Der Sprachsinn - Peter Lutzker - E-Book

Der Sprachsinn E-Book

Peter Lutzker

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Beschreibung

Es ist ein Wunder, dass wir sprechen, miteinander reden und uns gegenseitig verstehen können. Welche Faktoren, beginnend mit dem Spracherwerb beim Kind, dabei zusammenwirken, wurde und wird auf verschiedenen ­Wissenschaftsgebieten erforscht. Peter Lutzker untersucht die Sprachwahrnehmung als Sinnesvorgang. Seine umfassende, informative Studie macht mit einer Reihe von Forschungsergebnissen aus den ­Bereichen der Sinnesphysiologie, der Kinesik, der Neurolinguistik, der Psycholinguistik und Psychologie ­bekannt, die von anderer Seite Rudolf Steiners Entdeckung dokumentieren, dass es einen eigenen Sinn für Sprache gibt. Im Anhang wird auf dieser Grundlage ein neuer Ansatz für den Fremdsprachenunterricht entwickelt.

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Peter Lutzker

Der Sprachsinn

Sprachwahrnehmung als Sinnesvorgang

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe

Einleitung

1. Die Dynamik der Sinneswahrnehmung

Kapitelüberblick

Moderne Perspektiven der Sinnesphysiologie in ihrem historischen Zusammenhang

Sinnesphysiologie im 20. Jahrhundert

Die Dynamik der sinnlichen Wahrnehmung

Die physiologisch-neurale Grundlage der Wahrnehmung

Das Objektive der Wahrnehmung

Modelle der Verarbeitung von Sinneseindrücken (sensory processing)

Die Entwicklung der Sinne

Die Erweiterung der Sinne – Rudolf Steiners Sinneslehre

Die höheren Sinne

Vergleichbare Auffassungen von Sinneswahrnehmung

2. Sprache und Bewegung

Kapitelüberblick

Linguistisch-kinesisches Verhalten: Sprachbezogene Körperbewegungen als Selbst-Synchronie (self-synchrony)

Linguistisch-kinesisches Verhalten: Sprachbezogene Körperbewegungen als interaktionelle Synchronie (interactional synchrony)

Die Organisation des linguistisch-kinesischen Verhaltens

Verhaltensstörungen

Schlussfolgerungen

3. Die zerebrale Organisation von Sprache

Kapitelüberblick

Gehirn und Sprache

Aphasie

Die Asymmetrie des Gehirns

Die hierarchische Organisation des Gehirns

Hierarchische Organisation und Plastizität

Gegenwärtige Theorien über neurales Verarbeiten

Variabilität und Organisation

Schlussfolgerungen

4. Zeitliche Ebenen in Verhalten, Wahrnehmung und Intuition

Kapitelüberblick

Die Syntax der Bewegung

Die Grundlagen der Sensomotorik

Zeitliche Dimensionen von Sprache und Musik

Die zeitliche Verarbeitung von Sprache

Phonologische Verarbeitung

Semantische Verarbeitung

Wahrnehmung und Kommunikation

Zeitliche Denkvorgänge

Zeitliche Dynamik der Kreativität

Zeitliche Vorgänge bei Träumen

Gegenwärtige Perspektiven

5. Verschiedene Auffassungen vom Erwerb der Muttersprache

Kapitelüberblick

Theorien über den Erwerb der Muttersprache – ein geschichtlicher Überblick

Noam Chomsky und die Vertreter der Anlagetheorie (nativists)

Auffassung der Vertreter der Umwelttheorie (environmentalists)

Das Universelle und das Individuelle

Spezialisierung in einem interdisziplinären Kontext

Das Dualistische an der Linguistik

Der Verlust der Mitte

Die Notwendigkeit eines Mittelwegs

Neuere Versuche einer Synthese

6. Die Sprachgestalt

Kapitelüberblick

Sprache und Geste

Die Sprache der Gehörlosen

Die Kunst des Schweigens

Die Immaterialität von Sprache

7. Die biologischen Voraussetzungen für Sprache

Kapitelüberblick

Einleitung

Sprache und Körperhaltung

Aufrechte Haltung und Evolution

Aufrechte Haltung und Sprachproduktion

Hand und Sprache in der phylogenetischen Entwicklung

Hand und Sprache in der ontogenetischen Entwicklung

Sprachpotenziale

Physiologie und Syntax

Syntax und dem Menschen angeborene Strukturen

Rhythmus und Hierarchie in der Syntax

Sprachstörungen und rhythmisches Verhalten

Syntax und Bewusstsein

Semantik und Zirkulation

Gehirnstrukturen und sprachliche Fähigkeiten

Ein Gen für Sprache?

Auffassungen über das Nervensystem

Schlussfolgerungen

8. Sensorische Integration, zeitliche Organisation und sinnesübergreifende Wahrnehmung als angeborene Sprachgrundlage

Kapitelüberblick

Zeitliche Integration von Sprachphänomenen

Sinnesübergreifende Wahrnehmung als angeborene Grundlage für Sprachwahrnehmung

9. Das Kind als Sinnesorganismus

Kapitelüberblick

Einleitung

Die Hypothese des Sprachsinns als Synthese der Positionen von Anlage- und Umwelttheorie

Die pränatale Entwicklung der Sinne

Die Formbarkeit des Säuglings und des Kindes

Formbarkeit und Zeitpunkt des Auftretens bestimmter Merkmale in der körperlichen Entwicklung

Die kritische Periode für den Erwerb der Muttersprache

Die Sinneswelt des Säuglings

Der Tastsinn beim Säugling

Sprachwahrnehmung bei Neugeborenen

Sensorische Integration und Sprachsinn

Das «Bewusstsein» des Kindes

Bewusstsein und Teilnahme

Die Bedeutung des Nachahmens für das Kind

Nachahmung, Gestik, Sprache

Vom Universellen zum Spezifischen beim Plappern

Die Orientierung des Sprachsinns

Die Entstehung der Sprachorganisation

Die Wahrnehmung von Sprache und die Wahrnehmung von Denken

Sprache und Wille

Die Entwicklung eines verbalen Selbst

Sensorische Störungen

Der Tastsinn

Sprachstörungen

Verkümmerung der Sinne

Die Hypothese eines Sprachsinns im Zusammenhang mit Theorien über den Erwerb der Muttersprache

Anhang: Sinnesvorgänge und Fremdsprachenunterricht

Einleitung

Alternative Methoden im Fremdsprachenunterricht

Hermeneutik und Fremdsprachenunterricht

Hermeneutik und Lehrbücher

Hermeneutische Ziele

Sinnesentwicklung und Fremdsprachenunterricht

Die Tätigkeit des Sprachsinns in der Fremdsprache

Sensorische Physiologie und Lernen

Seelische und körperliche Haltung beim Unterrichten und Lernen

Gestik, Empathie und Lernen

Literatur und die Entwicklung der Sinne

Der Vorrang der ersten Begegnung

Beobachtung und Intuition

Mündliche Literaturinterpretation

Die Kunst der Lehrerausbildung

Die Sprache der Gesten im Unterricht

Die Geste als Organ des Denkens

Epilog

Danksagung

Literaturnachweise zum Vorwort der Neuausgabe

Anmerkungen

Auswahlbibliografie

Auswahl weiterführender Literatur ab 1996

Über den Autor

Fußnoten

Impressum

Vorwort zur Neuausgabe

Als dieses Buch 1996 in erster Auflage erschien, stellte es insofern ein Novum dar, als Rudolf Steiners Entwurf einer neuen Sinneslehre und darunter auch eines spezifischen Sprachsinns erstmalig im Lichte aktueller Forschung betrachtet wurde. Die Untersuchung der zugehörigen Phänomene von Sprache, Sprachwahrnehmung und Spracherwerb führte zu einem interdisziplinären Ansatz, der aktuelle Forschungsergebnisse der Sinnesphysiologie und Sinneswahrnehmung mit denjenigen der Sprachforschung verbindet, sodass zwei weitgehend unabhängige Forschungsbereiche in Relation zueinander gebracht wurden. Daher war der Bezugsrahmen trotz der Fokussierung auf einen Sinn sehr weit gefasst, was einen beträchtlichen Umfang zur Folge hatte.

Steiners Sinneslehre war bis dahin fast ausschließlich in anthroposophischen Büchern und Kreisen dargestellt und erörtert worden, in der Regel ohne Bezug zu neueren wissenschaftlichen Untersuchungen. Eine Ausnahme bildete die Publikation des Mediziners Hans-Jürgen Scheurle Die Gesamtsinnesorganisation: Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in der Sinneslehre (1984) im Thieme Verlag.* Scheurles Anliegen war es u.a., Steiners Sinneslehre insgesamt zu betrachten, und er beschränkte sich daher notwendigerweise eher auf das Allgemeine. Dagegen habe ich mich auf den Sprachsinn und die diesbezüglich relevanten neueren Forschungsergebnisse konzentriert, sowohl um seine mögliche Gültigkeit im Lichte der modernen Forschung untersuchen zu können, als auch um Brücken zu einer nicht-anthroposophischen Leserschaft zu schlagen und in einen fruchtbaren Dialog mit Sprachwissenschaftlern eintreten zu können.

Diese Richtung bestand damals durchaus schon. Hierzu gehörte z.B. die 1987 begonnene und immer noch bestehende Arbeit des Erziehungswissenschaftlichen Kolloquiums  in Stuttgart, das aus einem fortlaufenden Dialog zwischen Erziehungswissenschaftlern und anthroposophischen Pädagogen gemeinsame Publikationen herausgibt. Auch in der Medizin gab und gibt es solche Brückenschläge: So hat die Universität Witten-Herdecke für die Medizinerausbildung in Deutschland Meilensteine gesetzt. Insofern war dieses Buch 1996 einerseits etwas Neues, und andererseits konnte es an eine schon bestehende Tradition anschließen.

Heute, zwanzig Jahre später, hat sich dieser Dialog sowohl in der Pädagogik als auch in der Medizin und in den Naturwissenschaften deutlich erweitert und vertieft, wie ein Blick auf den Zuwachs entsprechender Publikationen verrät. In diesem Kontext wären beispielhaft zu nennen: Peter Heussers Anthroposophische Medizin und Wissenschaft (2011; englische Ausgabe: Anthroposophy and Science 2016), Branko Fursts medizinische Studie The Heart and Circulation: An Integrative Model (2014) sowie eine Reihe von Publikationen aus dem oben genannten Erziehungswissenschaftlichen Kolloquium, zuletzt der von Peter Loebell und Ernst Schubert herausgegebene Band Menschlichkeit in Pädagogik und Erziehungswissenschaft (2012) und der von Loebell und Peter Buck herausgegebene Band Spiritualität in Lebensbereichen der Pädagogik (2015) – und last but not least das von Jost Schieren herausgegebene über tausendseitige Handbuch Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik (2016).

