Der Therapeut als Erzähler - Jeffrey Berman - E-Book

Der Therapeut als Erzähler E-Book

Jeffrey Berman

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Beschreibung

Hommage und erstes autorisiertes Buch über Irvin D. Yaloms als Erzähler überhaupt. - Ein Buch über Irvin Yalom zu verfassen, war eine der kostengünstigsten und effektivsten Therapien meines Lebens ...

»Ich bewundere Yalom für seine profunden Beiträge sowohl zur Psychotherapie als auch zur Literatur und für seine ungeheure Menschlichkeit.« Irvin D. Yalom ist nicht nur einer der bekanntesten und renommiertesten Psychotherapeuten Amerikas, sondern auch ein weltweiter Bestsellerautor, der mit seinen Romanen und Erzählungen möglicherweise mehr Menschen für die Psychotherapie gewonnen hat als manche Fachgesellschaft. Jefferey Berman, ordentlicher Professor für Englisch an der University von Albany, beschäftigt sich in diesem Buch mit Irvin D. Yaloms literarischem Werk und der Wirkung, die dieses auf seine Leser und Leserinnen hatte. Es ist das erste Mal überhaupt, dass Irvin D. Yalom als Erzähler in den Mittelpunkt gerückt wird.

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Zum Buch

»Ich bewundere Yalom für seine profunden Beiträge sowohl zur Psychotherapie als auch zur Literatur und für seine ungeheure Menschlichkeit.«

Irvin D. Yalom ist nicht nur einer der bekanntesten und renommiertesten Psychotherapeuten Amerikas, sondern auch ein weltweiter Bestsellerautor, der mit seinen Romanen und Erzählungen möglicherweise mehr Menschen für die Psychotherapie gewonnen hat als manche Fachgesellschaft.

Jeffrey Berman, ordentlicher Professor für Englisch an der University at Albany, beschäftigt sich in diesem Buch mit Irvin D. Yaloms literarischem Werk und der Wirkung, die dieses auf seine Leser und Leserinnen hatte. Es ist das erste Mal überhaupt, dass Irvin D. Yalom als Erzähler in den Mittelpunkt gerückt wird.

Zum Autor

JEFFREYBERMAN ist außerordentlicher Professor für Englisch an der State University of New York. Sein Buch über Irvin D. Yalom ist autorisiert, er hatte exklusiven Zugang zu den Stanford Archives sowie zu Irvin D. Yalom persönlich. Es ist eine Hommage an den großen Erzähler und Humanisten Irvin D. Yalom.

Jeffrey Berman

Der Therapeut als Erzähler

Irvin D. Yalom und die Psychotherapie

Aus dem Amerikanischen von Liselotte Prugger

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Writing the Talking Cure. Irvin D. Yalom and the Literature of Psychotherapy« bei der State University of New York Press, Albany.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2024

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2019

State University of New York

© der deutschsprachigen Ausgabe 2024

btb Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Covergestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von © State University of New York Press

Covermotiv: Michael Zagaris

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

RK · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-26890-9V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Auf die Zukunft – auf unsere geliebten Enkelkinder: Audrey, Max, Nate, Skyler, Sloane und Talia. Und auf Julie, der funkelnde Stern meines Lebens.

Inhalt

Danksagung

Einführung: Existenzieller Schmerz

1 Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie Die Kunst der Selbstoffenbarung

2 Jeden Tag ein bißchen näherEine ungewöhnliche Geschichte

3 Existenzielle PsychotherapieLeben mit der Angst vor dem Tod

4Im Hier und Jetzt:Richtlinien der Gruppentherapie

5 Die Liebe und ihr Henker Leben mit existenziellem Schmerz

6 Und Nietzsche weinte Dankbarkeit und Murren

7 Die rote CouchBedrohung durch Überschreiten sexueller Grenzen

8 Die Reise mit PaulaDer »schwelende innere Komposthaufen« der Kreativität

9 Der Panama-Hut Von den Gefahren und Privilegien, ein Therapeut zu sein

10 Die Schopenhauer-Kur Nach einem Gegenmittel suchen

11 In die Sonne schauen Romanhafte Heilung

12 Das Spinoza-Problem »Ein Beruhigungsmittel für meine Leidenschaften«

13 Denn alles ist vergänglich Vorweggenommene Enden

Schlussbemerkung: Yaloms Anleitung zum Glücklichsein und Wie man wird, was man ist

Zum Tod von Marilyn Yalom

Literaturverzeichnis und Quellen

Danksagung

Ich bin Irvin Yalom sehr dankbar dafür, dass er sich die Zeit genommen hat, das Manuskript von Der Therapeut als Erzähler zu lesen und zu kommentieren, bevor ich es meinem Verlag zur Veröffentlichung gegeben habe. Er wies mich auf sachliche Fehler hin, half mir, Zusammenhänge zu erkennen, die ich nicht gesehen hatte, und erlaubte mir, seine Kommentare in diesem Buch zu verwenden. Als ich im Frühling 2017 in den Yalom-Archiven an der Stanford University recherchierte, luden Irv und Marilyn Yalom meine Frau Julie und mich zum Abendessen ein. Es war mir ein großes Vergnügen, die Yaloms zu treffen, die nicht liebenswürdiger hätten sein können. Als ich Irv Yaloms Antworten auf mein Manuskript las, hatte ich das gleiche Gefühl, das ich habe, wenn ich seine Bücher lese: Er gehört zu den Leuten, wie Henry James in »The Art of Fiction« anmerkt, »an denen nichts verloren ist«. Wie unzählige andere weiß ich seit Langem, dass Lesen und Schreiben therapeutisch wirken; ein Buch über Yalom zu schreiben, war die preiswerteste und effektivste Psychotherapie in meinem Leben.

Ich danke den Mitarbeitern der Abteilung Special Collections an der Stanford University, die alles getan haben, um mir bei meiner Recherche in den Yalom-Archiven zu helfen, in denen Hunderte von Briefen aufbewahrt werden, die von der Kraft seiner Schriften zeugen. Ein typischer Kommentar von einer Frau, die den kürzlichen Tod ihres Vaters betrauerte: »Ich möchte Ihnen für all Ihre großherzigen Schriften danken. Sie haben mir geholfen, den Tod anzunehmen, die Angst vor dem Tod zu verstehen und auch, wie wichtig es ist, das Leben in vollen Zügen zu genießen, und, am allerwichtigsten, jenen Liebe zu zeigen, mit denen wir einen Teil unseres Weges gehen. Hätte ich mich nicht ganz und gar in Ihren Schriften versenkt, würde ich vermutlich nicht so gut zurechtkommen. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Danke!« Man könnte ein ganzes Kapitel Yaloms Korrespondenz widmen, insbesondere, was seinen Einfluss auf Mental-Health-Professionals angeht, wie etwa diesem Brief eines australischen Therapeuten von 2004 zu entnehmen ist: »Sie waren der einflussreichste Therapeut in meiner Ausbildung, und ich mag gar nicht daran denken, dass Sie irgendwann nicht mehr da sein könnten, um Ihre Weisheit und Ihren Humor mit uns zu teilen.«

Ein Teil der psychobiographischen Debatte, die in Und Nietzscheweinte verhandelt wird, taucht in meinem Aufsatz zu »Hemingways Selbstmorde: Ein psychobiographischer Ansatz zur Literatur« auf (in: Kritische Einsichten: Psychologische Ansätze zur Kritik, herausgegeben von Robert C. Evans, veröffentlicht 2017 von Grey House). Einige der Informationen über Anne Sextons sexuelle Beziehung zu ihrem Psychiater Frederick J. Duhl stammen aus dem Buch Confidentiality and Its Discontents: Dilemmas of Privacy in Psychotherapy (Vertraulichkeit und das Unbehagen daran: Das Dilemma der Privatsphäre in der Psychotherapie), das in Zusammenarbeit mit Paul W. Mosher entstand und 2015 in der Fordham University Press veröffentlicht wurde.

Ich danke den beiden anonymen Lesern der State University of New York Press für ihre hilfreichen Vorschläge zur Verbesserung dieses Buches. Dies ist mein viertes Buch bei SUNY Press, und wie immer bin ich James Peltz für seine unermüdliche Unterstützung dankbar. Mein besonderer Dank gilt Rafael Chaiken, dem Redaktionsassistenten des Verlags, der mitgeholfen hat, die Herstellung des Manuskripts zu beschleunigen. Ich nehme mir immer die Zeit, die grammatischen und stilistischen Fehler meiner Studenten und Studentinnen zu korrigieren, und deshalb danke ich meiner hervorragenden Lektorin Dana Foote, die mich auf meine grammatischen und stilistischen Fehler hinwies. Schließlich möchte ich Julie danken, die mir auf vielfältige Weise geholfen hat, unter anderem opferte sie Stunden, um die geheimnisvollen Artefakte zu entfernen, die beim Formatieren des Manuskripts zutage traten.

EinführungExistenzieller Schmerz

Ich gehöre zu den Lesern von Irvin Yalom, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, dass sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat. Mein Vertrauen zu ihm war sofort da und ist jetzt noch dasselbe wie vor neun Jahren. Ich verstand ihn, als ob er für mich geschrieben hätte. (Dies ist die verständlichste, allerdings auch einigermaßen törichte und eingebildete Art, es auszudrücken, gleicht sie doch exakt den Worten Nietzsches in seinem Aufsatz »Schopenhauer als Erzieher«.)

Die vorangegangenen Sätze beschreiben genau, was ich empfinde, wenn ich Irvin Yaloms Schriften lese, obwohl das in Wahrheit nicht meine, sondern wie erwähnt Friedrich Nietzsches Worte sind, mit denen er seine grenzenlose Bewunderung für seinen intellektuellen Mentor ausdrückt. Ich stieß auf diese Zeilen, als ich im Rahmen meiner Recherche zwei Romane Yaloms, nämlich Und Nietzsche weinte und Die Schopenhauer-Kur las.

