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Das Buch zur Materialwende Der Bioökonomie gehört die Zukunft: Der Wandel weg von allem Fossilen und hin zu einer Gesellschaft, die mit nachwachsenden Rohstoffen haushaltet, wird einer der großen Transformationsprozesse des 21. Jahrhunderts sein. Seit jeher hat die Menschheit biologische Ressourcen genutzt um daraus Häuser, Kleidung oder Alltagsgegenstände herzustellen. Bis wir vor rund 150 Jahren damit begannen, fossilen Kohlenstoff aus den Tiefen der Erde zu Tage zu fördern – Kohle, Öl und Gas waren einfach zu verführerisch und wurden zu Grundstoffen unserer Zivilisation. Nun sind wir an einem Punkt angelangt, wo sich die heiße Affäre mit dem schwarzen Gold in eine »toxic relationship« verwandelt hat und dazu führt, dass sich unser Planet immer weiter aufheizt. Höchste Zeit also, dass wir uns wieder dem erneuerbaren Kohlenstoff aus nachwachsenden Quellen an der Erdoberfläche zuwenden, um damit unsere Welt nachhaltiger und klimaschonender zu gestalten. Dass dieser Wandel möglich ist und eine biobasierte Zukunft schon heute beginnen kann, beweisen Markus Petruch und Dominik Walcher mit diesem Buch. Sie beschreiben die große Vielfalt an nachwachsenden Rohstoffen aus Pflanzen, Pilzen, Algen, Bakterien und Reststoffen und erklären, wie die Materialwende aussehen könnte. Ob Neuinterpretationen von altem Wissen oder High-Tech-Innovationen – die 101 vorgestellten Produkte, Materialien und Ideen zeigen auf geniale Weise, dass biobasierte, kreislauffähige und klimafreundliche Lösungen entweder schon heute verfügbar oder zum Greifen nah sind. * Verpackung aus Fischabfällen * Unterwäsche aus Holz * Möbel aus Popcorn * Turnschuhe aus Bakterienseide * Socken aus recyceltem CO2 * und viele mehr
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Seitenzahl: 263
MARKUS PETRUCH | DOMINIK WALCHER
DER STOFF AUS DEM DIE ZUKUNFT IST
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Für Fragen und Anregungen
1. Auflage 2022
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Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.
Redaktion: Desirée Šimeg
Korrektorat: Anke Schenker
Umschlaggestaltung: Maria Verdorfer
Umschlagabbildung: Bakterien: Shutterstock/Kateryna Kon, Proteine aus Einzellern: Solar Foods, Wiese: Shutterstock/Photoagriculture, Pavillon: ICD ITKE IntCDC University of Stuttgart, Bäume: Shutterstock/Alex Stemmers, Sitzschalen: Ebner, Verpackung aus Seetang: Notpla, Algen: Shutterstock/Chokniti-Studio, Tasche: Petrick, Orangenschalen: Shutterstock/kisa2014, Tiere: Shutterstock/Imageman, Kacheln: Georgina Fairhurst – Vim Studios Ltd, Pilz: Shutterstock/Protasov AN, Kappe: ZVNDER, Linienstrang: Shutterstock/korkeng
Satz: Daniel Förster
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95972-625-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-183-5
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-184-2
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Unseren Eltern
Ein paar Wunschträume vorweg
Teil 1Menschen und Material
Willkommen im Anthropozän
Der globale Kohlenstoffkreislauf
Ein gestörtes Gleichgewicht
Die Kehrseite des fossilen Wegs
Bioökonomie: Die biobasierte Wirtschaft
Biomasse: Der Stoff, aus dem die Zukunft ist
Energie aus Biomasse
Biobasierte Kunststoffe
Kreislaufwirtschaft: Zeit, dass sich was dreht
Schöne grüne Welt?
Wie dieses Buch zu lesen ist
Teil 2101 Produkte
Algen
1 Windeln aus Knotentang
2 Dämmung aus Seegras
3 Verpackung aus Seetang
4 Briefmarken aus Algenpapier
5 Asphalt aus Algenresten
6 Luftfilter aus Mikroalgen
7 Farben aus lebenden Algen
8 Carbonfasern aus Algenöl
9 Skipiste aus Algen
Pflanzen
10 Fahrradreifen aus Löwenzahn
11 Sessel aus Nessel
12 Verpackung aus Kokosfasern
13 Haushaltsreiniger aus Rote Bete
14 Mulchfolie aus Stärke
15 Kleidung aus Hanf, Leinen und Buche
16 Gitarre aus Hanf
17 Ziegelsteine aus Hanfschäben
18 Konfetti aus Saatgut
19 Architektur aus Pflanzen
20 Oberflächen aus Rattan
21 Oberflächen aus Almwiesen
22 Geschirr aus Palmblättern
23 Hängesystem aus Gras
24 Backpack aus Bananenfaser
25 Spielsteine aus Mais
26 Straßenschilder aus Bambus
27 Baumaterial aus Schilf
28 Veganer Pelz aus Rohrkolben
29 Karosserie aus Flachsfasern
30 Segelboot aus Flachs
31 Pavillon aus Flachs
Holz
32 Gips aus Holzfasern
33 Möbel aus Birkenrinde
34 Kreditkarte aus Holz
35 Fahrradhelm aus Zellulose
36 Bettwäsche aus Eukalyptus
37 Unterwäsche aus Holz
38 Sitzbezüge aus Baumrinde
39 Windräder aus Holz