Seit 2012 vergibt die Universität Witten-Herdecke Forschungsstipendien zur weiteren Untersuchung von Steiners Sinneslehre. In diesem Rahmen hat sich Martin Peveling in seiner Dissertation (2016) der weiteren Erforschung des Sprachsinns gewidmet. Aufbauend auf meinem Buch, ist es Peveling auf vorbildliche Weise gelungen, die Gültigkeit von Steiners Hypothese erneut umfassend zu überprüfen. Pevelings Werk wiederum gab auch den entscheidenden Impuls, dieses inzwischen vergriffene Buch in einer zweiten, weitgehend unveränderten Auflage nochmals herauszugeben. Maßgeblich beigetragen hat zu dieser Entscheidung Pevelings Aussage, dass er meine damalige Hypothese über das Wesen und Wirken des Sprachsinns und ihre Bedeutung für den Spracherwerb im Lichte der aktuellen neurobiologischen Forschung für voll bestätigt erachtet (Peveling, S.225).

Bezüglich der aktuellen Forschungsergebnisse wird Pevelings Werk für die weitere Untersuchung der Hypothese eines Sprachsinns unentbehrlich sein; dies betrifft vor allem, aber nicht nur, seine Einbeziehung der Entdeckung von Spiegelneuronen, ein Aspekt, der zum Zeitpunkt der Entstehung meines Buches nicht bekannt war. – Eine Auswahl weiterführender Literatur ab 1996 zur Thematik der einzelnen Kapitel findet sich ab S.376.

Ein weiterer wesentlicher Grund für die Neuauflage dieses Buchs liegt darin, dass die beiden Arbeiten doch deutlich verschiedene Schwerpunkte haben. Peveling bleibt ausschließlich auf die Darstellung und Überprüfung der Hypothese des Sprachsinns hinsichtlich der relevanten neurobiologischen und linguistischen Erkenntnisse fokussiert. Die mögliche Bedeutung dieser Hypothese für weitere Disziplinen wie die Psycholinguistik und Fremdsprachendidaktik ist nicht Thema seiner Arbeit und bleibt dementsprechend unberücksichtigt. In meinem Buch gibt es nach einer Betrachtung von Steiners Sinneslehre in einem breiteren philosophischen Kontext und der umfassenden Betrachtung der Gültigkeit der Hypothese des Sprachsinns an sich zwei weitere Schwerpunkte: die mögliche Bedeutung dieser Hypothese erstens für offene Fragen beim kindlichen Erstspracherwerb und zweitens im Hinblick auf Untersuchungen zum Fremdsprachenlernen und deren konkrete Auswirkungen für die Fremdsprachenpädagogik.

Neben der durchgehend positiven Resonanz, die Der Sprachsinn damals in einer Vielzahl von anthroposophischen bzw. waldorfpädagogischen Zeitschriften erfuhr, hat diese Publikation auch eine gewisse Aufmerksamkeit im Rahmen allgemeinerer Betrachtungen zur Sprache erfahren und führte zu einigen weiteren Darstellungen dieses Ansatzes meinerseits, z.B. in der philosophischen Zeitschrift Der Blaue Reiter oder kürzlich in der Pädagogischen Rundschau in einer Ausgabe mit dem Schwerpunkt Sprache.

Am meisten Interesse und Nachhall haben die von mir dargestellten Ansätze in der Fremdsprachenpädagogik gefunden, die ich damals in einem ausführlichen Anhang entwickelte. In einer Reihe von internationalen Konferenzen und gemeinsamen Publikationen entstand seither ein Austausch mit renommierten Vertretern der sogenannten humanistischen Methoden des Fremdsprachenunterrichts, wie z.B. Alan Maley, Mario Rinvolucri, Brian Tomlinson, Rod Bolitho und Hans Hunfeld. Hinzu kamen u.a. durch die positive kritische Resonanz und die weite Verbreitung meines späteren Buches The Art of Foreign Language Teaching: Improvisation and Drama in Teacher Development and Language Learning (2007) weitere Verbindungen vor allem zu dramapädagogischen und performativen Ansätzen im Fremdsprachenunterricht, die zu weiteren Vorträgen, gemeinsamen Konferenzen und Publikationen führten. Diese umfassen ein breites Spektrum von der Entwicklung von Unterrichtsmaterial für den Fremdsprachenunterricht (in: Tomlinson, 2013) über neue kreative Ansätze im Unterricht (in: Maley, Peachy 2015) bis hin zu neuen Wegen in der Lehrerbildung (in: Even, Schewe 2016).

Dass diese Auffassung der Sprache und der Sinne im Fremdsprachenlernen als fruchtbar und weiterführend angesehen wird, hängt vor allem mit einem ähnlichen Verständnis von Sprachenlernen zusammen. Alle oben genannten Ansätze messen der affektiven und kinesischen Dimension des Fremdsprachenlernens eine wesentliche Bedeutung zu und gehen damit über eine rein kognitive Auffassung vom Fremdsprachenlernen und -lehren weit hinaus. Hieraus entsteht ein gemeinsames Interesse an künstlerisch-ästhetischen Ansätzen, das sich auch im Verständnis von Lehrerbildung widerspiegelt.

Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es jedoch auch wesentliche Unterschiede. In Bezug auf die Waldorffremdsprachenpädagogik hängen sie in erster Linie mit der zentralen Stellung des spirituellen Menschenbilds zusammen, das der Waldorfpädagogik zugrunde liegt. Hieraus sind sowohl die unmittelbaren anthroposophischen Quellen der Waldorfpädagogik als auch Steiners Auffassung der Sinneslehre zu verstehen. Auf der einen Seite kann die Ergründung und Erklärung dieser Quellen einen fruchtbaren Dialog mit anderen Pädagogen erschweren, insofern als die Frage nach dem dahinterstehenden Menschenbild innerhalb eines pädagogischen Diskurses unüblich ist. Andererseits kann gerade diese Andersartigkeit des Ansatzes zu einem wertvollen Austausch führen, wenn er fundiert, aus gegenseitigem Interesse und mit Takt geführt wird. Gerade durch den über Jahrzehnte geführten Dialog erscheinen mir die Voraussetzungen für eine weitere Vertiefung dieses Austauschs jetzt günstiger als je zuvor.

Einen weiteren Grund für das stetig wachsende Interesse an diesem Ansatz kann man in der Schulpraxis finden. Für die Vertreter eines humanistisch-künstlerischen Fremdsprachenunterrichts bietet die Waldorfpädagogik die einmalige Möglichkeit, solche umfassenden Ansätze in Schulen zu beobachten. Für die meisten Verfechter solcher Methoden, die vor allem in der Erwachsenenbildung tätig sind, bleibt die Möglichkeit des Ausprobierens ihrer Ansätze in Schulen durch curriculare Zwänge und Prüfungen sehr begrenzt beziehungsweise völlig unmöglich. Auch die häufig verlangte strikte Orientierung an einem standardisierten Lehrwerk verhindert immer wieder die Erprobung ganzheitlicher, künstlerischer Ansätze in der Schule. Dagegen zeigt der Waldorflehrplan für Fremdsprachen im Vergleich zu anderen Lehrplänen die Sonderstellung der Waldorffremdsprachenpädagogik sehr deutlich. In der Einleitung zum Fremdsprachenlehrplan für deutsche Waldorfschulen werden die methodischen Grundlagen des Fremdsprachenunterrichts dargelegt, in denen auch die grundlegend andere Auffassung von Sprache deutlich wird:

«Die Methodik des Fremdsprachenunterrichts orientiert sich grundsätzlich an der Art und Weise, wie Kinder ihre Muttersprache erwerben, obwohl dieser Prozess im Schulalter viel bewusster verläuft. Die Fremdsprache wird wie die Muttersprache in einem reichen sprachlichen Umfeld voller Aktion und Interaktion erworben, wobei die Aufmerksamkeit auf die gemeinsamen Interessen und Erfahrungen der jeweiligen Altersstufe gelenkt wird. Charakteristisch für den Erstspracherwerb ist auch, dass er immer in einem Kontext stattfindet und durch nicht-semantische Kommunikationsprozesse gestützt wird. Dazu gehören Gestik, Körpersprache, Mimik, Tonfall und die sog. kinesic interaction, sprachspezifische Bewegungen und körperliche Reaktionen, die sich – oft unmerklich – zwischen Sprecher und Hörer abspielen.

Diese Kommunikationsprozesse begleiten auch alles spätere Sprachenlernen im Schulalter» (in: Richter, 2016, S.171).

Dieser Ansatz, der im Lehrplan seine konkrete und altersgemäße Ausgestaltung erfährt, ist nicht zu trennen von der zugrunde liegenden Hypothese eines Sprachsinns. Betrachtet man Sprachwahrnehmung als sensorischen Vorgang, spielt die sensorische Entwicklung dabei eine wesentliche Rolle. In diesem Kontext beschreibt der Waldorfpädagoge Erhard Dahl das Fremdsprachenlernen nicht nur als einen Weg zur Erweiterung der Welt- und Selbsterkenntnis, sondern auch als die Weiterentwicklung spezifischer Sinnesfähigkeiten:

«Neben diesem Ziel, das man als ‹Erweiterung der Welt- und Selbsterkenntnis› bezeichnen könnte, eröffnet sich ein zweites Ziel, nämlich die ‹Verfeinerung des Wahrnehmungsvermögens›. Was für die Erkenntnis gilt, trifft auch auf das Wahrnehmungsvermögen des Menschen zu. Die durch die Muttersprache erlebten Empfindungen schaffen eine bestimmte, aber durchaus noch zu erweiternde Wahrnehmungsfähigkeit» (Dahl, 1999, S.15).

Indem das Fremdsprachenlernen im Zusammenhang mit einer «erweiterten Wahrnehmungsfähigkeit» betrachtet wird, verlangt es nach Methoden, bei denen die unmittelbare Erfahrung des «Andersseins» der Fremdsprache ein wesentliches Element des Lernprozesses darstellt. Dies bedeutet, eine ständige Offenheit gegenüber den fremden Klängen, Wörtern, Strukturen und Gedanken einer anderen Sprache zu pflegen. Es erfordert gleichzeitig auch eine Akzeptanz dieses Unbekannten und Fremden, die nicht der Versuchung erliegt, das «Andere» ständig zu übersetzen in die vertrauten Bedeutungen und Strukturen der Muttersprache. Dahl führt weiter aus:

«Wird die Fremdsprache lediglich als ein System vermittelt, das zwar andere Anordnungsregularitäten und eine andere Aussprache besitzt, nicht aber andere Bedeutungen und Empfindungseindrücke, so wird beim Lernenden das Erfahren der Fremdsprache zum Wiedererkennen schrumpfen. Wird jedoch im Unterricht erlebbar, dass hier eine andere Art des Schauens und Fühlens vorliegt, so erweitert, bereichert, verfeinert man das Wahrnehmungsvermögen des Heranwachsenden» (ibid.).