Damit will ich nicht sagen, dass ich ein Nietzsche bin oder Yalom ein Schopenhauer. Aber Yalom ist seit Langem einer meiner Helden, schon länger als die neun Jahre, von denen Nietzsche spricht. Ich bewundere Yalom für seine fundierten Beiträge sowohl zur Psychotherapie als auch zur Literatur, und ich bewundere ihn für seine große Menschlichkeit. Er ist zwar nicht der Erste, der über den »existenziellen Schmerz« schreibt, aber nur wenige Autoren haben das Thema in Fachbüchern oder fiktiven Werken über einen längeren Zeitraum treffender erforscht als Yalom. Tatsächlich hat er den existenziellen Schmerz auf einzigartige Weise sowohl in die Psychotherapie als auch in die Erzählung darüber einfließen lassen.

Mit diesem Buch verfolge ich das Ziel, Yaloms Werdegang und Entwicklung als existenzieller Psychotherapeut und als Geschichtenerzähler aufzuzeigen. Nietzsche stellte sich letztendlich gegen Schopenhauer; er lehnte seinen ehemaligen Mentor wegen seines düsteren Pessimismus und seiner Schwarzmalerei ab; demgegenüber hat sich meine Wertschätzung für den lebensbejahenden Yalom im Laufe der Zeit noch gesteigert. Mein Vertrauen zu Yalom erwachte zum Leben, als ich vor Jahren zunächst Die Liebe und ihr Henker und danach Und Nietzsche weinte las. Beide Werke haben mich überwältigt. Dann begann ich, systematisch alle seine Schriften zu lesen. Ich bin Professor für Englisch, kein Psychotherapeut, glaube aber, dass ich ihn verstehe, als hätte er für mich geschrieben. Falls solch ein Eingeständnis dafür gesorgt hat, dass Nietzsche sich töricht und eingebildet vorgekommen sein möge, so habe ich kein Problem damit, ebenso zu fühlen.

»Autobiographische Anmerkungen«

Da die Selbstoffenbarung des Therapeuten der Eckpfeiler der Schriften Yaloms ist, liegt es nahe, mit seiner »Autobiographical Note« zu beginnen. Yalom wurde 1931 in Washington, D. C., als Sohn von Eltern geboren, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg aus einem russischen Dorf in die Vereinigten Staaten einwanderten. Er lebte in einer winzigen Wohnung über dem Lebensmittelladen seiner Eltern in einem armen Schwarzen-Viertel. Washington war damals noch eine von Rassentrennung geprägte Stadt, und er enthüllt in seiner »Autobiographical Note«, dass Lesen seine Zuflucht war. Zweimal die Woche unternahm er »die gefährliche Fahrradtour« von seiner Wohnung zur öffentlichen Bibliothek:

Zu Hause gab es weder Vorbildfunktion noch Orientierung: Meine Eltern hatten so gut wie keine weltliche Bildung, lasen keine Bücher und waren ausschließlich damit beschäftigt, um ihr wirtschaftliches Überleben zu kämpfen. Meine Buchauswahl war willkürlich und zum Teil von der Architektur der Bücherei bestimmt; der große, zentral aufgestellte Bücherschrank mit Biographien weckte schon früh mein Interesse, und ich verbrachte ein ganzes Jahr damit, das Bücherregal von A (John Adams) bis Z (Zarathustra) abzuarbeiten. Doch es waren die Romane, bei denen ich Zuflucht fand, eine alternative, befriedigendere Welt, eine Quelle der Inspiration und Weisheit. In jungen Jahren wuchs in mir der Gedanke – den ich niemals aufgegeben habe –, dass es nichts Schöneres für einen Menschen gebe, als einen Roman zu schreiben.

Yalom wusste um das ungeheuer schwierige Unterfangen, seinen Lebensunterhalt mit der Schriftstellerei zu verdienen. Angesichts der Entscheidungen seiner Klassenkameraden hatte er praktisch nur zwei Möglichkeiten: entweder Medizin zu studieren oder in das Geschäft seines Vaters einzusteigen. Er entschied sich für Ersteres, hauptsächlich, weil das Medizinstudium mehr mit Tolstoj und Dostojewski zu tun zu haben schien, die beide einzigartige Psychologen waren. Er wählte die Psychiatrie, die damals wie heute eine unendliche Faszination auf ihn ausübte. Yalom hebt das erzählerische Element der Psychiatrie hervor, das gleiche Element, das auch den Roman antreibt. »Ich widmete mich jedem Patienten mit gespannter Erwartung, im Hinblick auf die Geschichte, die sich vor mir entfalten sollte. Ich glaube, dass jeder Patient seine ganz eigene Therapie braucht, weil jeder seine einzigartige Geschichte hat.«

1954 heiratete Yalom Marilyn Koenick, die Frau, die sich als seine Seelenverwandte erweisen sollte. Sie war über viele Jahre Französischprofessorin, danach Gastdozentin am ClaymanInstitute for Gender Studies in Stanford und Autorin vieler hochgelobter Bücher. Die Yaloms haben vier Kinder. Irv und Marilyn Yalom beziehen sich in ihren Büchern oft aufeinander, und beide beeinflussen einander im Denken wie im Schreiben.

Nach seinem Abschluss an der Boston University School of Medicine 1956 absolvierte Yalom 1960 seine praktische Ausbildung an der Henry Phipps Psychiatric Clinic des Johns Hopkins Hospital. In seinem Buch In die Sonne schauen schreibt er über den Tod zweier seiner Johns-Hopkins-Mentoren John Whitehorn und Jerome Frank sowie über den Tod eines dritten Mentors, Rollo May, der auch sein Analytiker und Freund war. Nach einer psychiatrischen Facharztausbildung am Mount Sinai Hospital in New York City diente Yalom als Captain in der US-Armee, die in Honolulu, Hawaii, stationiert war. 1960 begann er als Dozent für Psychiatrie an der Stanford Universität zu lehren. 1968 hatte er sich zum ordentlichen Professor hochgearbeitet. Von 1981 bis 1984 war er medizinischer Leiter der psychiatrischen Station des Stanford Universitätsklinikums und Mitarbeiter im Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Palo Alto, Kalifornien.

In den Anfängen seiner akademischen Laufbahn schrieb Yalom die bahnbrechenden, psychiatrischen Lehrbücher, für die er schon frühen Ruhm erntete. Sein erstes Buch Theorie undPraxis der Gruppenpsychotherapie wurde 1970 in den USA veröffentlicht und erscheint derzeit in der 17. Auflage, was für einen psychiatrischen Text selten ist; weit über eine Million Exemplare wurden verkauft, und es wurde in achtzehn Sprachen übersetzt. Drei Jahre später war er Co-Autor von Encounter Groups: First Facts (Encounter-Gruppen: Erste Fakten). Sein nächstes Buch Jeden Tag ein bißchen näher: Eine ungewöhnliche Geschichte, das er gemeinsam mit einer Patientin als Co-Autorin mit dem Pseudonym Ginny Elkin verfasste, wurde 1974 veröffentlicht. Yaloms Buch Existentielle Psychotherapie von 1980 war maßgebend für die Neuorientierung einer Psychotherapie, die von der Begeisterung des Therapeuten für die Philosophie inspiriert war. Im Hier und Jetzt erschien 1983.

Die Liebe und ihr Henker, der erste von drei Bänden mit Erzählungen aus der Psychotherapie, war in den Vereinigten Staaten bei seiner Veröffentlichung 1989 ein großer Erfolg bei Kritik und Publikum und begründete Yaloms Ruf als Meister des kreativen Sachbuches. Die zehn Erzählungen aus der Psychotherapie, die alle auf Patienten basieren, deren Identitäten stark verschleiert wurden, verraten Yaloms Lust am Geschichtenerzählen. Alle seine Bücher wurden in den Vereinigten Staaten von Basic Books publiziert – ungewöhnlich in einer Branche, in der sich Autoren und Verleger selten ein Leben lang gegenseitig verpflichten. Verpflichtung ist ein Schlüsselwort für Yalom: Er hat bewiesen, dass er sich seiner Familie, seinen Patienten, seinem Beruf und seinen Lesern und Leserinnen ein Leben lang verpflichtet fühlt.

Und Nietzsche weinte, Yaloms erster und vielleicht bekanntester Roman, wurde 1992 veröffentlicht und ist nach wie vor ein großer Erfolg bei Kritik und Publikum. Vier Millionen Exemplare des Romans wurden verkauft, er wurde in siebenundzwanzig Sprachen übersetzt und verfilmt. Und Nietzsche weinte ist ein historischer und philosophischer Roman, der imaginiert, wie es wäre, wenn zwei berühmte Zeitgenossen, Josef Breuer und Friedrich Nietzsche, die einander nie begegnet sind, sich gegenseitig mit einer neuen Therapie, der »Redekur« (an deren Entstehung Breuer tatsächlich beteiligt war), behandelt hätten. Und Nietzsche weinte repräsentiert auch ein neues Subgenre des Romans, den »Lehrroman«, der darauf abzielt, jungen Therapeuten unterschiedliche Aspekte der Psychotherapie zu erhellen. Yaloms Herausforderung als Psychiater und als Geschichtenerzähler ist es, zu lehren und zu unterhalten – eine gewaltige Aufgabe angesichts der sardonischen Beobachtung Jane Austens in Stolz und Vorurteil: »Es liegt nun einmal in der menschlichen Natur, alles besser wissen zu wollen als andere, aber beibringen können wir anderen leider nichts, was der Mühe wert ist.«

Nach Die Liebe und ihr Henker sowie Und Nietzsche weinte folgten zwei weitere Bände mit psychotherapeutischen Erzählungen, Die Reise mit Paula (1999) sowie Denn alles ist vergänglich (2015) und drei weitere Romane, Die rote Couch (1996), Die Schopenhauer-Kur (2005) und Das Spinoza-Problem (2012). Liebe, Hoffnung, Psychotherapie (2004)und Was Hemingway von Freud hätte lernen können 2003, editiert von seinem Sohn Ben Yalom, erschienen in den USA 1998 als The Yalom Reader, mit einem Umfang von fünfhundert Seiten. The Yalom Reader enthält eine Auswahl aus seinen Lehrbüchern, Romanen und Geschichten aus der Psychotherapie und erschien in Deutschland in zwei Bänden. Der Panama-Hut, veröffentlicht 2002, übermittelt viele Einsichten für Psychotherapeuten und für die breite Öffentlichkeit. In die Sonne schauen: Wie man die Angst vor dem Tod überwindet, veröffentlicht 2008, ist eine Meditation über unsere tiefsten Ängste. Yaloms Anleitung zum Glücklichsein (Yalom’s Cure), ein Dokumentarfilm über das Leben des Therapeuten als Achtzigjähriger, wurde 2014 gedreht. Yaloms autobiographisches Buch Wie man wird, was man ist wurde 2017 veröffentlicht. 1994 beendete Yalom nach zweiunddreißig Jahren in Stanford in der psychiatrischen Abteilung seine Lehrtätigkeit und ging in den Ruhestand; er führt nach wie vor eine kleine Psychotherapiepraxis in Palo Alto und San Francisco.