40 Rucksack aus Papier
41 Gewachsene Stühle aus Weide
42 Glas aus Holz und Zitrone
43 Urnen aus Ästen
44 Minimalschuhe aus Papier
45 Kaugummi aus Kiefernharz
46 Fahrradteile aus Holz
47 Energiespeicher aus Lignin
48 Dämmstoff aus Rindenextrakt
49 Textilien aus Laubholz
50 Hocker aus Kastanienspan
51 Skateboard aus Kork
52 4D-Druck mit Holzfilament
53 Tinyhouse aus Pappe
54 Städte aus Holz
Tiere
55 Eierbecher aus Eiern
56 Sneaker aus Hundehaar
57 Tragenetze aus Haar
58 Komposit aus Schafwolle
59 Funktionskleidung aus Wolle
60 Geschirr aus Rinderblut
61 Verpackung aus Krabbenschalen
62 Kunststoff aus Fischabfall
63 Kacheln aus Fischschuppen
Bakterien
64 Laufschuh aus Bakterienseide
65 Designklassiker aus Biopolymer
66 Kugelschreiber aus Biopolymer
67 Superkleber aus Darmbakterien
68 Textilfarben aus Bakterien
69 Taschen aus bakterieller Nanozellulose
70 Proteine aus Einzellern
Biogene Reststoffe
71 Lampenschirm aus Trester
72 Schalenstuhl aus Artischocke
73 Kaffeebecher aus Kaffee
74 Kosmetik aus Kaffeesatz
75 Weinkühler aus Lärchenrinde
76 Geschirr aus Kleie
77 Jausenbox aus Kakaoschalen
78 Abschminktuch aus Grünabfällen
79 Lampenschirm aus Weihnachtsbaum
80 Teppich aus Zellulose
81 Papier aus Kiwischalen, Kirschkernen und Lavendelstängeln
82 Möbel aus Popcorn
83 Sitzschalen aus Rinde
84 Oberflächen aus Maishülsen
85 Löffel aus Haferfasern
86 Socken aus CO2
87 Pflanztöpfe aus Sonnenblumenschalen
88 Halfter aus Traubenschalen
89 Papier aus Elefantendung
90 Schreibtisch aus Altholz
91 Versandbox aus Stroh
92 Tasche aus Orangenschalen
93 Lampe aus Avocadokernen
94 Jacke aus Ananasresten
95 Strumpfhosen aus Chicorée
Pilze
96 Sarg aus Pilzmyzel
97 Verpackung aus Pilzen
98 Laminat aus Pilz und Reststoff
99 Kappen aus Zunderschwamm
100 Ziegelsteine aus Zunderschwamm
101 Architektur aus Pilz
Gemeinsam in eine neue Zeit
Danksagung
Weiterführende Links, Bücher und Materialien
Bildnachweis
Anmerkungen
Die schlechte Nachricht: Wir stehen vor gewaltigen Problemen, die wir selbst geschaffen haben. Die gute Nachricht: Alles, was ist, ist einmal geworden. Das heißt, es kann auch wieder anders werden. Die Zukunft entsteht also nicht einfach so, sondern aus den Entscheidungen, die wir heute treffen.
Werfen wir einen Blick in eine mögliche Zukunft:
Wir schreiben das Jahr 2052. Knapp eine Generation ist es her, da stand die Welt an einem gefährlichen Kipppunkt. Riesige Mengen an Müll verschmutzten die Ozeane, Mikroplastik fand sich in unseren Lebensmitteln, eine rasch abnehmende Artenvielfalt und eine unaufhaltbar scheinende Klimakatastrophe bedrohten jeden unserer Lebensbereiche. Denkt man an die alten Geschichten aus den 2020er-Jahren zurück, so wird einem bewusst, wie viel sich in den letzten drei Jahrzehnten geändert hat. Europa ist gemäß dem Green Deal klimaneutral geworden. Die Erderwärmung wurde zwar nicht aufgehalten, aber ihre Auswirkungen zumindest stark eingedämmt. Fossile Energieträger werden nicht mehr verbrannt und fossile Materialien nicht mehr hergestellt. Die Materialien, die es noch gibt, zirkulieren auf lange Sicht im Kreislauf der Wiederverwertung. Wir haben das, was längst vergessen schien, wiederentdeckt und neu interpretiert: ein Leben mit dem erneuerbaren Kohlenstoff, den die Natur uns bietet. Statt Erdöl, Gas und Kohle nutzen wir das Holz der Bäume, das Gras der Felder, die Kraft von Mikroorganismen, Pilzen und Enzymen sowie die Energie von Sonne, Wasser und Wind. Das Wort »Müll« ist fast aus dem Sprachgebrauch verschwunden, weil wir erkannt haben, dass Reststoffe wertvolle Grundstoffe und Bestandteil eines Kreislaufs sind – wie in der Natur eben auch.
Vieles von dem, was uns heute so selbstverständlich erscheint, war damals noch unvorstellbar oder eine träumerische Zukunftsvision. Doch vielleicht haben wir auch einfach nicht wahrgenommen, woran damals geforscht wurde, welche Lösungen es bereits gab oder welche Vordenker schon seit Jahren an einer besseren Welt arbeiteten: Wissenschaftler, die neues biologisches Wissen lieferten, Start-ups, die lang vergessene Naturstoffe nutzten, um fossilen Kohlenstoff zu ersetzen, globale Initiativen, die positive Zukunftsentwürfe entwickelten, und auch eine immer größer werdende Gruppe von Menschen, die sich auf die neuen Lebenswelten einließen und sich bewusst wurden, dass sie eine entscheidende Rolle in dem großen Wandlungsprozess spielten. Schritt für Schritt haben wir uns besser in das Gesamtsystem der Natur integriert und dadurch die Welt verändert.
