Der unerwünschte Dritte - Christa Grasmeyer - E-Book

Der unerwünschte Dritte E-Book

Christa Grasmeyer

4,7

Beschreibung

Die Opernsängerin Edda Schumann aus Schwerin adoptiert Dörte als Baby und holt nach zwei Jahren noch die 12-jährige Sophie aus dem Heim, die sich daran gewöhnt hat, mit dem Verlust liebgewordener Menschen fertig zu werden. Mit viel Liebe und Geduld werden alle drei eine glückliche Familie. Und dann ist da noch Bodo und die erste Liebe der inzwischen 15-jährigen Dörte. Alles könnte so schön sein, wenn die Mutter nicht den 10-jährigen Peter aus dem Heim geholt hätte. Die Katze hat er getötet, die Fische vergiftet, er stört einfach. Und doch sucht Sophie verzweifelt eine lange Nacht hindurch den davongelaufenen Jungen, den sie vergrault hat. Schuld quält ihr Gewissen. Wenn wenigstens Bodo bei ihr wäre, aber der will seine Ruhe haben. LESEPROBE: "Du glaubst wohl, es macht mir Spaß zu schwindeln?", fragte ich. "Lieber solltest du nachdenken, warum ich schwindle. Darauf kommst du nicht, dass du mich selbst dazu treibst, wie? Dauernd wühlst du gegen meine Mutter, willst ihr das Wasser abgraben und mir dazu. Was hast du davon? Siehst du mich gern in der Klemme?" "Die Klemme mach ich nicht, die macht deine Mutter." "Weil sie Angst hat um mich? Gut, zugegeben, diese Angst vor dem Zelten ist altmodisch. So denken aber viele Eltern. Übrigens: deine Mutter doch sicher auch?" "Klar", sagte er wütend, "bloß mein Vater war anderer Meinung. Er hat gelacht und gesungen: Lass doch der Jugend, der Jugend ihren Lauf..., bis gestern! Da hat deine Mutter ihn aufgewiegelt, und er hat sich um hundertachtzig Grad gedreht. Sohn, halte an dich, bezwinge deine Leidenschaft, in diesem Ton. Auf einmal sind Edda Schumanns Worte lauteres Gold." "Siehst du, das wusste ich. Vorigen Sommer hatte meine Mutter keine Schuld, da war sie einverstanden, hat mir sogar noch zugeredet, und du hast es nicht geglaubt. Wenn sie nun diesmal ablehnt, triumphierst du und schreist: Aha, schon wieder! Ich wollte das nicht jeden Tag hören." Er blickte schräg zu Boden, und ich sah, wie er unter der angespannten Wangenhaut die Zähne aneinanderrieb. Ich ging zu ihm und legte mein Gesicht an seine Brust. "Wenn sie mich bloß nicht so hassen würde", murmelte er. "Und sie hat eine solche Macht über dich, dass du auch noch anfangen wirst, mich zu hassen." Ich hob den Kopf und küsste sein störrisch vorgeschobenes Kinn. "Denkst du noch manchmal an unsere Kröte?"

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Impressum

Christa Grasmeyer

Der unerwünschte Dritte

ISBN 978-3-86394-292-2 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1979 bei Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com

1. Kapitel

Zuerst konnte ich kaum fassen, was ich sah. Alle meine Fische, meine farbenprächtigen Guppys, lagen tot auf dem Grund. Dörte weinte. Ich schob die Glasplatte zurück. Sonst waren auf diese Bewegung hin die Fische sofort fressgierig an die Oberfläche gekommen. Jetzt rührte sich nichts. Ich tauchte den Kescher .ins Wasser und holte eines der silbrig geschuppten Weibchen heraus. Es gab kein Zeichen von Leben mehr.

"Heute morgen waren sie noch ganz gesund", jammerte Dörte.

Das wusste ich. Wie jeden Morgen hatte ich, bevor wir zur Schule gingen, die Aquariumleuchte eingeschaltet. Fische werden nicht wie Vögel schlagartig munter, sie brauchen eine Weile zum Erwachen. Darüber hatte ich mich anfangs oft gewundert. Überhaupt gab es viel zu bewundern an meinen Aquariumbewohnern, viel zu beobachten und zu lernen. Und nun war es aus damit. Ich nahm mich zusammen. Schlimm genug, dass Dörte weinte.

"Stimmt, sie waren nicht krank", sagte ich.

"Aber die Lampe war aus", sagte Dörte.

"Das Aquarium war dunkel?"

Dörte nickte. "Ich hab die Lampe erst angemacht."

Meistens kam Dörte eher nach Hause als ich. Sie ging in die erste Klasse und hatte noch nicht so viele Stunden. Wenn wir aus der Zehnten in den Speiseraum gingen, hatten die Klassen der Unterstufe schon gegessen. Auch Peter!

"Hast du Peter vorhin beim Essen gesehen?"

"Nein", sagte Dörte.

Ich riss die Tür auf. Das kleine Zimmer nebenan, das meine Mutter extra für Peter eingerichtet hatte, war leer.

"Wo ist er?", murmelte ich, und mein Verdacht wuchs.

Dörte fasste meine Hand. "Sophie, was hast du?"

"Er! Er hat die Aquariumleuchte ausgeschaltet!"

"Die Fische sterben doch nicht, wenn's mal dunkel ist."

"Nein, aber es ist ein Zeichen, dass einer hier gewesen ist und irgendwas mit den Fischen angestellt hat. Um neun ist Mutti zur Probe gegangen, und danach..., danach hatte Peter freie Bahn."

Dörte stand starr vor Schreck. "Er hat die Fische umgebracht, wie meine Katze?"

"Ja."