Auszeichnungen

Yalom hat zahlreiche Auszeichnungen von literarischen und psychiatrischen Organisationen erhalten. Die französische Übersetzung von Das Spinoza-Problem wurde 2014 mit dem Prix des Lecteurs gekürt. Und Nietzsche weinte gewann die Commonwealth-Goldmedaille für den besten Roman des Jahres 1993 und wurde 2009 von der Internationalen Wiener Buchmesse ausgezeichnet; hunderttausend Gratisexemplare wurden an die Bürger von Wien verteilt. Im Jahr 2000 wurde Yalom der Oskar Pfister Award der American Psychiatric Association für bedeutende Beiträge auf dem Gebiet der Religion und Psychiatrie verliehen, 1976 der Foundation’s Fund Award für Forschung in der Psychiatrie von der American Psychiatric Association und 1974 der Edward Strecker Award für bedeutende Beiträge auf dem Gebiet der psychiatrischen Behandlung von Patienten, verliehen vom Institut des Pennsylvania Hospital. Das Department of Psychiatry and Behavioral Sciences an der Stanford School of Medicine sponsert den Irvin David Yalom, M. D. Literary Award, der alljährlich einem verdienstvollen Studierenden oder Doktoranden für einen außergewöhnlichen Aufsatz oder ein literarisches Schriftstück über seine oder ihre medizinische Erfahrung als Arzt, Auszubildender oder Patient verliehen wird.

Yaloms psychiatrische Lehrbücher, seine Erzählungen aus der Psychotherapie und seine Therapieromane wurden in vielen Fachzeitschriften rezensiert, und Interviews mit Yalom sind in mehreren Magazinen und Zeitungen erschienen. Er gehört zu den berühmtesten lebenden amerikanischen Psychiatern. In einer zum zwanzigjährigen Bestehen der Fachzeitschrift Psychotherapy Networker 2006 durchgeführten Umfrage wurden die Teilnehmer gefragt: »Welche Personen haben in den letzten fünfundzwanzig Jahren Ihre praktische Arbeit am meisten beeinflusst?« Die Befragten durften bis zu zehn Personen auflisten. Yalom erreichte Platz vier nach Lichtgestalten wie Carl Rogers, Aaron Beck (dem Begründer der kognitiven Therapie) und Salvador Minuchin (einem der Begründer der Familientherapie). Sigmund Freud schaffte es nicht auf die Liste, und Carl Gustav Jung kam auf Platz acht. In derselben Umfrage wurde Yalom als »bekanntester Theoretiker und Praktiker der existenziellen Psychotherapie des Landes« bezeichnet. Yalom hat auch den Weg in die Popkultur gefunden: In der Fernsehserie In Treatment beklagt sich der Therapeut Paul, dem seine Arbeit als Kliniker über den Kopf wächst, bei seiner Supervisorin Gina: »Vielleicht hatte Yalom recht: Vielleicht dreht sich alles immer nur um die Beziehung.«

Doch abgesehen von Ruthellen Josselsons Studie aus dem Jahr 2008, Irvin D. Yalom: On Psychotherapy and the Human Condition (Über Psychotherapie und die menschliche Verfassung), in der wertvolle Interviews mit Yalom enthalten sind, gibt es keine umfassenden Studien über seine Arbeit. In dem hier vorliegenden Buch verfolge ich einen chronologischen Ansatz, der uns in die Lage versetzt, sein Werden und seine Entwicklung sowohl als existenzieller Psychotherapeut als auch als Autor von Romanen und erzählerischen Sachbüchern zu verfolgen. In seinen Schriften gibt es deutlich mehr Kontinuitäten als Diskontinuitäten, aber auch einige Überraschungen, insbesondere seine Entwicklung zu einem selbstoffenbarenden Therapeuten. Manchmal beschreibt Yalom in einem frühen Buch einen anonymen Patienten, nur um in einem späteren Buch zu verraten, dass er selbst dieser Patient gewesen ist. Genauso häufig offenbart er sich in einem früheren Buch nur zum Teil, um sich dann in einem späteren Buch ausführlicher dazu zu äußern. Alle seine Bücher enthüllen die fortlaufenden Kapitel seines Lebens. Ein chronologischer Ansatz gibt uns die Möglichkeit zu erkennen, wie, wann, wo und warum Yalom seine Meinung zu bestimmten Themen ändert. Um nur ein Beispiel zu nennen: In seinem ersten Buch steht er dem Begriff existenziell so ambivalent gegenüber, dass er ihn in Anführungszeichen setzt und damit andeutet, dass er den Begriff nicht mag. Zehn Jahre später publizierte er die Existenzielle Psychotherapie.

Meine eigene autobiographische Notiz

Es mag seltsam erscheinen, dass ein Englischprofessor und nicht ein Psychiater oder Psychologe ein Buch über Yalom schreibt, aber ich interessiere mich seit Langem für die Verbindung zwischen Literatur und Psychoanalyse. Über dieses Thema habe ich mehrere Bücher geschrieben, angefangen 1985 mit The Talking Cure: Literary Representations of Psychoanalysis (Die Redekur: Psychoanalyse in der Literatur), in dem bekannte literarische Autoren erkundet werden, die physiologische Zusammenbrüche erlitten, sich der ein oder anderen Therapie unterzogen und später in Romanen oder Sachbüchern Geschichten über ihre Erfahrungen geschrieben haben. Vor Jahren habe ich den bedeutenden Psychoanalytiker und Romanautor Allen Wheelis interviewt und einen langen Essay über ihn geschrieben, der in einem Band veröffentlicht wurde, der der Anerkennung seiner Arbeit gewidmet war. Mit Yalom wollte ich gleichermaßen verfahren, stellte aber fest, dass sein Werk zu umfangreich und komplex ist, um auf einen einzigen Artikel reduziert zu werden. Deshalb entstand dieses Buch.

Ich bin nicht ganz so betagt wie Yalom – ich wurde 1945 geboren und bin in meinen Siebzigern, ein »septuagenarian«, wie ich meinen Studenten immer wieder sage. Seit fünfundvierzig Jahren lehre ich an der Universität von Albany, dazu kommen noch die fünf Jahre, in denen ich als Doktorand und Dozent in Cornell gelehrt habe. Jetzt, am absehbaren Ende meiner beruflichen Laufbahn, hat es für mich eine besondere Bedeutung, Bücher über die Redekur zu schreiben – ein Thema, das mich schon lange fasziniert.

Yaloms Bücher haben mein Verständnis dafür vertieft, weshalb einige meiner pädagogischen Methoden effektiv sind. Dabei fallen mir sofort zwei Beispiele ein:

Erstens hat Yalom lange darauf gepocht, dass das wichtigste Element in der Psychotherapie die Patienten-Therapeuten-Beziehung ist, eine Beobachtung, die durch unzählige empirische Studien gestützt wird. Ich glaube, dass die Student-Lehrer-Beziehung der wichtigste Faktor in der Bildung ist, weitaus bedeutsamer als alles Wissen, das ein Lehrer seinen Schülern vermittelt. Ich ermuntere meine Studenten und Studentinnen, mich mit Vornamen anzusprechen, was auch Yalom bei seinen Patienten macht. Meine Studenten wissen, dass ich mich sehr für sie interessiere. Ebenso wie Lehrer etwas im Leben ihrer Schüler bewirken können, bewirken Schüler etwas im Leben ihrer Lehrer. Ich habe das Glück, mit meinen Studenten und Studentinnen jahrzehntelang in Kontakt zu bleiben, und ich bin in der glücklichen Lage, nun die Kinder meiner ehemaligen Studenten zu unterrichten. Vielleicht werde ich eines Tages noch deren Enkel unterrichten.

Zweitens ist Yalom der einflussreichste Fürsprecher der Selbstoffenbarung des Therapeuten. Die Selbstoffenbarung des Lehrers ist schon lange der Eckpfeiler meines Unterrichts. Die Selbstoffenbarung des Lehrers bewirkt eine Selbstoffenbarung bei den Studenten, und diese Selbstoffenbarung versuche ich, meinen Studenten vorzuleben. Aus den veröffentlichten Rezensionen meiner Bücher weiß ich, dass ich zu einer verschwindenden Minderheit gehöre, die im Literaturunterricht zu selbstenthüllendem Schreiben ermuntert. Meine Studenten erzählen mir, dass ihnen die meisten ihrer Professoren an der Highschool und an der Uni verbieten, ihre Texte in der Ich-Form zu verfassen, größtenteils, weil sie befürchten, sie zu allzu großer Subjektivität zu ermuntern. Es ist zwar richtig, dass Studenten nicht jeden Satz mit »ich denke« oder »ich meine« beginnen sollten, doch in der ersten Person zu schreiben, ermutigt sie zur Selbstreflexion, ein Vorgang, der beim »objektiven« Schreiben schwieriger, wenn nicht gar unmöglich ist. Mein Buch Risky Writing:Self-Disclosure and Self-Transformation in the Classroom (Gefährliches Schreiben: Selbstoffenbarung und Selbsttransformation im Klassenzimmer, 2001) konzentriert sich auf die Art und Weise, in der ein empathischer Unterricht es den Studierenden ermöglicht, über die wichtigsten Themen in ihrem Leben zu schreiben. Der Literaturunterricht ist keine Selbsthilfegruppe, doch ich versuche alles, um im Unterricht ein sicheres, empathisches Umfeld zu schaffen, in dem die Studenten und Studentinnen sich gegenseitig unterstützen. »Im besten Falle«, merkt eine Person in Die Schopenhauer-Kur an, »existiert nur eine unscharf verlaufende Grenze zwischen Ausbildung und Therapie.«

Wie Yalom habe auch ich mehrere Lehrbücher geschrieben, in denen unzählige Texte meiner Studenten über eine große Vielfalt persönlicher Themen abgedruckt sind. Um die Gefahr einer noch so subtilen Nötigung zu minimieren, bitte ich die Studenten erst um die Erlaubnis, ihre Texte verwenden zu dürfen, nachdem sie meinen Kurs beendet und ihre Abschlussnoten bekommen haben. Sie verschleiern ihre Identität und erfinden ihre eigenen Pseudonyme. Dann zeige ich ihnen genau, wie ich ihre Texte kommentiere und kontextualisiere. Ich hole auch die Genehmigung der zuständigen Ethikkommission der Universität ein, die auf dem Campus die gesamte Forschung am Menschen überwacht. Wie Yalom habe auch ich entdeckt, dass Studenten genauso gern ihre Geschichten erzählen wollen wie Patientinnen. Auch profitieren sie sehr davon, wenn sie den Geschichten ihrer Kommilitonen und Professoren zuhören.

