Der Winter erwacht - C. L. Wilson - E-Book
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Der Winter erwacht E-Book

C. L. Wilson

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Beschreibung

Zwei verfeindete Reiche, mächtige Wettermagie und eine schicksalhafte Liebe


Die Sommerprinzessin Chamsin kann nicht glauben, was ihr Vater von ihr verlangt: Sie soll Wynter Atrialan heiraten. Den Mann, der ihre geliebte Heimat mit einem grausamen Krieg überzog. Der das Reich durch seine Magie im ewigen Winter erstarren ließ. Und der jetzt als Tribut eine Sommerprinzessin fordert. Niemals! Lieber stirbt sie, als ihn zu heiraten. Sie ahnt nicht, dass ihr Vater sie tatsächlich vor diese Wahl stellen wird ...

»Krieg, Verrat und gefährliche Magie stehen der unerwarteten Hoffnung auf Liebe gegenüber ...« Romantic Times


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Seitenzahl: 473

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Über die Autorin

C. L. Wilson wurde in Houston, Texas geboren. Ihre Eltern arbeiteten bei der NASA, und schon als Kind liebte sie Mythen und Geschichten über andere Welten. So ist es kein Wunder, dass sie Schriftstellerin wurde. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern an der Golfküste Floridas.

C. L. Wilson

Der Winter erwacht

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Anita Nirschl

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe: Copyright © 2014 by C. L. Wilson Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Winter King« (Teil 1)

Originalverlag: Avon Books Published by Arrangement with Avon, an Imprint of HarperCollins Publishers,LLC Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2015 by Bastei LübbeAG, Köln Textredaktion: Mona Gabriel Karte: Markus Weber, Guter Punkt, München nach einer Vorlage von C. L. Wilson Titelillustration: © iStockphoto/LinKuei; shutterstock/vhpfoto; shutterstock/Robert Zp Umschlaggestaltung: Guter Punkt, MünchenDatenkonvertierung E-Book: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-0718-4

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für Christine Feehan. Weil du immer für mich da bist, und weil du meineBFFbist, und weil du nicht zugelassen hast, dass ich aufhöre. Du bist meine Schwester des Herzens.

Und für meinen Mann Kevin Wilson, der mir, selbst als das Geld knapp war, gesagt hat: »Zum Teufel mit einem Teilzeitjob. Mach das, worin du gut bist: Schreib!«

An meine Leser

Vielen Dank, dass ihr zu diesem Buch gegriffen habt! Und ganz besonderen Dank an alle, die mir diese wunderbaren aufmunternden Briefe geschrieben haben, während ich mich eine Weile vom Schreiben zurückziehen musste. Eure Unterstützung bedeutet mir unendlich viel.

Auf meiner Webseite www.clwilson.com könnt ihr euch über meine private Mailing-Liste über Neuerscheinungen informieren lassen, bei meinen Online-Wettbewerben mitmachen und die Seite nach verborgenen Schätzen und magischen Überraschungen durchstöbern.

Ich würde mich freuen, von euch zu hören. Ihr erreicht mich auf Facebook über www.facebook.com/clwilsonbooks, auf Twitter über @clwilsonbooks oder per E-Mail unter [email protected].

Prolog

Blutrot auf Schnee

Königsfried

Vera Sola, Sommergrund

»Musst du wirklich gehen?« Die siebzehnjährige Chamsin Coruscate umklammerte die Hand ihres geliebten Bruders, als könne sie ihn allein durch ihr Festhalten am Fortgehen hindern.

»Du weiß doch, dass ich gehen muss. Unsere Verhandlungen mit dem Winterkönig sind sehr wichtig.«

»Aber du kommst doch bald wieder nach Hause?« Wann immer er fort war, wirkten die altehrwürdigen Wände des königlichen Palastes von Sommergrund, der ihr schon von Geburt an Heim und Gefängnis zugleich gewesen war, irgendwie noch beengender, noch erdrückender.

»Nicht dieses Mal, kleine Schwester.« Milan schüttelte den Kopf. Eine schwarze Haarsträhne, die sich aus dem Zopf in seinem Nacken gelöst hatte, streifte die weiche, dunkle Haut seiner Wange. »Es wird Wochen dauern, die Verträge auszuhandeln.«

Chamsin zog eine finstere Miene, und eine plötzliche Windböe peitschte ihr das wie immer unbändige Haar ums Gesicht. »Warum muss er dich schicken? Warum kann denn nicht sein Botschafter den Vertrag aushandeln? Er schickt dich wegen mir fort, nicht wahr? Weil er nicht will, dass du so viel Zeit mit mir verbringst.« Sie ballte die Hände zu Fäusten. Der Wind ließ ihre Röcke flattern, und eine dunkle Wolke schob sich vor die Sonne.

Ihr Vater, König Verdan IV. von Sommergrund, liebte sie nicht. Das wusste sie. Er hielt sie abgeschottet in einem entlegenen Teil des Palastes vor seinem Hofstaat und seinem Königreich verborgen, unter dem Vorwand, dass ihre Wettergabe zu unberechenbar und gefährlich sei und dass sie sie nicht kontrollieren könne. All das entsprach der Wahrheit. Chams Gabe war gefährlich, und sie hatte sie ebenso wenig unter Kontrolle wie ihr hitziges Temperament. Bis jetzt war er allerdings noch nie so weit gegangen, seine anderen Kinder fortzuschicken, um zu verhindern, dass sie Cham besuchten.

»Na, na. Beruhige dich.« Mit einer Hand strich Milan ihr die widerspenstigen Locken hinter das Ohr. In seinem Blick lag Mitgefühl. »Ich wünschte, ich müsste dich nicht verlassen. Aber Vater glaubt, dass ich am ehesten in der Lage bin, von Winterfels das zu erreichen, was wir wollen, und da stimme ich ihm zu.« Sommergrund, einst ein reiches, blühendes Königreich, bekannt für seine fruchtbaren Felder und üppigen Obstgärten, befand sich seit Jahren im schleichenden Niedergang. Obwohl die Adeligen und ihr König aus politischen und wirtschaftlichen Gründen nach außen hin eine Fassade des Wohlstands aufrechterhielten, begannen die vergoldeten Kuppeln und die glänzende Pracht der Paläste und Herrenhäuser Sommergrunds langsam abzublättern und zeigten erste Zeichen des Verfalls. »Außerdem wirst du nicht allein sein, während ich fort bin. Du hast doch noch Tildy und deine Schwestern.«

»Das ist nicht dasselbe. Sie sind nicht du.« Er war der gut aussehende Prinz von Sommergrund, charmant, geistreich und heldenhaft. Er lebte ein Leben voller Abenteuer, und an den meisten davon ließ er sie teilhaben, indem er ihr von seinen Heldentaten erzählte … Von den Orten, die er gesehen, den Menschen, die er getroffen hatte. Von seinen Jagden, seinen Abenteuern, seinen Triumphen. Ganz gleich, wie sehr Chamsins Amme Tildavera Grünlaub sie auch vergötterte, oder wie oft die drei Prinzessinnen Frühling, Sommer und Herbst, die im ganzen Reich ihrer Gabennamen wegen nur als die Jahreszeiten bekannt waren, sich von ihren königlichen Pflichten davonschlichen, um Zeit mit ihrer geächteten jüngsten Schwester zu verbringen – Milan war derjenige, ohne dessen Besuche sie nicht leben konnte.

»Also das nenne ich aber ein nettes Kompliment! Vorsicht, Mylady. Ihr verdreht mir noch den Kopf.« Er lächelte, und Wärme durchströmte sie. Kein Wunder, dass ihm die Herzen der Damen am Hofe ihres Vaters nur so zuflogen, sobald er ihnen die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Milan hatte etwas Magisches an sich. Er besaß die Gabe, jedes gefiederte Geschöpf nach Lust und Laune zu kontrollieren, was ihm den Gabennamen Falke eingebracht hatte, und die Wettergabe in seinem königlichen Sommerländerblut war stärker als bei irgendeinem anderen Kronprinzen seit Generationen. Es war, als würde die Sonne selbst in seiner Seele wohnen und jedes Mal, wenn er lächelte, ihre Wärme verströmen.

Cham atmete tief durch. Vögel waren nicht die einzigen Geschöpfe, die für Milans Zauber empfänglich waren. Im Angesicht seines warmen Lächelns beruhigte sich ihr erhitztes Temperament ein wenig, und der drohende Sturm am Himmel legte sich. Vielleicht schickte König Verdan seinen einzigen Sohn wirklich aus politischen Gründen als Gesandten nach Winterfels. Vor langer, langer Zeit, als kleines Kind, das sich in den Schlaf weinte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass Milan die Reinkarnation von Roland dem Siegreichen war, dem Helden von Sommergrund. Dieser tapfere König hatte die Invasion einer übermächtigen Streitmacht zurückgeschlagen, mit seinem scharfen Verstand, seiner Wettergabe und einem legendären Schwert, von dem es hieß, es sei ein Geschenk des Sonnengottes selbst gewesen. Wenn irgendjemand das kalte, wilde Volk des Nordens zu den für Sommergrund vorteilhaftesten Zugeständnissen verleiten konnte, dann war das Milan.