Dörte fing wieder an zu weinen. Ich setzte mich und nahm sie auf den Schoß. "Wein nicht, Dörting. Siehst du, ich wein ja auch nicht." Aber sie schniefte und schluchzte verzweifelt.

"Wie hat er die Fische umgebracht?", fragte sie.

"Wir werden's schon rauskriegen!"

Ich ließ Dörte vom Schoß rutschen und wischte ihr die Tränen ab. "Hör zu, Dörte, ich nehm dich nachher mit zu Bodo ins Bootshaus, willst du?"

Sie nickte. Zu Bodo hatte ich sie noch nie mitgenommen, weil er kein Verständnis hatte für kleine Kinder. Aber heute, das würde er wohl einsehen, konnte ich Dörte nicht einfach zu Hause lassen. Meine Mutter war im Theater, sie hatte Hauptprobe, und die dauerte stundenlang. Eigentlich hätten wir auch im Theater sein müssen, denn wir sangen beide im Kinderchor, und der hatte in "Carmen" allerhand zu tun. Meine Mutter meinte aber, es reiche völlig aus, wenn wir morgen die Generalprobe mitmachten. Wir hätten ja schon so viele Proben gehabt und sollten nicht dauernd in der Schule fehlen.

Dörte packte ihre Schultasche aus. "Ich mach bloß schnell die Hausaufgaben."

Ich sah ihr zu. Für mich hatte die Art, wie Dörte Hausaufgaben machte, was Rührendes. Ich stand kurz vor dem Schulabschluss und hatte bereits eine Lehrstelle als Friseuse im Theater. Später würde ich sogar in der Maskenbildnerei arbeiten dürfen, das war mein Ziel.

Dörte malte die Buchstaben, sie schob die Zungenspitze zwischen die Lippen und pustete von unten gegen die Locken, die ihr in die Stirn fielen. Ich sah, dass sie heimlich beim Rechnen die Finger benutzte. Aber sie fragte mich kein einziges Mal.

Peter zog Dörte an den Haaren, zerbrach ihr den Füller, steckte ihr Schnecken ins Bett und redete ihr hässliche Wörter vor. Er verleitete sie zum Naschen, zum Flunkern, bei jeder Gelegenheit schob er die Schuld auf Dörte. Wie schlecht muss einer sein, der an solch einem kleinen Mädchen seine Mucken auslässt!

Es klingelte. Dörte blickte hoch. "Schreib weiter", sagte ich und ging öffnen. Unsere Nachbarin hielt mir Peters Schultasche hin. Die sei bei ihr abgegeben worden, und zwar von einem fremden Jungen, der sie mehrere Haustüren weiter gefunden habe. "Zum Glück", sagte die Nachbarin, "stand die Adresse drin. Sonst wäre die Tasche wohl weg gewesen."

Ich dankte ihr und nahm die Tasche an mich. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Ich öffnete die Tasche und sah, dass alles noch so steckte, wie meine Mutter es abends eingeordnet hatte. Das musste sie Peter nämlich jeden Abend von neuem zeigen. Nach drei oder, besser gesagt, vier Schuljahren - einmal war er sitzengeblieben - hatte er immer noch keinen blassen Schimmer von Ordnung.

Er ist gar nicht zur Schule gegangen, überlegte ich, nein, er ist überhaupt nicht da gewesen. Er hat die Tasche irgendwo hingeschmissen. Im Grunde konnte es mir gleichgültig sein. Sollte er doch schwänzen und alle Welt gegen sich aufbringen, damit auch meine Mutter endlich zur Einsicht kam. Ich stellte die Tasche in das kleine Zimmer, das gerechterweise mir zugestanden hätte. Ich schlief mit Dörte zusammen. Das Einzelzimmer besaß Peter. Gerecht ging es bei uns seit langem nicht mehr zu.

"War was?", fragte Dörte.

Ich schüttelte den Kopf und starrte ins Aquarium.

"Riech mal am Wasser", sagte Dörte. "Das riecht komisch, bald so wie Gurkensoße."

Ich hob die Glasplatte ab und beugte mich über das Wasser. Gurkensoße? Dörte meinte Essig! Ich rannte in die Küche. Im obersten Fach bewahrte meine Mutter die Gewürze auf. Die Flasche mit Essigessenz stellte sie immer besonders weit nach hinten, weil Essigessenz für Kinder gefährlich sein kann. Die Flasche war weg, aber ich wusste genau, dass erst vor kurzem eine neue gekauft worden war.

Dörte war mit den Hausaufgaben fast fertig, da hörte ich, dass Peter kam. Allerdings war ich einen Moment lang nicht ganz sicher, ob es Peter wirklich war. Kein Türenknallen, kein Poltern und Stampfen kündigte ihn an, sondern ein merkwürdig gedämpftes Einschnappen des Schlosses und ein leises Schurren. Aber als ich auf den Flur trat, sah ich ihn. Er stand, die Gummistiefel in der Hand, und griente mich an, lauernd, wie mir schien, jedenfalls nicht so frech wie sonst. Er behielt mich im Auge, während er vorsichtig die Stiefel abstellte, in seiner Hosentasche grabbelte und mir eine Handvoll schmieriger Kaubonbons hinstreckte. Diese erbärmliche, anbiedernde Geste brachte die Wut in mir zum Überkochen. Ich schlug ihm die Kaubonbons aus der Hand, packte ihn und zerrte ihn ins Zimmer vor das Aquarium.

"Da, guck hin und freu dich! Es ist dir gelungen, sie sind alle tot."

Er hatte zunächst keinen Widerstand geleistet. Nun begann er sich zu wehren und schrie: "Das war ich nicht!"

"Wer sonst hat den Essig ins Wasser gegossen, meine Mutter etwa?"