Ich führe ein zutiefst erfüllendes Leben und bin überglücklich mit meiner Familie und meiner Arbeit. Paradoxerweise handeln viele meiner Bücher von den beiden Tragödien in meinem Leben: vom Selbstmord meines Professors und Mentors an der Universität, Len Port, am Labor Day 1968 und vom Tod meiner ersten Ehefrau Barbara nach fünfunddreißig Ehejahren, die 2004 mit siebenundfünfzig Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb. Mehrere meiner Bücher tragen Begriffe wie »Selbstmord«, »Sterben«, »Tod«, »Einschnitte« oder »Witwenschaft« im Titel. Yaloms Bücher zu lesen, war eine therapeutische Erfahrung für mich. Er hat mir geholfen zu erkennen, dass viele, vielleicht sogar die meisten meiner Bücher ein fortwährender Versuch waren, meine Angst vor dem Tod zu verstehen und damit zurechtzukommen. Über Yalom zu schreiben, war faszinierend, lebensbejahend und zutiefst heilsam. Auch Yaloms zahlreiche philosophische Quellen, darunter Marcus Aurelius, Spinoza, Schopenhauer und Nietzsche, waren bereichernd.

Der Plan zu diesem Buch

Im vorliegenden Buch gehe ich detailliert auf die Inhalte von Yaloms Romanen und Erzählungen aus der Psychotherapie ein. Auch erörtere ich seine umfangreiche und stets akribische Verwendung philosophischer, psychologischer und literarischer Quellen. Zusätzlich verweise ich auf die vielen veröffentlichten Rezensionen seiner Arbeit in Fachzeitschriften, Magazinen und Zeitungen. Yaloms Schriften wenden sich an Fachleute in Gesundheitsberufen und auch an die breite Öffentlichkeit. Er hat einen meisterhaften Prosastil geschaffen, der ihn in die Tradition der größten Geschichtenerzähler stellt.

Ich halte mich an Claudius’ Aussage in Hamlet »das Beste selbst,/wenn’s zur Entzündung in der Brust sich hebt,/stirbt an dem eigenen zu viel« und habe daher darauf verzichtet, drei der Bücher Yaloms zu kommentieren, bei denen er als Co-Autor fungiert hat. Dazu gehören Encounter Groups: First Facts (Encountergruppen: Erste Fakten) (1973), Concise Guide to Group Psychotherapy (Eine genaue Anleitung für die Gruppenpsychotherapie) (1989) und Ein menschliches Herz, eine einundvierzigseitige Kurzgeschichte, die in den USA 2009 als E-Book erschienen ist und im selben Jahr auf Deutsch in Printform.

Kapitel 1 beginnt mit Yaloms erstem und immer noch populärsten Lehrbuch Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. In diesem Werk interessiere ich mich vorwiegend für die Betonung der Kunst der Selbstoffenbarung, eine Kunst, die Yalom unweigerlich zur Literatur führt, wenn er Hermann Hesses Roman Das Glasperlenspiel und Eugene O’Neills Drama Der Eismann kommt untersucht. Yalom verwendet oft literarische Beispiele, um seine klinischen Erkenntnisse zu unterstützen. Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie enthält eine seiner aufschlussreichsten Selbstenthüllungen, zu der sich zu bekennen er erst neunzehn Jahre später bereit war.

Jeden Tag ein bißchen näher, das Thema von Kapitel 2, ist Yaloms »zweimal erzählte« Therapiegeschichte, die er zusammen mit seiner Co-Autorin »Ginny Elkin« geschrieben hat. Yalom und seine Patientin schildern darin jeweils nacheinander in separaten Kapiteln ihre wechselnden Eindrücke von ihren wöchentlichen Therapiesitzungen. Die Struktur des Buches ist insofern einzigartig in der Geschichte der Literatur psychiatrischer Fallstudien, als wir hier eine duale Perspektive der Patient-Therapeut-Beziehung bekommen. Auch die Art der Bezahlung für die Therapie ist einzigartig, denn nach jeder Therapiesitzung schreibt die Patientin selbst eine Zusammenfassung. In einer Metapher, die Yalom zum ersten, aber keineswegs zum letzten Mal verwendet, lernen wir, dass alles »Wasser auf die Mühlen des Therapeuten ist«. Wir finden auch heraus, dass das, was für einen Therapeuten wichtig sein mag, für einen Patienten weniger Bedeutung hat und vielleicht überhaupt nicht angenommen wird. Einer der bizarrsten Augenblicke in Jeden Tag ein bißchen näher ergibt sich, als Marilyn Yalom in die Geschichte eintritt, was bei ihrem Ehemann einen Interessenkonflikt auslöst und er zwischen seiner Patientin und seiner Frau hin- und hergerissen ist.

Kapitel 3 befasst sich mit dem Buch Existenzielle Psychotherapie, das Lehrwerk, das für einen neuen Ansatz zur psychischen Heilung wirbt. Es ist auch das Quellenwerk für alle späteren Schriften Yaloms. Das Hauptproblem, das seine Patienten und fiktiven Figuren bedrängt, ist die Angst vor dem Tod, ein Thema, das unsere Kultur der Todesleugnung unter den Tisch kehren will. Für Schriftsteller ist es einfach, bei anderen Menschen die Angst vor dem Tod festzustellen, doch nur wenige bekennen sich dazu, selbst Angst vor ihrer Sterblichkeit zu haben. Wie Freud in Die Traumdeutung verwendet Yalom sich selbst als Beispiel für jemanden, der an Konflikten leidet, die er zu heilen sucht; Freud allerdings räumte nur selten ein, dass er über sich selbst geschrieben hat, was Yalom allerdings tut. Er scheut sich nicht, offenzulegen, dass er sich einer Therapie unterzogen hat, um mit der Angst vor dem Tod umgehen zu lernen, die er seinen Patienten zu nehmen versucht. Solche Eingeständnisse machen Yalom menschlicher. Er gewährt Einblicke in die Rolle der Angst vor dem Tod im Leben anderer, auch in dem seiner Zeitgenossen. Die von Elisabeth Kübler-Ross aufgestellte einflussreiche, aber fehlerhafte Stufentheorie des Sterbens verrät ihre eigene uneingestandene Angst vor dem Tod. Yalom erörtert auch die Rolle der Todesangst im Leben Hemingways. Existenzielle Psychotherapie bietet mit ihrer Fülle an Erkenntnissen eine neue Theorie, die aufzeigt, weshalb die Suche eines Patienten nach Selbsterkenntnis in der Psychotherapie so wichtig ist. Einsichten sind wertvoll, doch die größte Bedeutung der Suche nach Wissen liegt in der Stärkung der Patient-Therapeut-Beziehung.

Im Hier und Jetzt: Richtlinien der Gruppenpsychotherapie, dem ich mich in Kapitel 4 widme, ist das Lehrbuch, das eine Brücke zwischen Yaloms frühen klinischen Schriften und seinen bekannten Erzählungen aus der Psychotherapie schlägt. Mit diesem Buch verfolgte er sein Hauptziel, einen einzigartigen Ansatz für die Gruppenpsychotherapie auf Stationen mit großer Fluktuation anzubieten. Sich eine stationäre Gruppenpsychotherapie vorzustellen, erinnert manche Leser vielleicht an die therapeutischen Albträume in Ken Keseys Einer flog über das Kuckucksnest, wo Patienten, aufgehetzt vom Personal, die Psychotherapie als Waffe einsetzen, um Schwachstellen der anderen aufzudecken. Yalom gibt uns eine viel positivere Sicht auf die stationäre Gruppenpsychotherapie. Das Buch enthält viele klinische Vignetten, auch wenn die meisten zu kurz sind, um im Gedächtnis haften zu bleiben. Tatsächlich stellt Im Hier und Jetzt allerdings viele nützliche Techniken für eine Pädagogik vor, die auf einem sich entfaltenden Verständnis zwischen Beobachtern und Beobachteten beruht. Diese Techniken können sowohl im Klassenzimmer als auch im Krankenhaus angewandt werden.

Kapitel 5 befasst sich mit Yaloms erstem literarischen Meisterwerk Die Liebe und ihr Henker, dessen gruseliger Titel Figuren ankündigt, die in amerikanischen psychiatrischen Fallstudien kaum behandelt werden. Die zehn Geschichten umfassen eine bemerkenswerte Bandbreite bunter Charaktere, die alle mit Existenzschmerz kämpfen. Sie fordern Yaloms Vorstellungskraft als existenzieller Psychotherapeut und als Geschichtenerzähler heraus. Wie Yalom und seine Patienten werden auch die Leser Tränen vergießen und lächeln, wenn sie Zeugen der Dramen werden, die sich in der Psychotherapie abspielen. In der Literatur gibt es eine jahrhundertealte Tradition, den Psychoanalytiker als Meisterdetektiv, als eine Art psychologischen Sherlock Holmes darzustellen, doch Yalom gibt uns ein neues, schrilles Bild des Therapeuten als Henker der Liebe, eine Figur, die alle unsere Strategien zur Todesverleugnung herausfordert.