Wenn eine Fremdsprache auf diese Weise unmittelbar aufgenommen wird, kann das zu einer aktiveren und tieferen Verbindung mit der Welt führen:

«… schon durch das Kennenlernen, Aufnehmen bildet sich langsam eine größere Regsamkeit, Geschmeidigkeit, Flexibilität, die dann wiederum mein Aufnehmen von Welt vielfältiger, aktiver sein lässt. Je mehr bis zu meiner Seele vordringen kann, desto wacher, heller, aufmerksamer ist meine Wahrnehmung. Gleichzeitig werde ich wahrnehmungsbereiter; ich bin bereit, den Eindrücken der Welt aktiver entgegenzugehen» (ibid.).

Für die Sinnesorganisation haben solche erweiterten und verfeinerten Wahrnehmungen des Sprachsinns «organbildende», d.h. für den physischen Leib prägende Wirkungen – im Sinne von Goethes Satz: «Jedes Objekt wohl angeschaut bildet ein neues Organ in uns aus» (Goethe, 1988, Bd.13, S.38). Das Fremdsprachenlernen bietet also gerade durch die Wahrnehmung und Einnahme eines ganz anderen Standpunkts – hier verstanden nicht nur als eine intellektuelle Erfahrung und Erweiterung, sondern auch als eine sensorische – einzigartige Entwicklungsmöglichkeiten.

Diese Sichtweise führt zu pädagogischen Ansätzen, die sich nicht nur vom traditionellen Fremdsprachenunterricht völlig unterscheiden, sondern in ihrer Einbeziehung der gesamten Sinnesorganisation des Menschen und insbesondere seines Sprachsinns, dessen Organ die gesamte Bewegungsorganisation des Menschen ist (vgl. Kapitel 2 und 8), auch deutlich von anderen ganzheitlichen Methoden unterscheiden. Und daraus resultieren auch andere Forschungsfragen. In einem Grundlagenwerk zum Waldorffremdsprachenunterricht werden sie zum Ausdruck gebracht:

«Auf jeden Fall haben wir Anlass, mit besonderer Aufmerksamkeit die Prozesse der körperlichen Bewegung im Sprachunterricht zu studieren. Wie stehen die von Condon beschriebenen feinen Modifikationen der Gestik und Körperhaltung zu Bewegungsabläufen der Kinder insgesamt in Beziehung? Gibt es dabei Spannungen zwischen den verschiedenen Bewegungsabläufen, wechselseitige Blockaden, Extremzustände? Gibt es charakteristische Rhythmen, auf die wir zu achten hätten? Was haben die Modifikationen der Stimme des Lehrers (Tempo, Tonfall, Lautstärke) damit zu tun oder seine Körperhaltung, seine Gestik und Mimik, seine körperlichen Spannungszustände? (…) Wir können weiter fragen, ob es im Lichte der Bemerkungen Steiners nicht geraten wäre, dem Wechselspiel von Ruhe und Bewegung im Sprachunterricht mit besonderer Aufmerksamkeit nachzugehen» (Kiersch, Dahl, Lutzker 2016).

Dass die Waldorfpädagogik von Sprachwahrnehmung und Spracherwerb als sensorischen Vorgängen ausgeht, hat auch für weitere pädagogische Bereiche Bedeutung. Gerade unsere zunehmend digitalisierte Zeit stellt alle Pädagogen vor die dringende Frage nach der Bedeutung unmittelbarer sensorischer Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Es ist über ein halbes Jahrhundert her, dass Susan Sontag in ihrem berühmten Aufsatz Against Interpretation den Verlust der sinnlichen Erfahrung und Aufmerksamkeit ihrer Zeit beklagte und daraus die Aufgabe des Kunstkritikers neu definierte:

«Unsere Kultur ist gegründet auf Übermaß, auf Überproduktion; die Folge ist ein fortschreitender Verlust an Schärfe in unserem sinnlichen Erleben. All die Bedingungen des modernen Lebens, seine materielle Fülle, seine Masse – verbinden sich, um unsere Sinne abzustumpfen. Und im Lichte dieses Zustands unserer Sinne, unserer Fähigkeiten (eben nicht der anderer Epochen) muss man die Aufgabe des Kritikers betrachten.

Jetzt ist es wichtig, dass wir unsere Sinne wiedererlangen. Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören, mehr zu fühlen» (Sontag 1961/2009, S.13–14)

Heute hat sich die von ihr angesprochene Problematik in einer Weise verschärft, die damals kaum vorstellbar war. Seit ich vor zwanzig Jahren diese Gedanken von Sontag im Anhang des Buches zitierte, hat sich die weitere Beschleunigung dieser Entwicklung vielfältig manifestiert, vor allem in der Entwicklung des – damals noch weitgehend unbekannten – Internets. Den dringenden Fragen und Aufgaben, die dadurch an uns gestellt werden, können wir nicht ausweichen..

Die Brisanz dieser Entwicklung und die Notwendigkeit, sinnvolle pädagogische Maßnahmen in der Schule und in der Lehrerbildung zu ergreifen, wird längst auch an staatlichen Schulen und Universitäten erkannt. Dies wurde z.B. in einer im Herbst 2015 erschienenen Ausgabe der Pädagogischen Rundschau deutlich, in der mehrere Autoren sich diesbezüglich äußerten. Carl-Peter Buschkühle z.B. sieht gerade in den besonderen Anforderungen unseres digitalen Zeitalters die dringende Notwendigkeit, «Basiskompetenzen» in der Wahrnehmung zu erwerben, und betont, dass hierbei künstlerisch-ästhetische Erfahrungen eine besondere Rolle spielen können:

«Die Fähigkeiten, einfühlsam und differenziert wahrnehmen und das Wahrgenommene kritisch und beziehungsreich reflektieren zu können, dürfen in ihren vielfältigen Anwendungen in der Tat als ‹Basiskompetenzen› gelten, ja man kann sie, im Verweis auf den basalen Charakter des Ästhetischen, als anthropologische Elementarkompetenzen bezeichnen. Ihre Schulung ist wesentlich für den kritischen Umgang mit den Strategien und Inhalten der Medienbilder und anderen gezielten ästhetischen Inszenierungen. Ästhetische Kritikfähigkeit zählt unter den Bedingungen der Gegenwartskultur zu den grundlegenden Kompetenzen eines mündigen Subjekts. Wenn im Zuge von PISA die ästhetischen Kompetenzen marginalisiert werden, scheint die Erziehungswissenschaft, die diese Ausrichtung unterschätzt, auf dem ästhetischen Auge blind zu sein» (Buschkühle 2015, S.483).

Der schon erwähnte erweiterte Bezugsrahmen dieses Buches wurde auch in der im Epilog angesprochenen Thematik sehr deutlich. Ich habe damals von den Konsequenzen eines drohenden Verlusts der unmittelbaren Sinneswahrnehmung und Sinnesfähigkeiten gewarnt und konkret auf Autoren in ganz unterschiedlichen Bereichen, darunter Philosophie, Ökologie, Pädagogik und Ästhetik, die auch eindringlich darauf hingewiesen haben, Bezug genommen. In Anbetracht der weiteren technologischen Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre kann man inzwischen sagen, dass wir uns jetzt schon und in der Zukunft noch mehr in einer deutlich veränderten Welt im Vergleich zu damals befinden. Die zunehmend fehlende unmittelbare Begegnung mit der Welt durch die Sinne und deren stetig wachsender Ersatz durch virtuelle Welten betrifft alle Sinne, am offensichtlichsten vielleicht die basalen Sinne. Die besorgniserregende Zunahme von sprachlichen Defiziten, die z.B. bei der Einschulung deutlich festzustellen sind, macht deutlich, dass auch die Sprachentwicklung unmittelbar betroffen ist. Angesichts der umfassenden Bedeutung der Sinneserfahrung und Sinnesentwicklung stellt dieser Verlust von Erfahrungen uns stärker als je zuvor dringende Fragen bezüglich deren Wiedergewinnung, vor allem im Hinblick auf Kindheit und Jugend.

Im April 2016 fand an der Universität Witten-Herdecke eine interdisziplinäre Tagung zum Thema «Die Bedeutung und Gefährdung der Sinne im digitalen Zeitalter» statt, deren Beiträge inzwischen in einem Sammelband gleichen Titels publiziert wurden (siehe S.319). Das Thema wurde aus medizinischer, philosophischer und pädagogischer Perspektive betrachtet. In den Vorträgen und Diskussionen wurde immer wieder deutlich, dass die Herausforderungen, die unsere Zeit für eine gesunde Entwicklung der menschlichen Sinne darstellt, außerordentlich ernst zu nehmen sind. In zehn verschiedenen Vorträgen mit jeweils anschließender Diskussion entstand ein ungewöhnlich breites und anregendes Spektrum von Beiträgen zu diesem Thema, darunter aus den Gebieten Neurologie, Philosophie, Ästhetik, Sinnesphysiologie und Medienpädagogik. Aus einer Vielzahl von vorgetragenen Forschungsergebnissen wurde u.a. die große Gefahr deutlich, die eine extensive Mediennutzung in der Kindheit für die Entwicklung des kindlichen Gehirns darstellt. Es wurde aber auch auf Möglichkeiten hingewiesen, solchen Tendenzen konstruktiv etwas entgegenzusetzen, z.B. mit dem von Edwin Hübner dargestellten umfassenden und differenzierten medienpädagogischen Konzept (vgl. Hübner 2015).

Einleitung

I

Ob wir es in der wissenschaftlichen Forschung mit Sinneswahrnehmungen zu tun haben oder mit dem Wahrnehmen von Sprache: Beidem liegt der Versuch zugrunde, die Umwandlung von Phänomenen in Bedeutungen zu verstehen. Indem ich von der Annahme ausgehe, dass diese Wahrnehmungsvorgänge eine gemeinsame sensorische Grundlage haben, stelle ich direkte Verbindungen zwischen zwei umfangreichen Forschungsgebieten her, von denen jedes eine große Anzahl Einzeldisziplinen einschließt, die vom Philosophischen bis ins Neurologische reichen. Ich hoffe in dieser Untersuchung zu zeigen, dass einige der fundamentalen Erkenntnisse, welche beim Studium der Sinneswahrnehmungen gewonnen worden sind, zur Erhellung der noch ungeklärten Probleme beim Versuch, das «Wie» der Sprachwahrnehmung und des Spracherwerbs zu erklären, beitragen können.

Die Forschungen zu Sprachwahrnehmung und Spracherwerb beschäftigen sich im Allgemeinen mit dem verbalen Verstehen und der verbalen Reaktion. Die vorliegende Arbeit basiert auf einem Sprachverständnis, welches zugleich alle Ebenen der non-verbalen Kommunikation als wesentlich für die Deutung von Sprachwahrnehmung und Spracherwerb betrachtet. Wie die neue Wissenschaft von den Bewegungsabläufen des Menschen, die Kinesik, gezeigt hat, gibt es typische/charakteristische Bewegungen individueller und allgemeiner Art, die ineinanderspielen. Durch die Einbeziehung solcher Bewegungsmuster soll Sprache hier als Ausdruck und Reaktion der ganzen menschlichen Gestalt verstanden werden.