»Wirst du mir wenigstens schreiben?«, fragte sie.

»Ich werde dir jede Woche einen Vogel schicken.« Er stupste sie auf die Nase und schenkte ihr ein schelmisches Grinsen. »Kopf hoch! Denk nur an all die Schwertkämpfe, die du gewinnen wirst, wenn du gegen unsichtbare Gegner kämpfst anstatt gegen mich.«

Cham verdrehte die Augen. Er unterrichtete sie seit Jahren im Schwertkampf, aber sie hatte ihn noch nie bei einem Kampf übertrumpfen können.

»Weißt du«, meinte sie, als sie sich zurück auf den Weg in den Palast machten, »vielleicht ist es ja gut so, dass du mehrere Monate in Winterfels verbringst.«

»Ach ja?«

»Ja. Du kannst die Zeit nutzen, um herauszufinden, was mit Rolands Schwert geschehen ist.«

Milan stolperte über einen unebenen Pflasterstein und griff haltsuchend nach dem Stamm eines nahen Baumes. »Ich bin mir sicher, dass ich zu beschäftigt sein werde, um irgendwelchen Märchen nachzujagen, Sturm.«

Überrascht runzelte sie die Stirn. »Aber du hast doch immer daran geglaubt, dass die Geschichten wahr sind.« Flammensturm, das legendäre Schwert von Roland Soldeus, war kurz nach dem Tod des heldenhaften Königs verschwunden. Die Legende besagte, dass der Winterkönig, der Vater von Rolands Braut, das Schwert heimlich hatte verschwinden lassen, aber dass der wahre Erbe Rolands es eines Tages zurückgewinnen würde. Seit zwei Jahrtausenden träumte jeder königliche Prinz Sommergrunds davon, die sagenumwobene Klinge zu finden und nach Hause zurückzuholen, wo sie hingehörte. Milan hatte Jahre damit verbracht, jeder Spur nachzujagen, fest entschlossen, dass er derjenige sein würde, der Flammensturm finden und Sommergrund zu seinem früheren Ruhm zurückführen würde.

»Was ist mit diesen Briefen?«, fügte sie hinzu. »Diese wirklich alten, die du versteckt in diesem Kloster gefunden hast? Du sagtest doch, sie wären der Beweis, dass die Geschichten wahr sind.«

»Das ist sechs Jahre her. Ich war siebzehn. Ich wollte, dass die Geschichten wahr sind.« Er umarmte sie kurz und gab ihr einen brüderlichen Kuss auf die Stirn. »Ich muss los. Ich treffe mich mit Vater und seinen Beratern, um unsere Liste mit Forderungen und Zugeständnissen noch ein letztes Mal durchzugehen, bevor ich aufbreche. In ein paar Monaten sehen wir uns wieder.«

»Ich werde dich jeden Tag vermissen.« Langsam folgte sie ihm und fühlte sich beraubt und verlassen, als Milan um die Ecke bog und aus ihrem Blickfeld verschwand. Doch diesmal empfand sie darüber hinaus auch Verwirrung. Sie kannte Milan nicht als jemanden, der etwas, für das er Leidenschaft empfand, einfach aufgab. Und er hatte mit Leidenschaft nach Rolands Schwert gesucht. Er war sich sicher gewesen, auf der richtigen Fährte zu sein – und sicher, dass er Rolands wahrer Erbe war. Er hatte seine Entdeckungen mit ihr geteilt, weil er wusste, dass sie genauso begierig darauf war wie er, das legendäre Schwert zu finden.

Warum also leugnete er es jetzt?

Gildenheim, Winterfels

»Sie ist nicht gut für dich.«

Wynter Atrialan, der König von Winterfels, warf seinem jüngeren Bruder einen Seitenblick zu. »Sag das nicht, Garrick. Ich weiß, dass du Elka noch nie leiden konntest, aber in sechs Monaten wird sie meine Braut und deine Königin sein.«

Garrick schüttelte sein langes, schneesilbernes Haar. Seine Augen waren so klar und blau wie die Gletscherhöhlen der eisbedeckten Skoerrberge von Winterfels und leuchteten mit einer ernsten Eindringlichkeit, die den Jungen weit älter als seine fünfzehn Jahre wirken ließ.

»Du liebst zu sehr, Wyn. Von dem Augenblick an, als du dich entschieden hast, sie zur Frau zu nehmen, bist du ihrer wahren Natur gegenüber blind geworden.«

Wynter seufzte. »Ich hätte meine Bedenken nicht mit dir teilen sollen.« Wyn war ein sehr verschlossener Mann, aber vor seinem Bruder hatte er keine Geheimnisse. Nach dem Tod ihrer Eltern vor zehn Jahren hatte Wyn seinen Bruder großgezogen, und in diesen Jahren hatte er nie versucht, die hässliche Welt der Politik zu beschönigen, nie versucht, seine Ängste oder Sorgen zu übertünchen – nicht einmal, wenn es sich um die sehr persönliche und dennoch politische Angelegenheit handelte, eine Königin zu wählen. Falls ihm etwas zustoßen sollte, würde Garrick König werden, und Wyn war es wichtig, dass sein Bruder auf eine solche Position gut vorbereitet wäre.

Leider brachten die Jahre der Offenheit und ungeschminkter, freier Rede unerwartete Begleiterscheinungen mit sich. Wegen seiner unbeirrbaren Ehrlichkeit Garrick gegenüber kannte niemand ihn besser als sein jüngerer Bruder. Nicht einmal Wyns lebenslanger Freund und stellvertretender Befehlshaber Valik. So tiefe Vertrautheit konnte ebenso ärgerlich wie tröstlich sein.

»Sie ist kalt«, beharrte Garrick. »Sie liebt dich nicht, wie sie sollte. Königin zu sein bedeutet ihr mehr, als deine Frau zu sein.«

»Elka ist eine Frau der Berge. Sie ist genauso zurückhaltend mit ihren Gefühlen wie ich.«

»Ist sie das? Warum lacht und lächelt sie dann so warm, sobald der Sommerländer in der Nähe ist?«

Mit einem warnenden Stirnrunzeln sah Wynter seinen Bruder an. »Vorsicht, Garrick. Elka Villani wird meine Gemahlin und Königin sein. Wenn du sie beleidigst, beleidigst du mich.«

»Das sollte keine Beleidigung sein. Ich habe nur eine Frage gestellt. Und nach meinen Beobachtungen war es eine völlig legitime.«

»Du deutest falsch, was du siehst. Elka weiß, dass es unerlässlich ist, dem Sommerprinz das Gefühl zu geben, hier willkommen zu sein, wenn wir zu einer friedlichen Einigung kommen wollen.« Die üppigen, fruchtbaren Felder von Sommergrund lieferten dringend benötigte Nahrung für das Volk von Winterfels während der harten, kalten Monate des nördlichen Winters. In Jahren, in denen ihre eigene Ernte schlecht war, konnte das Getreide, Gemüse und Obst, das Winterfels mit Fellen, Walfischtran und Walderzeugnissen bezahlte, für sein Volk den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Unglücklicherweise war das in letzter Zeit recht häufig der Fall, da die Sommer immer kürzer und die Nahrungsmittel aus Sommergrund immer wichtiger wurden, seit Wynter den Thron bestiegen hatte. Milan Coruscate, Sohn des Wettermagiers, der über Sommergrund herrschte, war vor drei Monaten Wynters Einladung gefolgt, um die Bedingungen eines neuen Vertrages auszuhandeln, der längere Sommer im Norden und einen erschwinglicheren Handel mit Nahrungsmitteln für den Winter garantieren sollte.

»Sie gibt ihm das Gefühl, bei mehr als nur dem Hof willkommen zu sein«, korrigierte Garrick. »Sie schäkert mit ihm.«

Wyn zog eine Braue hoch. »Und wenn sie es tut, was kann das schon schaden? Ein hübsches Gesicht und ein süßes Lächeln können einen Mann besser überzeugen als nackte Zahlen und trockene Verträge – ganz besonders so eingebildete Pfauen wie den Sommerprinz.« Er lächelte, als Garrick die Augen verdrehte. »Du erinnerst dich nicht mehr an unsere Mutter, aber sie hätte mit ihrem Charme einen Frostriesen ins Feuer locken können. Vater nannte sie immer seine Geheimwaffe. Elka nutzt nur ihre Gaben, um das Reich zu unterstützen, wie es jede gute Königin tun würde.«

Garrick schnaubte. »Was für ein Glück, dass sie sich der Aufgabe so beherzt annimmt. Ist ja gut, ist ja gut«, hob er kapitulierend die Hände, als der Blick seines Bruders schärfer wurde. Er schwieg einen Moment lang, während er mit Hammer und Meißel überflüssiges Eis von der gefrorenen Skulptur abtrug, an der er gerade arbeitete, dann fügte er hinzu: »Aber auch wenn du ihr vertraust, solltest du den Sommerländer besser im Auge behalten. Er führt etwas im Schilde.«

»Ausländische Würdenträger führen immer etwas im Schilde. So was nennt man Politik.«

»Er stellt zu viele Fragen über das Buch der Rätsel.«

Wyns Hand verharrte einen Augenblick lang bei der Arbeit an seiner eigenen Eisskulptur. »Tut er das?« Er versuchte, Gelassenheit vorzutäuschen, hätte sich die Mühe aber nicht zu machen brauchen. Dazu kannte Garrick ihn einfach zu gut.