Noch ist dies eine wünschenswerte Vorstellung, nicht die Wirklichkeit – und unsere Einleitung muss daher anders ausfallen. Noch befinden wir uns am Anfang der 2020er-Jahre und die Menschheit hat den epochalen Wandel noch vor sich, der darüber entscheiden wird, wie die nachfolgenden Generationen leben werden. Aber klar ist: Die Zukunft wird im Hier und Jetzt gestaltet, und zwar von uns allen gemeinsam. Was wir heute tun oder lassen, wird darüber entscheiden, wie wir morgen leben werden.
Bei der Bioökonomie geht es um die Abkehr von fossilen Rohstoffen zugunsten einer Wirtschaftsweise, die nachwachsende Rohstoffe und biologische Prozesse einsetzt. Sie ist ein wichtiger Baustein für eine nachhaltige Zukunft, aber kein völlig neues Konzept. Im Prinzip hat die Menschheit schon immer die biologischen Ressourcen und erneuerbaren Energien genutzt, die regional verfügbar waren: Holz war Baumaterial, mit Stroh wurden Wände gedämmt, Schafe lieferten Wolle für Kleidung, Weidenruten wurden zu Körben geflochten, Hefepilze fermentierten die Gerstenmaische zu Bier, Wind und Wasser trieben Mühlen an und die Energie der Sonne sorgte für Wärme.
Jedoch haben wir vor rund 150 Jahren genau diese Lebensweise immer mehr aufgegeben und einen gefährlichen Weg eingeschlagen: Statt weiterhin den erneuerbaren Kohlenstoff an der Erdoberfläche aus nachwachsenden Quellen zu nutzen, fingen wir an, den fossilen Kohlenstoff, der in den Tiefen der Erde schlummerte, zutage zu fördern und zu verbrauchen. Diese heiße Affäre mit dem schwarzen Gold war unglaublich verführerisch, denn Kohle, Öl und Gas lieferten einerseits hochenergiereiche Brennstoffe und andererseits vielseitige Ausgangsstoffe für den von uns so ersehnten Fortschritt. Erdölbasierte Kunststoffe haben unsere Welt wasserdicht, beständig und leicht gemacht. Kraftstoffe wie Benzin, Diesel und Kerosin ermöglichten das Zeitalter der Massenmobilität. Es gab kaum ein Problem, das sich nicht mit dem Kohlenstoff aus der Erde lösen ließ.
Nun sind wir an einem Punkt, an dem sich die heiße Affäre mit den fossilen Rohstoffen in eine toxische Beziehung verwandelt hat. Viele Kunststoffe bauen sich nämlich erst nach Hunderten von Jahren ab. Einige geben giftige Stoffe in die Umwelt ab oder zerfallen zu Mikroplastik, das wiederum in unserer Nahrungskette landet. Die Lebensdauer von Brennstoffen und Produkten aus Erdöl, Gas und Kohle steht in keinem gesunden Verhältnis zu den Millionen von Jahren, die für ihre Entstehung nötig waren. Als kurzlebige Verpackung, die in der Müllverbrennung landet, oder schnell verheiztes Benzin wird fossiler Kohlenstoff innerhalb weniger Monate oder Wochen in Form von CO2 in die Atmosphäre geblasen. Gemeinsam mit anderen Treibhausgasen hindern diese CO2-Partikel die auf die Erde treffende Sonnenenergie daran, wieder in den Weltraum zu entweichen, und verstärken so den Treibhauseffekt, der die Erde weiter aufheizt. Kurz gesagt: Das Kohlenstoffgleichgewicht zwischen Wasser, Land und Luft ist massiv gestört.
Es ist also allerhöchste Zeit, dass wir ablassen von der fossilen Liebschaft aus den Tiefen der Erde, die unseren Planeten weiter erhitzt. Der fossile Kohlenstoff muss im Boden verbleiben, wenn wir die Ziele aus dem Pariser Klimaabkommen erreichen wollen. Vielen Menschen ist das bereits klar. Die Botschaft »Our house is on fire« ist zumindest bei den allermeisten angekommen. Auch weil wir die Auswirkungen des Klimawandels mehr und mehr zu spüren bekommen, sei es durch Starkregenereignisse und Flutkatastrophen oder sommerliche Dürren, die Ernteausfälle bedingen, ganze Flüsse austrocken lassen und zahlreiche Hitzetote verursachen. Wir wissen, dass es beim Klimawandel nicht nur um die Eisbären in der Arktis geht, sondern um unsere Existenzgrundlage. Die alles entscheidenden Fragen sind, wie wir mit dieser Erkenntnis umgehen und welche systematischen Veränderungen wir daraus ableiten.
Eine Möglichkeit besteht in einem radikalen Wandel hin zu einer Wirtschaft, die biologische Rohstoffe und Verfahren nutzt. Denn sie basieren auf dem Kohlenstoff, der an der Erdoberfläche zirkuliert. Pflanzen, als wichtigste Vertreter dieser biologischen Rohstoffe, verursachen kein CO2 während ihrer Herstellung, sondern filtern es aus der Luft und speichern es in ihrer Struktur ein. Für ihre Entstehung sind weder energiehungrige Fabriken noch Hochöfen nötig. Sie wachsen von selbst und stellen dabei die vielfältigsten organischen Moleküle her, die wir Menschen nutzen können. Die Energie, die sie dafür benötigen stammt letztendlich von der Sonne.