Er stutzte. Er hatte wohl nicht erwartet, dass ich so schnell herausfinden würde, wodurch die Fische gestorben waren. Trotzdem leugnete er weiter. Dass er mal ehrlich etwas zugab, hatte ich noch nie erlebt.

"Aus Versehen!", plärrte er. "Ich hab's nicht gewollt, bloß aus Versehen ist der Essig reingekippt!"

"Dann hat sich hier also ein Naturwunder ereignet. Die Flasche kam aus der Küche herbeigeflogen."

"Ich wollte trinken und hab die Flaschen verwechselt und vor Schreck den Essig verschüttet..."

Ich schlug ihm ins Gesicht.

"Für wie dumm hältst du mich?"

Er krallte sich an meinen Armen fest. Ich fühlte, dass er Angst hatte, dadurch wuchsen seine Kräfte. Wir kämpften miteinander, bis er sich losriss und in die Ecke bei der Tür stürzte. Dort eingeklemmt, bezog er die ihm eigene Verteidigungsstellung, beide Arme über den Kopf gelegt, ein Bein stoßbereit vorgestemmt. Meine Mutter hatte gesagt, diese Reflexbewegung habe er wahrscheinlich schon als ganz kleines Kind gelernt, es sei ein schlimmes Zeichen. Das fand ich auch, ein Zeichen nämlich für seine feige Natur. Er selber hatte keine Bedenken, Schwächere tu schlagen. Aber sobald es ihm an den Kragen ging, verschanzte er sich, und dann kam man kaum an ihn heran, ohne gestoßen, gebissen und gekratzt zu werden.

Mit aller Gewalt riss ich ihm die Arme herunter, so dass er sich erneut festkrallen musste, um mich am Schlagen zu hindern. Irgendwie gelang es ihm, er kam von mir los und stürzte in sein Zimmer. Gerade noch rechtzeitig klemmte ich den Fuß zwischen die Tür. Er kroch unters Bett. Ich lief in die Küche und ergriff den Besen. Als ich zurückkehrte, sah ich Peter unter dem Bett hervorspähen. Ich stieß mit dem Besenstiel nach ihm. Blind vor Zorn stocherte ich und rammte den Stiel in die hintersten Ecken, egal, wie und wo ich Peter traf. Er wimmerte leise.

Da kam Dörte. Sie hielt mir die Arme fest und bettelte: "Aufhören, Sophie, aufhören!" Das brachte mich zur Besinnung. Ich schleuderte den Besen beiseite. Was sollte Dörte von mir denken? Erhitzt und schwer atmend hockte ich am Boden und schämte mich, dass ich mich dermaßen hatte hinreißen lassen. Peter beobachtete uns. Deshalb nahm ich Dörte in die Arme und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Peter versuchte zu lauschen.

"Meine Kleine", flüsterte ich etwas lauter, "hab keine Angst, es ist schon vorbei. Meinetwegen kann der verlogene Bengel unterm Bett bleiben, bis Mutti kommt, und dann erzählen wir ihr alles und zeigen ihr die toten Fische."

Ich stand auf und ging mit Dörte nach nebenan. Die Tür ließ ich einen Spalt offen. Während Dörte mir ihre Hausaufgaben zeigte, hörte ich Peter unter dem Bett hervorkommen und sah seinen Schatten hinter dem Türspalt.

"Was willst du?", rief ich.

"Sei mir nicht mehr böse", sagte er.

Ich schwieg verblüfft. Der Ton war neu.

"Es tut mir leid", sagte Peter noch leiser als vorher.

"Kann sein", sagte ich. "Aber davon werden die Fische auch nicht wieder lebendig. Heute tut's dir leid, morgen denkst du dir was Neues aus. Komm mir bloß nicht mit Gewinsel! Das ist ja erst recht widerlich. Wer soll dir noch glauben?"

Als Antwort knallte er den Fuß gegen die Tür.

"Ja, fang nur an zu toben, schlag alles kaputt, je mehr, desto besser. Dann wird meine Mutter endlich begreifen, was du für einer bist. Ich weiß genau, du willst dich rächen. Du steckst bis zum Hals voller Neid und Missgunst."

"Immer bloß Dörte!", schrie er.

"Na, und? Willst du dich etwa mit Dörte vergleichen?"

"Ihr seid gemein, alle seid ihr gemein!"

"Nur du allein bist gut, wie? Du Schulschwänzer, Schleicher, Lügner, offen wagst du nichts. Wenn keiner da ist, kommst du in die Wohnung zurück geschlichen und stiftest Unheil."

"Selber, selber bist du ein Schleicher, selber lügst du! Dir glaub ich auch nie mehr!"

Er spuckte durch den Türspalt.

"Dann hau doch ab", rief ich zurück. "Hau ab, ehe du alles hier kaputtmachst. Früher haben meine Mutter, Dörte und ich viel schöner gelebt."

"Tante Edda ist ja gar nicht deine Mutter, und Dörte ist nicht deine Schwester. Warte man, bis mein Vater aus Afrika kommt, der schlägt euch die Zähne ein!"

Ich glaubte, nicht recht gehört zu haben. Das Afrikamärchen kannte ich ja, aber dass Peter drohte, dass er seinen kriminellen Vater plötzlich gegen uns ins Feld führen wollte, war neu.

Ich packte die Tischkante. Dörte sah mich mit großen Augen an. Ich konnte mich nicht bremsen, zuviel hatte sich in mir angestaut.

"Kommst du mir so?", schrie ich. "Rufst du die finsteren Typen zu Hilfe, von denen du auch eine bist? Lass dir sagen, du rufst umsonst. Dein Vater weiß nicht mal, wo Afrika liegt! Im Gefängnis sitzt er, und deine Mutter ist in einer Heilanstalt, und deine Geschwister sind im Jugendwerkhof und in Sonderheimen. Allesamt sind sie nicht richtig im Kopf, genau wie du!"