»Das ist es, weshalb er wirklich hier ist. Um an das Buch zu kommen und Rolands Schwert zu finden.«

Rolands Schwert war eine sagenumwobene Waffe Sommergrunds von unvorstellbarer Macht. Es war vor dreitausend Jahren verschwunden, nicht lange nachdem der Sommerkönig, der es zum ersten Mal geschwungen hatte, sein Leben geopfert hatte, um sein Königreich vor einer Invasion zu retten. Viele Mythen und Legenden rankten sich um sein Verschwinden. Eine dieser Legenden ließ vermuten, dass der damalige Winterkönig aus Furcht, die Macht des Schwertes könnte von Rolands Nachfolgern missbraucht werden, die Waffe aus Sommergrund herausgeschmuggelt und an einem Ort versteckt hatte, an dem es nie gefunden werden würde. Auch hatte der Winterkönig ein Buch mit undurchsichtigen Hinweisen und Rätseln hinterlassen, die angeblich zum geheimen Versteck des Schwerts führten, falls seine eigenen Nachfolger eines Tages die gewaltige Macht der legendären Waffe benötigen sollten.

»Nun, dann wünsche ich ihm viel Glück dabei«, meinte Wynter. »Das Schwert ist ein Mythos. Es ist schon lange verschwunden, falls es überhaupt je existiert hat. Und welchen Schatz das Buch auch immer tatsächlich beschützen mag, den wird er ebenfalls nie finden, weil er das Buch nie finden wird. Es wird an einem Ort aufbewahrt, an den kein Mann gelangen kann.«

»Elka schon.«

Finster verzog Wyn das Gesicht. »Hör auf damit, Garrick. Sie ist meine Verlobte. Sie wird meine Königin sein. Sie würde mich nie hintergehen.«

Garrick seufzte schwer. »Na schön. Sie ist deiner Liebe treu und würdig. Ich werde nie wieder etwas anderes behaupten.«

»Gut.« Wyn kniff die Lippen zusammen und konzentrierte sich auf den kleinen Eisblock auf dem Podest vor ihm. So geduldig wie die Zeit selbst, schnitzte er überschüssiges Eis fort, bis er die verborgene Schönheit aus seinem Innern hervorgeholt hatte. Zerbrechlich schimmernd kam ein Bouquet Lilien zum Vorschein, geschwungene Blütenblätter von unglaublicher Zartheit; jede Blume erhob sich einzigartig und vollkommen auf schlanken Stängeln aus Eis. »Wie findest du es?«, fragte er seinen Bruder, als er fertig war.

»Wunderschön, Wyn. Eine deiner Besten bisher.«

Wyn lächelte. Wenn es um Eisskulpturen ging, knauserte Garrick mit seinen Komplimenten. Nur Vollkommenheit erntete höchstes Lob von ihm.

»Dann glaubst du also, sie werden ihr gefallen? Frostlilien sind ihre Lieblingsblumen.«

Abrupt trat Garrick einen Schritt von seiner eigenen Skulptur zurück – eine aufwendige Szene von einem Rudel Rehe, das sein jüngstes, staksiges Mitglied in der Familie willkommen hieß – und streifte sich den Staub aus Eiskristallen von den Pelzbesätzen. »Jede Frau, die dich aufrichtig liebt, wäre davon hingerissen, Wyn. Es ist offensichtlich, wie viel Sorgfalt du darauf verwendet hast.«

»Dann wird sie es lieben. Du wirst schon sehen.«

»Da bin ich mir sicher«, antwortete Garrick, aber in seinen Augen stand keine Überzeugung.

*

»Coruscate!« Wynters Brüllen ließ den gewaltigen Kristallleuchter erzittern, der in der Eingangshalle von Gildenheim hing. Er polterte die geschwungene Treppe empor, die zu dem Flügel des Palastes führte, in dem königliche Gäste beherbergt wurden, und stürmte in die Gemächer, die der Prinz von Sommergrund während der letzten paar Monate bewohnt hatte. Die Zimmer waren leer, und den offenen Schubläden und wahllos verstreuten Kleidern zufolge hatten ihre Bewohner den Ort in großer Hast verlassen.

»Er ist fort, Wyn.« Valik, Wynters ältester Freund und stellvertretender Befehlshaber, trat ins Zimmer. »Laci hat im Tempel nachgesehen. Das Buch ist ebenfalls verschwunden.«

Wynter stieß einen unterdrückten Fluch aus. Vor kaum zwei Wochen hatte Garrick ihn ermahnt, den Prinz von Sommergrund im Auge zu behalten, und Wyn hatte seine Bedenken mit solch blinder Zuversicht in den Wind geschlagen! »Wann sind sie fort?«

»Nicht lange nachdem wir nach Hileje aufbrachen. Elka und seine Wache sind mit ihm gegangen. Bron hat sich nichts dabei gedacht. Der Sommerländer plapperte ständig, dass er sich einen guten Jagdausflug nicht dadurch verderben lassen wollte, dass irgendwo zehn Meilen entfernt ein Brand ausgebrochen ist.«

»Dann heften wir uns besser auf ihre Fährte.«

»Da ist noch etwas, Wyn.« Valik zögerte, dann fügte er hinzu: »Ich glaube, Garrick hat die Verfolgung aufgenommen. Er und seine Freunde sind etwa eine Stunde nach dem Sommerländer losgeritten. Bron hörte sie davon reden, dass der Sommerländer etwas genommen hätte, das Garrick zurückholen wollte.«

Wyns Kiefer wurde hart wie Granit. Mit Valik dicht auf dem Fuße rannte er zurück in den Burghof.

Wynters Hengst wartete immer noch gesattelt in den Händen eines Stallburschen, und neben ihm hielten ein Dutzend Elitesoldaten von Wynters Weißer Garde mit ihren Schwertern Prinz Milans Kammerdiener in Schach. Der Diener hatte nichts mehr mit dem glatten, sorgfältig herausgeputzten Pfau gemeinsam, über den Wynters Höflinge untereinander gespottet hatten. Er hatte seine Livree aus Brokatsamt gegen grob gesponnene Wollsachen, eine Pelzweste und einen schweren Umhang eingetauscht. Seine Fingerknöchel waren aufgeschürft, und sein Gesicht wies einen geprellten Kiefer und ein zugeschwollenes Auge auf, das zunehmend blau anlief.

»Wir haben ihn im Dorf aufgegriffen, als er gerade versuchte, einen Händler zu bestechen, damit der ihn auf seinem Karren hinausschmuggelt, Euer Gnaden.«

»Wo ist er?« Wyn packte den Diener an seiner Weste und riss ihn so heftig hoch, dass die Füße des Mannes über dem Boden zappelten. Wynter war groß, selbst für einen Mann der Berge, und den Sommerländer auf Augenhöhe zu halten, bedeutete, dass die Zehenspitzen des Mannes fast zwei Fuß über den eisigen Steinplatten des Burghofes baumelten. »Wo ist dieser Coruscate-Bastard, dem du dienst?«

»Ich weiß es nicht!«, brach es in nackter Angst aus dem Mann heraus. »Das schwöre ich Euch, Euer Majestät! Ich wusste nicht einmal, dass er fortwollte, bis eine der Mägde mir seine Nachricht überbrachte. Und in der wies er mich nur an, Winterfels so schnell und unauffällig wie möglich zu verlassen.«

»Mit anderen Worten, der Feigling hat dich im Stich gelassen und seine eigene Haut gerettet.« Wyn stieß den Mann beiseite. »Sperrt ihn ein. Wenn wir seinen Herrn nicht finden, kann er an des Prinzen statt der Gnade der Berge gegenübertreten. Alle anderen, aufsitzen! Zeit für die Jagd.«

Minuten später galoppierten Wynter, Valik und zwei Dutzend Gardisten die gewundene Straße entlang, die von Gildenheim ins Dorf hinunterführte. Mit einem lang gezogenen Heulen rief Wynter die Wölfe herbei, die Geisttiere seines Familienclans. Die Wölfe waren im dichten Gehölz schneller, und sie spürten Fährten eher mit der Nase auf anstatt den Augen. Der Geruch des Sommerländers war diesem Teil der Welt fremd, deshalb sollte das Rudel keine Schwierigkeiten haben, seine Spur aufzunehmen.

