Der Turm der wilden Rosen - Lulu Taylor - E-Book
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Der Turm der wilden Rosen E-Book

Lulu Taylor

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Beschreibung

Je dunkler die Lüge, desto tiefer das Geheimnis: der große romantische Frauenroman. London, 1964. Die junge Alexandra, streng erzogen, unglücklich verheiratet, entflieht der Enge ihres Daseins und findet die wahre Liebe. Mit Nicholas bezieht sie Sturling Castle, eine romantische Burg in Dorset. Aber wird sie irgendwann einen Preis für ihr Glück bezahlen müssen? 2015: Delilah lebt mit ihrem Mann John auf Sturling Castle. Sie spürt die Trauer, die das Anwesen ausstrahlt, und die Last der Vergangenheit, die auf John lastet. Warum hasst er den alten Turm im Park? Delilah erkennt, wie gefährlich es ist, wenn man an alte Geheimnisse rührt… Der große Bestsellererfolg aus England um eine Liebe, über der ein Schatten liegt und die doch zum Glück führt.

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Seitenzahl: 623

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LULUTAYLOR

DER TURM DER WILDEN ROSEN

Roman

Aus dem Englischen von Karin König

FISCHER E-Books

Inhalt

PrologErster TeilKapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel FünfKapitel SechsKapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunKapitel ZehnKapitel ElfKapitel ZwölfKapitel DreizehnKapitel VierzehnKapitel FünfzehnKapitel SechzehnKapitel SiebzehnKapitel AchtzehnKapitel NeunzehnTeil ZweiKapitel ZwanzigKapitel EinundzwanzigKapitel ZweiundzwanzigKapitel DreiundzwanzigKapitel VierundzwanzigKapitel FünfundzwanzigKapitel SechsundzwanzigKapitel SiebenundzwanzigTeil DreiKapitel AchtundzwanzigKapitel NeunundzwanzigKapitel DreißigKapitel EinunddreißigKapitel ZweiunddreißigKapitel DreiunddreißigKapitel VierunddreißigKapitel FünfunddreißigKapitel SechsunddreißigKapitel SiebenunddreißigKapitel AchtunddreißigKapitel Neununddreißig

Prolog

Eine seltsame, geisterhafte Gestalt bewegte sich lautlos durch die Dunkelheit. Ihr weißes Gewand umwehte sie, während sie leichtfüßig den steinigen Weg entlangschritt, so mühelos, als wäre es ein sonniger Nachmittag und nicht mitten in der Nacht.

Ein großer, kalter, weißer Mond schien über ihr und ließ den tiefschwarzen Nachthimmel um sie herum dunkelblau leuchten. Sterne funkelten wie verstreute Eissplitter, und die Welt unter ihnen war aller Farben beraubt, so dass nur Abstufungen von Grau und Schwarz blieben.

Die Gestalt ging an den Rasenflächen des großen Hauses entlang, wo das Gras wie Granit schimmerte, und schlenderte am ummauerten Küchengarten vorbei. Sie lief den Eibenweg hinab, wo die Schatten dichter waren und auf beiden Seiten hohe Hecken aufragten, und durchschritt dann die alten schmiedeeisernen Tore, die niemals geschlossen waren und von hohen Säulen mit steinernen Eulen darauf flankiert wurden. Sie schritt auf den Saumpfad hinaus und weiter in die Wälder. In den hohen Bäumen waren aufgeregte Rufe zu vernehmen, im Unterholz strich etwas knackend an Zweigen entlang, tote Blätter raschelten. Ein Augenpaar blitzte unheimlich grün und gelb auf, und der dunkle Umriss eines Fuchses war erkennbar. Die Frau in Weiß ging weiter, bewegte sich ruhig, aber äußerst entschlossen.

Sie verließ den Saumpfad, drang in die dichtere Dunkelheit der Wälder vor, wo die Strahlen des Mondes nicht hingelangten, und trat dann auf eine Lichtung, wo auf der Kuppe eines niedrigen Hügels ein dunkler Umriss erkennbar war – die Ruine eines alten Turms, der noch immer hoch in den Himmel aufragte. Die Frau ging darauf zu, durch den leeren, von bleichen Kletterrosen umrankten Eingang und in die dahinterliegende Dunkelheit. Sie stieg die bröckelnde Treppe hinauf, ging langsam, aber sicher voran, tat einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen, bis sie den höchsten Punkt des Zierbaus erreichte, wo noch einige Holzdielen verblieben waren, geschwärzt, durchweicht und rutschig. Die Frau hielt inne und trat dann zögerlich auf brüchigen Bohlen bis zu der Stelle, wo ein Mauerloch eine klaffende Öffnung in der Seite des Turms geschaffen hatte. Dort stand sie, im Dunkeln leuchtend, ihr bleiches Gesicht aufwärtsgewandt, und blickte über die Bäume hinweg, ihre Hände noch immer im Nachthemd verkrampft, das sich vor dem Nachthimmel sanft anhob und bauschte.

Es schien, als stünde sie dort eine ganze Ewigkeit. Dann wandte sie das Gesicht zu den Sternen empor, das Kinn erhoben. War es Trotz oder Kapitulation? Sie blickte erneut weit hinaus, die Augen ausdruckslos. Langsam, bedächtig, tat sie einen Schritt in die Leere und stürzte dann, ihr Nachthemd wie eine Flagge wehend, ihr Haar nach oben ausgebreitet. Sie streckte die Arme aus, die Finger gespreizt, den Mund geöffnet, aber kein Laut drang hervor. Dann verschwand sie, von den Schatten am Fuße des Turms verschluckt, und ein harter Aufprall und ein Schlag erklangen, so scharf wie ein Peitschenhieb.

Danach herrschte tiefste Stille.

Erster Teil

Kapitel Eins

1969

»John! John! Komm zurück!«, rief Alexandra.

Der Junge wandte sich nur kurz zu ihr um und lief einfach lachend weiter. Für seine zwei Jahre bewegte er sich sehr schnell und schien die Verfolgungsjagd zu genießen.

Sie musste über ihn lächeln, aber eigentlich sollte sie wohl streng sein, wenn er lernen sollte, ihr zu gehorchen. »John, tu, was ich dir gesagt habe!«, rief sie entschlossen. »Sei für Mummy ein guter Junge.« Sie ging ihm rasch nach und wünschte, sie hätte für ihren Spaziergang etwas Robusteres als ihre Lederpumps gewählt, die hübsch, aber absolut nicht zum Laufen geeignet waren. Sie hatte mit John nur auf die Wiese gehen wollen, damit er seinen neuen Plastiktraktor ausprobieren konnte, aber er war bald abgestiegen, um die Gegend zu erkunden. Nach einer Weile war er den Eibenweg entlanggetrippelt und nur stehen geblieben, wenn etwas sein Interesse erregte. Sie war ihm gefolgt, aber er war immer weitergelaufen, sobald sie sich ihm näherte. Er lief erstaunlich schnell, wenn man seine kurzen Beinchen und kleinen Füße bedachte. Das verdammte Tor am Ende der Zufahrt stand natürlich offen, alte gusseiserne Torflügel, flankiert von hohen steinernen Säulen, gekrönt von ebensolchen Eulen. Alexandra hatte darum gebeten, die Torflügel zu ersetzen, und angeordnet, sie bis dahin geschlossen zu halten, aber der Jagdaufseher behauptete, sie wären völlig eingerostet und könnten nicht mehr bewegt werden.

»Können Sie sie nicht ölen?«, hatte sie verärgert vorgeschlagen. »Es ist gefährlich, wenn ein kleines Kind herumläuft.«

Aber der Gesichtsausdruck des Jagdaufsehers schien anzudeuten, das Kind sei besser dran, wenn es vor ihrer erdrückenden, erstickenden Liebe davon und in die Freiheit des Waldes laufen könnte. Ihre Anordnungen besaßen sogar jetzt noch wenig Gewicht.

»Lauf nicht durch das Tor, Liebling«, rief sie, aber er ignorierte sie und wanderte singend hinaus. Alexandra beschleunigte ihren Schritt, lief so rasch wie möglich den matschigen Weg entlang. Sie mochte ihn nicht alleine auf dem Reitweg laufen lassen. Als sie am Tor angelangt war, konnte sie ihn sehen, er hatte bereits ein gutes Stück des Weges hinter sich gebracht. Er erinnerte sich wahrscheinlich von Spaziergängen mit seinem Vater her an diesen Weg, vielleicht als sie seinen kleinen Eimer und seine Schaufel zum Fluss hinuntergenommen hatten, um Schlamm und Kieselsteine aufzusammeln, was er liebte. Er war noch viel zu klein, um angeln zu können, und Alexandra hatte verboten, ihn im Ruderboot auf den Fluss mitzunehmen. Sie war selbst sehr lange nicht mehr unten am Fluss gewesen. Und nicht einmal die Schwimmausflüge im Sommer, als der Fluss kühl und erfrischend war, konnten sie locken. Sie blieb stattdessen beim Haus am Pool, vollkommen zufrieden damit, im türkisfarbenen, mit Chlor versetzten und viel zu warmen Wasser zu schwimmen und sich anschließend auf einer Liege auf dem Betonrand des Beckens zu sonnen wie ein Tourist in einem Hotel. Der Jagdaufseher glaubte, sie hätte Angst vor dem Wald, so wie einige der alten Männer im Dorf, die behaupteten, dass dort das Rasseln der Geister römischer Soldaten zu hören sei. Die Legionen irgendeines Herrschers waren dort hindurchmarschiert, und die Angelsachsen hatten sie in einen Hinterhalt gelockt und vernichtet. Es hieß, sie marschierten noch immer, krank vor Heimweh, blutverschmiert und auf Rache bedacht. Aber das alles glaubte sie natürlich nicht. Geister waren lächerlich, und das Heulen und Schreien, das nachts aus dem Wald erklang, stammte von glücklosen Hasen, die vom Fuchs oder von den Metallzacken jener schrecklichen Fallen erwischt wurden, die der Jagdaufseher aufstellte. Diese Geschichten waren zweifelsohne verbreitet worden, um Wilddiebe abzuschrecken.