Kapitel 6 eröffnet mit einer Erörterung der Psychobiographie, einer Kunst, die Yalom in seinen drei philosophischen Romanen gemeistert hat. Und Nietzsche weinte liefert fesselnde Portraits von Josef Breuer, Friedrich Nietzsche und vom jungen Sigmund Freud, der damals noch Assistenzarzt war. Breuer bleibt eine schattenhafte Figur in der frühen Geschichte der Psychoanalyse. Obwohl Breuer Co-Autor der Studien über Hysterie war, dem ersten Buch über Psychoanalyse, äußerte Freud sich später herablassend über seinen älteren Kollegen. Freud zufolge steckte Breuer in seiner obsessiven Liebe zu seiner Patientin »Anna O.« fest, die den Begriff »Redekur« geprägt hat. Yalom tut viel, um Breuer zu vermenschlichen, macht ihn zu einer fesselnden Figur, die in mancher Hinsicht weitsichtiger ist als Freud. Auch Nietzsche entpuppt sich als menschlich, verblüffend brillant, doch gepeinigt von seiner düsteren Liebe zu einer Frau, die ihn gerade erst zurückgewiesen hat.

Kapitel 7 untersucht die zahlreichen Ironien und Ambivalenzen im vielsagenden Originaltitel des folgenden Romans von Yalom Lying on the Couch (Die rote Couch). Die Geschichte erzählt von zwei existenziellen Psychiatern, der eine ein vollendeter Geschichtenerzähler und Schwindler (die beiden sind nicht immer identisch) und der andere ein ethischer Therapeut, der die verführerischen Tricks einer Patientin überlebt, die es darauf angelegt hat, ihn zu vernichten. Yalom ist nicht der erste Romanautor, der die sexuellen Versuchungen in der Patient-Therapeut-Beziehung exploriert, aber er ist der Erste, der zeigt, wie diese Bedrohungen durch die Selbstoffenbarung des Therapeuten noch verstärkt werden. Die rote Couch ist nach wie vor Yaloms lustigster Roman voller kunstvoll inszenierter Überraschungen. Er ist auch nach wie vor seine nachhaltigste Analyse sexueller Grenzverletzungen – ein Thema, bei dem er keinen Spaß versteht.

Die Reise mit Paula, Yaloms zweiter Band mit Erzählungen aus der Psychotherapie, wird in Kapitel 8 behandelt. Den sechs Geschichten fehlt der Überschwang von Die Liebe und ihr Henker, doch sie behalten die Ironie und Ambivalenz des ersten Bandes bei. Yalom enthüllt nicht nur die autobiographische Basis seiner Geschichten, sondern auch, wie es dazu kam, dass das Leben der »schwelende innere Komposthaufen« seiner Kunst ist. In den beiden letzten Geschichten des Bandes lässt er Ernest Lash wiederauferstehen. Es wird offensichtlich, dass Flauberts berühmte Aussage »Madame Bovary, c’est moi« gleichermaßen auf Yaloms Beziehung zu Ernest zutrifft: Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen dem realen und dem fiktiven existenziellen Psychotherapeuten. Yalom versteckt sich nicht hinter seinen fiktiven Psychotherapeuten; vielmehr zeigt er, auf welche Weise sie seine unterschiedlichen Seiten repräsentieren, die er nicht allen seinen Patienten verrät.

Kapitel 9 konzentriert sich auf Der Panama-Hut, in dem Yalom sich zu seiner fünfundvierzigjährigen Berufserfahrung als Psychotherapeut äußert. Das Buch markiert einen Wendepunkt in Yaloms Berufsleben: Ab jetzt sind er und seine Patienten sich seines fortgeschrittenen Alters voll bewusst. Der Panama-Hut ist eine Fundgrube an Einsichten für junge Therapeuten und Therapeutinnen, über die Yalom sich Sorgen macht, weil er befürchtet, dass seine geliebte Psychotherapie in einer Krise steckt, dass sie heimgesucht wird von externen und internen Problemen. Der Tenor des Bändchens ist nicht apokalyptisch, sondern beruhigend; man spürt, dass der Berufsstand den Sturm abwettern wird, was zum Teil Werken wie Der Panama-Hut zuzuschreiben ist.

Yaloms dritter Roman Die Schopenhauer-Kur, der Fokus von Kapitel 10, wirft viel Licht auf einen der misanthropischsten Denker der Philosophie und auf den emotional distanzierten Therapeuten in Ausbildung, der versucht, sein Leben nach einer fehlerhaften Philosophie auszurichten. Der Wiener Satiriker des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, Karl Kraus, charakterisierte die Psychoanalyse bissig als jene Krankheit, für deren Therapie sie sich hält. Gleiches könnte man zur freudlosen Philosophie Arthur Schopenhauers sagen, dessen radikales Heilmittel für das Problem des Lebens ein gleichermaßen radikales Gegenmittel erfordert. Yalom kreiert in Die Schopenhauer-Kur einen todkranken existenziellen Psychotherapeuten, der über die Gruppenpsychotherapie ein lebensrettendes Gegenmittel für einen ehemaligen Patienten zu finden hofft, dem er Jahre zuvor nicht hatte helfen können. Das Ergebnis ist ein faszinierender philosophischer Roman, der wertvolle Lektionen fürs Leben in Form einer emotionsgeladenen Geschichte liefert.

In die Sonne schauen: Wie man die Angst vor dem Tod überwindet beansprucht in Kapitel 11 das Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Das Buch offenbart Yaloms unbeirrbare Untersuchung der Rolle der Angst vor dem Tod im Leben seiner Patienten. Die Furcht vor dem Tod, behauptet er, ist eine Urangst; es gibt keine tiefere Angst. Unser Hauptinteresse in In die Sonne schauen liegt in seiner Kurzbiographie im Abschnitt »Im Bewusstsein des Todes«, in dem er seine frühen Erfahrungen mit dem Tod erörtert – ein Thema, das nie weit von seinem aktuellen Leben entfernt ist. Der Furcht vor dem Tod kann man nicht entfliehen, aber man kann damit leben, ohne nach übernatürlichen Heilmitteln zu suchen. In die Sonne schauen zeigt, wie die Furcht vor dem Tod als Inspiration hinter der Kunst dienen kann, eine treue Muse, der Yalom treu ergeben bleibt.

Kapitel 12 untersucht Yaloms vierten und letzten Roman Das Spinoza-Problem. Die Geschichte bietet psychobiographische Einblicke in zwei Figuren, die unterschiedlicher nicht sein könnten: den niederländischen Denker des siebzehnten Jahrhunderts, der als bedeutendster Rationalist der Philosophie gilt, und den antisemitischen Nazi-Chefideologen und Hitlers rechte Hand. Weshalb war Alfred Rosenberg so sehr von Spinozas Schriften beherrscht, dass er 1942 einen seiner Assistenten ins Rijnsburg-Spinoza-Museum in die Niederlande schickte, um die Schriften des Philosophen zu konfiszieren? Was war das Spinoza-Problem? Yalom hat nie irgendeinen historischen Beweis gefunden, der Rosenberg mit Spinoza in Verbindung gebracht hätte, doch er hatte eine Geschichte im Sinn, die erklärt, weshalb der Nazi den niederländischen Philosophen als so bedrohlich empfunden haben könnte. Yalom wirft eine weitere Frage auf: Wie würde ein Psychotherapeut, der sich an Spinoza orientiert, einen widerwärtigen Charakter wie Alfred Rosenberg behandeln? Die Aufgabe mag sich als unmöglich erweisen, doch Yaloms fiktiver Therapeut überzeugt uns davon, dass er ein durchdringendes Verständnis für einen Mann hat, der maßgeblich an der Entstehung der Ideologie beteiligt war, die zur »Endlösung« führte.

Kapitel 13 konzentriert sich auf das Buch Denn alles ist vergänglich, das einen Einblick in Leben und Werk eines Achtzigjährigen gewährt. Die meisten der Patienten, die Yalom beschreibt, begannen eine Therapie, weil sie eines oder mehrere seiner Bücher gelesen hatten. Was halten Patienten von einem Therapeuten, der über Behandlungen schreibt? Warum wünschen sich Patienten, auch Sterbende, dass Yalom ihre Klarnamen verwendet? Denn alles ist vergänglich ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die an diesen und ähnlichen Fragen interessiert sind.

In der Zusammenfassung konzentriere ich mich auf den Dokumentarfilm aus dem Jahr 2014 Yaloms Cure (Yaloms Anleitung zum Glücklichsein) und seine 2017 erschienenen Memoiren Wie man wird, was man ist. Der Dokumentarfilm gewährt einen seltenen Einblick in Yaloms Beziehung zu seiner Frau, seinen Kindern und Enkeln. Interessanterweise ist Marilyn Yalom offener als ihr Ehemann, und wir werden Zeugen ihrer unterschiedlichen Ansichten zur romantischen Liebe und zur geschlechtsspezifischen Natur der Liebe. Wenn man Yaloms Anleitung zum Glücklichsein anschaut, wird einem zwangsläufig die eigene nahende Endlichkeit bewusst, und doch lässt Yalom erkennen, wie sehr er seine goldenen Jahre genießt, die erfüllt sind von seinen beiden Leidenschaften Liebe und Arbeit und der Freude daran, seine Erkenntnisse an andere weiterzugeben. Wie man wird, was man ist wurde veröffentlicht, nachdem ich einen Entwurf des vorliegenden Buches schon fertiggestellt hatte, aber ich gehe kurz auf Yaloms Abschied von seinen Lesern und Leserinnen nach einer schriftstellerischen Karriere ein, die sich über ein halbes Jahrhundert erstreckte.