Er war sich nicht sicher, ob der Prinz versuchen würde, nach Süden zu gelangen, in Richtung Sommergrund, oder nach Westen, zum Llaskroner Fjord. Der Fjord lag näher, und der Hafen dort war geschäftig, voller Fremder aus fernen Ländern. Für Diebe, die schnell außer Landes kommen wollten, war das das bessere Ziel. Als der Ruf der Wölfe aus Westen kam, wusste Wyn, dass er richtig vermutet hatte. Er flüsterte in den Wind und rief den alten Wintermann im Norden an, in sein eisiges Horn zu stoßen, dann beschwor er die Vestras, die frostigen Meereswinde des westlichen Ozeans, ihren durch Mark und Bein dringenden Nebel zu schicken.

Während seine Männer und er nach Westen ritten und dem Ruf der Wölfe folgten, begann die Temperatur zu fallen. Wenn der Sommerprinz mit seiner eigenen Wettergabe dagegen ankämpfte, würde das seine Position verraten. Wenn er es nicht tat, würde das rasch schlechter werdende Wetter seine Flucht behindern. So oder so würde Wynter ihn finden und dafür bezahlen lassen, was er den Leuten von Hileje angetan hatte.

Der Prinz hatte mehrere Stunden Vorsprung. Das war der Zweck des Brandes in Hileje gewesen – ein Ablenkungsmanöver, um Wynter und seine Männer aus dem Palast zu locken, damit Milan Coruscate stehlen konnte, weswegen er gekommen war, und sich dann aus dem Staub zu machen. Doch das Ablenkungsmanöver war weit mehr als nur ein einfacher Brand gewesen. Die Sommerländer hatten Dutzende Dorfbewohner vergewaltigt und ermordet, und den Rest in der Versammlungshalle eingesperrt und bei lebendigem Leib verbrannt.

Sechsundachtzig Leben, ausgelöscht in einem einzigen sinnlosen Akt der Gewalt. Sechsundachtzig unschuldige Winterländer, die sich darauf verlassen hatten, dass ihr König sie beschützte. Und er hatte versagt.

Plötzlich veränderte sich der Klang des Wolfsgeheuls und wurde lang gezogener, trauervoll. Das Rudel beklagte einen Verlust. Wynter sandte seine Gedanken aus und verband sich geistig mit dem Rudel, um durch die Augen der Wölfe zu sehen, während er nach der Ursache für diesen Ruf suchte. Er erhaschte einen Blick auf über den Schnee verspritztes Rot, auf Körper, die in Stoff, nicht in Fell gehüllt waren.

»Nein!« Er wusste augenblicklich, warum die Wölfe heulten, und um wen. »Nein! Garrick!« Er gab Hodri die Sporen und trieb ihn zu einem halsbrecherischen Galopp an. Der Wind pfiff an seinen Ohren vorbei. Schnee stob von Hodris Hufen auf.

Es dauerte nicht lange, die Lichtung zu erreichen, wo sich die Wölfe versammelt hatten. Der Hauch des Todes erfüllte die Luft – ein dunkler Geruch, den Wynter bereits kannte. Es war ein Geruch, den nur wenige Männer je vergaßen.

Er zügelte Hodri heftig und sprang aus dem Sattel, noch bevor das Pferd völlig stillstand. Die ersten beiden Leichen gehörten Jungen, die Wyn gut kannte. Garricks Freunde. Fünfzehn und sechzehn Jahre alt, fast noch Kinder. Die Herzen von Pfeilen durchbohrt. Sie waren innerhalb von Minuten, nachdem sie getroffen worden waren, gestorben.

Ein stöhnendes Röcheln ließ Wyn wieder auf die Füße springen. Halb laufend, halb stolpernd hastete er über den Schnee auf die Quelle des Geräusches zu, doch als er sie erreichte, war ihm, als bliebe ihm das Herz stehen. Er fiel auf die Knie.

Der röchelnde Junge war Garricks bester Freund Junnar. Er war von einer Kugel getroffen worden, und das dunkle, klumpige Blut, das aus der Wunde quoll, verriet Wynter, dass der Junge dem Tod geweiht war, auch wenn sein Körper sich immer noch schwach an die letzten Züge seines Lebens klammerte.

Junnar lag über der ausgestreckten, leblosen Gestalt von Wynters Bruder. Ein Pfeil – der Schaft bemalt in den Farben des Prinzen von Sommergrund – ragte aus Garricks Kehle.

»Garrick?« Nachdem er Junnar zur Seite geschoben und Schnee auf seine Wunde gepackt hatte, um den Schmerz zu betäuben, streckte Wyn die zitternden Hände nach seinem Bruder aus. Seine Finger strichen über das Gesicht des Jungen, und als er spürte, wie kalt sein Fleisch war, zuckte er zusammen. Garrick war seit Stunden tot. Vermutlich schon bevor Wyn Gildenheim verlassen und die Verfolgung aufgenommen hatte. Wie hatte Wyn das letzte Mitglied seiner Familie, das ihm auf dieser Welt noch geblieben war, verlieren können, ohne es sofort zu spüren, als es geschah?

Pferde näherten sich in Wynters Rücken. Dann war Valik da und legte ihm mitfühlend die Hand auf die Schulter.

»Es tut mir leid, mein Freund. Es tut mir so leid.«

Wyn nickte betäubt. Der Schmerz verzehrte ihn. Die Pein war so tief, so unbeschreiblich, dass es über jedes Empfinden hinausging. Sein ganzer Körper fühlte sich vor Kälte erstarrt an, wie die Statuen aus Eis, die er und Garrick zusammen geschnitzt hatten.

»Hilf Junnar.« Wie er überhaupt sprechen konnte, wusste er nicht. Seine Stimme kam als ersticktes, raues Krächzen hervor. »Mach es ihm so bequem, wie du kannst.«

»Natürlich.«

Er wartete, bis Valik Junnar hochgehoben und ein kleines Stück entfernt in den Schnee gebettet hatte, bevor er Garricks Körper in die Arme zog. Er hielt seinen Bruder lange Zeit, hielt ihn, bis Junnar seinen letzten Atemzug tat, und die Männer der Weißen Garde die Leichen für den Transport nach Gildenheim bereit machten. Ihre Jagd nach Prinz Milan von Sommergrund hatte in dem Augenblick geendet, in dem Wynter den Leichnam seines Bruders gefunden hatte. Aber jeder von ihnen wusste ohne den geringsten Zweifel, dass das hier noch lange nicht vorbei war.

Wynter nahm Garrick vor sich auf Hodris Rücken und wiegte ihn im Arm, wie so oft in den Jahren seit seine Eltern gestorben waren. Er hielt ihn, bis sie Gildenheim erreichten, und übergab ihn den weinenden Dienern, die Garrick und die anderen für die Feuerbestattung vorbereiten würden.

Die ganze Nacht lang hielt Wynter am Scheiterhaufen seines Bruders Wache. Er fand leise Worte des Mitgefühls für die Eltern der anderen gefallenen Jungen, vergoss aber selbst keine Tränen, obwohl seine Augen brannten. Als der folgende Abend dämmerte, stand er aufrecht und trockenen Auges neben den Scheiterhaufen, als die Flammen entzündet wurden, und blieb stehen, reglos und ohne zu sprechen, die ganze Nacht hindurch bis zum nächsten Morgen. Er blieb stehen, bis die Scheiterhaufen nur noch glimmende Kohlen waren. Und als es vorüber war und von seinem Bruder nichts mehr übrig war als Asche, schwang Wynter sich auf Hodri und nahm die lange, gewundene Straße zum Tempel der Wyrn empor, der in die Felswand des nächstgelegenen Berges gehauen war.

Galacia Frey, die Ehrfurcht gebietende und stattliche Hohepriesterin der Wyrn, erwartete ihn im Innern des Tempels. Sie war in der vorangegangenen Nacht gekommen, um seinen Bruder und die anderen zu segnen und die Scheiterhaufen zu entzünden, bevor sie wieder in den Tempel zurückkehrte, um auf seinen Besuch zu warten.

»Du weißt, weshalb ich gekommen bin.«

Ihr Blick war fest. »Das weiß ich. Aber Wyn, mein Freund, dir ist bewusst, dass ich dich bitten muss, es dir noch einmal zu überlegen. Du kennst den Preis.«

»Ich kenne und akzeptiere ihn.«

»Es gibt keine Garantie, dass die Göttin dich für würdig befinden wird«, warnte sie. »Viele Männer haben es versucht und ihr Leben gelassen.«

»Denkst du, das ängstigt mich? Wenn ich sterbe, dann werde ich mit meinem Bruder vereint sein. Wenn ich überlebe, dann werde ich die Macht haben, ihn zu rächen.«

Sie schloss kurz die Augen und neigte den Kopf. »Dann nimm den Pfad zur Linken des Altars, Wynter Atrialan, König von Winterfels. Lass deine Rüstung, deine Kleider und Waffen in der Truhe neben der Tür zurück. Du musst in diese Prüfung gehen, wie du in diese Welt gekommen bist. Und möge die Göttin deiner Seele gnädig sein.«

Kapitel 1

Die Kälte des Winters

Vera Sola, Sommergrund

Drei Jahre später

»Er ist da!«

Die Nachricht fegte wie ein eisiger Wind durch den königlichen Palast von Sommergrund. Lächeln gefror auf plötzlich ängstlichen Gesichtern. Das Lachen – so überschäumend allgegenwärtig, selbst nach den vergangenen drei Jahren bitteren Krieges und Elends – verstummte wie die letzten Töne eines sterbenden Liedes.