Es gab jedoch einen ganz anderen Grund dafür, dass sie niemals dorthin ging.

»John!«, rief sie. »Komm her, Liebling! Warte auf mich!«

Er lachte erneut, und seine kurzen Beine bewegten sich noch schneller. Er verließ den Reitweg und folgte wohl einer Spur. Sie konnte seine rote Latzhose und den weißen Pullover hell durch die trüben Winterfarben des verwelkten Farns, des schwarzbelaubten Brombeergestrüpps und der kahlen Zweige schimmern sehen. Sie trat in eine Schlammpfütze, rutschte aus und konnte das Gleichgewicht gerade noch halten. Ihre feinen Lederpumps und die goldfarbenen Schnallen waren nun schwarz bespritzt. Sie hätte ihre Stiefel anziehen sollen und hätte das normalerweise auch getan, aber sie hatten das Haus über die Veranda verlassen anstatt durch den Stiefelraum. Hätten sie Letzteres getan, dann hätten sie auch ihre Jacken angezogen. Sie schauderte. Ihre Wolljacke war zu dünn, um den Winterwind abzuhalten, und John war auch nicht warm genug angezogen. Er sollte drinnen sein. Sie sollten in diesem Moment die Treppe zum Kinderzimmer hinaufsteigen, wo der Kamin brennen würde und Nanny für ihn zum Tee gedeckt hätte: wahrscheinlich gekochte Eier und goldbraunen Toast, auf dem geschmolzene Butter glänzte.

»John! Komm zurück!« Sie beschleunigte ihre Schritte, um ihn einzuholen, aber er spürte, dass sie näher kam, und verstärkte sein Tempo noch einmal. »Nun sei lieb, sonst werde ich böse!«

Aber sie wusste, dass es für ihn ein Spiel war. Er besaß eine unschuldige Unbekümmertheit. Er konnte laufen und klettern, aber nicht Gefahren einschätzen. Erst neulich hatte jemand das Tor vom Lattenzaun am Pool unverriegelt gelassen, und sie hatte John dabei erwischt, wie er gerade einen Fuß auf die Abdeckplane des Schwimmbads setzen wollte, ohne sich bewusst zu sein, dass sie unter seinem Gewicht nachgeben würde.

Und nun war sie hier im Wald, an dem Ort, gegen den sie eine solche Abneigung hegte. Ihre Haut kribbelte, sie bekam eine Gänsehaut. Das Unterholz schien sich um sie zu schließen, sie mit Hunderten langen, dornigen Fingern zu ergreifen. Sie schrak davor zurück, während sie den vom Regen noch matschigen Pfad hinunterrutschte, und keuchte laut auf, als etwas an ihr zog. Als sie sich umwandte, sah sie, dass sich ihre Jacke am Dorn eines Zweiges verfangen hatte, und sie nestelte daran herum, bis sie sich befreien konnte. Als sie aufblickte, war John fort.

»John, John!« Sie eilte den Pfad entlang und fürchtete, dass er sich verirren könnte, dass er im Handumdrehen hinter Gestrüpp und Farn verschwinden könnte, wenn er den Pfad verließ und ins Unterholz kroch. Sie konnte ihn regelrecht sehen, wie er sich zunächst aus Spaß versteckte, wie eine kleine Haselmaus in einem Nestchen unter einem Busch zusammengerollt lag und darauf wartete, gefunden zu werden. Und dann, wenn es kälter würde und die Dunkelheit herabsank, würde er nach ihr rufen und herzzerreißend schluchzen, dass er seine Mummy wolle, während die Tiere der Nacht um ihn herumzuschleichen begannen. »John! Wo bist du?« Ihre Stimme zitterte, aber sie bemühte sich, sie so gebieterisch wie möglich klingen zu lassen. »Komm sofort zurück, hörst du?«

Sie gelangte jäh auf eine Lichtung, blieb abrupt stehen und starrte mit geweiteten Augen auf das Bild vor ihr: ein ungewöhnlicher Zierbau, eine halbe Ruine, aber immer noch eindrucksvoll, ragte in den Nachmittagshimmel. Der Bau war einst ein hoher, stattlicher Turm mit Bogenfenstern und Zinnen gewesen, ein Ort, an dem Rapunzel hätte leben können, aber nun vermoderte und verfiel er, von wilden Rosen und Efeu umrankt, und die wenigen verbliebenen Zinnen wirkten wie abgebrochene Zähne. Die Vorderseite des Turms war weitgehend eingestürzt, und altes Mauerwerk lag, nun überwachsen, an seinem Fuß. Man konnte sehen, dass er einst fünf Stockwerke hoch gewesen war, wobei die unteren beiden Holzböden verschwunden und von den übrigen nur Überreste geblieben waren. Nur der fünfte Stock war fast intakt, obwohl die alten Bohlen nach jahrelangem Regen, Frost und Mehltau zweifellos aufgeweicht und rutschig wären. Eine alte Holztreppe wand sich im Inneren des Turmes nach oben, mit zerbrochenen und fehlenden Stufen unsicher, und da, wo die Wand eingebrochen war, sogar gefährlich. Der Turm war außen und innen dunkel, feucht und kalt, der Hauch des Verfalls überall, die Steine dicht mit Moos bewachsen.

Ein schauderhaft verrottetes altes Ding!, dachte sie, von ängstlichem Abscheu erfüllt. Ich wünschte, sie würden ihn abreißen!

Der Anblick der alten Ruine stieß sie regelrecht ab, sie glaubte zu ersticken und wollte weglaufen. Sie sah sie häufig in ihren Träumen, ein immer wiederkehrender Albtraum, in dem sie gezwungen war, die Ruine zu erklettern, um etwas Schreckliches zu verhindern. Doch sie konnte den höchsten Punkt nie erreichen, so dass sie nie erfuhr, was sich dort oben abspielte. Sie hasste es, sie in ihren Träumen zu sehen, aber die schwärende Realität ließ sie erschaudern.

Dann sah sie im Inneren etwas Rotes aufblitzen. John war dort drinnen.

Sie wurde augenblicklich von Entsetzen gepackt, das kannte sie aus ihren Albträumen, von einem erstickenden Panikgefühl und dem verzweifelten Drang, etwas Schreckliches verhindern zu wollen. Sie lief auf den Turm zu. Sie hörte erneut sein Lachen und sah durch die Lücke in der Mauer, dass er die Treppe hinaufstieg. Sie kannte jene Stufen aus ihrer Kindheit, als sie genötigt wurde hineinzugehen. Sie waren an einigen Stellen morsch und zerbrechlich wie eine dünne Eisschicht und an anderen Stellen feucht und glitschig und gaben in der Mitte nach. Man konnte dort mit einem Fuß genauso leicht einsinken wie in nassem Sand, nur dass darunter gar nichts war. Sie wollte schreien, aber ihr Herz klopfte schwer in ihrer Brust, als sie ins Innere des Turmes gelangte. Sie blickte aufwärts. Der Turm öffnete sich dem Himmel, der durch die Überreste der oberen Stockwerke hindurch blau schimmerte. Üppiger Efeu hing von den alten Bohlen und Deckenbalken herab, und Äste verliefen an den Stellen kreuz und quer, wo sie das Mauerwerk durchbrochen hatten. Es roch nach durchweichtem Holz, nassem Stein und Moder.

»John!«, rief sie, als sie den Jungen sah. Er stieg stetig die Treppe hinauf, eine kleine Hand an die Mauer gepresst, die Zunge zwischen den Lippen, während er sich auf jeden Schritt konzentrierte. Er kam rasch voran, wobei er sich dicht an die Mauer schmiegte, wo die Stufen am stabilsten waren, und mied instinktiv die Lücken.

Sie keuchte, und ihre Hände zitterten vor Furcht. Er war von Gefahr umgeben, und sie wuchs mit jedem seiner Schritte. Unter ihm befanden sich Haufen herabgestürzter Steine und zerbrochener Balken, die aufwärtsragten und aus denen rostige Nägel hervorstanden. Sie stellte sich vor, wie er daraufstürzen und gepfählt werden könnte, und jähe Übelkeit überfiel sie.

Der kleine Junge war nun weiter hinaufgelangt, hatte den leeren ersten und zweiten Stock passiert und war auf dem Weg zum dritten Stock. Sie hatte keine Wahl. Sie lief zur Treppe und erklomm sie so schnell wie möglich, wobei sie aber Vorsicht walten ließ. Sie war schwerer als John – was ihn hielt, würde sie vielleicht nicht halten. Vielleicht wurde er von kindlichem Vertrauen in seine Sicherheit geschützt, aber sie nicht, und ihre Phantasie skizzierte vor ihrem inneren Auge, wie sie mit gebrochenem Bein oder zerschmettertem Knöchel irgendwo lag, wo sie ihn nicht erreichen konnte. Niemand wusste, wo sie waren, niemand würde wissen, wo sie zu suchen wären. Panik raubte ihr den Atem, und ihre Finger zitterten unter einem Adrenalinschub, während sie an der glitschigen Mauer Halt suchte. Diese verflixten Schuhe!, dachte sie. Ihre Sohlen hatten kein Profil, keinen Halt, und sie hasste sie von ganzem Herzen. Hätte sie nur ihre verdammten Stiefel getragen.