Ich biss mir auf die Lippen. Ungläubig und verständnislos blickte Dörte mich an. Peter hatte die Tür zugeschlagen.

Ich neigte mich zu Dörte und flüsterte: "Es ist nicht wahr. Ich wollte ihm bloß den frechen Mund stopfen, Dörte, hörst du?" Denn was ich verraten hatte, durfte keiner wissen, am wenigsten Peter selbst. Meine Mutter hatte es mir anvertraut unter dem Siegel der Verschwiegenheit.

Die zweite Tür von Peters Zimmer, die zum Flur führte, fiel ins Schloss und gleich darauf die Wohnungstür. Ich zuckte zusammen. Für einen Moment fühlte ich, dass ich Peter unbedingt nachlaufen müsse. Aber ich war noch zu aufgebracht.

Zum Glück erfasste Dörte nicht mehr, als dass es wieder mal Streit gegeben hatte. Sie wollte nun ins Bootshaus. Ich nickte. Bestimmt kam meine Mutter bald nach Hause. Ich musste ihr einen Zettel schreiben. Kurz, nur in Stichworten, teilte ich mit, was Peter mit dem Aquarium angestellt hatte, und dass wir daraufhin ziemlich hart aneinander geraten wären. "Deshalb nehme ich Dörte mit ins Bootshaus", schrieb ich. "Sonst lässt Peter vielleicht, wenn er zurückkommt, seine Wut an ihr aus."

Unterwegs, in der Straßenbahn, sprach ich kaum ein Wort mit Dörte. Ich hatte Angst, ohne genau zu wissen, wovor. Erst als ich Bodo sah, wurde mir etwas wohler. Er hatte schon auf mich gewartet. Nach wochenlanger Frühjahrsarbeit war sein Boot heute startklar.

In der Bootsanlage war ich gern. Ich mochte den Geruch nach Wasser, nach Lack und Farbe, den eigenartigen Geruch in den Bootsschuppen nach Holz und Teer und Tauwerk, und ich mochte die Geschäftigkeit, den freundschaftlichen, ungezwungenen Ton der Segler. Bodo besaß ein eigenes Boot. Sein Vater hatte es ihm vor drei Jahren zur Jugendweihe gekauft. Ehrgeizig, wie Bodo war, verbrachte er seitdem viele Stunden im Bootshaus. Es gibt Menschen, denen alles gelingt, was sie sich vornehmen. So einer war Bodo. Er ging in die elfte Klasse der erweiterten Oberschule, da stand er auch obenan. Ich kannte ihn schon lange. Früher hatten wir beide im Kinderchor gesungen. Jetzt machte Bodo noch manchmal im Theater als Statist mit. Sein Vater war absolute Sonderklasse, eine Spitzenkraft am Haus, er sang die größten und schönsten Partien, Rigoletto, Wotan, Philipp, Scarpia, in "Carmen" den Escamillo, er gab Gastspiele und Konzerte, sogar beim Fernsehen.

Bodo und ich, wir hielten zusammen. Er war der einzige, dem ich alles erzählte von meiner Mutter und mir, erst recht, seitdem Peter sich wie ein Keil zwischen meine Mutter und mich geschoben hatte. Ich wusste nicht, wie ich das ohne Bodo hätte durchstehen sollen.

Er kam mir über den Rasen entgegengelaufen. "So spät?" fragte er. "Und warum mit der Kleinen?"

"Weil's bei uns zu Hause wieder mal gekracht hat."

Er verzog das Gesicht. "Kannst du schwimmen?", wandte er sich an Dörte.

"Ein bisschen", sagte sie.

"Ein bisschen genügt nicht. Ich als Bootsführer hab die Verantwortung. Du musst an Land bleiben."

Dörte hatte zu ihm aufgeblickt, als wäre er ein Prinz aus dem Morgenland, der den fliegenden Teppich schon bereitliegen hatte. Nach seinen letzten Worten stiegen ihr Tränen in die Augen. Bodo sah es so gut wie ich.

"Oder willst du eine Schwimmweste anziehen?", lenkte er ein.

Und ob Dörte wollte!

Bodo führte uns über den Bootssteg zu seinem Boot, das zwischen den anderen Booten festgemacht war. Viele Jungen grüßten zu uns herüber: "Hallo, Sophie!" Dörte winkte. Wir schnürten ihr eine Schwimmweste um, das fand sie abenteuerlich. Bodo zog das Segel auf.

Der Himmel war bedeckt, das Wasser grau und ein wenig unruhig. Der scharfe Aprilwind griff gleich ins Segel. Bodo hatte zu tun, das Boot hinaus auf die Wasserfläche zu steuern. Immer war der Start aufregend. Ich dachte an all die schönen Sommertage aus dem vergangenen Jahr, an die heißen Nachmittage im Schilf, an die stillen Abende, die Mückenschwärme, das unvergleichliche Gefühl, vom Boot aus ins Wasser zu springen, an unseren Heißhunger nach dem Baden, nach Kreuzfahrten im Wind, wenn wir die Blechbüchse öffneten und grobes Brot mit Butter aßen.

Dörte saß ganz still. Sie war noch nie gesegelt, ihre Augen glänzten. In der für sie zu großen Schwimmweste sah sie aus wie ein dicker Korken.

Bodo setzte sich neben mich. Links hielt er die Leine, rechts die Pinne, das heißt, er legte seine Hand über meine Hand an der Pinne. Ich sollte steuern lernen. Bodo hatte mir schon eine Menge vom Segeln erklärt, aber nach wie vor stellte ich mich ziemlich ungeschickt dabei an.