Was Edward Hall die spezifische «stumme Sprache»1 jeder Kultur nannte, bestimmt zu einem bedeutenden Teil die individuellen gewohnheitsmäßigen Gesten ebenso wie entscheidende Aspekte der akzeptierten verbalen und kinesischen Beziehung zwischen Sprecher und Hörer. Einer der Wegbereiter auf dem Gebiet der Kinesik, Ray L. Birdwhistell, schätzt, dass durchschnittlich 2000−5000, maximal 10000 Informations-«bits» pro Sekunde zwischen zwei miteinander sprechenden Personen vermittelt werden.2 Zu den sichtbaren Bewegungen und Gesten kommt hier also die komplizierte Organisation mikrokinesischer Bewegungsmuster hinzu, an denen der ganze Körper während des Sprechens und Hörens beteiligt ist. In dieser Untersuchung wird die «stumme Sprache» zusammen mit der gesprochenen Sprache so verstanden, dass sie alle Ebenen der expressiven und reagierenden Bewegung in der Kommunikation umfasst. Sprache, die nicht auf den Inhalt von Wörtern reduziert wird, sondern als gleichzeitig aus einander überschneidenden Ebenen verbaler und nicht-verbaler Bedeutung bestehend verstanden wird, bezieht den ganzen Menschen mit ein. Dementsprechend ist es Aufgabe dieser Arbeit, die Wahrnehmung von Sprache und Denken auf physiologischer, neurologischer und psychologischer Ebene zu untersuchen.

Wenn man die Sprache im weitesten Sinne betrachtet, ist es notwendig, beim Studium ihrer Wahrnehmung einen ebenso umfassenden Standpunkt einzunehmen.

Diese Auffassung verändert entscheidend den Blickwinkel, aus dem der Erwerb der Muttersprache gewöhnlich untersucht wird. «Denn es ist ein großer Unterschied, von welcher Seite man sich einem Wissen, einer Wissenschaft nähert, durch welche Pforte man hereinkommt.»3 (Goethe)

II

Diese Untersuchung ist so angelegt, dass sie – wie ich hoffe – dem Leser in einem breiten Spektrum von Fachgebieten den erforderlichen Hintergrund bietet. Für Leser, die mit einem oder mehreren dieser Wissensgebiete vertraut sind, wird dies möglicherweise Lektüre von bereits bekanntem Material sein. In Anbetracht des großen Umfangs dieser Untersuchung scheint es mir jedoch notwendig, auf keinem der hier behandelten Fachgebiete Vorkenntnisse vorauszusetzen.

In den Kapiteln 7, 8 und 9 ist meine zentrale Hypothese enthalten. Die ersten sechs Kapitel versehen den Leser mit dem notwendigen Material, um zu beurteilen, was ich in den letzten Kapiteln ausführe.

Das 1. Kapitel gibt dem Leser eine allgemeine Einführung in das Gebiet der Sinnesphysiologie und erläutert einige der Probleme der Sinneswahrnehmung, welche für diese Untersuchung bedeutsam sind. Die folgenden drei Kapitel behandeln die Wahrnehmung von Sprache. Im 2. Kapitel werden die kinesischen Ebenen des Verhaltens untersucht, insbesondere die mikrokinesische Reaktion auf das Sprechen. Das 3. Kapitel gibt eine Einführung in das weite Gebiet der Neurolinguistik und bespricht gegenwärtige Auffassungen in Bezug auf die neurologischen Grundlagen der Sprachwahrnehmung. Für Leser, die sich mit dieser teilweise sehr komplizierten Materie nicht so eingehend beschäftigen möchten, wird hier darauf hingewiesen, dass ein Verstehen meiner Hypothese auch ohne Auseinandersetzung mit diesem Thema durchaus möglich ist. Es würde eventuell genügen, den Anfang des Kapitels zu lesen, um sich einen historischen Überblick zu verschaffen. Das 4. Kapitel behandelt die psychologische Verarbeitung von Sprechen und Denken, insbesondere hinsichtlich der zeitlichen Dynamik von Denken und Wahrnehmung. Das 5. Kapitel liefert einen Hintergrund für verschiedene linguistische Auffassungen vom Spracherwerb beim Kind. Im 6. Kapitel werfe ich einen kurzen Blick auf das Phänomen Sprache selbst. Im 7. Kapitel werden die notwendigen Voraussetzungen für die Sprachwahrnehmung und den Spracherwerb herausgearbeitet. Die Untersuchung schließt mit einer vollständigen Formulierung meiner Hypothese bezüglich der notwendigen Voraussetzungen für die Sprachwahrnehmung und den Spracherwerb im 8. Kapitel. Das 9. Kapitel behandelt den Erwerb der Muttersprache unter dem Aspekt der Hypothese, die in den vorangehenden Kapiteln entwickelt worden ist.

In einem längeren Anhang werde ich die Bedeutung dieses Materials im Zusammenhang mit neueren Entwicklungen auf dem Gebiete des Fremdsprachenunterrichts untersuchen und die möglichen Folgen meiner Hypothese für die Methodik des Fremdsprachenunterrichts erläutern.

In einem Epilog befasse ich mich mit der allgemeinen pädagogischen Bedeutung der Sinnesfähigkeiten und der Sinnesentwicklung in der heutigen Zeit und den Gefahren, die mit ihrem Verlust verbunden sind.

Jedes Kapitel beginnt mit einer Zusammenfassung seines Inhalts.

1. Die Dynamik der Sinneswahrnehmung

«Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß ich’s Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.»1

Johann Wolfgang Goethe

Kapitelüberblick

Ein historischer Überblick über die wechselnden wissenschaftlichen Ansichten in der Sinnesphysiologie zeigt, dass sich die zugrunde liegenden philosophischen Auffassungen über das Wesen der Sinneswahrnehmung im Kern während vierhundert Jahren nicht verändert haben. Erst im 20. Jahrhundert hat es bedeutende Entwicklungen in der Sinnesphysiologie gegeben, insbesondere bei der Anerkennung der Sinnesvorgänge über die klassischen fünf Sinne hinaus und bei der Entdeckung, dass es angeborene synästhetische Fähigkeiten gibt.

Die neurologische Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen, welche notwendigerweise der bewussten Wahrnehmung vorausgeht, beruht auf dem Prinzip der Transformation verschiedener Arten von «Frequenzen» in unsere eigenen Bildvorstellungen der Welt. Sinneswahrnehmung beruht auf einer unbewussten, simultanen Integration verschiedener sensorischer Eindrücke in ein «Ganzes». Alle Elemente des Bewusstseins und der Beurteilung, welche auf die Wahrnehmung folgen, lassen sich vom eigentlichen sensorischen Vorgang unterscheiden.

In der Sinneslehre, die Rudolf Steiner in den Jahren 1910 bis 1924 entwickelte, wird das Vorhandensein «höherer Sinne» für die Wahrnehmung von Sprache, Denken und das innere Selbst (das «Ich») eines anderen Menschen angenommen. Steiner behauptete, dass die direkte Weise, in der gesprochene Sprache und Denken wahrgenommen werden, auf einen unmittelbaren, urteilsfreien Vorgang hinweist, welcher mit der Erfahrung aller Sinneswahrnehmungen vergleichbar ist. Interessante Parallelen zu Steiners Erweiterung der Sinneslehre findet man in den philosophischen Werken von Edmund Husserl und Max Scheler.

Die Auffassung, dass Wahrnehmung von Sprache und Denken als sensorischer Vorgang zu verstehen sei, erweist sich als unvereinbar mit einem Computermodell der Informationsverarbeitung. Die einheitliche Funktionsweise im sensomotorischen Ablauf setzt voraus, dass zwischen Wahrnehmung und Bewegung keine Grenzen vorhanden sind, während auf allen Gebieten der Informationsverarbeitungstheorie der Grundsatz der Teilung impliziert wird.

Eine Theorie von Sprache als sensorischem Vorgang bietet eine grundlegend neue Entwicklungsperspektive, indem man von den Möglichkeiten der sensorischen Verfeinerung Gebrauch macht. Beispiele von Menschen mit außerordentlich entwickelten Wahrnehmungsfähigkeiten zeigen uns die inhärenten Möglichkeiten dieser naturgegebenen, doch im Allgemeinen ungenutzten menschlichen Fähigkeiten.

Moderne Perspektiven der Sinnesphysiologie in ihrem historischen Zusammenhang

Die klassische Frage, wie wir durch unsere Sinne zu einer objektiven Welterkenntnis gelangen, ist ein philosophisches Dilemma, das seine Wurzeln in einem platonisch-idealistischen Kontext hat.2 Wenn man dieser Frage nachgeht, findet man, dass die folgenträchtigste philosophische Entwicklung am Beginn des 17. Jahrhunderts in den Gedankensystemen von Locke und Descartes stattgefunden hat. Die positivistische Unterscheidung zwischen der «objektiven realen Welt» und einer «subjektiven inneren Welt» führte zu einer Einstellung gegenüber der Sinneswahrnehmung, bei der nur die sensorische Verarbeitung der messbaren Seiten von Materie, Licht, Klang usw. als objektiv feststellbar und somit real galt. Alle anderen Sinneseindrücke waren – ihrem Wesen nach – möglichen Fehlern unterworfen und wurden daher als lediglich sekundäre Wahrnehmungen der «wirklichen» Welt der Partikel, Vibrationen usw. klassifiziert. Von einer positivistischen Perspektive aus konnten die «Wahrheiten» der sinnlichen Wahrnehmungen nur insofern akzeptiert werden, als sie objektiv und materiell beweisbar waren.3

In der grundsätzlich verschiedenen Haltung, die Immanuel Kant und Goethe Jahrhunderte später gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung einnahmen, sind die philosophischen Fragen im Zusammenhang mit sinnlichen Wahrnehmungen ganz klar definiert. Kants These, dass das Wissen des Menschen von der Welt zwangsläufig subjektiv ist und dass die «Dinge an sich» objektiv nicht wahrgenommen werden können, führte letztlich zu einem Dualismus zwischen einem subjektiven Wahrnehmungssinn und einem objektiven Wahrnehmungsgegenstand. Kants grundsätzlichem Glauben an die Macht der Vernunft und des logischen Denkens lag eine klare Trennung zwischen Körper und Geist zugrunde, welche ihn dazu führte, der menschlichen Sinneserfahrung objektive Realität abzusprechen. Seine Unterscheidung zwischen dem passiven, rezeptiven Wesen der Sinne und der spontanen, aktiven Fähigkeit zu denken ergab sich aus seiner Auffassung von den Sinnen als bloßen Reizempfindungsorganen.4

Goethe lehnte Kants Ansicht über die Sinne und die Sinneswahrnehmung grundsätzlich ab. Er war davon überzeugt, dass der sinnlichen Wahrnehmung objektive Qualitäten innewohnen. «Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt.»5 Im Gegensatz zu Kant verstand er die Sinneslehre als vorrangiges Aufgabengebiet der Philosophie.