»Halt, John, halt!«, rief sie.

Er blieb einen Moment stehen, blickte über die Schulter zurück und lächelte ihr zu, und seine großen blauen Augen glänzten vor Freude über ihr Spiel. Dann wandte er sich wieder um und hob sein kleines linkes Knie, um den nächsten Schritt zu tun.

»John! Bitte!« Ihre Stimme brach bei den Worten. Sie wollte weinen, aber für diesen Luxus war keine Zeit. Sie wusste, dass sie die Kontrolle behalten musste. Sie stieg Stufe um Stufe höher und fürchtete, dass eine Stufe unter ihr einbrechen würde. Vor ihr hatte John bereits den vierten Stock erreicht und stieg immer noch höher hinauf. Sie kam ihm näher, dessen war sie sich sicher, aber so schmerzlich langsam. Nun war er im fünften Stock, wo die Treppe endete. Er blieb erneut stehen und schaute zu ihr hinab. Anscheinend trieb ihn die Tatsache, dass sie immer noch näher kam, dazu, weiterzugehen, und er betrat das Stockwerk.

Sie sog vor Panik scharf den Atem ein: Der Boden war an mehreren Stellen gebrochen, und man konnte unmöglich sagen, wo er gar keinen Halt mehr bot. In dieser Höhe war die gesamte Vorderseite des Turmes verschwunden. John trippelte auf die Lücke zu, die mindestens fünfundzwanzig Fuß über dem Boden war. Nichts konnte ihn am Fallen hindern.

Sie riss sich zusammen und eilte die Treppe weiter hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, entschied in Sekundenbruchteilen, wohin sie ihr Gewicht verlagern sollte, und hoffte, dass ihr Tempo den Bohlen keine Zeit ließe, unter ihr zu zerbrechen. Dann hörte sie im Laufen ein unheilvolles Ächzen und Krachen, aber dafür war im Moment keine Zeit. Sie wusste nur, dass sie John so schnell wie möglich erreichen musste.

Er stand nun am Rand der Plattform, eine kleine Faust auf einem zerbrochenen Mauerstück, blickte auf den Wald hinaus, seine rotweiße Gestalt hob sich vor dem schwarzen Gemäuer und den dahinterliegenden dunklen Bäumen deutlich ab. Alexandras Kopf brummte, sie fühlte sich elend und völlig benommen. Aber die Angst um ihren geliebten Jungen, der am Rand des Turmes stand, ließ sie die unmittelbare Gefahr vergessen. Sie war an den obersten Stufen angelangt, auf dem Treppenabsatz, und betrat die Bohlen. Sie ging jetzt langsam voran, rief nicht mehr, sondern sprach sanft und ruhig zu dem Kind, während sie einen zitternden Schritt nach dem anderen über den schwarzen, glitschigen Boden tat.

»Nun, John, was hat Mummy gesagt? Was du tust, ist sehr ungezogen. Komm jetzt da weg, komm zurück zu mir. Komm schon. Wollen wir nach Hause gehen und Nanny suchen? Sollen wir ins Kinderzimmer gehen und Eier und Toast essen? Du weißt doch, wie gerne du die Soldaten eintunkst, damit sie gelbe Helme bekommen, und Nanny wird dich deinen Lieblingslöffel benutzen lassen, nicht wahr?«

Jeder Schritt brachte sie näher an ihn heran. Gleich würde sie die Hand ausstrecken und ihn packen können.

Er sah lächelnd zu ihr hoch. »Eiers«, sagte er vergnügt. »Koch Eiers.«

»Richtig, Liebling, gekochte Eier. Wollen wir jetzt nach Hause gehen und uns aufwärmen? Wir haben genug gespielt, nicht wahr?«

Er nickte mit seinem blonden Kopf und wandte sich ihr zu. Ein kalter, heftiger Windstoß drang in den Turm und prallte von dessen eingefallenen Mauern ab. John war bereit, nach Hause zu kommen.

Sie lächelte erleichtert und streckte ihm die Arme entgegen, und er ließ den Steinvorsprung los und kam auf sie zu. Sein robuster kleiner Schuh traf auf einen rutschigen, nassen Fleck, er verlor das Gleichgewicht und geriet ins Wanken. Wenn er stolperte, würde er wieder einmal rückwärts auf den Po fallen, aber dieses Mal würde er nicht nur mit einem harmlosen kleinen Ruck landen, wieder aufstehen und weiterlaufen.

Sie sah seinen Umriss vor der kahlen Leere jenseits der fehlenden Mauer. Sie erkannte, dass er aus dem Turm fallen würde. Der Moment dehnte sich aus, der Kleine wankte, streckte die Arme aus und fiel dann rückwärts. Er riss die Augen vor Schreck und Entsetzen weit auf. Alexandra griff blitzschnell nach dem Träger seiner Latzhose. Halte, halte, befahl sie der Schnalle, als Johns Gewicht darauf lastete. Mehr konnte sie nicht tun, um ihn am Sturz zu hindern. Die Schnalle hielt, während sie ihn zu sich zog, und im nächsten Moment lag er sicher in ihren Armen.

Er war ganz still, ergab sich ihr freudig, von ihren um ihn geschlungenen, warmen Armen getröstet. Sie barg ihr Gesicht in seinem Haar, drückte ihn fest an sich und wusste nicht, ob sie weinen, lachen oder schreien sollte.

»Mummy ist hier«, murmelte sie stattdessen, während ihre Hände zitterten. »Alles ist gut, mein Liebling. Mummy ist hier.«

Kapitel Zwei

GEGENWART

Delilah nieste einmal, zweimal, dreimal. Der Staub hier oben auf den Dachböden hatte sich zu dicken grauen Schichten aufgebaut, und sie hatte so viel davon aufgewirbelt, dass er ihre Nase kitzelte und in ihrer Kehle kratzte. Das Licht der nackten Glühbirne beleuchtete die Staubpartikel ebenso wie die Kisten, Schachteln, aufgerollten Teppiche, alten Bilder, kaputten Möbel und Berge von allgemeinem Krimskrams, welche die Dachböden auf der Ostseite des Hauses füllten.

»Geh hinauf, wenn du magst«, hatte John gesagt, als sie ihn gefragt hatte. »Gott weiß, was du finden wirst. Sieh dir nur alles an.«

Es war der einzige Ort im Haus, an dem sie frei walten konnte. Als sie vor sechs Monaten nach Fort Sturling gezogen war, hatte sie geglaubt, sie würde allmählich das Gefühl entwickeln, dass es zum Teil auch ihr gehörte, dass sie ein wenig Kontrolle darüber erlangen und es vielleicht sogar umgestalten könnte, so wie sie die anderen Orte umgestaltet hatte, an denen sie gelebt hatte. Sie hatte das Haus mit kindlicher Neugier erforscht und sich danach gesehnt, ihrer Phantasie in den Räumen freien Lauf lassen, sie restaurieren und auffrischen zu können. Damals war noch alles neu und reizvoll gewesen, und sie hatte sich ebenso sehr in die mit Flechten überwachsenen Steinananas auf dem Terrassengeländer wie auch in die zierlichen, goldverzierten Louis-Quinze-Stühle im Salon verliebt. Jedes Fenster, jeder Flur hatte sie entzückt, und sie hatte das Gefühl gehabt, ihre perfekte Umgebung gefunden zu haben. Aber sie hatte allmählich erkannt, dass es nicht ganz so großartig war, wie es schien. Die wackeligen Möbel auf den goldverzierten Beinen wirkten prächtig, aber die Federn darin waren ausgeleiert, die Seidendamastbezüge waren fleckig und zerschlissen, und schwarzer Staub klebte in der goldverzierten Schnitzerei.

Inzwischen hatte sie begriffen, dass Neuankömmlinge im Haus nichts verändern durften. Sie hatte stattdessen das Gefühl, dass eher sie dem Haus gehörte als umgekehrt, dass es sie zähmte und in eine der Seinen verwandelte, eine weitere in einer langen Reihe von Bewohnern, welche dieselben Flure beschritten, auf denselben Sesseln gesessen und in denselben Betten geschlafen hatten. Der Gedanke ließ sie unangenehm erschaudern.

Aber oben auf den Dachböden, wo selten jemand hinkam, konnte sie tun, was sie wollte, und konnte sich eher wie die Besitzerin des Hauses als dessen Gefangene fühlen.