Hoch über dem Palast, inmitten der wuchernden Vegetation des lange vernachlässigten Himmelsgartens ihrer Mutter, focht Chamsin Coruscate unter den blühenden Zweigen eines Schneefeuerbaums gegen einen unsichtbaren Gegner, ohne sich der Angst bewusst zu sein, die sich in der Stadt unter ihr breitmachte. Durch die für die Jahreszeit ungewöhnliche Kälte der letzten Monate waren alle anderen Bäume im Garten winterlich kahl, nur das Schneefeuer blühte trotzig. Seine langen, schlanken Zweige bogen sich unter kühnen, leuchtend rosa Blüten, die die Luft mit einem berauschenden Aroma erfüllten, als wollten sie der eindringenden Kälte mit dem schweren, lebendigen Duft des Sommers die Stirn bieten.

Doch die zur Schau gestellte Tapferkeit des Schneefeuers konnte den Winter nicht ins Wanken bringen. Leichter Schneefall hatte eingesetzt, und Chamsins Nasenspitze färbte sich rosig. Sie schenkte dem keine Beachtung. Sie lieferte sich einen erbitterten Schwertkampf mit einem mächtigen und hinterhältigen Gegner: Ranulf dem Schwarzen, dem bösen König, dessen Versuch, Sommergrund zu erobern, in Chamsins Lieblingsbuch Roland der Siegreiche, Held von Sommergrund, verewigt war.

Während Chamsin angriff, parierte und die Klingen mit ihrem unsichtbaren Gegner kreuzte, bemerkte sie nicht einmal, dass ihre Amme Tildy näher kam, bis die ältere Frau direkt neben dem Schneefeuerbaum stehenblieb und sich räusperte.

»Er ist da, Liebchen«, sagte Tildy.

Chamsin sprang vor und jauchzte siegreich, als ihre Klinge einen tödlichen Treffer landete. Dann richtete sie sich auf, blinzelte kurz, um die Bilder historischer, heldenhafter Schlachten zu vertreiben, und sah ihre geliebte Amme an. »Hier? Jetzt schon?«

»Ist an den Steinkriegern vorbeigeritten, so arrogant wie nur was, vor nicht einmal fünfzehn Minuten. Dein Vater und der Hofstaat haben sich im oberen Burghof versammelt, um ihn zu begrüßen.«

Sofort waren Roland und seine Feinde vergessen. Chamsin schnappte sich ihren Umhang und die zerlesene Ausgabe von Roland dem Siegreichen, die sie zu ihrem Scheinkampf inspiriert hatte, und stürmte durch die langen, peitschenähnlichen Zweige des Schneefeuers, ohne auf das Geräusch von reißendem Stoff und das schmerzhafte Ziepen ihrer schwarzen Locken zu achten, als Haar und Kleidung sich in den Zweigen verfingen. »Warum bis du nicht früher gekommen, um mich zu holen? Inzwischen reitet er sicher schon die Burgstraße hinauf.«

»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, Liebchen, aber er ist eine Stunde zu früh, und diese alten Knochen hier sind auch nicht mehr so schnell wie sie mal waren. Ach herrje, schau dich nur an, wie du aussiehst.« Tildy schnalzte mit der Zunge und schüttelte tadelnd ihre ordentliche Haube aus strengen, silbergrauen Zöpfen. Mit gewohnter Geduld ließ Chamsin es über sich ergehen, dass ihre Amme wie eine Glucke zu ihr eilte und ihr schnell das Haar wieder feststeckte, um die markanten weißen Strähnen zu verbergen, die sich wie kleine Blitze durch ihr ansonsten unauffälliges schwarzes Sommerländerhaar zogen. »Ein halbes Dutzend Risse und Schlamm an deinem Saum. Dein Vater wird nicht erfreut sein, wenn er dich so zu Gesicht bekommt.«

Das war nichts Neues. Wann in all ihren zwanzig Lebensjahren war Chamsins Vater je erfreut über sie gewesen? Und dennoch … Sie konnte sich die hoffnungsvolle Frage nicht verkneifen: »Hat er … darum gebeten, dass ich mich der Familie anschließe?«

Der Gesichtsausdruck der alten Amme geriet einen Augenblick lang ins Wanken, und Mitleid schlich sich in ihren Blick. »Nein, Kind. Das hat er nicht.«

Chamsin holte tief Luft und begrub den Schmerz mit einem knappen Nicken. Nach all der Zeit war es töricht, sich durch die Zurückweisung verletzen zu lassen. Seit ihrem dritten Lebensjahr lebte sie kaum besser als eine Dienerin, unbeachtet und vergessen. Sie trug abgelegte Kleider und erhielt nur deshalb Unterricht, weil Tildy sich weigerte, den Verstand einer Prinzessin von Sommergrund ungebildet und unvorbereitet bleiben zu lassen. Nur wenige außerhalb der Palastmauern erinnerten sich daran, dass es jemals eine vierte Prinzessin des Sommerthrons gegeben hatte. Noch weniger wussten, wie sie aussah, oder dass sie überhaupt noch lebte. Nichtsdestotrotz bestand Tildy bei jeder Staatsangelegenheit darauf, ihren Schützling wie die königliche Prinzessin von Sommergrund zu kleiden, die sie war, und dann warteten sie gemeinsam, schweigend und mit schwindender Hoffnung, auf den Ruf, der nie erfolgte.

»Ist schon gut, Tildy.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich gehe einfach zum Turm und sehe von dort aus zu. Die Steinmauern verstärken die Stimmen im Burghof, deshalb werde ich alles hören können. Und von dort habe ich eine viel bessere Aussicht, da bin ich mir sicher.«

»Liebchen …«

Chamsin wollte die tröstlichen Worte und Entschuldigungen nicht hören, die leeren Versprechungen, dass ihr Vater eines Tages erkennen würde, was für ein Schatz sie war. Sie drückte ihrer Amme das Buch in die Hände, raffte den schlammbespritzten Saum ihres roten Samtrocks und lief davon.

Die harten Sohlen ihrer Lederstiefel trommelten über den kalten Stein, und der schwarze Umhang flatterte hinter ihr her, als sie durch das offene Gartentor und die Stufen zum Turm emporrannte. Der Garten ihrer Mutter lag hoch auf dem Gipfel eines kleinen, von Menschenhand geschaffenen Berges, den die altehrwürdigen Steinmauern des Sommergrundpalastes und der Stadt umringten wie Girlanden einen Maibaum. Nur der alte Turm selbst – der inzwischen bröckelnde Sitz der Könige – erhob sich noch höher als der geliebte Himmelsgarten ihrer Mutter. Der Turm blickte hinaus über den oberen Burghof des Palastes und die langen, gewundenen Wege, die sich hinunter zu den Haupttoren der Stadt und ins Tal schlängelten.

Mit der flinken Vertrautheit der Jahre, die sie damit verbracht hatte, in den vielen vergessenen Winkeln des Palastes frei umherzustromern, huschte Chamsin durch die dunklen Korridore. Nach dem Tod ihrer Mutter waren die oberen Räume des Palastes verschlossen, verwahrlost und unbewohnt dem Zahn der Zeit überlassen worden. Nur ein neugieriges Kind, eine Prinzessin ebenso verwahrlost wie dieser einst bezaubernde Bereich des Palastes, hatte es je gewagt, den Zorn des Königs herauszufordern und sich heimlich hineinzuwagen. Es war der einzige Ort, an dem Chamsin sich je zu Hause gefühlt hatte.

Ihr Umhang verfing sich an einem hervorstehenden Nagel, und der jähe Ruck erwürgte sie beinahe. Chamsin zerrte an den Spangen, die den Umhang an ihren Hals zusammenhielten, konnte einen der Knebelknöpfe lösen und zerriss dabei die zarte Spitze an ihrem Ausschnitt. Der Umhang fiel in einer Pfütze aus Moiréseide und schwarzem Samt zu Boden. Der schlichte Goldreif, den Tildy diesen Morgen so liebevoll auf Chamsins Locken platziert hatte, war bei ihrem kurzen Kampf mit dem Umhang verrutscht und hing ihr schief über einer Braue. Mit einem wütenden Schluchzen riss sie sich den Reif vom Kopf und schleuderte ihn auf den Haufen aus Samt und Seide.

Erneut löste sich ihr Haar und fiel ihr in ungebändigten Locken um die Schultern, die weißen Strähnen, die ihrem Vater stets ein solcher Dorn im Auge waren, deutlich sichtbar. Es war ihr egal. Sollte er sie doch sehen und wütend werden. Wenigstens wäre er dann gezwungen, irgendetwas zu fühlen. Selbst Wut war besser als all die Jahre der Vernachlässigung.

Cham ließ ihre Krone und den Umhang, wo sie waren, und rannte weiter. Wenige Augenblicke später durchquerte sie den geräumigen, von Spinnweben und Staub überzogenen Raum, der einst die Kemenate der Königin gewesen war.