Eine doppelte und manchmal widersprüchliche Identität

Viele Menschen haben schon mit einer Identität genug zu tun, doch Yalom musste mit zwei Identitäten jonglieren, der eines Psychotherapeuten und der eines Schriftstellers. In seinem Buch Was Hemingway von Freud hätte lernen können verrät Yalom mit der ihm eigenen Selbstironie, dass er jedes Mal, wenn er eine Ausgabe des American Journal of Psychiatry in die Hand nimmt und über Psychopharmakologie oder bildgebende Verfahren in der Hirnforschung liest, nicht verstehen kann, dass die Artikel nichts mit den menschlichen Belangen der Patienten zu tun haben. Dann denkt er: »Ich gehöre nicht in die Medizin oder in die Psychiatrie; ich bin ein Schriftsteller – dort lebe ich wirklich«. Doch immer, wenn er von einer negativen Buchbesprechung gekränkt ist, besänftigt er sich mit den Worten: »Ich bin kein Schriftsteller, sondern Arzt. Bin es immer gewesen.« Ungeachtet dieser Spaltung hat niemand besser über die Kunst der Psychotherapie und die Psychotherapie als Kunst geschrieben – und niemand hat die beiden Berufe geschickter miteinander verbunden.

1 ___________Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie Die Kunst der Selbstoffenbarung

»Nie hat ein Therapeut meiner Ansicht nach einen ernsthafteren Versuch gemacht, den therapeutischen Prozeß zu entmystifizieren.« Die Aussage nach zweihundert Seiten der vierten Auflage von Yaloms erstem Lehrbuch Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie beschreibt treffend eines von Yaloms lebenslangen Zielen. Das Buch, 1970 erstmals in den USA veröffentlicht und nun in seiner aktualisierten 2005 erschienenen fünften Auflage, ist nach wie vor das Standardlehrbuch in diesem Fachbereich. Das American Journal of Psychiatry führte es als eines der zehn einflussreichsten psychiatrischen Publikationen des Jahrzehnts auf. Jerome Frank, Yaloms Mentor am Johns Hopkins Hospital, bejubelte das Werk als das »beste Buch, das es heute und für die absehbare Zukunft« zu diesem Thema gibt. Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie ist Yaloms einziges Lehrbuch, das er wiederholt überarbeitet hat.

Als Ruthellen Josselson 1970 während ihres Praktikums für klinische Psychologie am Massachusetts Mental Health Center arbeitete, einer »ehrwürdigen Bastion psychoanalytischen Denkens«, beobachtete sie, wie Yaloms Lehrbuch von ihren Professoren und Vorgesetzten »mit Verachtung aufgenommen« wurde, weil sie dessen radikalen Ansatz gegenüber der in jener Zeit üblichen Lehrmeinung als subversiv betrachteten. Das Buch leitete in ihrer Generation »einen allmählichen Wandel« ein und ist nun, wie sie 2008 schrieb, »das wahrscheinlich meistgelesene Lehrbuch im professionellen Umfeld der Gesundheitsberufe«. Es ist noch immer Yaloms meistgelesenes Lehrbuch.

Als Yalom Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie schrieb, war seine Hauptzielgruppe, wie er reumütig eingesteht, das Beförderungskomitee der Stanford University. Nachdem man ihm mitgeteilt hatte, dass er vorzeitig fest angestellt und befördert worden war, änderte er seine Zielgruppe und seinen Schreibansatz radikal. »Ich strich das Beförderungskomitee aus meinen Gedanken, eliminierte den Wissenschaftsjargon und jedweden nutzlosen komplexen theoretischen Überbau – ich schrieb nur noch mit einer Absicht: Studenten für die Gruppentherapie zu begeistern und sie darin zu unterrichten.« (aus: Liebe, Hoffnung,Psychotherapie)

Der Hauptnutzen von Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie liegt im praxisbezogenen Ansatz, der alle Aspekte des Themas umfasst: ein Handbuch, das jede nur vorstellbare Frage zur Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie in klarer, jargonfreier Sprache untersucht. Für uns hochinteressant ist vor allem die Art und Weise, wie es Yaloms Vision der Selbstoffenbarung veranschaulicht und sein Erscheinen als Romanautor antizipiert.

Schon im Vorwort zu Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie stellt Yalom fest, dass die Psychotherapie beides ist: »Wissenschaft und Kunst« (alle Verweise stammen, wenn nicht anders angegeben, aus der vierten, 1996 veröffentlichten Ausgabe). Auf der letzten Seite des Buches kommt er auf die Aussage zurück: »Psychotherapie ist Wissenschaft und Kunst zugleich.« Diese Feststellungen beinhalten eine unerwartete Bedeutung. Im Lehrbuch bezieht Yalom sich immer wieder auf literarische Kunst, fiktive Geschichten und Theaterstücke, die die Einsichten der Autoren in die Conditio humana, die Natur des Menschen, illustrieren. Zwei seiner literarischen Verweise sind besonders bemerkenswert: Hermann Hesses Roman Das Glasperlenspiel, das 1943 auf Deutsch und 1949 auf Englisch (manchmal unter dem Titel Magister Lundi) erschien, und Eugene O’Neills Theaterstück von 1946 Der Eismann kommt. Eine Untersuchung dieser beiden literarischen Werke zeigt, inwieweit sowohl die Psychotherapie als auch die Belletristik von der Erzählkunst abhängen.

Ein Geständnis auf dem Sterbebett:Das Glasperlenspiel

Im Kapitel »Der Therapeut: Übertragung und Transparenz« bezieht sich Yalom auf beide literarische Werke. Das Kapitel, in dem es um die Untersuchung der Beziehung des Therapeuten zu Gruppenmitgliedern geht, eröffnet sehr ungewöhnlich mit einer Art Ansprache, die Lehrbuchautoren eher selten anwenden, einer Apostrophe an den Leser: »Spielen Sie als Therapeut eine Rolle? Wie weit sind Sie frei, Sie selbst zu sein? Wie ›ehrlich‹ können Sie sein? Wieviel Transparenz können Sie sich selbst zugestehen?« Gegen Ende des Kapitels erörtert Yalom die Frage, ob Therapeuten den Patienten ihre Schwächen eingestehen sollten. Dann zitiert er M. B. Parloff, einen Kollegen, der anmerkte: »Ein ehrlicher Therapeut ist einer, der versucht, das zu liefern, was der Patient assimilieren, verifizieren und nützen kann.« In einer Fußnote nennt Yalom ein anschauliches Beispiel für die Notwendigkeit des richtigen Timings. Er fasst das Thema des dreißigseitigen Kapitels »Der Beichtvater« in Hesses Roman zusammen, einer Geschichte über zwei berühmte, für ihre Heilkraft legendäre christliche Büßer, die sich anfreunden und einander heilen:

Joseph, einer der Heiler, leidet schwer unter Gefühlen der Wertlosigkeit und des Selbstzweifels; er macht sich auf eine lange Reise quer durch den indischen Subkontinent, um Hilfe bei seinem Rivalen Dion zu suchen. In einer Oase beschreibt Joseph einem Fremden, der sich dann auf wundersame Weise als Dion entpuppt, sein Leiden; Joseph nimmt daraufhin Dions Einladung an, als Patient und Diener mit ihm zu gehen. Alsbald gewinnt Joseph seine frühere Heiterkeit, seinen Eifer und seine Kraft zurück; schließlich wird er der Freund und Kollege seines Meisters. Erst nach vielen Jahren gesteht Dion auf dem Totenbett seinem Freund Joseph, daß er bei ihrer Begegnung in der Oase selbst in einer ähnlichen Sackgasse in seinem Leben angekommen und auf dem Weg gewesen war, Joseph um Hilfe zu bitten.

Die Geschichte ist durch und durch Yalom, denn sie bekräftigt das Bedürfnis nach einer authentischen therapeutischen Beziehung, den Wert der Selbstoffenbarung für Patienten und Therapeuten, das Konzept eines verwundeten Heilers, die Möglichkeit zu Veränderung und zum Wachstum und die Bedeutung, sich auf jemanden einzulassen, als Gegenmittel für existenzielle Einsamkeit.

Eine kurze Fußnote kann die Feinheiten von »Der Beichtvater« und insbesondere Josephs Gabe zum empathischen Zuhören nicht einfangen. Wann immer eine geplagte Seele Joseph aufsucht, so Hesse, »verstand Joseph ihn anzuhören, ihm sein Ohr und Herz zu öffnen und hinzugeben, sein Leid und seine Sorge in sich aufzunehmen und zu bergen und ihn entleert und beruhigt zu entlassen«. Joseph, geübt in der Redekur, lässt sich seine Ungeduld nie anmerken, wenn Büßer ausschweifend erzählen, ohne auf die Gründe einzugehen, weshalb sie ihn ausgewählt haben. Auch urteilt er nie über die Geständnisse und Gewissensängste, die er zu hören bekommt. Seine Weigerung, Urteile abzugeben, gibt den Büßern nicht nur die Möglichkeit, sich selbst zu offenbaren, sondern hilft ihnen auch, die Bedeutung ihrer Worte zu verstehen. Was immer Joseph gebeichtet wurde, erklärt Hesse, schien »nicht ins Leere gesagt, sondern im Sagen und Gehörtwerden verwandelt, erleichtert und gelöst zu werden«.

Schon in der ersten Auflage von Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie erörterte Yalom Das Glasperlenspiel, doch auch später ging ihm der Roman nicht aus dem Kopf, zweiunddreißig Jahre danach kam er in Der Panama-Hut wieder darauf zurück. Seine Interpretation des Romans verändert er nicht, aber nun erkennt er etwas an der Beziehung zwischen den beiden verwundeten Heilern, was er früher nicht gesehen hat. »Vielleicht verschenkten sie die Gelegenheit für etwas noch Tieferes, Authentischeres, nachdrücklicher Veränderndes. Vielleicht fand die wahre Therapie am Totenbett statt, als sie sich ehrlich offenbarten, dass sie beide nur menschlich, allzu menschlich waren. Die zwanzig Jahre der Geheimhaltung, so hilfreich sie auch waren, verhinderten womöglich eine grundlegendere Form gegenseitiger Unterstützung. Was wäre wohl geschehen, wenn Dions Beichte auf dem Totenbett zwanzig Jahre früher stattgefunden hätte, wenn Heiler und Suchender sich gemeinsam den Fragen gestellt hätten, auf die es keine Antwort gibt.«

Yalom identifiziert sich sowohl mit Joseph, dem jüngeren Heiler, als auch mit Dion, dem älteren, verwundeten Heiler in Hesses berühmtem Roman, den die Schwedische Akademie anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises an ihn im Jahr 1946 lobend hervorhob. Yalom identifiziert sich auch mit dem Romanautor, dem Schöpfer der beiden fiktiven Figuren. Hesse schrieb den Roman als Warnung vor der aufkommenden Bedrohung durch die Nazis. Fünfhundert Jahre in die Zukunft versetzt, mahnt DasGlasperlenspiel die Intellektuellen, sich nicht weiterhin in ihren akademischen Elfenbeintürmen zu verschanzen, eine Warnung, die Yalom in seinen eigenen Schriften aufgreift, wenn er Denker wie sich selbst ermahnt, sich authentisch für die alltäglichen Probleme des gegenwärtigen Lebens zu engagieren.