Delilah begann, einige der Schachteln durchzusehen, die um sie herumstanden, und fand allen möglichen Krimskrams: eine Ansammlung zerbrochener Bilderrahmen, einige ausrangierte Lampenständer ohne Stecker, Glühbirnen oder Schirme und rätselhafte kleine Plastik- und Drahtgebilde, die einst zu etwas gehört haben mussten. Sie trat über einen Stapel Stühle hinweg, hob einen Haufen schwerer Samtvorhänge an und spürte jäh Freude in sich aufkommen. Nun, das war interessant. Ein großer Überseekoffer, schwarz, an den Ecken mit Leder beschlagen und mit einem flachen Deckel, der mit zwei großen Schnappverschlüssen aus Messing geöffnet wurde. Darauf stand in Goldschrift: The Viscountess Northmoor, Fort Sturling, Dorset. Außerdem waren längst verblasste und spröde gewordene Aufkleber auf dem Deckel zu sehen, die man nun aber nicht mehr entziffern konnte. Delilah seufzte freudig auf. Dies war die Art Schatz, die sie suchte. Sie wischte eine Staubschicht vom Deckel. Sie bemerkte, dass ihre Hände schmutzig und ihre Fingernägel schwarz gerändert waren. Ihre Handflächen fühlten sich klebrig und trocken an, als sie damit über ihre Jeans rieb, um den schlimmsten Schmutz zu beseitigen, bevor sie den Überseekoffer öffnete. Sie betätigte die Schnappverschlüsse und hoffte, dass das runde Schloss in der Mitte nicht abgeschlossen wäre, da nirgendwo ein Schlüssel zu sehen war und sie das Gefühl hatte, dass sie ihn auch niemals finden würde. Aber der Koffer ließ sich leicht öffnen, und sie stieß den Deckel zurück, bis die Lederscharniere ihn hielten. Unmittelbar darunter befand sich eine Lage flacher Schubladen voller bunter Dinge. Da waren Krawatten, gestrickt und aus Seide, Fliegen, Taschentücher, ein Kummerbund, Schals, Gürtel und Fächer. Paare langer Opernhandschuhe lagen ordentlich gefaltet in durchsichtigen Plastikbeuteln, und sie konnte Perlmuttknöpfe, Seide und Samt sehen.

»Bingo«, flüsterte sie. »Bingo.«

Das hatte sie zu entdecken gehofft. Kostüme. Nun hatte sie doch eine Kulisse gefunden, eine mit Chippendale und Goldbronze, Meißener Vasen und Sèvres-Porzellan, vergoldeten Kandelabern und mit Intarsien versehenen Möbeln, Marmorstatuen und gewaltigen goldgerahmten Ölgemälden, schwarzem und weißem Marmor und klassischen, geschliffenen Bodendielen ausgestaltete Bühne. Sie nahm ihr Dinner in einem vollkommen runden Raum ein, der mit einer gedruckten Tapete ausgestattet war, hergestellt in einem Betrieb, der während der Französischen Revolution zerstört worden war, und nach dem Dinner lehnte sie sich auf einem weichen, durchgesessenen Sofa vor einem Adam-Kamin zurück, Johns Spaniel zu ihren Füßen dösend, und las Bücher aus der Bibliothek, die ein Jahrhundert oder länger niemand mehr angefasst hatte. Aber die Artdirectorin in ihr fühlte, dass etwas fehlte. Wo waren die Kleider? Sie fragte sich, was mit den Seidengewändern, der Spitze und dem Samt geschehen war, welche die Frauen auf den überall im Haus zu betrachtenden Porträts getragen hatten. Vermutlich weitergegeben, bis sie zerfielen. Es war verständlich, dass der Musselin im Stil des Regency und die Tudor-Korsetts nicht überlebt hatten, aber auf Fotografien des letzten Jahrhunderts waren üppige Pelze, modische Kleider, Abendgarderobe, Tweedjacken mit breiten Schultern, Schuhe mit klobigen schwarzen Absätzen, Handtaschen aus Schlangenleder und Hüte aller Art zu sehen. Auf einem Schnappschuss trug Johns Urgroßmutter ein Kleid mit tiefer Taille und Faltenrock, eine lange Wolljacke, ein rosafarbenes Mieder mit einer daran befestigten Perlenkette, das bis über ihre Taille reichte, sowie einen enganliegenden Glockenhut auf ihrem modisch kurzgeschnittenen Haar. Der klassische Stil der zwanziger Jahre.

Delilahs Fingerspitzen kribbelten vor Verlangen, über die Stoffe und Felle zu streichen, die sie im Geist sehen, aber nicht berühren konnte.

»Sie sollten immer noch da sein. Wir werfen niemals etwas weg«, hatte John ihr eines Tages lässig erklärt, »und es gab entschieden zu wenige Töchter in meiner Familie.«

Diese Bemerkung hatte sich in ihrem Geist festgesetzt. Die Kleider mussten irgendwo hier sein, verstaut oder in einem vergessenen Schrank zurückgelassen, wo sie auf den Bügeln langsam zerfielen. Sie sehnte sich danach, sie zu finden. Sie stellte sich unwillkürlich vor, wie sie einige enganliegende Modelle gestalten und irgendwo im Haus wirkungsvoll aufstellen würde. Sie fragte sich, ob sie im Garten ein Schauspiel oder eine Oper in Szene setzen und die echte Kleidung als Kostüme benutzen könnte.

Beruhige dich, befahl sie sich entschlossen. Du bist zu voreilig. John würde das niemals erlauben.

Früher hatten ihm ihre Ideen, das Haus aufleben zu lassen und es zu öffnen, anscheinend gefallen. Aber sie hatte erkennen müssen, dass er nie auch nur eine ihrer Ideen ernst genommen hatte.

Sie zog die Schubladen heraus und stellte sie auf den Boden. Nun konnte sie sehen, was darunter lag: Stapel ordentlich gefalteter Kleider. Sie sah sie ehrfürchtig durch. Sie waren sorgfältig verstaut worden, und sie wollte sie nicht unnötig durcheinanderbringen. Die Farben und Stoffe stammten nicht aus den Zwanzigern oder Dreißigern, sondern aus den Sechzigern und Siebzigern: Gelb-, Violett- und Grüntöne, kurzärmelige Wollsachen, Glockenröcke, Paisley- und Zickzackmuster. Sie mussten Johns Mutter gehört haben – sie hatte damals als einzige Frau hier gelebt. Delilah lief das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte auf etwas Älteres gehofft, aber dies war ein Anfang. Sie hätte auch daran Freude. Vielleicht würde sie noch einige Schätze finden, einige Designer-Originale. Unten im Koffer sah sie einen schwer wirkenden, dunklen Stoff liegen, der so gefaltet war, dass sie nicht erkennen konnte, worum es sich handelte. Sie hob ihn aus dem Koffer, bemüht, die Lagen darüber nicht durcheinanderzubringen, und dann konnte sie erkennen, dass es ein schwerer schwarzer, offenbar eher kurzer Wollmantel mit zwei Reihen großer schwarzer Knöpfe war. Sie schätzte, dass er nur bis knapp übers Knie reichen würde. Dass er so wuchtig wirkte, lag daran, dass sich darin noch ein passendes Kleid befand, auch schwarz, aber am runden Halsausschnitt weiß gesäumt. Es war wunderschön gearbeitet, mit perfekten Nähten und Seidenfutter. Sie konnte das Etikett nicht erkennen, aber die Qualität war unverkennbar.

Phantastisch, dachte Delilah. So elegant.

Sie schüttelte die Kleidungsstücke aus und schnupperte daran. Sie rochen nach Staub und nach im Dunkeln dem Zerfall überlassener Wolle. Es war einer ihrer Lieblingsgerüche. Schon als Kind war sie von diesem leicht bitteren Aroma hingerissen gewesen, das sie aus dem alten Kleiderladen der exzentrisch gekleideten Besitzerin kannte, einer Frau mit wirrem grauem Haar, die stets still dasaß und nähte, während Delilah in Haufen abgelegter Mäntel oder Ständern mit Abendkleidern wühlte. Sie untersuchte nun das Kleidungsstück und den Mantel und fragte sich, ob sie wirklich Johns Mutter gehört hatten, deren Gesicht sie nur von dem Aquarellporträt im Salon und den wenigen Fotografien kannte, die in Silberrahmen überall im Haus zu finden waren. Die Fotografien zeigten eine junge Frau, die in der Mode der späten Sechziger und frühen Siebziger unglaublich schlank wirkte, mit zurückgekämmtem dunklem Haar und großen Augen, die mit schwarzem Eyeliner und falschen Wimpern betont wurden. Wie seltsam es war, etwas zu berühren, was Johns Mutter vor so vielen Jahren getragen hatte. Wie hätte sie wissen können, dass die Frau ihres Sohnes eines Tages über diesen Stoff streichen und über sie nachdenken würde?

Ich frage mich, was mit ihr geschehen ist, dachte Delilah. Sie wusste, dass Johns Mutter starb, als er noch ein Kind war, aber er hatte ihr nie Näheres erzählt. Manchmal, wenn sie das Foto betrachtete, das John als Kind mit seiner Mutter zeigte, die seine Hand fest umklammerte, verspürte sie den Drang zu wissen, was diese Frau dachte, die so unbeteiligt in die Kamera schaute, von einer Sonnenbrille geschützt. Aber das würde sie nun nicht mehr erfahren.

Der Mantel und das Kleid wirkten eher klein, wie es bei Vintage-Kleidung häufig war, aber Delilah überkam dennoch das Gefühl, dass sie ihr passen könnten. Sie sprang, einem Impuls folgend, auf, entledigte sich ihrer Converses, ihres Pullovers und ihrer Jeans, öffnete den unter dem Arm befindlichen Reißverschluss des Kleides, steckte ihre Arme in das kühle, seidige Innere und schlängelte sich hinein.

Sie befürchtete, dass die Nähte platzen könnten, aber es gelang ihr, Kopf und Arme hindurchzustecken und das Kleid über ihre Hüften hinabzuziehen. Als sie schließlich den Reißverschluss hochzog, war das Kleid zwar eng, aber es passte doch gerade so. Sie wünschte nur, sie könnte es sehen, aber es gab auf dem Dachboden keinen Spiegel. Wie sie geschätzt hatte, reichte ihr das Kleid nur bis zu den Knien, und sie versuchte sich vorzustellen, welche Art Schuhe dazu getragen wurden. Vielleicht spitze Schuhe mit Pfennigabsatz. Nein, das fühlte sich nicht richtig an. Dieses Kleid stammte aus einer Zeit der eckigen Absätze und Spitzen, der Blockabsätze … Vielleicht Stiefel? Lange schwarze geschnürte Stiefel, welche die Knöchel umschmiegten und bis zu den Knien reichten. Vielleicht … Delilah nahm den Mantel hoch und spürte sein Gewicht, das von guter Qualität zeugte. Sie ließ die Arme hineingleiten. Die Ärmel waren eng, aber ansonsten passte er gut und fiel genau auf die gleiche Länge wie das Kleid. Wunderschön … Er war alt, fühlte sich aber immer noch modisch und fast frech an. Vielleicht könnte sie dies zu irgendeiner Gelegenheit tragen – zu einem Lunch oder zu einer Fahrt in die Stadt.