Dieser Wirtschaftswandel führt uns zurück in eine Zeit ohne fossile Energien und Materialien, in der die Natur um uns herum alles bot, was wir zum Leben brauchten. Diese Rückbesinnung wird dabei alles andere als ein Rückschritt sein. Ganz im Gegenteil: Der Weg hin zu einer nachhaltigen Bioökonomie wird Innovationen, Arbeitsplätze und umweltfreundlichere Technologien schaffen. Ein wachsendes naturwissenschaftliches Verständnis hilft uns dabei, die Mechanismen der Natur besser zu verstehen. Wichtig dabei ist, statt dem technischen Tunnelblick, der nur die abgekapselte Innovation sieht, das gesamte Ökosystem wahrzunehmen – auch die Effekte, die unser Handeln darauf hat. Denn zum Wandel gehören einerseits Wissen, Ingenieurskunst und Kreativität und andererseits die Verantwortung für unser Tun. Nur wenn beides zusammenkommt, können wir die neuen alten Bausteine der Welt schonend und nachhaltig einsetzen, sodass die Regenerationsfähigkeit natürlicher Systeme nicht überschritten wird.
Dieses Buch erzählt von diesen neuen alten Bausteinen, die unser Leben verändern werden. Statt grauer Theorie und wissenschaftlichem Diskurs soll hier aber die bunte und vor allem angewandte Vielfalt dieser Bausteine erfahrbar gemacht werden. Anhand von 101 Beispielen stellen wir dar, wie der Weg aussehen kann, der uns – nicht auf energetischer, sondern auf stofflicher Ebene – Schritt für Schritt aus dem fossilen Zeitalter führt. Es ist eine Zusammenstellung von Inspirationen, die zeigt, was entstehen kann, wenn die Genialität der Natur auf die Kreativität des Menschen trifft: innovative Produkte, kühne Prototypen und visionäre Projekte, die alle den Weg in ein regeneratives biologisches Zeitalter, ein »Biozän« ebnen. Manche davon interpretieren alte Traditionen neu oder nutzen bewährte Rohstoffe der Natur. Andere setzen auf hochmoderne biotechnologische Verfahren und neu gewonnenes Wissen.
Nicht alles davon ist zum jetzigen Zeitpunkt bereits voll ausgereift, nicht alles ist komplett frei von fossilen Stoffen oder Energie. Aber alle Beispiele sind Teil einer Entwicklung, die das, was die Natur über Millionen von Jahren dank intelligenter Evolution immer weiter perfektioniert hat, besser einsetzen und in Kreisläufen halten will: Bäume, Gräser, Algen, Pilze, Insekten, Bakterien und Enzyme – sie alle bestehen aus erneuerbarem Kohlenstoff, den wir nun wieder zu nutzen verstehen.
Dass unter den Beispielen auch Forschungsprojekte und Designexperimente zu finden sind, ist kein Zufall. Einerseits zeigen diese mutigen Prototypen viel weiter in die Zukunft als voll entwickelte, marktfähige Produkte. Andererseits arbeiten und forschen wir Autoren an einem Hochschulcampus, der zwei Schwerpunkte miteinander verbindet: die biobasierte Materialforschung sowie nachhaltiges Design. Wir stellen zunehmend fest, dass die junge Generation von Studierenden bestens über ökologische Krisen informiert ist. Statt endlosem Problemdiskurs fordern sie inspirierende Lösungsbeispiele und praktikable Werkzeuge, mit denen sie ihren Beitrag zur Bewältigung dieser Krisen leisten können.
Ursprünglich wollten wir deshalb unseren Studierenden ein Skript bereitstellen, das ein Licht auf die »Bioniere« wirft, die mit Materialien aus erneuerbarem Kohlenstoff experimentieren, Neuland erkunden und Alternativen erarbeiten. Eine inspirierende Sammlung von Menschen die sich – ebenso wie wir an unserem kleinen Campus in Österreich – mit dem Stoff der Zukunft auseinandersetzen und ihr Wissen anwenden, sei es im Bereich des Designs oder der nachwachsenden Rohstoffe.
Aus dem Skript ist nun ein Buch geworden, auch weil wir feststellten, dass das Konzept der Bioökonomie bei der Allgemeinheit noch nicht so bekannt ist, wie es sein sollte. Viele Leute wissen mittlerweile, dass nachwachsende Rohstoffe als Energieträger eingesetzt werden können. Doch dass sie unsere Materialwelt revolutionieren oder dass Bakterien und Pilze große Industrieprozesse nachhaltiger gestalten könnten, ist weitgehend unbekannt. Und von »Bioökonomie« haben noch die wenigsten etwas gehört.