«In der deutschen Philosophie wären noch zwei große Dinge zu tun. Kant hat die Kritik der reinen Vernunft geschrieben, womit unendlich viel geschehen, aber der Kreis nicht abgeschlossen ist. Jetzt müsste ein Fähiger, ein Bedeutender die Kritik der Sinne und des Menschenverstandes schreiben, und wir würden, wenn dieses gleich vortrefflich geschehen, in der deutschen Philosophie nicht viel mehr zu wünschen haben.»6

Goethes Hoffnung auf eine «Kritik der Sinne» spiegelte nicht nur seine philosophische Haltung wider, sondern sie hatte auch eine eminent gesellschaftliche und wissenschaftliche Grundlage. Er glaubte, dass ein wesentlicher Aspekt der Entwicklung und Erziehung des Menschen in der Möglichkeit liege, durch die weitere Entwicklung von Sinnesorganen ständig die Wahrnehmung zu verfeinern.7 Durch diese einzig dem Menschen gegebene Möglichkeit unterscheiden sich Mensch und Tier grundlegend voneinander. «Das Tier wird durch seine Organe belehrt; der Mensch belehrt die seinigen und beherrscht sie.»8 Das Individuum hat die Möglichkeit, sinnliche Fähigkeiten und Organe (!) zu entwickeln, indem es sich eine feinere Wahrnehmungsebene erschließt. «Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.»9

Goethes Glaube an eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen objektiven Phänomenen und innerer Erfahrung wurde die Grundlage für seine ausgedehnten naturwissenschaftlichen Studien in der Botanik, der Morphologie und für die Entwicklung seiner Farbenlehre. Die Erfahrung der Phänomene durch die Sinne war der Anfangs- und Bezugspunkt eines intensiven Beobachtungsvorgangs, der in einer «exakten Imagination» gipfelt.

Im Vorwort zu seiner Farbenlehre schreibt er:

«Denn das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, dass wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren.»10

Diese Auffassung von der Gültigkeit der sinnlichen Wahrnehmung unterscheidet sich auffallend von derjenigen Kants, die die unwiderrufliche Trennung zwischen Subjekt und Objekt impliziert. Kants Glaube an die Macht des rationalen Denkens und seine Überzeugung, dass nur messbare Erscheinungen objektiv betrachtet werden können, hat die Grundlage für den wissenschaftlichen Fortschritt seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts gelegt. Goethes Vorstellung einer Wissenschaft auf der Grundlage des «exaktesten Apparates, den es geben kann – des menschlichen Sinnessystems»11 ist der kantschen Auffassung radikal entgegengesetzt. Gernot Böhme urteilt:

«Goethes Farbenlehre ist keine Alternative in der Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft, sondern eine Alternative außerhalb – eine Alternative zur neuzeitlichen Naturwissenschaft.»12

In diesem Jahrhundert wurden die wesentlichen Fragen und Themen, die eine «Kritik der Sinne» stellen würde, von einer Reihe bekannter Philosophen wie Rudolf Steiner, Max Scheler, Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty, Ernesto Grassi und Physiologen wie Erwin Strauß, Viktor von Weizsäcker und Herbert Hensel behandelt.13 In vielfältiger Weise haben sie jene Trennung zwischen einer «objektiven realen Welt» und einer «subjektiven inneren Welt» infrage gestellt, welche bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einem wissenschaftlichen Standardmuster hinsichtlich der sinnlichen Wahrnehmung geworden war. Beim Versuch, klar zwischen Wahrnehmungserfahrung und allen daraus resultierenden subjektiven Urteilen zu unterscheiden, haben sie verschiedene Methoden auf der Grundlage eines Verständnisses der sinnlichen Wahrnehmung entwickelt, welches die direkte Erfahrung einer objektiven Realität berücksichtigt. In einem Aufsatz, der teilweise auf die Vorstellungen von C. G. Carus zurückgreift, schreibt Grassi:

«Vor allem: Auf der Stufe des unbewussten Lebens, das sich nicht aufgrund eines Wissensprozesses, sondern unmittelbar aufgrund von Zeichen verwirklicht –, ist die Unterscheidung von Subjekt und Objekt unstatthaft; diese beiden Momente sind dort ungetrennt, wo noch keine Vermittlung die Erscheinungen zu bestimmen sucht. In der Unmittelbarkeit der Sinndeutungen bildet der Prozess des Lebens eine unteilbare Einheit, aus der Subjekt und Objekt gar nicht herausgebrochen werden können …

In der Unmittelbarkeit, in der die Zeichen Handlungen auslösen, gibt es keinen Spielraum für einen Irrtum, eben weil solche Handlungen nicht aus einem Wissen, d.h. aus einem Prozess der Vermittlung entstehen, durch den erst, im Suchen und Auffinden des Grundes, Irrtum möglich wird.»14

Die Position, die Grassi hier bezüglich der Einheit von Subjekt und Objekt bei der Wahrnehmung einnimmt, kann als repräsentativ für die Standpunkte der anderen genannten Wissenschaftler gelten. Während Grassi und andere sich diesem Thema aus einem mehr philosophischen Blickwinkel näherten, haben Strauß, Viktor von Weizsäcker und Hensel diese Perspektive im Zusammenhang mit ihrer Forschungsarbeit auf dem Gebiete der Physiologie entwickelt. Betrachtet man hier die weitreichenden und tief gehenden Entwicklungen auf den Gebieten der Physiologie und der Neurologie seit Goethes Forderung nach einer «Kritik der Sinne», so sind die immer noch aktuellen und grundsätzlichen Parallelen zu Goethes Standpunkt recht auffallend. Obwohl sie oft verschiedene Formen angenommen haben, sind die wesentlichen Fragen und Positionen inhaltlich gleich geblieben.

Sinnesphysiologie im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert haben Physiologen ihre Vorstellung von Sinneswahrnehmung entscheidend erweitert. Sie gehen über die von Aristoteles bestimmten klassischen fünf Sinne hinaus und zählen z.B. Sinne für das Gleichgewicht, Wärme (Temperatur), Schmerz, Druck, Vibration und einen kinästhetischen Sinn für unsere Körperhaltung und die Körperbewegungen dazu. Daraufhin ist ein breites Spektrum von Terminologien, Kategorien und Unterkategorien entstanden.15

Bedeutsame Ergebnisse, die sich durch Spezialuntersuchungen über die einzelnen Sinne ergeben haben, führten zu grundlegenden Veränderungen auf diesem Gebiet. Es wurden neue Theorien entwickelt, die nicht nur die Funktionsweisen der einzelnen Sinne, sondern auch den Wahrnehmungsvorgang an sich zum Gegenstand haben. Die im 19. Jahrhundert übliche Auffassung, nach der Reiz und Reaktion voneinander getrennt sind – eine Theorie, die von dem Physiologen J. Müller und dem Physiker H. Helmholtz entwickelt wurde –, wird heute als inadäquate Erklärung für die sinnliche Wahrnehmung betrachtet.16 Im 20. Jahrhundert haben eine Anzahl von Physiologen und Philosophen das Studium der Wahrnehmung zum zentralen Thema ihrer Arbeit gemacht. Sie behaupteten, dass dies in einem gewissen Sinne die primäre Wissenschaft sei, insofern sie jene allgemeinen Wahrnehmungsprozesse untersuche, welche die Grundlage jeglicher wissenschaftlichen Tätigkeit ausmache. Entsprechend wird das Verstehen des Wesens sinnlicher Wahrnehmung zur Voraussetzung für die Untersuchung aller Erscheinungen. Viktor von Weizsäcker schreibt:

«Sinnesphysiologie setzt daher, soll sie eine Lehre von den Sinnen und nicht bloß eine Mechanik ihrer Organe sein, gegenüber Physik eine besondere Fähigkeit voraus, nicht allein mit den Sinnen etwas wahrzunehmen, sondern überdies Sinnliches mit Bewusstsein als solches zu erleben. Erst dann vermögen die mannigfachen geistigen Operationen einzusetzen, welche die wissenschaftliche Forschung von einer beliebigen Aussage über die Dinge unterscheiden.»17

Die Dynamik der sinnlichen Wahrnehmung

Die Wechselbeziehung zwischen unserem bewussten Selbst und der Welt wird durch unsere Sinnesorgane vermittelt. Sinnliche Wahrnehmung ist die Voraussetzung für jede Erkenntnis. Wir nehmen die Qualitäten von Farben, Tönen, Gegenständen usw. wahr, und unsere Erfahrung ist unmittelbar. Was wir dann mit den Worten «grün», «ein leiser Ton», «ein harter Gegenstand» auszudrücken versuchen, ist mit der sinnlichen Erfahrung nicht identisch. Der direkte sinnliche Eindruck besteht aus der gleichzeitigen Synthese der Wahrnehmungen verschiedener Sinne. Wenn wir das Läuten einer Kirchenglocke beobachten, kommen die sinnlichen Wahrnehmungen von Form, Farbe, Bewegung und Klang zusammen und schaffen einen Gesamteindruck. Betrachten wir eine Landschaft, so erfahren wir Farbe, Klang, Bewegung und Geruch als einen Eindruck. Die Erfahrung von Synästhesie ist die gleichzeitige und unbewusste Interaktion einer variablen Anzahl von Sinnen in der Wahrnehmung. Diese Fähigkeit der sinnesübergreifenden (cross-modal) Integration muss als entscheidend für den ganzen Wahrnehmungsvorgang angesehen werden. Jede sinnliche Wahrnehmung basiert auf der direkten zeitlichen Integration unabhängiger Sinnesbereiche. Die immanente Bedeutung dieser Interaktionsvorgänge wurde zunehmend als wesentlich für die Wahrnehmung erkannt.18

Die angeborene Grundlage für die sinnesübergreifende Wahrnehmung wurde bei Experimenten mit Säuglingen überzeugend aufgezeigt. In dem bekannten von Meltzoff und Borton durchgeführten Experiment19 wurden drei Wochen alten Säuglingen die Augen verbunden, und jedem wurde einer von zwei verschiedenen Schnullern gegeben. Die Sauger der beiden Schnuller waren sehr unterschiedlich. Nachdem man den Säuglingen einen der Schnuller gegeben hatte, sodass sie ihn eine Weile im Mund spüren konnten, wurde der Sauger entfernt und neben den anders geformten Sauger gelegt. Als dann die Augenbinde entfernt war, schauten die Säuglinge weit häufiger den Sauger an, an dem sie gerade gesaugt hatten, als den anderen. Offensichtlich «verstanden» die Säuglinge durch eine Art natürlicher amodaler Wahrnehmung, dass der Sauger, den sie gerade ansahen, auch derjenige war, an dem sie soeben gesaugt hatten. Die hier gezeigte natürliche Interaktion des Tast- und des Sehsinnes ist offensichtlich das Ergebnis des inhärenten Wesens der Wahrnehmung und nicht von etwas durch Nachahmung Gelerntem.