Sie steckte die Hände in die Taschen und spürte unter den Fingern ihrer rechten Hand etwas. Sie ergriff es und nahm es hervor. Es waren die Überreste einer Blume, die wohl einst hell gewesen war – weiß oder rosafarben – , jetzt aber spröde und braun. Als sie sie berührte, zerbröselte sie unter ihren Fingern, der grüngraue Stängel zerfiel, sank zu Boden und verschwand zwischen den Spalten der Bohlen.

Ein Schaudern packte Delilah, als sie die Überreste betrachtete, und ein starkes Gefühl von Traurigkeit ergriff sie. Sie wischte die Reste so rasch wie möglich von ihren Händen, plötzlich von einem düsteren Gefühl heimgesucht. Sie wollte die Kleidung so schnell wie möglich loswerden. Der Gedanke, sie überhaupt zu irgendeiner Gelegenheit zu tragen, schien plötzlich absurd. Sie war mit etwas Unerfreulichem, Abschreckendem befrachtet, das Delilah zu einem düsteren, furchtbaren Ort hinabziehen wollte. Sie kämpfte sich aus dem Mantel, ließ ihn trotz der dicken Staubschicht zu Boden fallen und rang dann einige Augenblicke darum, sich das Kleid über den Kopf zu ziehen, wobei sie wahrnahm, dass sie fast panisch atmete, während sie sich daraus befreien wollte. Dann glitt es von ihr ab.

Sie starrte auf die abgelegten Kleidungsstücke und wunderte sich über die tiefen Empfindungen, die sie gerade überkommen hatten. Sie zitterte in der kühlen Luft des Dachbodens und bemerkte, dass sie nur ihre Unterwäsche trug. Die Kleidung lag als dunkler Haufen auf dem Boden, die Arme des Mantels ausgestreckt, als fordere er lautlos eine Umarmung.

»Delilah!« Die Stimme, die vom Fuß der Treppe bis zum Dachboden trug, durchdrang die Stille.

Sie zuckte heftig zusammen und erschauderte. John. Alles war gut. »Hier oben!«, antwortete sie mit überraschend normal klingender Stimme.

»Essen ist fertig.«

»Ich bin gleich da!« Sie erschauderte erneut und griff nach ihren Sachen. Als sie wieder angezogen war, nahm sie den Mantel und das Kleid hoch, faltete beides eilig zusammen und steckte sie in den Koffer zurück. Sie legte die Laden wieder darauf und schloss den Deckel.

Ich werde später wiederkommen und mir die anderen Dinge ansehen, sagte sie sich, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie allein zurückkommen sollte. Sie schüttelte die letzten Reste des düsteren Gefühls ab, während sie zur Dachbodentreppe und der Normalität des Mittagessens mit John in dem runden Esszimmer eilte.

Kapitel Drei

1965

Alexandra schritt durch den lauten, vollen Raum wie jemand, der sich unerwartet unter Fremden wiederfindet und sich fragt, was vor sich geht und warum alle diese Leute da sind. Sie erhaschte in einem goldgerahmten Spiegel einen Blick auf sich und sah ein bleiches Gesicht und große, bestürzt wirkende Augen. Sie war wie erwartet perfekt zurechtgemacht, ihr dunkles Haar glatt und glänzend, ihr Gesicht dezent geschminkt, ihr Kleid aus hellblauem Chiffon makellos elegant. Doch sie fühlte sich fehl am Platz.

Ich sollte es genießen, dachte sie, aber es fühlt sich an, als gelte all dies jemand anderem. Kann ich es wagen, hinaufzuflüchten, um eine Weile allein zu sein? Würde mich jemand vermissen?

Der Gedanke war verführerisch, aber ihr Vater würde wütend werden, sobald er bemerkte, dass sie sich zurückgezogen hatte, und sie wollte es nicht riskieren, seine in letzter Zeit ungewöhnlich heitere Laune zu verderben. Sie genoss seine ungewohnte Wertschätzung und wollte sie nicht wieder verlieren. Sie sah zu Laurence hinüber, der Champagner trank und über jemandes Scherz laut lachte. Würde er es bemerken, wenn sie klammheimlich verschwände?

In diesem Augenblick legte sich eine weißbehandschuhte Hand auf ihren Arm und schreckte sie auf. Sie sah zu ihrer Besitzerin hoch. Es war Mrs Freeman, die ihr zulächelte, ihre Zähne hinter dem dicken grellroten Lippenstift bräunlich gelb. Sie wirkte stets eher maskulin, denn ihre dichten dunklen Augenbrauen und das wuchtige, kantige Kinn standen im Widerspruch zu ihrer femininen Kleidung und den glitzernden Juwelen.

»Ich habe noch nicht gratuliert«, sagte Mrs Freeman. »Obwohl – sollte ich der zukünftigen Braut gratulieren? Ich glaube, man gratuliert dem Mann und lobt die Frau für ihre Wahl. In welchem Falle Sie es wirklich gut gemacht haben, meine Liebe. Sie haben hervorragend gewählt.«

Alexandra lächelte schwach. »Ich danke Ihnen.«

»Der Ring – darf ich ihn sehen? Oh, wie schön. Ein hübscher Stein, wenn man bedenkt, dass er so klein ist. Ein Familienschmuck, nicht wahr? Das sind diese kleinen Stücke häufig.«

Alexandra nickte. Die beiden Diamanten in den goldenen Fassungen funkelten im Licht des Kronleuchters. Und der zwischen ihnen eingelassene rote Rubin wirkte tiefgründig und still wie ein bordeauxroter See. Der Ring fühlte sich an ihrem Finger immer noch seltsam und schwer an.

»Und die Hochzeit?«, fragte Mrs Freeman. »Wann soll die stattfinden?«

»Im Juni«, sagte Alexandra etwas traumverloren. Würde der Juni tatsächlich kommen? Einerseits fürchtete sie ihn, es waren nur noch drei Monate bis dahin, aber er schien zugleich unglaublich fern. Vielleicht würde vorher etwas eintreffen, was ihr Leben verändern und die unbekannte, unvorstellbare Zukunft verhindern würde, der sie zugestimmt hatte. Als sie sich ihren Hochzeitstag vorzustellen versuchte, stellte sie fest, dass vor ihrem geistigen Auge nur eine nebelhafte Szenerie schwebte, in der Menschen kurzzeitig auftauchten und wieder verschwanden. Laurence war da, aber nur im Hintergrund, in seinem Cutaway stark und robust wirkend. Als sie ihn dazu bringen wollte, sich ihr zuzuwenden, verschwand er.

»Wundervoll.« Mrs Freeman lächelte erneut, umfasste mit ihren dicken Baumwollhandschuhen einen Moment Alexandras Hände und vermittelte ihr das Gefühl, als seien sie bandagiert. »Und sind die Sturlings gekommen, um mit uns zu feiern?« Mrs Freeman sah sich um und hob ihre dichten Augenbrauen, während sie den Raum absuchte.

Alexandra spürte, wie sie errötete. »Nein … nein. Mein Vater … Nein«, endete sie lahm. Die Sturlings waren früher enge Freunde, Nicky Sturling und seine Cousins in der Kindheit ihre Spielgefährten gewesen, aber sie durfte sie schon lange nicht mehr sehen. Ihr Vater hatte sie aus seinem Leben ausgeschlossen. Ihre Abwesenheit war nicht zu übersehen.

»O ja, natürlich«, sagte Mrs Freeman, erinnerte sich dann anscheinend, dass Diskretion angebracht war, und fügte etwas betreten hinzu: »Nun, nichts für ungut. Ich sollte Sie nicht von Ihrem Verlobten fernhalten. Er sieht sehr gut aus, nicht wahr?«

Sie blickten beide zu Laurence, der in einem kleinen Kreis von Männern stand, breit lächelte, lachte und plauderte. Er sah wirklich gut aus: Sein blondes Haar war militärisch kurzgeschnitten, was zu seinem eher kleinen Kopf und zu seinen Zügen passte, und seine blauen Augen glänzten lebhaft. Seine offensichtliche gute Stimmung ließ ihn überaus sympathisch wirken.

»Ja«, erwiderte sie reflexartig. »Ich habe großes Glück.«

»Dann los, meine Liebe«, drängte Mrs Freeman. »Wir wollen Sie Seite an Seite sehen, wissen Sie.«

Alexandra folgte der Aufforderung, bahnte sich ihren Weg durch die Gäste und nickte Freunden und Bekannten zu. Ihr Vater war in eine Unterhaltung mit Laurences Vater vertieft. Sie fragte sich, ob er über sie sprach, und versuchte sich vorzustellen, wie er sagte, dass er stolz auf sie sei, was aber selbst jetzt, wo er letztendlich zufrieden mit ihr zu sein schien, nicht nach der Wahrheit klang. Er war immer ein eher kühler Vater gewesen, und nachdem ihre Mutter gestorben war und nur noch sie beide da waren, war er noch kälter und unnahbarer denn je. Sie hatte ihm nichts recht machen können. Allein schon ihre Anwesenheit schien ihn zu verdrießen. Sie hatte ihr ganzes Leben lang versucht, ihm zu gefallen, aber er schien nie zufrieden zu sein. Bis jetzt.

