hilflos gewordene Sprache macht sie wütend, aber wer soll mich in den laufenden Betrieb einführen, wenn nicht sie, und zwar jetzt? Ihre linke Hand ist verkrampft, mit der intakten rechten hat sie auf ein paar Zettel die Namen der Gäste geschrieben, die sich in der Pension aufhalten.

Haus 1, Zimmer 1: das Ehepaar Petersen

Haus 1, Zimmer 2: die Schwestern Gewiese.

Haus 1, Zimmer 3: Vater Horst, Sohn Lars.

Haus 1: In den umgebauten Kellerraum wird in zwei Wochen ein Herr Bittermann einziehen.

Im Haus 2 wohnen … Ich lese Namen und Zimmernummern, die ich sofort wieder vergesse. Sie hat notiert, wer wie lange bleibt, wer die Ferienwohnungen gemietet hat, wie die frisch Vermählten heißen, die auf dem Dachboden wohnen.

In der Garage wohnt ein Pärchen: schwul, aber nett.

Wieso aber?

Die Liste mit den Zimmerpreisen und das Bargeld sind im Sekretär. In der Schublade mit dem Nummernschloss. Ich erinnere keine Schublade mit einem Nummernschloss, aber ich werde sie finden.

Mit dem Stationsarzt kann ich erst am Abend sprechen. Da habe ich ihr schon alles, was sie braucht, in den Schrank gehängt, die Kosmetik verstaut, ein Stück Lavendel-Seife ans Waschbecken gelegt, eine neue Haarbürste gekauft, den leichten seidenen Schlafanzug mitgebracht.

Und Elfi, die älteste und liebste aus ihrer Puppensammlung. Dreißig Zentimeter groß. Kopf, Arme und Beine aus Porzellan, der Körper aus Stoff, weich und samtig. Sie trägt eine rot-weiß gestreifte Spielhose und ein buntes Blüschen mit weißem Kragen. Elfi ist nicht blond und nicht braun, bei Licht schimmern ihre Haare wie Kupfer. Der Pony ist fransig, ihre Haare bedecken knapp die Ohren, stehen vom Kopf ab, wie schlecht geschnitten. Sie scheint mit ihren wimpernlosen graublauen Augen weit vor sich etwas zu sehen, was sie überrascht oder amüsiert. Aus dem linken Mundwinkel lugt ihre Zungenspitze. Auf der Nase sitzt eine hellbraune Sommersprosse. Elfi ist keine Schönheit. Sie schielt. Manchmal wirkt sie wie ein Schelm, dann völlig entrückt, fast debil und immer ein bisschen ramponiert. Im Bücherregal sitzt Elfi zwischen Michael Ende und Hans Fallada. Ich habe die Puppen meiner Mutter nie gezählt. Es können achtzig sein, aber auch hundert.

Am Abend sitze ich lange auf der Terrasse. Die Luft ist warm, aus einem Einzelzimmer in Haus 2 kommt Musik. Ich bin zu müde, um schlafen zu können. Die lange Fahrt, die Einkäufe, die Besuche im Krankenhaus, die Gäste meiner Mutter, die mich rührend in ihrer Mitte aufgenommen haben. Nicht ich empfing sie, sie empfingen mich.

Willkommen in der Puppenpension!

Sie versprachen Hilfe, wann und wo ich Hilfe brauche: in der Küche, im Garten oder beim Einkaufen. Sie sagten, ich sähe blass aus, sie redeten alle durcheinander: Wir stehen Ihnen bei! Nur die Ruhe! So ein Schlag aus heiterem Himmel! So ein Unglück, mitten in der Saison! Sie lobten meine Mutter: so flink, so freundlich und so fleißig. Ich war von sechs oder sieben Frauen mit gepflegten Dauerwellen umringt. Braun gebrannt. Eine fröhliche Gesellschaft, alle rüstig und, nach flüchtiger Schätzung, zwischen sechzig und achtzig. Sie dachten nicht daran, ihren Urlaub in der verwaisten Pension abzubrechen. Ich und sie, sie und ich, wir würden den Laden schon schmeißen. Sie dufteten nach Meer und Sonnencreme. Ich war gerührt und gleichzeitig beschämt über meinen schnellen Blick auf ihre sandigen Sandalen. Ich war von einem halben Dutzend Schutzengeln umringt und fragte mich, wo der Staubsauger steht.

Sie nannten das Haus meiner Mutter »Puppenpension«, und ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sich über einen Spleen lustig machten – es war eher so ein Gefühl, als stünden diese fremden Frauen meiner Mutter näher als ich.

Wir Kinder sind mit ihren Puppen aufgewachsen wie mit Geschwistern. Oder wie mit Nachbarn, die man, weil sie immer da sind, nicht wahrnimmt und auch nicht mehr fragt, warum sie da sind und woher sie kommen, warum sie hinken oder schielen. Wir lachten über ihren Puppentick. Sie nahm es hin. Was wissen Kinder! Wo immer sie in einem Laden mit altem Krimskrams ein lädiertes Geschöpf entdeckte, eine Puppe mit einem trüben Auge, einem fehlenden Finger, einer Schramme im Gesicht, kaufte sie es, als müsse es aus der Einsamkeit erlöst und behütet werden. Auch wenn die Familie behauptete, es gäbe keinen Platz mehr, nirgendwo. Sie fand einen. Immer. Ihre Puppen saßen auf Sessel- und Sofalehnen, auf den Kopfkissen unserer Betten, sie standen auf den Fensterbänken. Jede freie Fläche wurde unter dem Gesichtspunkt geprüft, ob dort ein Platz für eine Puppe sein könnte. Eher landete ein Alpenveilchen in der Mülltonne, als dass es keinen Platz für ein weiteres kleines Monster gab. Kein Zimmer ohne Augen. Die meisten groß und blau. Augen aus Glas oder in die Höhlen gemalt mit Pinsel und Farbe. Sie sahen mich an, wenn ich das Zimmer betrat, und sie sahen mir nach, wenn ich ihnen den Rücken zudrehte. Ihr blödes Dauerlächeln war unerträglich. Nur wenige Puppen schmollten, die meisten guckten unschuldig wie kleine Mädchen in schönen Kleidern, die, könnten sie sprechen, den ganzen Tag lang »hab mich lieb« rufen würden oder »bin ich nicht süß«! Oder die, wenn man sie auf den Bauch drehte, ein wehleidiges »Ma-Ma« quäkten. Ich bin von meiner Mutter nur ein einziges Mal geschlagen worden. Da hatte ich im Geschichtsunterricht ein neues Wort gelernt, wollte damit angeben und hatte ihre lädierten Puppen »Ballastexistenzen« genannt. Die Ohrfeige war spontan und sehr hart.

Kein Zimmer ohne Puppen – so ist es bis heute. Wer in unserer Pension Ferien macht, muss die Puppen akzeptieren. Ich weiß nicht, welchen Narren meine Mutter an diesen Staubfängern gefressen hat, aber dieser Spleen scheint eine todernste Liebe zu sein.