In seinen beiden Verweisen auf Hesse vermittelt Yalom das »Beichtvater«-Thema, doch im Kapitel gibt es eine dritte Figur, zu der er sich nicht äußert. Ein »Gelehrter oder Schöngeist« besuchte Joseph und Dion und »sprach lang, gelehrt und schön über die Gestirne und über die Wanderung, welche der Mensch samt seinen Göttern vom Beginn bis zum Ende eines Weltalters durch alle die Häuser des Tierkreises zurückzulegen habe«. Der ungenannte Geschichtenerzähler, der einfach nur als Mythologe bezeichnet wird, sieht universelle Bedeutungen, die eng gefasste Ideologien oder religiöse Überzeugungen transzendieren. Joseph versteht nicht, weshalb Dion diesem Mann so gebannt zuhört, den Joseph einen Heiden nennt, welcher falsche Doktrinen verbreitet. Dions Erklärung für sein Interesse spiegelt Hesses Bekenntnis zu den Weisheiten wider, die in der Mythologie, in der Literatur und in den Künsten zu finden sind. Als Joseph behauptet, dass sein und Dions christlicher Glaube den veralteten Lehren des Heiden überlegen sei, weist der ältere Heiler darauf hin, dass der Geschichtenerzähler »in seiner Weisheit der Bilder und Gleichnisse lebt«, einer Weisheit, die von niemandem übertroffen wird.

Auf einer Ebene dürfte der Mythologe für Carl Gustav Jung stehen, den Hesse kannte und bewunderte: Hesse unterzog sich einer Analyse nach C. G. Jung und interessierte sich besonders für die jungianischen Archetypen und das kollektive Unbewusste. Auf einer anderen Ebene ist der Mythologe der Romanautor, der Geschichtenerzähler, der denjenigen, denen vielleicht der religiöse Glaube fehlt, Einsicht, Hoffnung und Inspiration verschaffen kann. Dion sieht im Mythologen eine jüngere Version von sich selbst, und er sagt zu Joseph, dass diejenigen Respekt verdienen, die uralte Weisheit von ihren Vorfahren beziehen. Auf wiederum einer anderen Ebene ist der Mythologe Yalom selbst, der in seiner Entwicklung als Geschichtenerzähler in der Weisheit von Bildern und Symbolen lebt und nach der Weisheit trachten wird, welche starre Ideologien oder religiöse Überzeugungen transzendiert.

Dions Selbstoffenbarung in Form einer letzten Beichte auf dem Sterbebett veranschaulicht den Wert von Therapeuten, die sich zu den gleichen menschlichen Schwächen bekennen wie ihre Patienten. Yalom bestätigt in Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie immer wieder den Nutzen einer Selbstoffenbarung für Patienten und Therapeuten. Therapeuten, die sich selbst offenbaren und in der Lage sind, ihre Grenzen anzuerkennen, ohne sie zu verteidigen, ermutigen ihre Patienten, ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu akzeptieren. »Die Forschung hat gezeigt, daß erfolgreiche Patienten sogar das komplexe Wertsystem des Therapeuten übernehmen.«

Yalom weist auch darauf hin, dass Studenten ebenso wie Psychotherapiepatienten von der Selbstoffenbarung profitieren. Er zitiert zwei Forscher, D. Medeiros und A. Richards, die in einer Studie von 1991 nachgewiesen haben, dass Studenten in den ersten Semestern viele pädagogische und psychologische Vorteile erzielten, wenn sie mit ihren Kommilitonen anonym Geheimnisse austauschten. Die beiden Forscher, berichtet Yalom, taten alles, um die Anonymität der Studenten zu gewährleisten: Die Geheimnisse wurden auf einheitliches Papier geschrieben und vom Dozenten in einem abgedunkelten Raum vorgelesen, damit niemand aus den Gesichtern der Kommilitonen Anzeichen von Unbehagen herauslesen konnte. Bei den Geheimnissen ging es um sexuelle Vorlieben, illegale oder unmoralische Handlungen, psychische Störungen oder Familienprobleme wie Alkoholismus. Die Atmosphäre im Klassenzimmer war während der Lesungen emotional aufgeladen, doch hinterher empfanden die Studenten die gleiche Art von Erleichterung wie die Patienten in der Psychotherapie. »Die Studenten berichteten von einem Gefühl der Erleichterung, als sie hörten, wie ihre Geheimnisse vorgelesen wurden – als hätte man ihnen eine Last abgenommen. Doch noch größere Erleichterung entstand in der anschließenden Diskussion, in der die Studenten ihre Reaktionen auf die verschiedenen Geheimnisse mitteilten, ähnliche Erfahrungen austauschten und sich nicht selten dazu entschlossen, das von ihnen aufgeschriebene Geheimnis zu enthüllen. Die Unterstützung von den anderen Studenten war ausnahmslos positiv und stark beruhigend.«

Es könnte sein, dass Yalom die bahnbrechende Forschung des experimentellen Psychologen James Pennebaker von der University of Texas zitiert hat, der in seinem Klassiker Opening Up by Writing It Down (1990/1997) die gesundheitlichen Vorteile der Selbstoffenbarung unter Universitätsstudenten aufzeichnete. Pennebaker beobachtet in seinem Sammelband Emotion, Disclosure & Health (Emotion, Enthüllung & Gesundheit, 1995), dass die »Offenbarung der tiefsten Gedanken und Gefühle ein starkes soziales Phänomen darstellt, ob in einem therapeutischen Umfeld oder im täglichen Leben«. Pennebaker rät Studenten nicht dazu, ihre persönlichen Aufzeichnungen mit anderen zu teilen, da er befürchtet, sie könnten ihre Selbstoffenbarungen bereuen. Ich gebe zu, dass solche Aufzeichnungen riskant sind, glaube aber, dass Lehrer Protokolle verwenden können, um den Hörsaal zu einem sicheren Ort für den Austausch persönlicher Aufzeichnungen zu machen. Außerdem lernen Studenten eine Menge, wenn sie gegenseitig ihre Geschichten anhören, und sie sind selbst gute Lehrer. »Pädagogen wissen seit langem«, schreibt Yalom, »daß der wirksamste Lehrer oft ein Altersgenosse ist, ein Mensch, der dem Schüler so nahe ist, daß er akzeptiert wird, und der, indem er mit den geistigen Vorgängen des Schülers korrespondiert, fähig ist, Material rechtzeitig und zugänglich zu präsentieren.«

Die Selbstoffenbarung eines törichten Philosophen: Der Eismann kommt

Was geschieht, wenn die Selbstoffenbarung, speziell im Rahmen einer Gruppe, zynisch und rücksichtslos eingesetzt wird? Yalom wirft diese Frage in Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie auf. Er denkt dabei an die trendigen Encounter-Gruppen der 1960er und 1970er Jahre, als viele Therapeuten die Selbstoffenbarungen der Patienten zu eigennützigen Zwecken manipulierten, was oft zu sexuellen Grenzverletzungen führte. Yalom zitiert eines der schlimmsten Beispiele eines charismatischen Therapeuten, der seine Anhänger ausbeutete. Die Rede ist von Werner Erhard, einem Autoverkäufer, der sich später zum Guru wandelte und der »est« (Erhard Seminars Training, A. d.Ü.) gründete. Doch Yalom bevorzugt ein literarisches Beispiel einer fehlgeschlagenen Selbstoffenbarung: Der Eismann kommt. In O’Neills Theaterstück geht es um eine Gruppe Obdachloser, die zwanzig Jahre lang friedlich im Hinterzimmer einer Kneipe leben. Die Gruppe ist über die Jahre stabil geblieben, weil die Lebenslügen – die »Pfeifenträume« – jedes Einzelnen von den anderen in der Gruppe respektiert werden.

Das Überleben der Gruppe wird durch die Ankunft von Hickey, dem Eismann, bedroht, einem »Handlungsreisenden«, der, in Yaloms Worten, ein »total aufgeklärter Therapeut [ist], ein falscher Prophet, der glaubt, jedem dieser Männer Erfüllung und dauernden Frieden zu bringen, indem er ihn zwingt, seine Selbsttäuschungen aufzugeben und die Sonne seines Lebens anzustarren, ohne mit der Wimper zu zucken«. Weil er jeden Einzelnen in der Gruppe ermuntert, die Illusionen der anderen zu attackieren und zu zerstören, übt der Eismann einen zutiefst destabilisierenden Einfluss aus, der dazu führt, dass einer der Männer Selbstmord begeht und die anderen sich gegeneinander wenden. Erst als die Gruppe aus Selbsterhaltungstrieb Hickey als psychotisch abstempelt und ihn vor die Tür setzt, können die Männer ihre alten Illusionen wieder aufnehmen und ihren früheren Zusammenhalt wiedergewinnen, auch wenn sie danach nicht mehr dieselben sind.