"Was war denn?", fragte er. "Warum hat es gekracht bei euch?"

Ich starrte über das Wasser. Dann raffte ich mich auf und erzählte es ihm. Das Wichtigste, das von Peters Eltern, ließ ich weg.

"Mann", sagte Bodo, "das ist ja ein starkes Ding. Essig ins Aquarium gießen, auf so was muss erst mal einer kommen, direkt raffiniert. Lass man, der Bursche gräbt sich selbst sein Grab."

Ich seufzte. "Noch längst nicht, Bodo. Ehrlich, ich frag mich, was eigentlich alles passieren muss, bis meiner Mutter die Augen aufgehen."

Er lachte. "Schlimmstenfalls nehmen wir ihn mal mit, den jungen Haifisch, und lassen ihn schwimmen an einer Stelle, wo's tief ist."

Ich blickte besorgt zu Dörte. Bodo hatte keine Geschwister. Er wusste nicht, wie hellhörig Kinder sind.

"Das ist natürlich ein Witz", sagte ich laut.

"Was denn sonst?", fragte Bodo. "Glaubst du, ich bring mich um meinen Segelschein? Wenn ich zurückkäme und hätt jemand draußen gelassen, könnt ich einpacken."

"Sei still!", sagte ich.

Nach den langen Wintermonaten segelten wir in diesem Jahr zum ersten Mal. Ich lehnte mich an Bodos Schulter und schloss die Augen. Von mir aus hätten wir weit weg segeln können, ohne zurückzukehren. Die Kälte auf dem Wasser empfand ich nicht.

Aber Dörte fing an, in die Hände zu hauchen. Das Abenteuer verlor seinen Reiz. "Da ist das Bootshaus!", rief sie und blickte sehnsüchtig hinüber. Sie täuschte sich, es war die Badeanstalt.

"Wir wollen umkehren", sagte ich.

Bodo drehte bei. Der Wind zauste sein helles Haar, Spritzer flogen ihm ins Gesicht. Das Boot gehorchte ihm und glitt nach der Kreuz leicht, sicher und schnell dahin.

Als Bodo das Segel einholte und wir langsam auf den Steg zusteuerten, fiel mir meine Mutter wieder ein. Es war inzwischen ziemlich spät geworden. Sicher hatte meine Mutter den Zettel längst gelesen und Peter nach Einzelheiten ausgefragt, und nun wartete sie wohl, ungeduldig, weil sie abends Vorstellung hatte und bald gehen musste. Vormittags Hauptprobe, abends Vorstellung und am nächsten Morgen Generalprobe, es war wirklich ein bisschen viel in diesen Tagen. Und obendrein die Sache mit uns.

Ich fuhr mit Dörte erst nach Hause, als ich sicher sein konnte, meine Mutter nicht mehr anzutreffen. Ich kam mir feige und rücksichtslos vor und suchte Gründe zu meiner Rechtfertigung. Damals, als Peter Dörtes Katze vom Balkon geschmissen hatte, wer war da beschuldigt worden? Ich! Und wer hatte geradestehen müssen, als Bodos Moped durch Peter demoliert worden war? Wieder ich! Dauernd diese Vorwürfe, nein, ich wollte sie nicht mehr hören. Außerdem hätte meine Mutter mir doch die Hauptprobe erlauben können. War ich etwa eine schwache Schülerin, die auf keinen Fall Unterricht versäumen durfte? Ganz im Gegenteil, ich gehörte zu den besten. Aber auch hier hatte ich den Verdacht, dass es meiner Mutter im Grunde nur um Peter ging. Wenn wir eine Freistellung bekamen, Dörte und ich, dann würde Peter womöglich das gleiche Recht für sich in Anspruch nehmen und einfach schwänzen - wie er es getan hatte, obwohl Dörte und ich in der Schule gewesen waren. Für einen vernünftigen Menschen lag das alles klar auf der Hand. Für meine Mutter nicht.

Die Wohnung war leer, nirgends brannte Licht. Erstaunt ging ich durch alle Räume. Hatte meine Mutter Peter etwa mit ins Theater genommen? Dann entdeckte ich den Zettel auf dem Küchentisch. "Sophie! Es muss was passiert sein! Peter ist nicht nach Hause gekommen!" Die Ausrufezeichen ärgerten mich, besonders das hinter meinem Namen. Sophie mit Ausrufezeichen..., ich wusste Bescheid. Es muss was passiert sein, das hieß im Klartext: Du, Sophie, du musst was angerichtet haben! Ich knüllte den Zettel zusammen. Dabei sah ich, dass es derselbe Zettel war, den ich für meine Mutter bereitgelegt hatte. Sie hatte die Rückseite benutzt, nachdem sie bis zum letzten Augenblick voller Unruhe gewartet hatte. Jetzt saß sie in der Garderobe, zog sich um, schminkte sich, und anstatt sich zu konzentrieren, stellte sie über uns drei die schlimmsten Vermutungen an. Ich hätte doch eher kommen sollen, um sie wenigstens einigermaßen zu beruhigen. Auf der Bühne muss jeder Ton, jeder Takt, jeder Einsatz stimmen.

Ich wärmte Milch im Topf, rührte Kakaopulver hinein und schnitt Brot für Dörte. Als sie im Bett lag, wusch ich in der Küche das Geschirr ab. Es war still in der Wohnung. Ich horchte auf jedes Geräusch im Treppenhaus. Wo konnte Peter bloß stecken? Hatte er keinen Hunger, der Fresssack?