Er war voller Möbel, in Leinentücher gehüllt wie stumme Ruinen. An den Wänden hingen mottenzerfressene Vorhänge und Wandteppiche in traurigen Fetzen. Nach dem Tod seiner Gemahlin hatte König Verdan angeordnet, dass die Kemenate verschlossen und Königin Rosalinds Habseligkeiten mit Laken verhüllt und ihrem Schicksal überlassen wurden.

Auf der anderen Seite des Raumes wand sich eine schmale Treppe an der Turmwand empor zu einem kleinen Treppenabsatz und einem Torbogen. Cham nahm drei Stufen auf einmal und stürmte in den kleinen, geschützten Erker, der auf den Burghof und die Stadt darunter hinausblickte.

Sie brachte ihren heftigen Atem unter Kontrolle und wischte die nutzlosen Tränen fort, die sie trotz allem immer noch manchmal weinte. Sie brauchte die Liebe ihres Vaters nicht. Sie brauchte nicht einmal die Anerkennung ihres Geburtsstandes. Sie hatte Tildy und ihre Schwestern, die sie ihm zum Trotz liebten. Und sie hatte auch die Liebe ihres Bruders besessen, bis er mit der Braut des Winterkönigs durchgebrannt war. Und natürlich hatte sie die Schätze ihrer Mutter, um sie daran zu erinnern, dass zumindest Königin Rosalind ihr letztgeborenes Kind geliebt hatte, auch wenn ihr Gemahl es nicht tat.

Das Klappern von Hufen im Burghof unter ihr ließ Chamsin zusammenzucken. Sie blickte hinunter und erstarrte. Alle Gedanken an ihren Vater und seine lange Vernachlässigung verflogen augenblicklich. An ihre Stelle trat überwältigte Ehrfurcht.

Das war ein Anblick, wie ihn kein Sommerländer je zuvor erlebt hatte.

Strahlend weiß und bleich wie eine siegreiche Armee schneeverhüllter Geister ritten die Soldaten des Winters stolz in den oberen Burghof des königlichen Palastes von Sommergrund. Und an der Spitze der Armee, die soeben das Tor passierte, ritt der Weiße König selbst, Wynter Atrialan, König von Winterfels.

Er saß auf einem schneeweißen Hengst, so kalt und gnadenlos wie die Axt eines Henkers unmittelbar vor dem Hieb. Seine Rüstung schimmerte von Kopf bis Fuß in spiegelblank poliertem Silber. Hinter ihm breitete sich ein langer eisblauer, mit Hermelin verbrämter Umhang aus, der bis über die Kruppe seines Pferdes und hinunter zu den gespornten Fersen reichte. An der Spitze seines Helmes wehte ein hoher Kamm aus weißem Rosshaar in der kühlen Brise, und die eisenbeschlagenen Hufe seines Hengstes hallten laut auf den ausgetretenen Pflastersteinen des Burghofes.

Das Pferd blieb stehen. Der Winterkönig schwang ein langes Bein über sein Reittier und glitt mühelos zu Boden. Bei der Sommersonne! Er war riesig – ein regelrechter Hüne. Größer als jeder Sommerländer, mit den breitesten Schultern, die sie je gesehen hatte. Über sieben Fuß mächtige Muskeln und pure Einschüchterung. Das hatte sie nicht erwartet. Unter seinem silbernen Helm verbarg ein Visier in Gestalt eines zähnefletschenden Wolfskopfs sein Gesicht.

Er hob die behandschuhten Hände, um das Visier zu lösen, nahm den Helm vom Kopf und klemmte ihn sich unter den Arm. Die Finger seines freien Schwertarms ruhten in der Nähe des Heftes seines inzwischen berüchtigten Schwertes Gunterfys – Riesentöter. Eine Klinge, deren Name nach den letzten drei Jahren besser Ertafys – Sommertöter – lauten sollte.

Selbst von ihrem erhöhten Aussichtspunkt aus konnte sie das Gesicht des Winterkönigs erkennen. Ein quadratischer Kiefer, die Wangenknochen hoch und wohlgeformt, die Haut von einem überraschend goldenen Ton, der Farbe von gebräunter Butter. Sie hatte stets geglaubt, das Volk von Winterfels wäre schneebleich, doch das waren sie nicht. Zumindest er war es nicht. Was die Fülle langen, leuchtend weißen Haars und die auffallend hellen Augen noch lebhafter strahlen ließ.

Er war gut aussehend. Mehr als gut aussehend.

Das hatte sie ebenfalls nicht erwartet. Chamsin sog den Atem ein und musste husten, als die kalte Luft ihre Kehle austrocknete.

Silberblaue Augen, so klar und kalt wie Gletschereis, sahen hoch, fanden sie in einem einzigen schnellen, scharfen Augenblick und nagelten sie an Ort und Stelle fest. Jeder Gedanke wich aus ihrem Kopf. Sie konnte nicht mehr atmen, nicht denken. Sie konnte ihn nur völlig gefangen und wie zu Eis erstarrt ansehen, während der furchterregende Blick des Winterkönigs sie festhielt.

Wie lange sie so dastand, völlig bewegungslos, konnte sie nicht sagen. Jeder Augenblick dauerte ein Leben lang. Zuerst versengte Eis, dann Feuer ihre Wangen. Dann wieder Eis, als der Winterkönig endlich den Blick abwandte und sie freigab.

Sie taumelte zurück in den Schatten und bedeckte mit bebenden Händen ihr Gesicht. Ihr Herz hämmerte heftig in der Brust, jeder Schlag ein angestrengtes Pochen. Das Blut in ihren Adern fühlte sich langsam und träge, ihr Verstand benommen an, und ein deutliches Frösteln durchzog ihr Fleisch.

Sie zitterte heftig, als sie den Fuß der Treppe erreicht hatte.

»Liebchen!«, rief Tildy in besorgten Tönen aus. Die alte Amme humpelte durchs Zimmer, um Chamsin in die warmen, samtigen Falten ihres zurückgelassenen Umhangs zu hüllen. »Was hast du dir nur dabei gedacht, Kind, dort oben im Wind herumzustehen, mit nichts als einem dünnen Kleid am Leib? Deine Haut ist kalt wie Eis.«

»T-tut mir leid, Tildy«, entschuldigte sich Chamsin durch taube Glieder und klappernde Zähne hindurch. Mit einem einzigen langen Blick hatte der Winterkönig sie beinahe erfrieren lassen. Die einzige warme Stelle an ihrem ganzen Körper war das kleine Geburtsmal in Form einer Rose an der Innenseite ihres Handgelenks – der Beweis für ihr königliches Erbe von Sommergrund.

*

Wynter ließ einen kalten, scharfen und wachsamen Blick über den Burghof schweifen, dem nichts entging. Das Geräusch hoch über ihm vor wenigen Minuten hatte ihn nervös gemacht. Sofort hatte er dem möglichen Attentäter einen Eisblick entgegengeschleudert, nur um stattdessen eine Dienerin mit wilden, dunklen Haaren zu entdecken, die das abgelegte Gewand einer Edeldame trug und die Vorgänge im Burghof aus großen grauen Augen beobachtete.

Er hatte sofort gewusst, dass sie keine Attentäterin war. Sie hatte etwas … Unschuldiges … an sich. Etwas Faszinierendes, mit diesem wilden Durcheinander schwarzer, von Weiß durchzogener Locken, wie gefrorene Wasserfälle auf schwarzem Fels. Nun, egal. Er war nicht hier, um sich mit Dienerinnen zu vergnügen – nicht einmal, wenn sie so faszinierend und hübsch waren. Ohnehin würde sie freiwillig keine hundert Schritte mehr in seine Nähe kommen. Hätte er seinen Blick noch einen Moment länger auf sie gerichtet, so wäre sie an Ort und Stelle erfroren.

Wynter richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die königliche Familie von Sommergrund, die sich wie von ihm befohlen auf den Stufen des Palastes versammelt hatte. König Verdan, in vollem Ornat und das dunkle Gesicht wie immer voll falschem Stolz, stand in vorderster Reihe. Auch nach dreißig Jahren Herrschaft und Jahrzehnten der Ausschweifungen war der Sommerkönig noch in guter körperlicher Verfassung und konnte sich einer lebendigen, männlichen Schönheit rühmen. Er war groß und muskulös, mit dunklen, scharfen Augen, kräftigem Teint und einer inneren sommerlichen Wärme, die so anders war als das kühlere, blassere Volk des Nordens.

Sein Sohn Milan, der Prinz, den man den Falken nannte, war genauso gewesen.

War es diese fremdartige Wärme gewesen, die Elka dazu verlockt hatte, all ihre Schwüre zu brechen?