Hickey schmeichelt sich bei den Bewohnern ein, spricht sie mit Vornamen an, spendiert ihnen Drinks und tut so, als sei er an ihrem Leben interessiert, doch sein Versprechen, ihnen zu helfen, ihre »verdammten, verlogenen Pfeifenträume« aufzugeben, ist nichts weiter als ein Versuch, sich selbst von vernichtenden Schuldvorwürfen zu befreien. Hickey scheitert an seinem eigenen Eingeständnis – am Ende des Stücks gesteht er, dass er seine Frau Evelyn im Schlaf ermordet hat, angeblich, um sie vom Kummer über seine Frauengeschichten zu erlösen. Sein Geständnis in Gegenwart der Männer und zweier Polizeibeamter, die er in die Bar eingeladen hat, sowie der erklärte Wunsch, sein Leben auf dem elektrischen Stuhl zu beenden, verraten einen Hang zum Suizid, der ihn zu dieser Handlung verleitete. Erst nach der Lektüre von Der Eismann kommt lernen wir Yaloms Ironie der Charakterisierung Hickeys als »total aufgeklärten Therapeuten« zu schätzen, als einen Heiler, der nicht nur verwundet ist, sondern auch selbst verwundet. Hickey und Yalom haben wenig gemeinsam, aber es ist eine Ironie, dass Letzterer sich selbst in seinem ersten Band mit Psychotherapiegeschichten (Die Liebe und ihr Henker) als »Henker der Liebe« bezeichnet, als Zerstörer falscher Vorstellungen von der Liebe. Daher könnten wir Yalom als eine positive Version von Hickey betrachten, als einen aufgeklärten, aber nicht törichten Philosophen.

Yalom zeigt in seinen Erörterungen von Das Glasperlenspiel und Der Eismann kommt, dass Selbstoffenbarung eine Art von Kunst ist. Zu wenig und zu späte Selbstoffenbarung kann, wie Das Glasperlenspiel zeigt, zu verpassten Möglichkeiten von Wachstum und Freundschaft führen. Zu viel und zu frühe Selbstoffenbarung kann, wie Der Eismann kommt demonstriert, in einer persönlichen und sozialen Katastrophe enden. Die Kunst der Selbstoffenbarung hängt von vielen Faktoren ab, darunter auch vom richtigen Timing.

Vertikale und horizontale Selbstoffenbarungen

In Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie ermutigt Yalom immer wieder zu wohldosierten Selbstoffenbarungen, wobei er zwischen vertikalen und horizontalen Selbstoffenbarungen unterscheidet. Eine vertikale Offenbarung bezieht sich auf den Inhalt eines Geheimnisses und erfordert Graben, Abtragen, Freilegen und Ausgraben. Demgegenüber bezieht sich eine horizontale Offenbarung auf die Offenbarung der Offenbarung selbst (Meta-Offenbarung), auf die »Interaktionsaspekte« der Offenbarung. Was in der Gruppenpsychotherapie von entscheidender Bedeutung ist, so argumentiert Yalom, ist, wie sich eine Selbstoffenbarung auf die Gruppenmitglieder auswirkt, auf ihre aktuellen – weniger auf die vergangenen – Beziehungen, die mit dem Inhalt des Geheimnisses zu tun haben. Als Beispiel führt er seinen Patienten John an, der der Gruppe offenbart hat, dass er Transvestit ist. Die »natürliche Neigung« der Mitglieder war, mehr über den Inhalt der Offenbarung zu erfahren: wie alt John war, als er mit dem Crossdressing begann, welche Kleidung er damals trug, seine damaligen sexuellen Phantasien. Yaloms Ansatz hingegen zielte darauf ab, von John mehr horizontale Informationen über seine Offenbarung zu bekommen: ob es für ihn schwierig gewesen sei, zwölf Wochen zu warten und sich dann erst der Gruppe zu offenbaren, ob er sich unbehaglich gefühlt habe, diese Information mit der Gruppe zu teilen, ob er prognostizieren könne, dass einige Mitglieder der Gruppe mit der Information besser als andere umgehen werden. Yalom zieht den folgenden Schluss: »[N]och wichtiger als die tatsächliche Selbsterleichterung ist der Umstand, daß die Enthüllung eine tiefere, reichere und komplexere Beziehung zu anderen zur Folge hat.«

Ich hatte einen »Aha«-(oder Heureka-)Moment, als ich Yaloms Unterscheidung zwischen vertikalen und horizontalen Selbstoffenbarungen las. Ich gebe seit über vierzig Jahren private Schreibkurse. Ich benote Studenten nicht nach dem Inhalt ihrer Essays oder nach dem Umfang ihrer Selbstoffenbarung, sondern »nur« nach der Qualität des Schreibens. (Ich setze nur in Anführungszeichen, weil ich darauf hinweisen möchte, welche Herausforderung es für einen Lehrer ist, den Studenten zu helfen, ihre Schreibqualität zu verbessern.) Da Studierende oft über düstere Themen schreiben, wie Selbstmord, Depressionen, Cutting, Essstörungen oder sexuellen Missbrauch, verzichten wir darauf, den Inhalt ihrer Schriften zu diskutieren, zumindest nicht direkt. Nachdem ein Student einen Aufsatz laut vorgelesen hat, werfen die drei Studenten zu seiner Rechten oder Linken Fragen auf, zu denen der Autor bzw. die Autorin Überlegungen anstellen, aber nicht in der Klasse beantworten soll. Wenn beispielsweise ein Autor einen Aufsatz über Depressionen geschrieben hat, könnten die Teilnehmer vielleicht die folgenden inhaltlichen Fragen stellen: Wann hat die Depression begonnen? Was war für die Depression verantwortlich? Wann hat sich die Depression wieder gelegt? Oder Klassenkameraden könnten eine andere Art von Fragen stellen, die den Prozess der Selbstoffenbarung betreffen. Was passiert mit dir, wenn du das vor der Klasse offenlegst? War es schwierig oder einfach, dich vor der Klasse zu offenbaren? Was hältst du von den Reaktionen der Kursteilnehmer auf deine Selbstoffenbarung? Erst nachdem ich Yalom gelesen hatte, wurde mir bewusst, dass die Fragen der ersten Kategorie »inhaltliche« Fragen sind und die der zweiten Kategorie »Prozess«-Fragen. Da ein Schreibkurs mehr Ähnlichkeit mit Gruppenpsychotherapie als mit Einzeltherapie hat, sind horizontale Fragen oft wertvoller als vertikale.

Ptolemäische versus kopernikanische Sichtweisen im Veränderungsprozess

Eine der Implikationen von Yaloms Forschung zu Encounter-Gruppen, die mich demütig machten, gilt auch für die Gruppenpsychotherapie. Wie er als Co-Autor der Studie Encounter-Groups: First Facts von 1973 herausstellt, müssen diejenigen, die Encounter-Gruppen und – wie wir gern ergänzen dürfen – auch Psychotherapiegruppen leiten, »eine ptolemäische Sichtweise des Veränderungsprozesses verlassen. Veränderung kreist nicht um die alleinige Sonne des Leiters: Es gibt starke Hinweise, dass psychosoziale Beziehungen in der Gruppe beim Veränderungsprozess eine außerordentlich wichtige Rolle spielen« (Lieberman, Yalom und Miles). Der Wechsel von einem ptolemäischen zu einem kopernikanischen Paradigma unterstreicht die Notwendigkeit eines aufrichtigen und offenen Umgangs der Mitglieder untereinander sowie deren Bereitschaft, ein Feedback über ihr zwischenmenschliches Verhalten zu geben und zu bekommen.

Yaloms Selbstoffenbarungen in den ersten vier Auflagen von Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie sind rar, zurückhaltend und immer im Hier und Jetzt. Dass er die Bedeutung der Hier-und-Jetzt-Therapie erkannt hat, schreibt er Dorothy Semenow Garwood, einer »sehr klugen Psychologin«, zu, die eine Gruppentherapiesitzung leitete, an der er nach seinem Militärdienst im National Training Laboratory teilgenommen hatte. Zu Ruthellen Josselson sagte Yalom, dass er sprachlos gewesen sei, als sie die Gruppensitzung mit den Worten einleitete: »Ich möchte, dass wir ausschließlich im Hier und Jetzt bleiben.«

In seinen klinischen Geschichten schreibt Yalom gewöhnlich in der dritten Person über einen ungenannten Therapeuten oder Co-Therapeuten, der Yalom selbst sein könnte. Gelegentlich schreibt er über sich in der ersten Person und liefert negative Details über den Therapeuten, die selten den Weg in psychiatrische Fallstudien finden. Eine seiner aufschlussreichsten Selbstoffenbarungen findet statt, als er über drei weibliche Mitglieder einer Gruppe schreibt, die sich zu ihm, nicht aber zum anderen Co-Therapeuten hingezogen fühlten. Daraufhin bat Yalom die Frauen, ihm zu helfen, seine blinden Flecken zu identifizieren, die unwissentlich für die sexuelle Reaktion der Patientinnen auf ihn verantwortlich waren:

Durch meine Bitte kam eine lange und fruchtbare Diskussion über die Gefühle der Gruppenmitglieder beiden Therapeuten gegenüber in Gang. Große Übereinstimmung herrschte darüber, daß wir sehr verschieden waren: Ich sei eitler, sei viel mehr auf meine physische Erscheinung und meine Kleidung bedacht, und ich hätte eine Genauigkeit in meinen Aussagen, die mir eine attraktive Aura gewinnender Perfektion verleihe. Der andere Therapeut sei unordentlicher in Erscheinung und Verhalten: Er spreche öfter, wenn er noch unsicher sei, was er sagen wolle; er sei risikofreudiger, sei bereit, sich ins Unrecht zu setzen, und helfe damit öfter dem Patienten. Dieses Feedback kam mir richtig vor. Ich hatte das alles schon einmal gehört und sagte dies der Gruppe. Ich dachte während der Woche über ihre Kommentare nach, und auf der folgenden Sitzung dankte ich der Gruppe und sagte, sie hätten mir geholfen.

Mir ist kein anderer Psychotherapeut bekannt, der in einem Lehrbuch, einer Fallstudie oder in seinen Memoiren eingeräumt hätte, dass Patientinnen sich zum Teil wegen seiner Eitelkeit stark von ihm angezogen fühlten. Selbst wenn Therapeuten bereit wären, dies zu offenbaren, ist es unwahrscheinlich, dass sie selbstironische Worte wie »gewinnende Perfektion« verwenden würden. Ebenso wenig würden Therapeuten das sexualisierte Verhalten von Patientinnen auf blinde Flecken des Therapeuten zurückführen. Um die Ironie weiter auf die Spitze zu treiben, räumt Yalom ein, dass sein Co-Therapeut, schlampig, unsicher und bereit, sich zu irren, seinen Patienten eine größere Hilfe war.