Die Stille war mir geradezu unheimlich. Ich wollte im Zimmer meiner Mutter den Fernseher einstellen, ließ es aber bleiben. Ich nahm ein Buch und legte es wieder weg. - Draußen dämmerte es. Ich zog die Vorhänge zu. Was war das, dieses bedrückende, unheimliche Gefühl, war es Angst? Auf einmal wünschte ich, meine Mutter wäre da. Ich war ihr aus dem Weg gegangen, war froh gewesen, dass sie. Vorstellung hatte. Nun sah ich mich im Zimmer um, jeder Gegenstand sprach von ihr, das Klavier, die Noten, die Nähmaschine. Ich rollte mich auf ihrer Couch zusammen und roch ihr Parfüm. Wenn sie doch käme! Ich war allein. Schon lange war ich nicht mehr so allein gewesen. Es gab mal eine Zeit, da war ich allein und wartete...

2. Kapitel

Meine Oma lehrte mich laufen und sprechen, Zähne putzen, Schnürsenkel binden, Bohnen pflücken und Hühner füttern. Ihre Tochter, die Frau, die mich geboren hat, hatte nicht mal einen Namen für mich ausgesucht. Ich mochte gern an Omas Hand zum Friedhof gehen und dort Blumen begießen. Oma zeigte mir die Gräber.

"Guck her, da liegt dein Opa, und da drüben schlafen deine Urgroßeltern in der Erde."

"Was sind Urgroßeltern?"

"Das sind mein Vater und meine Mutter. Ich war ja auch mal klein wie du."

"Aber ich hab keinen Vater und keine Mutter."

"Dafür hast du mich. Ist dir das nicht genug?"

"Doch Oma, das ist genug."

Vor dem Grabstein meiner Urgroßmutter sagte Oma: "Wenn du erst lesen kannst, wirst du hier auf dem Stein deinen Namen entdecken: Sophie. Meine Mutter war eine gute, fleißige, tapfere Frau. Sie hat nie geklagt, obwohl sie ein schweres Leben hatte wie die meisten einfachen Menschen früher. Du musst dir Mühe geben, dass du ihren Namen auch verdienst."

In der Erde schliefen also die Menschen, die es vor langer Zeit mal gegeben hatte. Meine Eltern waren nicht dabei. Wo waren sie?

"Irgendwo auf der weiten Welt", sagte Oma. "Sie denken nicht an dich, darum brauchst du auch nicht an sie zu denken."

"Ist meine Mutter dein Kind gewesen?"

"Ich hab nur ein Kind, das bist du."

Später erfuhr ich von anderen Leuten, dass die Frau, die mich geboren hat, eines Tages ins Dorf zurückgekommen war. Sie brachte bei ihrer Mutter in der Stube ein Kind zur Welt, stand drei Tage danach auf und ging fort. Nie hat sie einer wieder gesehen.

Wenn Oma mir aus dem Märchenbuch vorlas, setzte sie eine Brille auf. Vorher putzte sie die Gläser mit einem Läppchen, und hinterher legte sie die Brille oben auf den Schrank, damit ich sie nicht erreichen konnte. Ich glaubte, in der Brille stecke ein Geheimnis, man brauche sie nur vor die Augen zu halten, schon könne man lesen. Einmal rückte ich einen Stuhl an den Schrank und stieg hinauf. Aber ich erkannte durch die Brille rein gar nichts und wunderte mich.

Abends fragte Oma: "Nanu, wer hat denn meine Brille angefasst?" Ganz wie die Zwerge im Märchen: Wer hat von meinem Tellerchen gegessen... Da wunderte ich mich noch mehr.

"Ach, meine kleine Sophie", sagte Oma, "du musst noch viel lernen."

Omas Tabletten wurden noch sorgfältiger vor mir bewahrt als die Brille oder die Streichhölzer oder die Schere.

"Oma, warum musst du immer Tabletten essen?"

"Weil ich alt bin."

Sie sagte nie: Weil ich krank bin.

Manchmal setzte Oma sich ganz plötzlich auf einen Stuhl.

"Oma, warum kriegst du keine Luft?"

"Weil meine Zähne verrutschen."

"Nimm die Zähne lieber raus!"

"Ich brauch sie doch", keuchte Oma.

Es kam die Nacht, in der Oma so laut hustete und stöhnte, dass ich aufwachte und zu ihr ans Bett lief. Sie hatte die Finger ins Kissen gekrallt.

"Oma, hab keine Angst, die Zähne sind ja hier im Wasserglas."

"Lauf, meine kleine Sophie, lauf schnell und sag Bescheid!"

Ich lief zur Nachbarin. Ein Auto kam gefahren. Der Arzt steckte sich Gummischläuche in die Ohren. Oma lächelte mir zu. Am nächsten Tag ging es ihr besser. Sie lag im Bett und wollte nicht, dass die Nachbarin mich mitnahm. Die Nachbarin packte Omas Sachen in einen Koffer. Dann half sie Oma beim Anziehen.

"Komm her, meine kleine Sophie." Oma nahm meine Hand und drückte sie sich auf die Brust. "Fühlst du da was pochen? Das ist mein Herz. Es ist an einer Stelle ein bisschen kaputtgegangen, und die Ärzte wollen es nun wieder heil machen. Aber das dauert lange, das dauert viele Wochen. Ich muss ins Krankenhaus. Wirst du wohl auf mich warten, nicht weinen und nicht traurig sein?"

"Ich pass auf unsere Hühner auf."

"Die Hühner, die kommen ohne uns zurecht. Andere Leute werden sie füttern. Siehst du, ich muss für lange Zeit weg, vielleicht den ganzen Sommer über. Du kannst nicht allein bleiben, das verstehst du doch?"

"Ja, Oma, ich geh nach nebenan."

"Richtig, für die nächsten Tage, und dann fährst du in ein Heim, wo es viele Kinder gibt. Vergiss nicht, Lola mitzunehmen. Lola möchte sicher auch die vielen Kinder kennenlernen und mit ihnen spielen."