Die Möglichkeit, seine Anerkennung zu erlangen, war ihr an dem Tag präsentiert worden, als er sie in sein Büro rief und ihr mitteilte, dass er eine Heirat für sie so gut wie arrangiert hätte.

»Julian Sykes und ich haben miteinander gesprochen und sind uns einig, dass sein Sohn Laurence sehr gut zu dir passen könnte. Er hat hervorragende Aussichten in seinem Regiment und möchte unbedingt heiraten. Ich will, dass du ihn kennenlernst, und wenn ihr beide euch versteht, gibt es keinen Grund, warum sich eine Heirat nicht für uns alle als vorteilhaft erweisen sollte.« Dann hatte ihr Vater ihr sein kaltes Lächeln geschenkt, das ihr vermittelte, die Unterredung sei beendet und Widerrede nicht erwünscht. Er verlangte vollkommenen Gehorsam, und Fragen wurden nicht akzeptiert. Alexandra wurde von seiner ungeheuren Willenskraft und seiner absoluten Gewissheit bezüglich seiner Meinungen stets eingeschüchtert, gleichgültig, wie oft sie beschloss, ihm einmal die Stirn zu bieten. Sie hatte vage Erinnerungen an gegen ihre Mutter gerichtete, unbändige Wut, und sie würde alles tun, um diesen furchtbaren Zorn zu vermeiden. Aber in Wahrheit wollte sie seine Liebe gewinnen. Was konnte es schaden, diesen jungen Mann kennenzulernen? Sie konnte immer noch nein sagen, wenn sie es wollte.

Also ließ sie es zu, und so fand eines Tages eine Teestunde statt, bei der ihr Laurence Sykes beklommen gegenübersaß und höfliche Fragen stellte, bevor sie zu einem halbstündigen Spaziergang in den Garten geschickt wurden. Es folgten weitere zwei oder drei Besuche gleicher Art, und dann fand eine Fahrt nach London statt, wo die beiden jungen Leute, von Mr und Mrs Sykes sowie Alexandras Vater begleitet, in einem schrecklich förmlichen Restaurant mit glubschäugigen Kellnern und klimperndem Silber aßen und anschließend in einen Tanzklub gingen. Alexandra wusste, dass es als Vergnügung gedacht war, als Vorgeschmack auf das mondäne Leben, das sie erwartete, wenn sie heiratete, aber sie hatte sich bedrückend angefühlt, diese erzwungene, leere Heiterkeit.

Laurence schien liebenswürdig zu sein, aber sie empfand für ihn lediglich Freundschaft. Er sah gut aus, wenn auch etwas klein für einen Soldaten, und er schien nett zu sein. Er sprach mit ihr über alltägliche Dinge und schien an ihrem wenig ereignisreichen Leben interessiert. Sie stellte fest, dass sie endlich einmal einen willigen Zuhörer gefunden hatte, dass sie stundenlang über Nichtigkeiten reden und das Gefühl liebenswürdiger Gesellschaft eher genießen konnte. Wenn das die Ehe war, dann war sie vielleicht gar nicht so schlecht. Sie hatte ihn manchmal dabei ertappt, wie er sie sonderbar ansah, hatte ihm verlegen, fast hoffnungsvoll zugelächelt und sich gefragt, ob er etwas in ihr erwecken könnte, wie Mädchen es in Büchern und Gedichten Männern gegenüber empfanden, in die sie sich verliebt hatten, aber er hatte den Blick dann stets beklommen abgewandt.

Vielleicht war es zu viel verlangt, solche Gefühle empfinden zu wollen. Sie sollte es wohl besser lassen. Manchmal sann sie darüber nach, ob mit ihr etwas nicht stimmte, als wäre sie die einzige, die so stark empfände. Anscheinend musste niemand sonst so sehr wie sie darum ringen, Gefühle zu unterdrücken. Sie weinte und lachte schnell, war anfällig dafür, vor Freude zu tanzen oder in Weltschmerz zu versinken, und sie lebte jedes Wort der Bücher mit, die sie las. Ihre Tante warnte sie, sie sei allzu empfindsam, was vermutlich dasselbe bedeutete. Sie spürte, dass das Leben wesentlich leichter wäre, wenn sie lernen würde, vollkommen auf Gefühlsregungen zu verzichten.

Die Begeisterung ihres Vaters für ihre Beziehung zu Laurence wuchs. Das zeigte sich darin, dass Mrs Richards, die Näherin, ins Haus kam, um ihr die Kleider, Röcke und Jacken anzupassen, die ihr Vater für sie bestellt hatte. Auch ließ er eine kleine Summe Taschengeld auf ihr Postkonto einzahlen, »damit du dir damit ein paar Wünsche erfüllen kannst, für Lippenstifte und so weiter«, und er begann, beim Frühstück über seine Zeitung hinweg mit ihr zu reden, Kommentare über das Weltgeschehen abzugeben, die sie hoffentlich verinnerlichen würde. Sie merkte, dass sie die Dinge hatte zu weit gedeihen lassen, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen, und dass etwas Unausweichliches auf sie zukam.

Es ist zu meinem Besten, sagte sie sich tapfer. Es ist das, was er für mich will. Außerdem habe ich praktisch nichts anderes zu tun, als den Haushalt zu führen. Soll ich für immer im kalten Frühstücksraum sitzen und Vater jeden Morgen Kaffee eingießen?

Vielleicht wäre die Ehe, was auch immer sie bedeutete, ein besseres Schicksal als das.

 

Als Laurence eines Nachmittags unerwartet auftauchte, wusste sie, dass der Moment gekommen war. Ihr Magen reagierte mit, wie sie vermutete, Aufregung, als sie in den Salon gerufen wurde und ihn dort vorfand, mit bleichem Gesicht und zitternd, aber auch mit tapferem Blick, so als sei er entschlossen, sich zu beweisen.

Die Worte, die abgedroschen wirkten, obwohl sie sie nie zuvor gehört hatte, drangen hervor, während sie dort stand und sich in ihrem Schottenrock und der alten grünen Jacke schäbig und schulmädchenhaft vorkam. »Der Respekt und die Bewunderung, die ich für dich hege … während der letzten Monate … zu etwas Tieferem gereift … Wenn du mir die Ehre erweisen würdest … der glücklichste Mann der Welt … wenn du meine Frau würdest.«

Sie stand da, sah ihn an und fragte sich, wer zum Teufel er war. Sie hatte unwillkürlich Mitleid mit ihm, der so blass und zitternd vor ihr stand. Stand ihm die Angst in den Augen, weil er ihre Ablehnung oder weil er ihre Zustimmung befürchtete? Er war ihr äußerst fremd, und nun fragte er sie, ob er sein Leben mit ihr teilen dürfe.

Sie sah ihn lange an, unfähig, etwas zu erwidern, mit dem Gefühl, an einer großen Weggabelung zu stehen, wo zwei Zukunften auf sie warteten, beide nicht sichtbar, aber beide gleichermaßen bedeutsam. Sie hatte nur einmal zuvor, an dem Tag, an dem sie erfahren hatte, dass ihre Mutter gestorben war, so empfunden: dass sich das Leben nach Jahren der Gleichförmigkeit maßgeblich wendete und sich Dinge im Handumdrehen ändern würden.

»Dein Vater«, wagte sich Laurence schließlich vor, um die lastende Stille zu durchbrechen, »hat seinen Segen gegeben.«

Sie erinnerte sich an ihre Pflicht. Und außerdem fühlte sich eine Verlobung ein wenig wie eine Aufforderung zum Tanz an. Keine Widerworte, das hatte man ihr eingetrichtert. Es gilt als schlechtes Benehmen, jemanden abzuweisen und seine Gefühle zu verletzen. Es spielt keine Rolle, was du willst, du musst tun, was von dir verlangt wird.

Einer der Wege hinter der Weggabelung verblasste und verschwand. Tatsächlich hatte es die ganze Zeit nur den anderen Weg gegeben. Sie holte tief Luft.

»Ich danke dir. Ja, natürlich.«

»Du … du wirst mich heiraten?«

»Ja«, sagte sie wie abwesend und fügte mit kleiner Stimme »bitte« und dann noch unsicherer »danke« hinzu.

»Nein, ich muss dir danken.« Ein Ausdruck ungeheurer Erleichterung überzog Laurences Gesicht, und sie fühlte sich ihm jäh verbunden. Sie waren beide froh, dass es vorüber war. »Du machst mich sehr glücklich.«

Er näherte sich ihr steif, und sie glaubte einen Moment, er würde sie umarmen, aber er hob nur ihre Hand an und drückte sie an seine Lippen.

 

Ihr Vater war sichtbar erfreut, als sie gemeinsam zu ihm gingen und es ihm sagten, und das Lächeln, das er ihr gewährte, sowie der Kuss auf ihre Wange erfüllten sie mit heißem Glück. Er umarmte sie sogar kurz. Sie klammerte sich an ihn, während heftige Empfindungen ihre Brust einschnürten, und wollte diesen kostbaren Moment fortdauern lassen.

»Gut gemacht, Sykes«, sagte er herzlich zu Laurence und entführte ihren Bräutigam zu einem guten Bordeaux in sein Arbeitszimmer. Alexandra setzte sich im Salon auf die Fensterbank und versuchte, sich still und zutiefst glücklich an die Umarmung ihres Vaters zu erinnern.