Unsere Wunschvorstellung ist, dass die Beschäftigung mit den ausgewählten Beispielen und den zugrunde liegenden Rohstoffen das Bewusstsein dafür schärft, dass Dinge nicht einfach aus dem Nichts entstehen. So wie Strom sich nicht wundersamerweise innerhalb der Steckdose entwickelt oder Wasser sich nicht urplötzlich im Wasserhahn bildet, kommen die Produkte, mit denen wir tagtäglich leben, nicht einfach aus dem Supermarktregal oder vom Onlineversand. Ihrem Entstehen gehen komplizierte Produktionsprozesse und lange Lieferketten voran, nicht zu vergessen die Förderung, der Anbau oder die Aufbereitung der notwendigen Rohstoffe. Wie fragil diese Wertschöpfungsketten sind, haben wir – wenn auch nur ansatzweise – in der Corona-Pandemie zu spüren bekommen.
Nicht erst mit dem Krieg in der Ukraine ist unsere Welt aus den Fugen geraten, sondern schon seit Jahren befinden wir uns in einer Art Dauerkrise aus Klimawandel, Artensterben, Ressourcenknappheit und ökologischer Zerstörung. Das Wort »Zeitenwende« trifft also nicht nur auf unsere Sicherheitslage zu. Dementsprechend müssen auch die Entscheidungen anders getroffen werden, die alles Menschengemachte betreffen. Dafür braucht es jetzt »Bioniere«, die im Bereich der Materialien und des Designs neue Wege gehen, um unsere Welt zukunftsfähiger zu gestalten. Es braucht aber auch Entscheidungsträger, die dafür die entsprechenden Rahmenbedingungen setzen. Und es braucht Nutzer, die bereit sind, sich auf kreislauffähige, biobasierte Produkte und Konzepte einzulassen.
Diese »Materialwende« muss aber zuerst in unseren Köpfen passieren. In uns muss das Bewusstsein wachsen, dass der Ausstieg aus den fossilen Rohstoffen sich nicht nur auf unsere Energieversorgung bezieht, sondern auch auf die Kleidung, die wir tragen, oder auf das Haus, in dem wir wohnen.
Frei von Herausforderungen ist die Bioökonomie jedoch nicht und sollte daher auch nicht vorbehaltlos bejubelt, sondern durchaus kritisch hinterfragt werden. Fakt ist: Ein Umschwenken auf erneuerbaren Kohlenstoff allein wird den Klimawandel nicht aufhalten und unseren Planeten nicht retten. Für eine gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Transformation braucht es weitere Teile, die das Puzzle ergänzen, etwa eine radikale Änderung unseres Konsumverhaltens, eine bessere Kreislaufführung unserer Ressourcen, den zügigen Ausbau erneuerbarer Energien, neue Mobilitäts- und Arbeitskonzepte, den Schutz der Biodiversität, eine Hinwendung zum Gemeinwohl als Messgröße von Lebensqualität und ein neues Selbstverständnis vom Menschen als Teil der Natur. Und auch das Konzept des ständigen Wachstums, das noch aus der industriellen Revolution stammt, sollte neu bewertet werden, denn mit Wirtschaftswachstum geht immer auch ein steigender Ressourcenverbrauch einher – und gerade dort sind wir schon weit über das naturverträgliche Limit hinaus. Wenn wir dies nicht beherzigen, verkommt der Naturraum zum biobasierten Rohstoffbuffet für ein nie zu stillendes industrielles Wachstum und unsere Konsumkultur des Überflusses wird weiterhin nicht infrage gestellt.
Die Beispiele, die wir Ihnen in diesem Buch vorstellen, sind ebenfalls keine Allheilmittel. Unsere Sammlung stellt keinen Produktkatalog dar, mit dessen Hilfe ein grünes Gewissen erkauft werden kann – ebenso wenig, wie das allein durch den Tausch von Verbrenner gegen E-Auto möglich wäre. Dennoch sind sie Teil eines erstrebenswerten Wandels und zeigen Möglichkeiten auf. Denn auch wenn wir uns wünschen würden, dass alle bestehenden Dinge perfekt recycelt und unser Einwegkonsum sich von heute auf morgen radikal ändern würde, sieht die Realität anders aus. Auch in Zukunft werden wir unsere Welt mit Materialien ausstatten und gestalten, und mit einer zunehmenden Weltbevölkerung und steigenden Lebensstandards wird auch die Ressourcenfrage jeden Tag dringender.
Don Huberts, ehemaliger CEO der Abteilung Wasserstofftechnologien beim Ölriesen Shell, sagte kurz vor der Jahrtausendwende: »Die Steinzeit ist nicht wegen einem Mangel an Steinen zu Ende gegangen. Ebenso wenig wird das Ölzeitalter wegen einem Mangel an Öl enden.«1 Das fossile Zeitalter endet, weil wir bessere Alternativen haben. Bei kohlenstoffbasierten Materialien haben wir die Wahl, ob wir den Kohlenstoff aus fossilen oder erneuerbaren Quellen nehmen und ob wir ihn wiederverwenden oder nicht. Die Rückbesinnung auf die Fähigkeiten der Natur und der verantwortungsvolle Umgang mit ihr können zu einer nachhaltigeren Lebensweise beitragen. Die Nutzung von regionalen Ressourcen stärkt die ländlichen Räume und macht uns als Wirtschaft und Gesellschaft zudem resilienter gegenüber Krisen.
Dazu muss aber das Bewusstsein für biobasierte Lösungen und die Diskussion darüber, wie wir unsere Naturräume nutzen wollen, in die Mitte der Gesellschaft rücken. Je bekannter das Thema Bioökonomie ist, je mehr von der erstrebenswerten Materialwende die Rede ist und je präsenter die Alternativen zu erdölbasierten Produkten sind, umso mehr Menschen wird bewusst, dass sie tatsächlich eine Wahl haben. Je mehr Menschen Teil der Veränderung sind, desto größer und schneller wird die Dynamik der Transformation. Womöglich finden wir auch durch die Achtsamkeit dafür, woher unsere Rohstoffe stammen, ein neues, gesünderes Verhältnis zur Natur, dessen verletzlicher Teil wir letztlich sind.