Hinter Verdan, so dicht beieinanderstehend, wie sie konnten, ohne zusammengedrängt zu wirken, warteten seine drei reizenden Töchter. Sie waren – und das zu Recht, wie Wynter nun erkannte – ebenso berühmt für ihre exotische Schönheit wie für ihre Sommergrundgaben. Wie ihre richtigen Namen lauteten, wusste er nicht, und es war ihm auch gleichgültig. Sie waren leicht genug durch ihre Gabennamen auseinanderzuhalten: Frühling, die älteste; eine hochgewachsene, kühle Schönheit mit strahlend grünen Augen und tintenschwarzem Haar so glatt und gerade wie Schneeschmelzwasser, das von einer Klippe stürzt. Sommer, die mittlere Tochter, deren dick gewelltes, blauschwarzes Haar und sommerblaue Augen eine Wärme versprachen, an der es in Winterfels seit Langem mangelte. Und die jüngste, Herbst, ein stolzes, erlesenes Geschöpf von atemberaubender Schönheit, gesegnet mit lebendigen Locken in einem außergewöhnlichen, tiefen Kastanienbraun, das ihre veilchenblauen Augen perfekt unterstrich. Dies war der größte Schatz von Sommergrund: die drei Jahreszeiten, die geliebten Töchter des Sommerkönigs.

Wynters Mundwinkel kräuselte sich zu einem leichten Lächeln. Dieser Sieg würde nicht ohne Vergnügen sein.

»König Verdan.« Er richtete den Blick auf seinen früheren Verbündeten, mit dessen Unterwerfung er die letzten drei Jahre verbracht hatte. »Wie ich es geschworen habe, als wir uns zuletzt auf dem Schlachtfeld gegenüberstanden, bin ich gekommen, um meine Friedensbedingungen zu verkünden und einzufordern, was mir zusteht.«

Der Herrscher von Sommergrund nickte steif. »Ich bin bereit, Eure Forderungen zu hören und zu erfüllen.«

»Seid Ihr das? Gut.« Wynter deutete auf die weiß gekleidete Armee hinter sich. »Als Erstes werdet Ihr meinen Männern Quartier geben. Euer Haushofmeister wird meinen stellvertretenden Befehlshaber Lord Arngildr auf einem Rundgang durch die Stadt und die Verteidigungsanlagen des Palastes begleiten. Lord Arngildr wird meine Männer überall in der Stadt postieren … zur Abschreckung möglicher rebellischer Handlungen, auf die Eure treuen Anhänger verfallen könnten«, fügte er mit einem kalten, wissenden Lächeln hinzu.

Verdan lief rot an, wandte den Blick jedoch nicht ab.

»Mich werdet Ihr ebenfalls einquartieren«, fuhr Wynter fort. »Fürstlich. Mit einem heißen Bad und einem warmen Mahl, um mich nach meiner Reise zu erquicken. Und eine Eurer geliebten Töchter …« Sein Blick glitt über die drei Prinzessinnen und blieb an der stolzen Schönheit mit den leuchtend violetten Augen hängen. »Herbst, denke ich …, wird mir beim Mahl Gesellschaft leisten.« Wieder lächelte er ohne jeden Hauch von Wärme. »Um zu vermeiden, dass die Speisen womöglich … zu stark gewürzt werden.«

»Sehr wohl«, stieß Verdan knapp hervor, ohne sich provozieren zu lassen. »Wir haben bereits Gemächer für Euch vorbereitet. Luxuriös in jeder Hinsicht. Ihr werdet nicht enttäuscht sein.«

»Ach ja? Soweit ich weiß, gehörten die Gemächer, die Ihr für mich vorbereitet habt, einst Eurem Sohn, Prinz Milan.« Er genoss den Schock auf Verdans Gesicht und das schnelle, panische Aufflackern in seinen Augen. Sollte er sich nur fragen, woher der Winterkönig diese Information hatte. »Habt Ihr wirklich geglaubt, ich würde im Schlafgemach des Diebes ruhen, der meine Braut gestohlen und meinen Erben ermordet hat?« Schon die bloße Erwähnung dieses schrecklichen Tages brachte die Erinnerung daran in lebhaften Farben zurück. Weiß. Die Farbe frisch gefallenen Schnees. Tannengrün. Die Farbe der Wälder von Winterfels und von Garricks lederner Jagdkleidung. Rot. Die Farbe von Garricks Blut. So viel Blut. Blau. Die Farbe des Himmels, von Garricks blicklosen Augen und dem Pfeil des Prinzen von Sommergrund, der aus Garricks Kehle ragte.

Wynters Kiefer verhärtete sich. Das inzwischen vertraute Brennen der Macht kribbelte in seinen Augen. Wenn er entfesselte, was in ihm wohnte, könnte er innerhalb von Minuten alles Leben in dieser Stadt auslöschen.

»Ich … aber …« Verdan kniff die Lippen zusammen und fand seine Fassung wieder. Er verbeugte sich. »Dann werden wir natürlich andere Vorbereitungen treffen.«

Wynter verdrängte alle Anzeichen von Verärgerung aus seinem Gesicht. »Soweit ich weiß, sind die oberen Stockwerke Eures Turms unbewohnt.« Mit einem Nicken wies er auf das steinerne Gebäude hinter dem Sommerkönig. Das Dienstmädchen war aus dem kleinen Erker über ihnen verschwunden. »Ich nehme diese.«

»Der Turm steht seit Jahren leer. Er ist ein wenig baufällig geworden. Sicherlich …«

»Betrachtet es als eine Prüfung Eurer Bereitschaft, mich zufriedenzustellen. Eure Diener haben sechs Stunden, um sich darum zu kümmern. Saubere, gut ausgestattete Zimmer, ein heißes Bad und eine warme Mahlzeit«, wiederholte er. »Und Eure Tochter, Prinzessin Herbst, mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht, um mit mir zu speisen. Während Ihr Euch darum kümmert, werde ich mit Valik und Eurem Haushofmeister einen Rundgang durch die Stadt unternehmen.«

»Aber … der Krieg … Eure Friedensbedingungen?«

»Sobald ich ausgeruht und erfrischt bin, werden wir über die Einzelheiten der Kapitulation Sommergrunds zwischen uns verhandeln.« Als niemand sich regte, zog er spöttisch eine Braue hoch. »Sechs Stunden sind für die Perfektion, die ich fordere, reichlich knapp bemessen. Glaubt mir, König Verdan, es wäre weise von Euch, dafür zu sorgen, dass ich mit Eurer Gastfreundschaft zufrieden bin. Ich bin ein weitaus unversöhnlicherer Mann, als ich einst war. Ihr und Eurer Sohn habt mich gelehrt, wie töricht es ist, sanft mit Sommerländern umzugehen.«

*

»Er bekommt die Gemächer meiner Mutter?« Bestürzt starrte Chamsin Tildy an. »Wie konnte Vater das erlauben?«

Die Amme nahm einen Stapel frischer, zusammengelegter Bettlaken und Handtücher aus einer nach Rosmarin duftenden Wäschekammer. »Er konnte doch wohl kaum Nein sagen, oder, Liebchen?«, antwortete Tildy pragmatisch. »Besiegte Könige mögen ihre Köpfe behalten, aber schwerlich ihren Stolz oder ihre Autorität. In Sommergrund gibt es jetzt einen neuen König, Kind, und sein Name ist Wynter von Winterfels. Daran sollten wir uns alle besser gewöhnen.«

»Aber … die Gemächer meiner Mutter … der Himmelsgarten …«

»Gehören ihm, um darüber zu verfügen, wie es ihm beliebt.« Tildy deutete mit dem Kopf zur offenen Tür. »Schließ die Tür, Liebchen, damit der Duft nicht verfliegt.«

»Das werde ich nicht akzeptieren.« Sie schloss die Tür. »Auf keinen Fall. Die Räume meiner Mutter sind tabu … privat. So war das schon mein ganzes Leben lang.«

»So lautete das Gesetz deines Vaters. Das hier ist der Wille des Weißen Königs. Jetzt tun wir, was er befiehlt.«

»Warum? Weil er eine schlotternde Armee unterworfen hat? Pah! Zum Teufel mit der Politik und den Regeln des Krieges! Wir sollten uns den Forderungen dieses Thronräubers nicht beugen wie eine Schar verängstigter Mäuse!« Diese Invasion der Räume ihrer Mutter war etwas Persönliches. Es war eine Schändung des stillen, heiligen Andenkens an die holde Königin von Sommergrund, die lange vor ihrer Zeit gestorben war.