Lola war meine Puppe mit den langen Zöpfen. Ich holte sie und setzte sie Oma auf den Schoß. "Sag Oma schön auf Wiedersehen."

"Und du, Sophie?"

Sie nahm mich in die Arme. Da merkte ich, dass sie zitterte.

"Oma, du kommst doch wieder?"

"Natürlich, so was Dummes, jetzt ist mir Staub in die Augen geflogen."

"Du kommst doch wieder?"

"Ganz bestimmt. Hab ich schon mal was versprochen und nicht gehalten? Du musst auf mich warten, darfst nicht ungeduldig werden."

Die Nachbarin zog mich von Oma fort, drückte mir Lola in den Arm und sagte leise: "Komm, Sophie, deine Oma regt sich zu sehr auf."

Ich riss mich los. "Oma weint!"

"Ach, i wo", rief Oma lachend, "ich freu mich schon auf den Tag, wenn ich dich holen komme! Du musst tüchtig essen, damit du dann ein Stück größer geworden bist und die Schultasche tragen kannst. Eine so große Zuckertüte werde ich mitbringen, so groß!" Sie breitete die Arme aus.

Die Nachbarin nahm mich an die Hand und ging mit mir zur Tür. Dort hob ich Lola in die Höhe und ließ sie winken. "Tschüs, Oma!"

Oma sagte nichts mehr. Sie winkte zurück und lächelte.

Anfangs war ich guter Dinge. Ich freute mich sogar, als ich verreisen und mit dem Zug fahren konnte, denn vorher war ich mit Oma im Bus höchstens bis zur Kreisstadt gefahren.

Aber kaum war ich im Kinderheim, bekam ich Heimweh. Ich fragte jeden Tag nach Oma und erhielt immer die gleiche Antwort: "Deine Oma ist krank, Sophie, sie kann nicht kommen. Gefällt es dir denn gar nicht bei uns?"

Die anderen Kinder suchten Ostereier. Ich weinte, weil Oma mir keine Karten mehr schrieb. Sonst hatten mir die Erzieherinnen mehrmals in der Woche eine Karte von Oma vorgelesen, und ich hatte alle Karten sorgsam in Lolas Puppenkoffer verwahrt. Die Erzieherinnen versuchten, mich zu trösten. Sie wollten mir nicht sagen, was sie schon wussten. Sie hofften, ich würde mit der Zeit meine Oma vergessen.

Der Sommer ging übers Land. Nach und nach, in den Wochen und Monaten, gewöhnte ich mich daran, in einer Kindergruppe zu leben. Meine Oma vergaß ich nicht. Bald sollte ich zur Schule gehen. Wir bekamen Schultaschen, Hefte und Bücher. Ich brauchte nichts. Ich ließ die Schultasche zu, beguckte mir nicht die Bücher. Das alles würde meine Oma für mich mitbringen und die riesengroße Zuckertüte dazu. Die Zeit war endlich da, jetzt musste Oma kommen und ihr Versprechen einlösen. Unsere Koffer wurden gepackt. Die Gruppe, zu der ich gehörte, zog um in ein Heim für Schulkinder. Ich glaubte, dass ich mit Oma nach Hause fahren würde. Bis zum letzten Augenblick wartete ich, und als wir Schulanfänger schließlich mit unserer Erzieherin losgingen, weinte ich, denn ich hatte Angst, meine Oma würde mich in einem anderen Heim nicht finden. Es fiel nicht weiter auf, dass ich weinte. Während der ersten Tage im neuen Heim gab es Tränen bei allen Kindern, die mit mir gekommen waren. Das Haus, die Kinder, die Erzieherinnen, alles war uns fremd. Die Erzieherinnen bemühten sich sehr um uns. Bei den anderen Kindern hatten sie Erfolg. Ich beteiligte mich selten am Spiel, mochte nicht essen, schwieg auf alle Fragen. Ich stand am Fenster und starrte auf die Straße hinaus.

Im Heim wurde für den ersten Schultag gerüstet, Kuchen wurde gebacken, eine Festtafel geschmückt. Es war eine Ehre und eine große Freude, zum ersten Mal zur Schule zu gehen. Jeder Schulanfänger sollte ein Geschenk bekommen und natürlich auch eine Zuckertüte.

Am Morgen des Feiertages nahm mich die Leiterin des Heims an die Hand und führte mich in ihr Zimmer.

"Freust du dich auf die Schule, Sophie?"

Ich nickte. "Meine Oma kommt und holt mich nach Hause."

"Und wenn sie nun nicht kommen könnte?"

"Sie hat's versprochen."

"Damals wusste sie nicht, dass sie noch viel kränker werden würde, so krank, dass sie immer im Bett liegen muss und dir nicht mal schreiben kann."

Diese Erklärungen hatte ich wohl schon hundertmal gehört. Ich stand und blickte zu Boden. Die Erzieherin seufzte und streichelte meine Hände. Ich zog die Hände zurück.

"Möchtest du wieder zu den Kindern gehen?", fragte sie.

Ich verneinte stumm.

"Sag doch ein Wort. Wie kann ich sonst wissen, was du möchtest?"

"Meine Oma besuchen."

Sie wollte mich an sich ziehen. Ich machte mich steif.

Ich sagte: "Andere Kinder fahren auch zu Besuch nach Hause."

"Manche ja, aber es gibt viele Kinder, die kein Zuhause haben, nur uns. Deshalb haben wir diese Kinder besonders lieb."

Ich sah sie an und fragte: "Kommt meine Oma gar nicht mehr?"

"Vielleicht, Sophie, vielleicht kommt sie gar nicht mehr. Du musst aufhören zu warten. Wenn du immerzu nur an deine Oma denkst, kannst du ja nicht lesen und schreiben lernen."