Diese angeborene Fähigkeit zur Synästhesie wurde auch in Experimenten gezeigt, die den Herzschlag von Säuglingen messen, um zu beurteilen, welcher Grad der Lichtintensität am besten mit bestimmten Graden der Lautintensität korrespondiert. Aus der Reaktion der Säuglinge zogen die Versuchsleiter den Schluss, dass sie bestimmte Präferenzen hatten. Darüber hinaus entsprach diese Korrespondenz von Licht- und Tonintensität derjenigen, die eine Versuchsgruppe von Erwachsenen wählte.20

Indem er eine Reihe neuerer Untersuchungsergebnisse kommentiert, die darauf hinweisen, dass die amodale Wahrnehmung eine angeborene Fähigkeit ist, schreibt Daniel Stern:

«So scheinen Säuglinge eine allgemeine angeborene Fähigkeit zu haben – man könnte sie amodale Wahrnehmung nennen –, die es erlaubt, die in einer sensorischen Modalität empfangene Information irgendwie in eine andere zu übersetzen. Wir wissen nicht, wie sie dies fertigbringen. Wahrscheinlich erleben sie die Information nicht als eine zu irgendeinem bestimmten sensorischen Modus gehörende. Noch wahrscheinlicher ist es, dass die Information den Modus oder Kanal transzendiert und in einer unbekannten supramodalen Form existiert.»21

Neurologen und Physiologen hoffen, durch die Untersuchung der Nervenprozesse der Wahrnehmung in die Lage zu kommen, die Phänomene der amodalen Wahrnehmung zu erklären. Die Notwendigkeit einer interdisziplinären Methode bei der Behandlung der weitreichenden Fragen, die die Sinnesphysiologie aufwirft, wird am deutlichsten, wenn wir eine Reihe unbeantworteter Fragen im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen der neurologischen Verarbeitung und der bewussten Wahrnehmung in Betracht ziehen.

Die physiologisch-neurale Grundlage der Wahrnehmung

Eine neurologische Grundvoraussetzung für Wahrnehmung ist eine relativ starke neuronale Aktivität in der Hirnrinde. Wenn diese Aktivität im Gehirn aufhört, haben wir kein Bewusstsein. Im Schlaf, im Zustand der Narkose oder im Koma ist Wahrnehmung nicht möglich. Karl Lashleys bekannter Vergleich des allgemeinen Zustands des Gehirns mit den ständigen Kräuselbewegungen auf einer Seeoberfläche22 macht deutlich, dass eine entsprechende Gehirntätigkeit zu jeder Wahrnehmung notwendig ist. Die Auffassung von Psychologen und Neurologen des 19. Jahrhunderts, welche die Wahrnehmung für einen durch äußere Reize hervorgerufenen passiven Abdruck hielten, ist allgemein durch eine Auffassung ersetzt worden, die die Wahrnehmung als «aktiven Vorgang des Suchens nach der entsprechenden Information»23 versteht.

Die eigentliche Kodierung und Dekodierung von neuronalen Informationen in der Wahrnehmung ist ein immens schneller und komplexer Vorgang, der auf den ersten Blick von der psychologischen Erfahrung der Wahrnehmung weit entfernt zu sein scheint. John Eccles schreibt:

«Wenn wir einen Gegenstand visuell wahrnehmen, wird das umgekehrte Bild auf der Netzhaut durch morsezeichenähnliche Signale von Nervenimpulsen ans Gehirn weitergegeben. Dies sind nur Punkte in den Millionen von Linien in jedem optischen Nerv, und im Gehirn findet eine enorme Ausbreitung statt. Im Anfangsstadium sind Hunderte von Millionen von Nervenzellen der Hirnrinde beteiligt, und im späteren Stadium reagieren sogar noch mehr auf das Netzhautbild. Doch im Gehirn wird das Netzhautbild niemals wiederhergestellt. Alles, was die Mechanik des Gehirns tun kann, ist das Hervorbringen einer immensen und komplizierten Informationsmenge über Linien, Winkel und Standorte. Der menschliche Geist liest die vollständig entwickelte und verschlüsselte Antwort des Gehirns heraus, um die visuelle Erfahrung von jedem Augenblick zum andern mit allen Eigenschaften von Licht, Farbe, Form und Umrissen auszustatten. Noch wunderbarer daran ist, dass diese Erfahrung bedeutungsvoll ist: die wahrgenommene Welt, in der wir Gegenstände, Entfernungen und Bewegungen erkennen … Wir sind natürlich weit davon entfernt zu verstehen, wie diese wunderbare Umwandlung stattfinden kann. Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, dass es in der Welt, die wir mit unserem Gesichtssinn wahrnehmen, keine der Eigenschaften gibt, die wir erleben, nicht einmal Licht und Farbe. Alles, was die Welt uns für unsere sinnliche Wahrnehmung bietet, ist elektromagnetische Strahlung verschiedener Frequenzen und Intensitäten. Die plastischen Bilder der Welt, die wir erleben, werden tatsächlich in unserem Geist geschaffen.

Diese Verallgemeinerung trifft auch auf unsere anderen Sinne zu: den Hör-, den Tast-, den Geruchs- und den Geschmackssinn, die alle ihre Entsprechungen in der materiellen Welt haben.»24

Wir sehen, dass die von Eccles beschriebene Transformation aus drei Komponenten besteht. Erstens wird diese verschlüsselte neurale Information in den Bereich unserer bewussten Erfahrung als Farben, Musikklang, Geschmacksempfindungen usw. gebracht. Die Physiologen sind zugegebenermaßen nicht in der Lage, im Nervensystem Spuren eines spezifisch sensorischen Inhalts zu lokalisieren. Dies weist deutlich auf einen Vorgang hin, der von Natur aus transformativ ist. Dann gibt es zweitens die Fähigkeit des Gehirns, gleichzeitig die auf verschiedenen sensorischen Wegen erhaltene Information zu verarbeiten, bevor sie innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde im Geist als sensorische Einheit erscheint. Die verschiedenen primären sensorischen Registrierungen (detections), die unabhängige neuronale Reaktionen hervorrufen, werden ebenfalls allgemein im ganzen Corpus callosum verarbeitet, um es beiden Gehirnhälften zu ermöglichen, jene ganzheitliche Erfahrungseinheit zu erzeugen, die, wie wir im 3. Kapitel sehen werden, von der komplementären Beschaffenheit der Asymmetrie des Gehirns abhängt. Schließlich gibt es drittens die sich im Geiste ständig abspielende zeitliche Integration dieser Vorgänge, die es uns ermöglicht, Wahrnehmung als unmittelbar vor sich gehend zu erfahren. Die Unmittelbarkeit jeglicher sinnlichen Wahrnehmung beruht auf dieser Fähigkeit zur zeitlichen Organisation. Gäbe es die organisierende Tätigkeit des Geistes nicht, wären alle diese Vorgänge ohne Verbindung und würden nicht als simultan empfunden werden, da sie bis zum Augenblick des Bewusstwerdens nachweisbar getrennt ablaufen.25

Die anfängliche sensorische Registrierung eines Reizes, der durch im Gehirn gemessene elektrophysiologische Veränderungen nachgewiesen wird, geht bedeutend rascher vor sich als die bewusste Erfahrung des gleichen Reizes. Benjamin Libet und seine Mitarbeiter haben sich eingehend mit der Frage beschäftigt, wie viel Zeit ein sensorischer Reiz benötigt, um die Ebene des Bewusstseins zu erreichen.26 Er hat herausgefunden, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen der tatsächlichen primären sensorischen Registrierung gibt, welche zu einer Reihe elektrophysiologischer Reaktionen führt, die innerhalb von 10 bis 20 Millisekunden nach dem Reiz in der Hirnrinde feststellbar sind, und der Mindestzeit der neuronalen Aktivierung, die notwendig ist, um die bewusste Sinneserfahrung hervorzubringen. Libets Experimente haben gezeigt, dass dieser Zeitverschiebungsfaktor («time-on»-factor), d.h. die Zeit, die ein sensorischer Reiz benötigt, um das Bewusstsein zu erreichen, erstaunlich lang ist (500 Millisekunden oder mehr). Vor diesem Zeitpunkt gibt es eine messbare Registrierung ohne Bewusstsein. Ein einzelner elektrischer Impuls auf die Haut genügt, um eine sensorische Registrierung hervorzurufen, doch dieser Impuls muss 500 Millisekunden lang fortgesetzt werden, bis er bewusst wahrgenommen wird. Eine anfängliche Registrierung auf der Haut, die nach 10 bis 20 Millisekunden elektrophysiologisch in der Hirnrinde gemessen wurde, reicht nicht aus, um eine bewusste Erfahrung hervorzubringen, selbst bei großer Intensität.27 Dies wird in auffallender Weise durch die Tatsache unterstrichen, dass ein Reiz auf die Hirnrinde, der 200−500 Millisekunden nach dem Hautreiz ausgeübt wird, sich im Nachhinein auf die bewusste Wahrnehmung jenes früheren Hautreizes auswirkt. Das zeigt, dass der Hirnvorgang, der durch die primäre sensorische Registrierung hervorgerufen wurde, zeitlich «überholt» und verändert werden kann, bevor er die Bewusstseinsebene erreicht.28

Eine Schwierigkeit unter anderen, die Libets Forschungsarbeit aufwirft, besteht darin, dass in der bewussten Erfahrung der primären sensorischen Registrierung keine Zeitverzögerung von 500 Millisekunden empfunden worden ist. Da die bewusste Erfahrung der Wahrnehmung unmittelbar stattfindet, wirft diese Diskrepanz von bis zu einer halben Sekunde zwischen der primären sensorischen Registrierung und dem Bewusstwerden eine Reihe von immer noch unbeantworteten Fragen auf. Libet schreibt:

«Die offensichtliche Zeitverzögerung von bis zu ungefähr einer halben Sekunde, bis auf neuronaler Ebene adäquate Bedingungen für die Hervorbringung einer bewussten Empfindung herrschen, ist so auf paradoxe Weise gekoppelt an das offensichtliche Fehlen jeglicher Zeitverzögerung für die Erscheinung und den Zeitpunkt der Erfahrung, die durch die neuronale Aktivität ‹hergestellt› wird.»29

In dieser überraschend großen zeitlichen Lücke zwischen der primären Wahrnehmung und der bewussten Wahrnehmung sehen wir möglicherweise die für die Integration von Wahrnehmungen in das Bewusstsein notwendige Zeit. Einer der führenden Neurologen der Welt, Nobelpreisträger Gerald Edelman, kommt bei der Auswertung dieser Ergebnisse zu dem Schluss, «dass eine beträchtliche neuronale Verarbeitung erforderlich ist, bevor eine Wahrnehmung registriert wird».30 Bekannte Wissenschaftler wie Karl Madsen haben Libets Forschungsarbeiten zitiert und an ihnen gezeigt, dass sie auf die das Gehirn organisierende Tätigkeit des menschlichen Geistes hinweisen.31 Zweifellos gibt es hier eine unermessliche nichtspezifische organisierende Kraft, die sich nicht irgendwo im Gehirn lokalisieren lässt. Die unerklärlichen 500 Millisekunden können sehr wohl die Zeit sein, die benötigt wird, um diese außerordentliche Integration unabhängiger Sinnesvorgänge zu erreichen. Dies würde darauf hinweisen, dass man die Synästhesie als Vorbedingung für jede bewusste Wahrnehmung betrachten sollte.