Die nächsten Tage, in denen Zufriedenheit und Hoffnung herrschten, waren die glücklichste Zeit, an die sie sich jemals erinnern konnte. Alle waren so erfreut über die Nachricht der Verlobung, dass Alexandra das Gefühl hatte, offensichtlich das Richtige getan und alle zufriedengestellt zu haben. Aber die Gefühle und Empfindungen, die man ihr und Laurence zuschrieb, standen dermaßen im Widerspruch zur Realität, dass sie unwillkürlich eine vage Besorgnis beschlich.

»Ihr müsst euch doch danach sehnen, miteinander allein zu sein!«, gurrten die Damen. »Oh, junge Liebe, wie wundervoll, so romantisch! Das erste Aufblühen der Leidenschaft – so ziemlich das Köstlichste auf der Welt.«

Alexandra musterte heimlich ihren Verlobten und fragte sich, ob er diese Dinge empfand, aber sie sah keinen Hinweis darauf. Er versuchte nicht, mit ihr allein zu sein – eher das Gegenteil – , und er vermittelte ihr gewiss nicht das Gefühl, auf romantische Weise an sie zu denken. Das, was mit Liebe einhergehen sollte – Küsse und Umarmungen etwa – , fand einfach nicht statt. Sie dachte, es käme vielleicht nach der Trauung.

Ihr Vater schrieb seiner Schwester Felicity, die mit drei Koffern anreiste, um die Hochzeit zu arrangieren und sicherzugehen, dass alles angemessen ablief. Sie hatte auch schon die Verlobungsfeier organisiert.

Nun stand Alexandra hier in eisblauem Chiffon, nahm die netten Worte und Glückwünsche entgegen, und es fühlte sich immer noch unwirklich an. Sie schüttelte Laurences Eltern die Hände, die ihr zulächelten und sagten, sie freuten sich, sie in ihrer Familie als Tochter willkommen zu heißen, und begrüßte seine jüngere Schwester Maeve sowie seinen älteren Bruder Robert, dessen Lächeln ihr nicht gefiel wie auch seine blauen Augen nicht, die Laurences Augen so ähnlich waren. Sie würde diese Menschen bald genauer kennenlernen.

Wie seltsam, dachte sie. Dies wird mir geschehen. Es wird mein Leben sein.

Aber sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass dies alles jemand anderen beträfe. Genauso war es, als die Hochzeitsgeschenke eintrafen, unendlich viele Pakete mit Glaswaren, Vasen, Porzellan, Bonbonnieren, Schmuckkästchen, Lampen und hässlichen Gemälden. Diese würden zu ihrem Leben in der ehelichen Wohnung in London gehören, wo die Royal Horse Guards stationiert waren. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihren Vater, nachdem es ihr endlich gelungen war, seine Anerkennung zu erringen, für immer verlassen sollte. Daher bemühte sie sich, gar nicht über das alles nachzudenken.

 

Eine Woche vor der Hochzeit konnte Alexandra die Tatsache schließlich nicht mehr ignorieren, dass sich der Reisekoffer in ihrem Zimmer mit Kleidern füllte, während sich die Schubladen und der Schrank leerten. Sie deckte den Koffer nachts mit einer Decke ab, wandte der umfangreichen Aussteuer den Rücken zu und bemühte sich vorzugeben, dass nichts davon da sei.

Alexandra war überrascht, als Tante Felicity sie ins Gästezimmer rief und fragte, ob es ihr gutgehe, und glaubte, sehr gut vorzugeben, dass dem so sei. Alle waren zufrieden mit ihr. Ihr Vater gab sich ihr gegenüber jetzt schon seit Wochen heiter und wohlgesonnen. »Ja, natürlich, es geht mir sehr gut, danke.«

Ihre Tante wirkte besorgt. »Du bist so dünn, Alexandra, dünner denn je! Bist du sicher, dass du hierfür wirklich bereit bist, für deine Hochzeit, meine ich?« Sie ergriff Alexandras Hand.

»Ja … Ich denke schon.« Es schien keine andere Antwort möglich. Was wäre daran zu ändern? Es würde geschehen, es war beschlossene Sache.

Felicity sah sie prüfend an, während sie noch immer ihre Hand festhielt. »Und … vermutlich hat dir niemand erklärt, was Ehe bedeutet, oder? Nichts über Liebe … und Kinder?«

Tante Felicity war einmal verheiratet gewesen, aber ihr Mann war nur vierzehn Tage nach der Hochzeit im Krieg umgekommen, und sie hatte nie wieder geheiratet. Alexandra schüttelte den Kopf.

»Natürlich nicht«, murmelte Tante Felicity. »Wer hätte es dir auch erklären sollen, armes Kind?« Sie zog Alexandra sanft zum Bett hinüber, und sie setzten sich. »Nun, hör zu, meine Liebe. Ich maße mir nicht an, die ureigensten Geheimnisse deines Herzens zu kennen, aber du hast zugestimmt, Laurences Frau zu werden, und das würdest du vermutlich nicht tun, wenn du ihn nicht liebtest. Du musst begreifen, dass die Ehe gewisse Anforderungen an Frauen stellt, aber wenn ein Mann und eine Frau sich mehr als alles andere lieben, dann sind diese Anforderungen keine Last – sie sind tatsächlich ein Vergnügen und bedeuten zutiefste Erfüllung.« Felicity hielt inne und seufzte kurz. Sie wirkte bedrückt und besorgt zugleich. Alexandra spürte, dass sie errötete, und blickte auf den bestickten Bettüberwurf hinab, während sie mit einem Finger ständig das erhabene Muster entlangfuhr. »Aber«, fuhr ihre Tante fort, »ich denke, es kann auch eine Qual und eine lästige Pflicht sein, wenn zwischen Ehemann und Ehefrau keine Liebe besteht. Begreifst du, wovon ich spreche, Alexandra?«

Alexandra nickte, weil sie die Worte ihrer Tante zu verstehen glaubte, wenn auch nicht ihre praktische Bedeutung.

»Gut, gut …« Die Wangen ihrer Tante röteten sich allmählich, und sie wirkte nervös. »Und … wie Kinder entstehen. Weißt du darüber Bescheid, meine Liebe?«

Alexandra nickte erneut. Die Dörflerin, die nach dem Tod ihrer Mutter nach ihr gesehen hatte, hatte es ihr erklärt, als sie zum ersten Mal ihre Periode bekam. Es hatte abstoßender geklungen als alles, was sie sich jemals hätte vorstellen können, und sie hatte beschlossen, dass es gewaltige Lügen sein müssten, bis Mädchen in der Schule darüber geflüstert hatten und sie erfuhr, dass das, was man ihr erzählt hatte, mehr oder weniger der Wahrheit entsprach. Die Mädchen hatten allerdings darin übereingestimmt, dass es, genau wie ihre Tante gesagt hatte, der Himmel war, wenn man den Ehemann wahrhaft liebte. Ansonsten wäre es die reine Hölle. Daraus folgte, dass man erst in der Hochzeitsnacht wüsste, ob man seine eine wahre Liebe geheiratet hatte, wenn die nachfolgende Erfahrung es offenbaren würde. Sie versuchte sich vorzustellen, wie Laurence das mit ihr tat, aber es war ihr erneut unmöglich. Sie konnte sich nur seine kühlen Lippen auf ihren vorstellen, wie sie pressten und pressten und pressten.

»Alexandra? Ist alles in Ordnung?«

»Oh!« Sie schaute auf und sah den besorgten Blick ihrer Tante. »Ja, ja.«

»Nun, ich bin froh, dass wir darüber gesprochen haben, du nicht? Jetzt bin ich beruhigt. Aber …«, sie zögerte erneut, besorgt, »… du liebst Laurence doch, oder?«

Ich kann mich genauso gut gleich daran gewöhnen, es zu sagen, dachte Alexandra. Immerhin werde ich in einer Woche versprechen, ihn auf ewig zu lieben. »Ja, Tante, natürlich.«

»Gut.« Ihre Tante drückte ihre Hand und lächelte. »Dann werdet ihr bestimmt sehr glücklich, meine Liebe. Und nun lass uns hinuntergehen und Tee trinken.«

 

Mrs Richards kam stolz mit dem Hochzeitskleid herbei. Es wirkt genau wie aus einer Londoner Modezeitschrift, dachte Alexandra. Es hatte einen hübschen weiten Rock, lange, enge Ärmel und eine Spitzenschleppe.

»Sie werden darin wie ein Engel aussehen!«, sagte Mrs Richards und betupfte sich die Augen, und sogar Tante Felicity schien beeindruckt.

Und dann wachte Alexandra eines Morgens in ihrem alten Schlafzimmer auf, öffnete die Augen und sah das Kleid an der Rückseite ihrer Zimmertür hängen, wohl wissend, dass sie es heute zu seinem vorgesehenen Zweck tragen würde. Ihr kam ein Bild von Maria Stuart in den Sinn, die aufwachte und die roten Petticoats sah, die sie an jenem Tag in Schloss Fotheringhay tragen würde.