Von da an wusste ich, dass ich vergeblich gewartet hatte. Ich ging zur Schule, fügte mich ein in den neuen Tagesablauf, lernte neue Menschen kennen, Kinder und Lehrer, lernte Buchstaben und Zahlen. Tagsüber war ich still und unauffällig. Aber nachts wachte ich schreiend auf und schlug um mich, wenn man mich trösten wollte.

Was für uns getan werden konnte, wurde getan. Immer waren wir ebenso gut gekleidet, ebenso gut ernährt und versorgt wie unsere Klassenkameraden, die ein Zuhause hatten. Unsere Geburtstagsfeiern und mehr noch die Weihnachtsfeiern im Heim warfen Glanzlichter über das ganze Jahr. Viele Menschen gaben ihr Bestes, um uns Vater und Mutter zu ersetzen. An erster Stelle waren das die Erzieherinnen im Heim, aber auch die Lehrer in der Schule und die Brigaden im Patenbetrieb. Für manche Kinder fanden sich Pflegeeltern, bei denen sie zum Wochenende und in den Ferien eingeladen waren und wo sie vielleicht für immer blieben. Das mussten Kinder sein, deren Verwandte auf das Erziehungsrecht verzichtet hatten.

Solch ein Kind war ich. Verwandte hatte ich nicht, über den Verbleib der Frau, die mich geboren hat, war nichts bekannt. Daher waren Pflegeeltern für mich erwünscht, und als sich ein Ehepaar aus dem Patenbetrieb interessiert zeigte, wurde eine Zusammenkunft im Heim vermittelt, zunächst unverbindlich und ohne mir die Absicht der fremden Leute zu nennen. Ich ging damals noch in die erste Klasse, hatte mich im Heim eingelebt, war aber schüchtern. Die Leute nahmen mich mit in den Tierpark und schließlich an einem Sonntag mit nach Hause. Sie banden mir Schleifen ins Haar und schenkten mir eine große Puppe, die ein Spitzenkleid trug und Schlafaugen hatte. Eine Torte wurde auf den Tisch gestellt, Kerzen wurden angezündet, und es kamen Menschen zu Besuch, lauter fremde Menschen, Eltern und Verwandte des Ehepaars, die mich betrachteten, zu mir sprachen und sich wunderten, weil sie kein Wort aus mir herausbrachten. Sie waren so überaus freundlich und lachten immerzu. Ich zog mir die Schleifen aus dem Haar und warf sie unter den Tisch. Dann rutschte ich vom Stuhl und kroch selber unter den Tisch. Alle bückten sich und guckten nach mir, die vielen Augen und die winkenden Hände, und weil ich nicht vorkommen wollte, reichten sie mir die Puppe, die sollte mich locken. Ich nahm die Puppe, stach ihr mit dem Finger beide Augen aus und zerriss das Spitzenkleid. Da brachten sie mich ins Heim zurück und sagten, ich sei verhaltensgestört. Ich rannte in das Zimmer, wo mein Bett stand, ergriff meine Lola und drückte sie an mich, und als die Erzieherin kam, stieß ich mit den Füßen nach ihr.

Tagelang ließ ich die Erzieherin merken, wie böse ich ihr war, weil sie mich an Fremde hatte abgeben wollen. Sie verstand das, sie hatte schon gemerkt, dass ich unter den Menschen, die mich umgaben, einen Ersatz für meine Oma suchte und dass meine Wahl auf sie gefallen war. Deshalb gab sie sich mit mir besondere Mühe, obwohl sie fünfzehn Kinder in der Gruppe zu betreuen hatte. Wir söhnten uns wieder aus. Bei jeder Gelegenheit schob ich meine Hand in ihre, und abends; bevor ich einschlief, hielt ich sie ganz fest in den Armen.

Eines Tages sagte sie uns, dass sie heiraten wolle. Sie brachte ihren Freund mit, einen Offizier, der zog seine Uniformjacke aus und spielte im Garten mit uns Ball. Die Jungen waren begeistert von ihm. Ich mochte ihn auch, denn ich ahnte noch nichts. Als ich erfuhr, dass er nach der Heirat seine Frau mitnehmen würde, wünschte ich mir Zauberkraft, um ihn in einen Frosch zu verwandeln. Warum wollte sie uns verlassen, waren wir nicht ihre Kinder? Ja, das schon, und sie ging nicht gern von uns fort, doch nun würde sie bald ein eigenes Kind haben und mit ihrem Mann dort, wo er im Einsatz war, eine Wohnung bekommen. Sie hätte das lieber nicht sagen sollen: ein eigenes Kind... Viele von uns wurden traurig. Da tröstete sie uns und versprach, dass sie uns besuchen und jedem Kind Karten schreiben wolle. Karten kamen auch wirklich, zuerst oft, dann seltener, und ich wunderte mich nicht, als gar keine mehr kamen. Die Karten an mich hatte ich zu Omas Karten in den Puppenkoffer gelegt. Wenn andere Kinder manchmal noch von der Erzieherin sprachen, sagte ich: "Sie kommt nie wieder." Und damit behielt ich recht. Eine neue Erzieherin hatte unsere Gruppe übernommen, und als wir von der jüngsten in die mittlere Gruppe kamen, erhielten wir wieder eine neue Erzieherin. Der Wechsel machte mir nun nichts mehr aus. Umgeben von wohlwollenden Menschen, Erziehern und Lehrern, traf ich eine besondere Auswahl nicht noch einmal. Unter den Kindern im Heim und unter den Klassenkameraden hatte ich mal die eine, mal die andere Freundin. An keine schloss ich mich enger an - bis Ruth ins Heim kam.