Der zeitliche Rahmen, in welchem bewusste Wahrnehmung geschieht, hängt von der simultanen Integration dieser unabhängigen Wahrnehmungsmodi ab. So scheint der Augenblick bewusster Wahrnehmung eine Organisation von objektiven unbewussten Vorgängen zu sein, welche ein bewusstes Urteilen an keiner Stelle berücksichtigt. Daher tritt die objektive Natur der beobachteten Erscheinungen zutage, von welchen Mach als den absoluten Qualitäten der «Sinnesdaten» und Husserl als den «unbezweifelbaren Phänomenen» spricht.32 Es wird gezeigt, dass die Objektivität der primären sensorischen Registrierung der Erscheinungen vom Bewusstsein unberührt bleibt.33 Jede Eigenschaft eines Gegenstands – Form, Farbe, Wärme, Konsistenz usw. – trägt zum direkten sensorischen Eindruck bei. Diese fundamentalen Sinnesqualitäten lassen sich bei der Wahrnehmung nicht weiter reduzieren und können deshalb als die «einstelligen Elemente der Sinneserfahrung»34 betrachtet werden.

Bei der Bewertung des ganzen Wahrnehmungsaugenblicks – von der primären sensorischen Registrierung bis zum Bewusstwerden – kann an keiner Stelle irgendein subjektives Urteil nachgewiesen werden. Die Direktheit der Empfindung und der Vorgang der synästhetischen Integration der Empfindung in Wahrnehmung schließt eine «subjektive Einmischung» sowohl auf der physiologischen als auch auf der neurologischen Ebene aus. Diese Initialvorgänge sind offensichtlich unabhängig vom Bewusstsein, obwohl die Tatsache, dass jemand sich nicht bewusst ist, Signale wahrgenommen zu haben, nicht bedeutet, dass diese Eindrücke keine Wirkung haben.

(Die visuellen Medien Film und Fernsehen haben sich – besonders auf dem Gebiet der Werbung – das Wissen um den potenziellen Einfluss der unbewussten primären sensorischen Registrierung zunutze gemacht, ebenso die akustischen Medien bei verschiedenen Aufnahmetechniken. Dies ist allgemein als «unterschwellige (subliminale) Beeinflussung» bekannt.35)

Das Objektive der Wahrnehmung

Wenn die Objektivität der Wahrnehmung in der einheitlichen Art der sensorischen Verarbeitung selbst liegt, wird die Rolle des Denkens zweitrangig. Das ist natürlich ein Standpunkt, der demjenigen Kants radikal entgegensteht, der angenommen hat, dass eine objektive Wahrnehmung nur durch die Vernunft erreicht werden kann. Die von Kant postulierte absolute Diskrepanz zwischen «subjektiv» und «objektiv» kann in einer objektiven Phänomenologie der Wahrnehmung nicht mehr aufrechterhalten werden. Von dieser Perspektive aus wird eine scharfe Trennung zwischen Subjekt und Objekt überhaupt problematisch. Erwin Strauß, der vom ursprünglichen Wahrnehmungsakt als von «Empfindung» spricht, schreibt:

«Das Empfinden ist ein sympathetisches Erleben. Im Empfinden erleben wir uns in und mit unserer Welt. Das ‹Mit› ist nicht zusammengesetzt aus einem Erlebnisstück Welt und einem Erlebnisstück Ich. Das einheitliche Empfinden entfaltet sich stets nach den Polen der Welt und des Ichs. Die Beziehung des Ich auf seine Welt ist im Empfinden eine Weise des Verbundenseins, die von dem Gegenüber des Erkennens scharf zu scheiden ist. Darum müssen wir es auch durchaus verwerfen, zum Subjekt des Empfindens einen Geist zu machen, der Empfindungen als vereinzelte in sich hat, die vereinzelten durch einen Prozess des Denkens vereinigt oder durch das Bindemittel der Gewohnheit (custom and habit) das Getrennte zusammenkittet und schließlich das so Vereinigte denkend aus sich heraussetzt.»36

Alle subjektiven Urteile, die auf eine direkte Sinneserfahrung folgen, «ein schönes Monet-Blau», «ein hervorragender Bordeauxwein», «ein wunderbares Klarinettensolo», gehen offensichtlich über die tatsächlich erfahrene Wahrnehmung hinaus und sind deshalb persönlich und nicht objektiv. Diese Urteile können jedoch klar vom Sinnesvorgang getrennt werden. Der eigentliche Wahrnehmungsaugenblick bleibt urteilsfrei. Hans-Jürgen Scheurle schreibt:

«Die Wahrnehmung vereinigt in jedem Augenblick Qualitäten, Naturgesetze und Metamorphosen der Welterscheinungen in einem Ganzen. Die natürliche Betrachtung ist primär immer Einheit, die der Mensch erst künstlich zertrennt, indem er Ereignisse aus ihren real gegebenen Zusammenhängen herauslöst und mittels seiner Kriterien beurteilt …

Da die Kriterien den individuellen Wahrnehmungsaugenblick erst in seiner allgemeinen Bedeutung erscheinen lassen, eröffnen sie jedoch gerade das Überpersönliche, Allgemeingültige der Wahrnehmung. Sie sind eben daher keine spezialisierten, persönlichen ‹Seelentätigkeiten›, wie mit der historischen Subjektvorstellung immer angenommen worden ist, sondern vielmehr allgemeine höhere Ordnungsprinzipien der Wahrnehmung.»37

Modelle der Verarbeitung von Sinneseindrücken (sensory processing)

Bei der Beurteilung der von Strauß, Scheurle und anderen angebotenen Perspektiven ist es hilfreich, diese Auffassungen über die Verarbeitung von Sinneseindrücken im Zusammenhang mit Informationstheorien, wie beispielsweise dem kybernetischen Verarbeitungsmodell oder anderen verwandten Modellen, zu betrachten. Informationstheorien gehen in der Regel von der allgemeinen Überzeugung aus, dass es aufschlussreiche Parallelen zwischen der Funktionsweise des Computers und der Funktionsweise des lebenden Organismus gibt. Die Überzeugung, dass inhärente Ähnlichkeiten bei der Übermittlung von Informationen im Nervensystem und in verschiedenen Computerprogrammen vorhanden sind, hat die Grundlage für eine große Anzahl von Gehirnmodellen geschaffen, die in der Computertechnologie und den kognitiven Wissenschaften entwickelt worden sind. Indem sie mit zentralen Begriffen wie Information, Energie und Materie arbeiten, beschäftigen sich die Forscher mit dem Nachweis allgemein übertragbarer Funktionsvorgänge.38 Diese Auffassungen haben die Entwicklung der kognitiven Wissenschaften tief greifend beeinflusst.

Beim Vergleich kybernetischer Modelle des Nervensystems mit nichtdualistischen Modellen der Verarbeitung von Sinneseindrücken wird deutlich, dass beide versuchen, die Funktionsweise des ganzen Reaktionssystems zu behandeln. Die zentrale neue Vorstellung der damit befassten kybernetischen Theorie geht über die Betrachtung der elementaren Nervenverbindungen und Synapsen hinaus und strebt ein Verstehen des ganzen Informationsprozesses an. In den letzten Jahrzehnten sind neue Modelle über die Verarbeitung von Sinneseindrücken noch bedeutend weiter gegangen. Bei den immer raffinierteren Versuchen, die Fähigkeiten des menschlichen Geistes und des Gehirns in Computerprogrammen zu «imitieren» und damit weiterzuverarbeiten, ist eine Übereinstimmung darüber entstanden, dass gewisse Probleme mit Methoden untersucht werden müssen, die den inhärenten holistischen Funktionsweisen des Geistes und des Gehirns vergleichbar sind.39 Allen Konzepten –«neuronale Netze», «fuzzy logic», «Expertensysteme» (expert systems) –, auf denen die bedeutendsten der heute entwickelten Computermodelle beruhen, ist die Erkenntnis der dem Gehirn inhärenten Möglichkeiten zu simultaner, ganzheitlicher Verarbeitung gemeinsam. Jedes Modell versucht, wesentliche Aspekte dieser Fähigkeiten mit den immensen Möglichkeiten der modernen Computertechnologie zu kombinieren.

Das bekannteste Problem, das durch alle Computermodelle des Gehirns entsteht, ist die ungelöste Frage des Bewusstseins. Dieses Thema wird im 3. Kapitel untersucht. Wenn man jedoch unterschiedliche kybernetische Modelle der Datenverarbeitung den nicht-dualistischen Ansichten über die Verarbeitung von Sinneseindrücken, die von Hensel, Weizsäcker, Scheurle und anderen entwickelt wurden, gegenüberstellt, ist der kritischste Punkt in diesem Zusammenhang nicht das Bewusstsein, sondern der einheitliche Charakter der Verarbeitung von Sinneseindrücken. Auf allen Ebenen, von der begrifflich-theoretischen Ebene, widergespiegelt in Begriffen wie Information, Materie, Verarbeitung, Energie usw., bis hin zur grundlegenden algorithmischen Funktionsweise aller Computersysteme, wird Teilung impliziert. Sinneswahrnehmung, von ihrer «höchsten» synästhetischen Ebene bis zur Funktionsweise der Nerven hinunter, ist aber naturgemäß abhängig von einer physiologischen und neurologischen «Einheit der Performanz».