Neben Erdöl, Gas und Kohle gibt es eine weitere nicht erneuerbare Ressource, die für die kommenden Jahre entscheidend sein wird: die Zeit. Viel davon haben wir nicht, wenn wir bis 2050 klimaneutral sein wollen. Es wäre jedoch der falsche Weg, angesichts der Herausforderungen in Schwermut zu verfallen und die Hände in den Schoß zu legen oder düstere Untergangsszenarien zu propagieren. Wir brauchen stattdessen attraktive und klimaverträgliche Lösungen, die Optimismus entfachen, die Lust machen auf ein gutes Morgen. Denn nur mit einer positiven Vision können wir gemeinsam eine lebenswerte Welt gestalten. Die Beispiele aus diesem Buch sollen begeistern für das, was bereits da ist, und Mut machen, für das, was kommt. Zukunft braucht Zuversicht! Und Optimismus ist – ebenso wie der Kohlenstoff – eine erneuerbare Ressource.
Wie keine andere Spezies je zuvor hinterlassen wir »Gebrauchsspuren« an unserem Planeten. Die Einflüsse des Menschen auf die Erde sind gewaltig.
Laut einer Studie, die Ende 2020 in der Fachzeitschrift Nature erschien,2 ist die Masse von allem Menschengemachten – also vom Wolkenkratzer über Straßen, Häuser, Möbel bis zum Smartphone – ebenso groß wie die Masse aller Lebewesen. Während die Biomasse, also das Gewicht aller Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen, über die letzten Jahrtausende nahezu konstant geblieben ist, hat sich die Masse des künstlich von Menschen geschaffenen Materials im vergangenen Jahrhundert alle 20 Jahre verdoppelt – ein exponentielles Wachstum.
Die Menschheit selbst macht nur 0,01 Prozent der Biomasse aus, treibt aber mittels Technologie rapide den fragwürdigen Wandel des Planeten voran. Für jeden von uns knapp 8 Milliarden Erdenbewohnern wird innerhalb einer Woche neues Material geschaffen, das in etwa unserem Körpergewicht entspricht. Um diese vom Menschen geschaffene Welt aus Häusern, Autos, Möbeln, Verpackungen, Smartphones und vielem mehr zu bauen, müssen enorme Rohstoffmassen auf dem Planeten bewegt, verändert und bearbeitet werden. Der Mensch ist damit vom einfachen Bewohner dieses Planeten zu seinem Gestalter geworden: Wir verändern Ökosysteme, regulieren Flussläufe und prägen ganze Landschaftsbilder. Zum ersten Mal in den 4,6 Milliarden Jahren Erdgeschichte ist nicht mehr die Natur, sondern eine einzige Spezies der zentrale Einflussfaktor auf biologische, geologische und atmosphärische Prozesse geworden.
Dieser Aufstieg des Homo sapiens von einem selbstgenügsamen Jäger und Sammler hin zur dominantesten Spezies der Welt ging rasant vonstatten. Zwar war der Mensch schon seit Beginn der Neolithischen Revolution vor etwa 12.000 Jahren ein Gestalter von Kulturlandschaften, auf denen Ackerbau betrieben wurde, aber die richtig große Transformation von Rohstoffen in nutzbare Materialien und Energie fand erst mit der fortschreitenden Industrialisierung statt, also um 1850 herum. Dabei entstanden weltumspannende Materialströme, die immer mehr Erdbewohner mit immer mehr Gütern versorgten.
Es ist nun an der Zeit, sich bewusst zu werden, dass jeder Mensch auch einen großen materiellen Fußabdruck hat, der eng mit dem CO2-Fußabdruck verknüpft ist und unseren Hunger auf Ressourcen widerspiegelt. Denn seit den 1970er-Jahren hat sich der globale Abbau von Metallen, nichtmetallischen Mineralien, fossilen Rohstoffen und Biomasse vervierfacht,3 und wenn alle Erdenbürger so verschwenderisch leben würden wie wir Europäer, benötigten wir 2,8 Erden, um unseren Ressourcenverbrauch zu decken.4 Hier ist es ähnlich wie mit dem CO2-Ausstoß: Die reichsten Länder haben einen wesentlich größeren Materialfußabdruck als ärmere Staaten.
Angesichts der Milliarden Jahre Erdgeschichte ist der kurze Zeitraum, in dem der Mensch auf globaler Ebene aktiv seine Umwelt gestaltet, kürzer als ein Wimpernschlag. Dennoch sind dies die Schicksalsjahre unserer Spezies, in denen sich entscheidet, ob und wie wir in Zukunft auf dem »Raumschiff Erde« mit seinen fragilen Ökosystemen leben werden. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur entscheidend zu betrachten, zu welchem Maß wir unsere begrenzten Ressourcen nutzen wollen, sondern auch aus welchen Quellen sie stammen sollten: Nachwachsend oder fossil? Erneuerbar oder nicht erneuerbar?
Betrachten wir die Erde aus einer chemischen Perspektive, so kommen wir an einem Buchstaben nicht vorbei: dem C.