Vor der Kirche wandte ihr Vater sich ihr lächelnd zu und sagte: »Du siehst wundervoll aus, meine Liebe.«

Sie legte ihm, verwirrt vor Freude über sein Lob, eine Hand auf den Arm. Während die Orgel Händel intonierte, beschritten sie den Mittelgang, gefolgt von zwei Kindern einer Verwandten, ein kleines Mädchen in pinkfarbenem Organza und ein Junge in Kilt und Jacke mit Messingknöpfen und einem duftigen Spitzenhalstuch. Sie traten zu Laurence, der am Ende des Ganges wartete, sein Bruder neben ihm. Die Kirche war voll besetzt. Alexandra sah durch ihren Schleier alles nur verschwommen und erkannte kaum jemanden, aber sie waren alle gekommen: ihre eigene Familie, Ortsansässige, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannten, und auf der anderen Seite Laurences Familie. Da war seine Mutter, klein, blond und irgendwie ein wenig affenartig, beinahe wie Laurence selbst, die Schwester Maeve und der Vater, der Freund ihres eigenen Vaters, der dies alles eingefädelt hatte. Alle waren gekommen, in Kleidern und Hüten, Cutaways und blankpolierten Schuhen. Alles, was getan werden musste, war getan worden. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie umfasste den Arm ihres Vaters fester und zog aus dem unvertrauten Gefühl seiner Nähe und dem unerschütterlichen Arm unter ihrer Hand Trost.

Als sie sich Laurence näherte, konnte sie Schweißperlen auf seiner Nase und Stirn sehen. Seine Haut war vollkommen bleich, und seine Brust hob und senkte sich hektisch. Er wirkte, als würde er gleich ohnmächtig. Auch Alexandra selbst fühlte sich schwindelig und benommen. Sie hatte den Toast nicht bei sich behalten können, den sie Tante Felicity zuliebe gegessen hatte, und nun verkrampfte sich ihr Magen erneut schmerzhaft. Es schien ihr, als könnten sie und Laurence beide ohnmächtig werden, und sie verspürte kurz einen heftigen Drang, über die Vorstellung von Braut und Bräutigam, die beide ohnmächtig vor dem Altar lagen, zu lachen.

Laurence bemühte sich um ein Lächeln, als sie neben ihn trat, aber er wirkte jäh elend und schwankte einen Moment, bevor er sich wieder unter Kontrolle bekam.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte der Pfarrer leise, während die letzten Töne der Orgel verklangen.

Laurence nickte, während er um Atem rang, und sein Bruder sagte: »Es geht ihm gut. Er ist nur vom Glück überwältigt, das ist alles. Sie können beginnen.«

Alexandra hatte plötzlich das Gefühl, dass sie diese Hochzeit nur spielten und alle sich schrecklich geirrt hatten, als sie sie ernst nahmen. Was tun wir hier?, dachte sie. Will uns denn niemand aufhalten?

Aber niemand sagte etwas, nicht einmal, als gefragt wurde, ob jemand einen berechtigten Einspruch hätte. Alexandra nahm, als sie dazu aufgefordert wurde, Laurences Hand, wiederholte die Worte des Pfarrers und hörte zu, als er es ebenfalls tat, konnte aber das seltsame Gefühl noch immer nicht abschütteln, dass dies alles nur eine Farce war und nicht wirklich ihr passiere, noch während sie zusah, wie Laurence den schmalen goldenen Ring an ihren vierten Finger steckte. Am Ende dieses merkwürdigen Rituals würde sie gewiss Kleid und Schleier ablegen, die Blumen zurückgeben, ihre alte Kleidung wieder anlegen und zurück in ihr Zimmer gehen, noch immer Alexandra Crewe, neunzehn Jahre alt, die bei ihrem Vater lebte und sich fragte, wann ihr Leben beginnen würde.

Aber als sie die Kirche an Laurences Seite verließ und in den Junisonnenschein trat, hatte sich alles verändert. Innerhalb einer halben Stunde und zur Melodie durchdringender Kirchenlieder sowie einer von einem Dorfmädchen schief gesungenen Arie war sie in jemanden namens Mrs Laurence Sykes verwandelt worden. Sie war nun eine Ehefrau, eine Frau von Welt, mit vor ihr liegenden neuen Pflichten und Aufgaben.

Abends brachen sie in Laurences Herald Triumph zu ihren Flitterwochen am Meer auf, ihr Koffer auf den Rücksitz geklemmt, und danach würden sie nicht in Alexandras Zuhause zurückkehren, sondern in ihre eheliche Wohnung in London.

Ihr altes Leben war für immer vorbei.

Kapitel Vier

GEGENWART

Delilahs Leben mit John war durch reinen Zufall zustande gekommen. Das Hochglanzmagazin hatte Modeaufnahmen in Fort Sturling gebucht, die sie leiten sollte, aber sie hatte zunächst beschlossen, ihren Stellvertreter zu schicken.

»Mir ist einfach nicht danach«, hatte sie am Vortag zu Grey gesagt, als sie an ihrem Schreibtisch saß, einen dünnen Milchkaffee in einer Hand hielt und das Telefon mit der Schulter ans Ohr drückte, während sie auf dem Computer eine Fotoserie betrachtete. »Bestimmt ist Rachel da und redet mir dauernd rein.«

»Ist das wegen Harry?«, fragte Grey, dessen Stimme am Telefon streng klang.

Sie seufzte und klickte mit der Maus auf ein weiteres Foto, das daraufhin Bildschirmgröße annahm. Ein Model zog ein einfältiges Gesicht und verfehlte damit den gewünschten Eindruck. Delilah löschte das Foto. »Vielleicht.«

»Darling – du musst dich zusammenreißen. Ihr habt euch jetzt zum dritten Mal getrennt. Es ist an der Zeit, ihn ziehen zu lassen und dein eigenes Leben in den Griff zu kriegen. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass du schon lange über ihn hinweg bist.«

»Vielleicht hast du recht.« Sie wusste, dass es so war: Sie konnte sich nicht weiterhin packen und wieder wegschieben lassen. Es war emotional erschöpfend, und ihr Verlangen nach Harry war durch den Schmerz, den er ihr ständig zufügte, allmählich geschwunden. Grey hatte sie viele Male getröstet, hatte Weingläser gefüllt und bis in die frühen Morgenstunden Harry und seine Gefühle analysiert, aber selbst er drängte sie nun, sich einen Ruck zu geben.

»Natürlich habe ich recht. Und ich arbeite nicht halb so gut mit Milly. Ich brauche dich dort. Es sind kostspielige Modeaufnahmen – du musst kommen, denn ohne dich wird es nicht laufen. Besonders wenn Rachel Ärger macht.«

Sie dachte einen Moment nach. »Na gut«, sagte sie dann, wohl wissend, dass er nicht aufgeben würde. »Du hast gewonnen.«

»Und du fährst. Hol mich um sieben ab.« Grey legte auf.

Am nächsten Morgen fuhr sie mit ihrem VW-Käfer vor seiner Wohnung in Notting Hill vor, sie packten seine Kamera-Ausrüstung auf den Rücksitz und fuhren dann die M3 auf Fort Sturling zu. Sie trafen erst am Mittag dort ein, verschwitzt und durstig und mit dem dringenden Wunsch, sich die Beine zu vertreten.

»Wow«, hatte Delilah geseufzt, als sie vor dem Haus vorfuhren. Die Zufahrt von den Toren zum Haus war außergewöhnlich, wand sich ihren Weg durch eine samtgrüne Parklandschaft, an Eichen, Ulmen und Linden vorbei, die alle ein ehrwürdiges Alter haben mussten. Schließlich hatte sie zu einem Haus geführt, das teilweise wie ein Märchenschloss und teilweise wie ein elegantes Regency-Haus wirkte, ein Gebäude, das von einem uralten Rundturm auf einer Seite über eine mit Zinnen versehene Tudor-Front zu einem angebauten Flügel verlief, der die wundervolle Symmetrie des achtzehnten Jahrhunderts aufwies. Das Haus mutete, trotz dieser Ansammlung von Jahrhunderten und Stilen, so verwachsen und in sich ruhend an wie ein Haufen Kissen, da es sich in eine Mulde schmiegte und von einer Gruppierung dahinter befindlicher Bäume beschützt wurde. Delilah und Grey stiegen aus dem Auto. »Was ist dieser Ort?«

»Er ist phantastisch«, gab Grey zu, trat zurück und ließ das Gebäude auf sich wirken. »Ich hatte schon von Fort Sturling gehört, war aber noch nie hier. Die Sturlings sind keine sehr extrovertierte Familie, weshalb man sie kaum auf Gesellschaften antrifft.«

»Es ist so wunderschön.« Delilah deutete mit einem Arm auf die Parklandschaft. »Das alles.«

»Das ist eben Dorset. Ein gutes Leben, durch Jahrhunderte der Landwirtschaft zu dieser schönen Landschaft geformt. Nun, wir sollten besser Rachel suchen und sehen, ob die Models schon eingetroffen sind.«

Sie zogen an einem Glockenstrang an der großen, gewölbten Vordertür unter einem verzierten Vordach, und einer der Set Assistants öffnete.

»Wer ist der Besitzer?«, hatte Delilah gefragt, während sie durch die riesige Eingangshalle mit dem schwarzweiß karierten Marmorfußboden geführt wurden. Der Assistant hatte die Achseln gezuckt.

Sie ziehen sich vermutlich zurück, dachte sie. Menschen, die ein solches Haus besaßen, wurden von Zeitschriften und Filmfirmen für dessen Benutzung für Modeaufnahmen und historische Filme gut bezahlt, und sie wussten inzwischen wahrscheinlich sehr genau, dass sie sich im Hintergrund halten und die Leute machen lassen mussten. Sie wurden immerhin für alles entschädigt, was nicht genauso hinterlassen wurde, wie man es vorgefunden hatte.

Rachel befand sich in einem riesigen Raum in Türkis und Gold. »Ist das nicht großartig?«, grölte sie, als sie Delilah und Grey herankommen sah.

»Du übertreibst doch nicht, oder, Rach?«, fragte Delilah skeptisch, wohl wissend, wie stark die Stylistin übertreiben konnte, wenn man sie nicht zügelte.