Die enge Beziehung, z.B. zwischen Bewegung und der Wahrnehmung von Bewegung, ist klar dokumentiert worden. Ernst-Michael Kranich berichtet zum Forschungsstand:

«Niemand leugnet heute ein inneres Empfinden von bestimmten Vorgängen in den Muskeln. Die enge Verflechtung von Bewegen und Empfinden bzw. von Bewegungsimpulsierung und Bewegungskontrolle ist eingehend erforscht. So spricht man nicht mehr von Motorik, sondern von Sensomotorik.»40

Viktor von Weizsäckers bekannte Theorie des «Gestaltkreises» fußt auf dieser Einheit von Wahrnehmung und Bewegung. Sie ist nur denkbar, wenn es keine physiologischen Grenzen zwischen Wahrnehmung und Bewegung gibt. Weizsäcker schreibt:

«Ich gehe davon aus, dass z.B. beim Abtasten eines Gegenstandes zwar der Reiz die Bewegung, aber die Bewegung auch den Reiz in so unauflöslicher Verflechtung determiniert, dass eine solche kreisartige Verbundenheit, die man als ‹Gestaltkreis› bezeichnen kann, sich dem einfach kausalen Schema ‹Reiz-Reizerfolg› widersetzt …

Dabei zeigt sich dann auch, dass eine Trennung von Sensorik und Motorik nicht möglich ist. Jede Bewegung ist im Dienste einer Handlung, und diese setzt irgendeine Fühlungnahme mit dem äußeren Objekt voraus, also auch eine rezeptive Leistung. Und jede Wahrnehmung ist auch eine bestimmte Zuwendung, enthält also einen (meist motorischen) Akt, ist ein Tun.»41

Jede organisierte Bewegung hängt von der Integrierung sensorischer und motorischer Reaktionen ab. Dies ist eine Funktionseinheit, die mit den allen mechanischen Verarbeitungsmodellen, z.B. «Reiz-Reizerfolg», inhärenten Teilungen unvereinbar ist.42 Die symbiotische Relation der sensorischen und motorischen Verarbeitung lässt sich nicht auf die in den algorithmischen «Konstruktionen» des Computers implizierten Teilungen reduzieren. Hans-Jürgen Scheurle beschreibt den Zusammenhang folgendermaßen:

«Es ist jedes Sinnesorgan, jeder Rezeptor und jeder Nerv niemals nur empfindendes, sondern immer zugleich auch ausführendes oder effektorisches Organ. Umgekehrt sind die motorischen Funktionen im Organismus niemals von sensiblen oder fühlenden Funktionen isolierbar, sondern jedes Bewegen ist immer auch ein Empfinden, jedes Empfinden auch ein Bewegen (v. Weizsäcker). Die organismische Einheit von Empfinden und Bewegen widerspricht aber den Prinzipien der Kybernetik, weil es hier überhaupt keine exakt abgrenzbaren Funktionsblöcke gibt.»43

Die Entwicklung der Sinne

Ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen Informationsmodellen (informational models) und sensorischen Modellen (sensory models) wird in den Entwicklungsmöglichkeiten der Sinneswahrnehmung deutlich. Gerade die Entwicklungsmöglichkeiten der Sinne des Menschen waren es, die Goethe dazu veranlasst haben, das Studium der Sinne als äußerst wichtiges Studiengebiet zu betrachten. Die den Sinnen innewohnenden Möglichkeiten der Entwicklung können auf verschiedene Weise gezeigt werden. Es ist allgemein bekannt, dass durch den Verlust eines Sinnes normalerweise «unangezapfte» Reserven anderer Sinne sehr bedeutsam werden. Dadurch, dass andere Sinne ein breites Spektrum von Sinnesfunktionen «übernehmen» können, wird deutlich gezeigt, dass eine allgemeine Entwicklung der Sinne potenziell möglich ist. Die Flexibilität des ganzen Sinnesapparates beim Lernen, die Fähigkeit, sich an spezifische sensorische Störungen anzupassen, wirft ein Licht auf die universellen Möglichkeiten zu dessen Verfeinerung.

Jacques Lusseyran, einer der Studentenführer des französischen Widerstands im Zweiten Weltkrieg, der im Alter von sieben Jahren bei einem Unfall erblindete, beschreibt in seiner Autobiografie seinen Gehörsinn in den Jahren unmittelbar nach dem Unfall. Ich erlaube mir, ihn ausführlich zu zitieren, nicht nur, weil die außergewöhnlichen Möglichkeiten eines hoch entwickelten Gehörsinnes so deutlich beschrieben werden, sondern auch, weil der synästhetische Aspekt der Wahrnehmung so deutlich wird.

«Wie hätte ich die ganze Zeit leben können, ohne mir darüber klar zu werden, dass alles in der Welt eine Stimme hat und spricht? Nicht nur die Dinge, von denen man erwartet, dass sie sprechen, sondern auch die anderen, wie das Tor, die Wände des Hauses, der Schatten der Bäume, der Sand und die Stille.

Schon vor meinem Unfall liebte ich die Laute, doch heute scheint es mir klar, dass ich nicht auf sie hörte. Nachdem ich erblindete, konnte ich keine Bewegung ausführen, ohne eine Lawine an Lärm auszulösen. Wenn ich nachts in mein Zimmer ging, in das Zimmer, in dem ich früher nie etwas gehört hatte, machte die kleine Gipsstatue auf dem Kaminsims eine winzige Drehung. Ich hörte den Reibelaut in der Luft, ein so zarter Laut wie der Laut einer winkenden Hand. Immer wenn ich einen Schritt machte, schrie oder sang der Fußboden – ich konnte hören, dass er beides tat –, und sein Lied wurde von einer Bodendiele zur andern weitergegeben, von mir bis zum Fenster. So bekam ich eine Vorstellung von der Größe des Zimmers.

Wenn ich plötzlich etwas sagte, begannen die Fensterscheiben, welche in ihren gekitteten Rahmen so fest gefügt schienen, zu vibrieren, natürlich nur ganz leicht, aber deutlich. Dieses Geräusch war auf einer höheren Tonebene als die anderen, es war kühler, wie wenn es bereits Berührung mit der Außenluft hätte. Jedes Möbelstück knarrte, einmal, zweimal, zehnmal, und zog im Laufe von Minuten eine Spur von Lauten wie Gesten nach sich. Das Bett, der Kleiderschrank, die Stühle streckten sich, gähnten und zogen die Luft ein.

Wenn ein Luftzug auf die Tür stieß, knarrte sie ‹Luftzug›, wenn eine Hand sie aufstieß, knarrte sie nach Art der Menschen. Für mich gab es kein Vertun beim Unterscheiden der Geräusche. Ich konnte aus der Entfernung die kleinste Vertiefung in der Wand hören, denn sie veränderte das ganze Zimmer. Weil diese Nische, jener Alkoven dort waren, sang der Kleiderschrank ein hohleres Lied …

Die Laute hatten die gleiche Individualität wie das Licht. Sie waren weder innen noch außen, sie gingen durch mich hindurch. Sie gaben mir meine Orientierung im Raum und brachten mich mit den Dingen in Berührung. Sie funktionierten nicht wie Signale, sondern wie Antworten.»44

Es ist etwas «Symphonisches» in der Art, wie die Interaktion der Sinne hier beschrieben wird. Durch das Zusammenspiel seines Gehörsinnes mit einer Anzahl anderer Sinne wird eine umfassende Wahrnehmung der Umgebung möglich. Wenn man berücksichtigt, dass er infolge seiner Blindheit hauptsächlich abhängig ist von dem, was er hört, weist die ständige Gegenwart anderer Sinne auf die grundsätzlich synästhetische Natur der Wahrnehmung hin. Während er hört, nimmt er auch durch den Seh- und den Bewegungssinn wahr («die kleine Gipsstatue auf dem Kaminsims machte eine winzige Drehung»), ebenso durch den räumlichen Sinn («So bekam ich eine Vorstellung von der Größe des Zimmers»), den Tastsinn («schienen in ihren gekitteten Rahmen so fest gefügt»), den Vibrationssinn («begannen zu vibrieren»), den Gehör- und Wärmesinn («dieses Geräusch war auf einer höheren Tonebene als die anderen, es war kühler, wie wenn es bereits Berührung mit der Außenluft hätte»), den Wortsinn («sie knarrte ‹Luftzug›»), den räumlichen und den Gehörsinn («weil diese Nische, jener Alkoven dort waren, sang der Kleiderschrank ein hohleres Lied»).

Lusseyrans außergewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeiten machten ihn zu einer Schlüsselfigur im französischen Widerstand. Es lag hauptsächlich in seiner Verantwortung zu entscheiden, wem man vertrauen konnte, wenn er Mitglied dieser großen Organisation werden wollte. In einer Situation, in der das Leben von Menschen von der Richtigkeit von Lusseyrans Urteil abhing, machten ihn seine hoch entwickelten Wahrnehmungsfähigkeiten zur idealen Person für die Befragung eventueller zukünftiger Mitglieder. Er schrieb seinen außergewöhnlichen Erfolg bei der Einschätzung von Charakteren und Motiven von Menschen, die er nicht sehen konnte, seinen hoch entwickelten Sinnesfähigkeiten zu, die aus dem Verlust seiner Sehkräfte hervorgingen. Er schreibt:

«Ein Blinder befindet sich in einem Raum; ein Mann tritt ein, setzt sich und spricht nicht. Ist es dem Blinden möglich, ihn kennenzulernen? Der gesunde Menschenverstand wird sagen: Nein. Doch ich bin nicht sicher, ob der gesunde Menschenverstand recht hat. Der Blinde kann sich voll konzentrieren. Er kann sich so sehr öffnen, dass die regungslose Person näher rückt. Nach und nach, ruhig und ohne Bewegung kann er alle inneren Hindernisse beseitigen, die ihn von andern trennen, bis er beginnt, die Erscheinung des Mannes in sich aufzunehmen.

Ich weiß, dass eine solche Erfahrung an die Grenzen des Erkenntnisvermögens stößt. Ich weiß, dass dies beinahe nie bewusst stattfindet. Und dennoch glaube ich, dass jeder Blinde eine solche Erfahrung gemacht hat, ob es ihm bewusst war oder nicht …

Das besondere Verdienst der Blindheit besteht nicht darin, dass sie eine andersartige Erfahrung schafft, sondern dass sie uns notwendigerweise zu einer höher entwickelten Erfahrung führt.»45

Das außergewöhnliche Gehör eines guten Instrumentalisten, das Klang- und Intonationsfeinheiten, die nur für wenige wahrnehmbar sind, reguliert, der hoch entwickelte Sehsinn eines Malers, der innerhalb einer Farbe, die allgemein nur als eine einzige wahrgenommen wird, eine ganze Palette an Farben sieht, der fein ausgebildete Geruchs- und Geschmackssinn eines Feinschmeckers – an ihnen allen werden die Möglichkeiten deutlich, welche die Entwicklung der Sinne bietet. Das sind Lernprozesse, die im Mutterleib beginnen und in jedem Lebensabschnitt fortdauern. Wird Sinneswahrnehmung in diesem Zusammenhang gesehen, so bietet sie eine ganz andere Entwicklungsperspektive als alle Informationsmodelle.

Die Erweiterung der Sinne – Rudolf Steiners Sinneslehre

Die Hypothese, die im Laufe dieser Untersuchung entwickelt wird, fasst die Fähigkeit des Menschen, Sprache und Denken zu verstehen, als Formen der Sinneswahrnehmung auf. Diese Auffassung wurde 1909 erstmals von Rudolf Steiner vorgebracht und in der Folge von ihm und anderen, vor allem von Hans E. Lauer, Georg von Arnim, Karl König und Ernst Lehrs weiterentwickelt und erweitert. Rudolf Steiner nahm das Vorhandensein von zwölf Sinnen an. Diese teilte er in drei Gruppen ein:

Ichsinn

(Sinn für die Wahrnehmung des «Selbst» einer anderen Person)

Gedankensinn

(Sinn für die Wahrnehmung des Denkens einer anderen Person)