Gemeint ist nicht das Vitamin oder das hohe C, sondern Carbon, also Kohlenstoff. Aufgrund seiner besonderen Konfiguration kann das Kohlenstoffatom (C) mehr chemische Verbindungen eingehen, also komplexe Moleküle bilden, als irgendein anderes Element. Es kann einerseits in reiner Form vorkommen wie bei einem Diamanten, der zu 100 Prozent aus Kohlenstoff besteht, oder als Mischform zusammen mit anderen Elementen wie bei Erdöl (hauptsächlich Kohlenstoff und Wasserstoff) oder Kohle (hauptsächlich Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff). Alles lebende Gewebe auf der Erde ist eine Verbindung von Kohlenstoff mit anderen Elementen wie Sauerstoff, Wasserstoff oder Stickstoff. Auch der menschliche Körper besteht zu circa 28 Prozent aus Kohlenstoff. Das Element kann sich aber auch mit anderen Mineralien zu riesigen Gesteinsformationen verbinden, wie es beim Carbonatgestein der Südtiroler Dolomiten der Fall ist.
In allen Sphären der Erde ist Kohlenstoff in verschiedenen chemischen Verbindungen zu finden: in Lebewesen (Biosphäre), im Gestein (Lithosphäre), im Boden (Pedosphäre), im Wasser (Hydrosphäre) und in der Luft (Atmosphäre). Zwischen diesen verschiedenen Schichten wird der Kohlenstoff ausgetauscht oder umgewandelt. Dabei gibt es grundsätzlich zwei Arten von Kohlenstoffkreisläufen:
Einerseits können diese Umwandlungsprozesse recht schnell passieren, also in Zeiträumen, die für uns Menschen erlebbar sind, wie dem Gedeihen einer Wiese im Frühling oder dem Wachstum eines Baumes über mehrere Jahrzehnte. Der Baum filtert Kohlenstoffdioxid (CO
2
) aus der Luft, lagert den Kohlenstoff (C) in seinem Holz ein, um zu wachsen, und gibt dabei den Sauerstoff (O
2
) wieder ab. Stirbt der Baum irgendwann ab, wird bei der Zersetzung des Holzes durch Mikroorganismen dieser Kohlenstoff wieder frei. Diese Kohlenstoffatome verbinden sich mit Sauerstoff wieder zu CO
2
, das in die Atmosphäre entlassen wird. Als Bestandteil der Luft dient der Kohlenstoff wiederum anderen Pflanzen als Nahrung – und der Kreislauf von Werden und Vergehen schließt sich. Wir bezeichnen diese Art von »schnelllebigem« Kohlenstoff an der Erdoberfläche als erneuerbar, weil sich diese Quellen innerhalb menschlicher Zeithorizonte regenerieren, indem sie nachwachsen.
Andererseits kann die Umwandlung von Kohlenstoff an langfristige geologische Prozesse gekoppelt sein, die sich weit außerhalb des menschlichen Erlebnishorizontes befinden. Bis organische Masse wie ein Moor in Steinkohle umgewandelt wird oder aus Meeresalgen Erdöl entsteht, vergehen mehrere Millionen Jahre. Dieser Kohlenstoff ist nicht erneuerbar und damit endlich, weil wir seine Regenerierung nicht mehr erleben werden. Wir bezeichnen diese Quellen auch als fossil, vom lateinischen Wort
fossilis
, was so viel wie »ausgegraben« heißt, denn wollen wir ihn zutage fördern, so müssen wir ihn tief aus der Erde holen.
Aus menschlicher Perspektive kann man also von einem schnellen und einem langsamen Kohlenstoffkreislauf sprechen.
Das System von schnellen und langsamen Umwandlungsprozessen des Kohlenstoffs war über die letzten hunderttausend Jahre in einem relativ stabilen Fließgleichgewicht – und dann kam der moderne Mensch.
Die moderate Konzentration von CO2-Molekülen, Wasserdampf und anderen Treibhausgasen in der Atmosphäre schuf auf der Erde eine lebensfähige Umgebung mit einer Durchschnittstemperatur von etwa 15 Grad Celsius. Durch das Zutun des Menschen wurde das Kohlenstoffgleichgewicht allerdings stark aus der Balance gebracht. Besonders die Förderung und Nutzung von fossilen Rohstoffen wie Erdöl, Gas und Kohle in großem Stil setzte in kurzer Zeit große Mengen Kohlenstoff aus dem langsamen Kohlenstoffkreislauf frei, der bisher unter der Erdoberfläche gefangen war.
Zwar wird auch bei der Verbrennung von erneuerbarem Kohlenstoff, zum Beispiel dem Holz im Kaminfeuer, CO2 freigesetzt, allerdings nur so viel, wie der Baum während seines Wachstums der Atmosphäre entzogen hat. Das Kohlenstoffgleichgewicht bleibt damit stabil. Eine fossile Quelle kann aber nicht so einfach nachwachsen und atmosphärischen Kohlenstoff einlagern. Dazu braucht es die richtigen Bedingungen – und Hunderte Millionen Jahre Zeit.
Der fossile Kohlenstoff gelangt nun vor allem durch Verbrennung in die Luft und der CO2-Gehalt in der Atmosphäre steigt an, etwa durch Kohlekraftwerke, Autos mit Verbrennungsmotor oder Müllverbrennungsanlagen. Zwar ist CO2 ein leichtes Gas, in der Summe wiegt unser hoher globaler Ausstoß davon aber schwer: 34,8 Milliarden Tonnen waren es 2020. Das sind pro Sekunde 1.100 Tonnen CO2 zusätzlich in der Atmosphäre, die dort nicht hingehören.5 Dieses CO2 wirkt in den oberen Luftschichten als Treibhausgas und hindert Wärme, die vom Erdboden abgestrahlt wird, daran, in das Weltall zu entweichen. Deshalb heizt sich der Planet weiter auf.
Bevor wir anfingen, massenhaft fossilen Kohlenstoff zu verbrennen, lag die weltweite CO2-Konzentration im Jahr 1850 noch bei 280 parts per million, kurz ppm. Das heißt, auf 1 Million Moleküle trockener Luft kamen 280 Moleküle CO2. Heutzutage sind es 415 ppm – das ist eine Steigerung von 48 Prozent und ein Rekordwert, der in den letzten 800.000 Jahren (so weit reichen unsere Klimamodelle zurück) noch nie vorgekommen ist.6 Das mag nicht allzu schlimm erscheinen, ein paar Moleküle CO2 mehr, was macht das schon? Als elementares Spurengas, das an fast allen lebenswichtigen Prozessen beteiligt ist und wie kein anderes Gas den Treibhauseffekt beschleunigt, sind 0,04 Prozent CO2 in der Atmosphäre aber fatal.
Erdöl, Gas und Kohle lieferten ungeheure Mengen Energie. Sie entfesselten in Motoren und Maschinen unsichtbare Kräfte, für die vorher unsere eigene Muskelkraft oder die unserer Nutztiere nötig war. Oder die, wie im Bereich der Massenmobilität, einfach unvorstellbar waren. Zugleich boten sie ein großes Potenzial, um aus ihnen oder mit ihnen Güter herzustellen. Sie versprachen, die Menschheit in die Moderne zu führen, mit schnellem Wirtschaftswachstum, steigendem Wohlstand und ungebremstem Fortschritt. Das taten sie auch – allerdings mit großen Nebenwirkungen.
Um den enormen Energiebedarf der industriellen Produktion in Europa und Amerika zu decken, begann man ab Mitte des 18. Jahrhunderts, Braun- und Steinkohle zutage zu fördern. Die kohlenstoffreichen Brennstoffe befeuerten als kurzlebige Energieträger die Hochöfen und Dampfturbinen des Industriezeitalters. Später kam die Förderung von Erdöl hinzu, deren Anfänge nicht etwa in den Ölfeldern des Nahen Ostens liegen, sondern in der Lüneburger Heide. Im niedersächsischen Wietze wurde 1858 eine der weltweit ersten erfolgreichen Bohrungen nach Öl durchgeführt.7 Während diese Quelle zunächst eher unbeachtet blieb, fand der richtige Ölboom zur gleichen Zeit in Nordamerika statt. In Pennsylvania entwickelte sich vor allem dank den Möglichkeiten der Raffinerie und der Destillation von schwerem Erdöl zu leichterem Petroleum eine rasant wachsende Industrie. Das günstige Petroleum als Leuchtmittel für Öllampen machte nicht nur John D. Rockefeller mit seiner Standard Oil Company zum reichsten Mann der Neuzeit,8 sondern war in einem Aspekt sogar gut für die Umwelt: Es diente als Ersatz für den bis dahin gebräuchlichen Tran aus Wal- und Robbenfett, für den riesige Tierbestände vernichtet wurden.9 Auch in Europa gewann Erdöl an Bedeutung und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde aus der zunächst wenig beachteten ersten Ölbohrung in Wietze die wichtigste deutsche Ölquelle, die zeitweise rund 80 Prozent der gesamten inländischen Förderung lieferte.10
Zwar ging der Einsatz von Öllampen mit der steigenden Elektrisierung der Gesellschaft zurück, schon bald aber wurde die in den Kohlenwasserstoffen gebundene Energie des Öls als Treibstoff eingesetzt. Erdöl in Form von Benzin, Kerosin und Diesel ermöglichte im 20. Jahrhundert das Zeitalter der Massenmobilität. In allen Bereichen unseres Wirtschaftssystems wurden mehr und mehr fossile Rohstoffe eingebunden. Weltweit wurden neue Ölvorkommen erschlossen und dank der modernen Chemie konnte eine Vielzahl neuer Produkte aus Erdöl hergestellt werden. Auch das Erdgas aus Erdöllagerstätten wurde nicht mehr einfach abgefackelt, sondern mehr und mehr zu einem wichtigen Energieträger.
Der Verbrauch von Erdöl ging nach dem Zweiten Weltkrieg steil nach oben und es wurde das bis heute wichtigste Handelsgut der Welt. Der vielseitige Alleskönner revolutionierte unseren Alltag und lieferte die Grundlage für Schmierstoffe, Farben, Lacke, Düngemittel, Kleber, aber auch unzählige Arten von Kunststoffen. Mit der Flut aus billigem Öl begann in den 1950er-Jahren somit auch das »Plastikzeitalter«. Für jedes Problem fand sich eine Lösung aus Erdöl. Trinkflaschen, die leicht und fast unkaputtbar sind und sich in Sekundenbruchteilen herstellen lassen? Polyethylen macht’s möglich. Ein beschichteter Regenmantel, der vor Wind und Kälte schützt? Geht mit Polyurethan. Verpackungen, die unser Essen warm halten und so gut wie nichts kosten? Dafür gibt’s Polystyrol, besser bekannt als Styropor.