Tildy hielt inne, den Rücken steif wie ein Stock. Sie drehte sich um und bedachte Chamsin mit einem ärgerlichen Blick, eine stumme Ermahnung, wer hier wen von Kindesbeinen an aufgezogen hatte. »Politik? Denkst du, darum geht es hier?«, fragte die ältere Frau mit spöttischer Stimme. »Zügle dein Temperament und benutz den Verstand, den Gott dir geschenkt hat! Hier geht es nicht um Politik. Hier geht es ums Überleben. Das deines Vaters und das deine obendrein. Verärgere den Winterkönig, und keiner von uns sieht einen weiteren Frühling.«

»Welche Freude kann ein Sklave schon am Frühling finden?«, versetzte Chamsin bitter. »Besser wie Roland einen Heldentod sterben, als zehn Leben unter der Knute eines Eroberers zu kauern!«

»Still!« Tildy legte den Stapel Leinen auf einem nahen Tisch ab und durchmaß das Zimmer, um Chamsin fest an den Schultern zu packen und zu schütteln. »Das ist kindische Dummheit, die da aus dir spricht. Ich habe dich doch Besseres gelehrt. Roland starb als Held, aye, aber sein Familienzweig starb mit ihm. Du bist eine Erbin des Sommerthrons. Solange du und deine Familie am Leben seid – und sei es auch nur ein Einziger von Euch – so lange gibt es noch Hoffnung für uns alle. Würdest du dich in den Tod stürzen, ohne einen Gedanken an die, die dich lieben? Ohne einen Gedanken an die, deren Wohl du vor dein eigenes stellen solltest? Habe ich so gänzlich versagt, dass ich eine blinde, eitle Närrin großgezogen habe anstelle einer Prinzessin, die bereit ist, die Krone zu tragen?«

Beschämt und verletzt ob des scharfen Tadels senkte Chamsin den Blick. »Nein«, murmelte sie verdrießlich. »Du hast nicht versagt, Tildy.« Sie entwand sich dem harten Griff ihrer Amme und verschränkte die samtbekleideten Arme vor der Brust. »Na schön.« Sie war nicht imstande, die Niederlage mit Würde zu tragen, andererseits hatte sie das noch nie gekonnt – nicht einmal, wenn es sich um eine so unbedeutende Niederlage wie ein verlorenes Schachspiel handelte. »Ich werde mich nicht in den Weg stellen.« Ihre Augen sprühten Funken. »Aber dabei helfen werde ich auch nicht.«

Die Amme seufzte und schüttelte ihr vor langer Zeit silbern gewordenes Haupt. »Das wäre zu viel verlangt, Liebchen. Ich wäre schon froh, wenn du mir versprichst, keinen Wirbelsturm in seinem Badezuber heraufzubeschwören – besonders nicht, wenn er gerade drinsitzt.«

Cham trat gegen ein Tischbein und zerkratzte dabei die Spitze ihres Lederpantoffels. Tildy kannte sie einfach zu gut. »Keinen Wirbelsturm. Das verspreche ich.« Mit jähem Trotz schnellte ihr Blick empor. »Aber bevor er ihre Räume in Beschlag nimmt, hole ich mir, was mir von den Sachen meiner Mutter am teuersten ist.« Bisher hatte sie nicht gewagt, etwas aus den Gemächern zu nehmen, damit ihr Vater nicht entdeckte, dass sie den Turm gegen seinen Willen betreten hatte.

»Das solltest du auch.« Tildy war schon Königin Rosalinds Amme gewesen. Sie war mit ihrem Schützling vor achtundzwanzig Jahren aus dem friedlichen, an der Küste gelegenen Königreich Seehafen nach Sommergrund gekommen und geblieben, um Rosalinds Kinder ebenso großzuziehen, wie sie Rosalind großgezogen hatte.

Tildy widmete sich wieder dem Leinen, hielt dann aber inne und wandte sich noch einmal um, um Chamsin in eine enge, liebevolle Umarmung zu ziehen. »Kämpf nicht so hart gegen Dinge, die du nicht ändern kannst, Kind. Du schindest dich sonst zu Tode. Lerne, das zu ändern, was du ändern kannst, und das hinzunehmen, was du nicht ändern kannst. Sei die Palme, die sich im Wind biegt, um dem Sturm zu widerstehen.«

Chamsin stand schweigend, als Tildy zur Tür hinausging.

Sie war keine biegsame Palme. Stattdessen war sie wie das Schneefeuer im Garten ihrer Mutter, das, sobald die Temperaturen sanken und Schneefall einsetzte, in leuchtende, trotzige Blütenpracht ausbrach und den Winter herausforderte, sein Bestes zu geben.

Finster verzog sie das Gesicht und ballte die langen, schlanken Finger zu Fäusten. Sie hatte versprochen, die Übernahme der Gemächer ihrer Mutter nicht zu behindern, und sie hatte versprochen, keine Wirbelstürme im Bad des Weißen Königs heraufzubeschwören. Aber wenn der Eroberer ihrer Familie oder ihrem Heim etwas zuleide tat, dann würde sie es ihn bitter bereuen lassen. Ihre Augen wurden schmal, und sie spürte das vertraute elektrische Kribbeln von Energie, das sie bis hinunter in ihre Fußsohlen durchzuckte.

Draußen kam Wind auf.

*

Wynter runzelte die Stirn. Der Sturm war wie aus dem Nichts aufgezogen, schnell und heftig. Über ihm wurde der Himmel dunkel wie Schiefer. Heftige Windböen heulten durch verschlungene gepflasterte Gassen und zwischen steinernen Gebäuden hindurch und ließen dicke Fensterscheiben in ihren Rahmen erzittern. Entlang des Königswegs, der gepflasterten Straße, die sich den Palasthügel emporschraubte, peitschten Lebenseichen und Zitrusbäume ihre dürren, winterkahlen Zweige gegen die alten Steinmauern. Ohne Vorwarnung öffneten die dunklen Wolken ihre Schleusen. Regen prasselte herab, zuerst als schmerzhafte, stechende Tropfen, dann in heftigen Strömen. Der Haushofmeister von Sommergrund, der ihn begleitete, brachte sich mit einem Satz unter einem nahe gelegenen überdachten Bogengang in Sicherheit.

Wynter hob das Gesicht und blinzelte zum sturmdunklen Himmel empor. Kalter Regen strömte ihm über die Wangen, durchnässte sein Haar und tränkte den gepolsterten Waffenrock, den er unter der Rüstung trug. Neben ihm stand Valik, sein stets treuer Freund und stellvertretender Befehlshaber, wachsam und reglos, ebenso unempfindlich gegen den Sturzregen.

»Da ist ein Wettermagier am Werk«, sagte Wynter. »Und zwar ein mächtiger.«

»Aye.« Valik legte eine behandschuhte Hand an den Griff seines Schwertes. »Böse Absichten?« Wie gewöhnlich, wenn sie sich in der Gesellschaft von Fremden befanden, beschränkte sich die Sprache des Kommandanten auf so wenig Worte wie möglich.

»Nur eine Warnung, denke ich.« Die dunklen Wolken über ihnen waren zu tödlichem Hagel, Blitzen und sogar Wirbelstürmen fähig, doch Wynter konnte nichts davon am aufgewühlten Himmel spüren.

»Coruscate?«

»Das bezweifle ich. Würde König Verdan über diese Art von Macht verfügen, dann hätten wir schon längst auf dem Schlachtfeld etwas davon zu sehen bekommen. In meiner Gegenwart war er nie zu mehr als einer kurzlebigen Hitzewelle in der Lage.«

»Prinzessin?« Wettergaben beschränkten sich auf die Königshäuser, und starke Wettergaben kamen nur selten außerhalb des direkten königlichen Familienzweigs vor.

»Möglich.« Wynter lächelte beinahe bei dem Gedanken. »Das würde die Sache natürlich interessant machen, nicht wahr?«

Valik warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu.

Wynter antwortete mit einem grimmigen Lächeln und stieß ein dunkles Lachen aus, das eher wie das warnende Knurren eines Wolfes klang. So schnell, wie er gekommen war, verschwand der kurze, schneidende Anflug von Humor, und Wynter richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Sturm. Wohl wissend, was gleich kommen würde, traten Valik und die übrigen Winterfels-Männer zurück, um ihrem König Platz zu machen.

»Nun, Prinzessin«, murmelte Wynter. »Dann wollen wir mal sehen, was Ihr zu bieten habt.«

Er öffnete die Quelle seiner Magie und zog die Macht in seinen Körper. Sein Blickfeld trübte sich weiß und begann zu wirbeln, als wehe ein Schneesturm in den Tiefen seiner Augen. Macht drängte ihn bis an die Grenzen seiner Beherrschung, wollte losgelassen werden. Er kniff die Augen zu, um die Magie im Zaum zu halten.

Die Luft um ihn herum begann sich zu drehen, zuerst langsam, dann immer schneller, und den fallenden Regen aufzufangen, sodass ihn kein einziger Tropfen berührte. Hinter seinen geschlossenen Lidern konnte er sehen, wie der Wirbel anfing, Funken und Blitze zu sprühen. Ein Knistern erfüllte seine Ohren – Regen, der mitten in der Luft gefror und in spröde, zerbrechliche Eiskristalle explodierte, die zu Boden fielen.

Er breitete die Arme aus, die behandschuhten Handflächen nach oben. Der Wirbel wurde größer, schneller, bis es ein heulender Wind war, der die lärmende Wut des Sturms übertönte. Er hielt den Wirbel mehrere Sekunden lang und verlieh ihm Kraft. Nicht annähernd genug, um seine volle, tödliche Stärke zu erlangen, aber genug, um zu zeigen, wozu er fähig war. Genug, um den Wettermagier aufschreien zu lassen. Er riss die Arme über den Kopf, warf den Kopf in den Nacken und öffnete die Augen.

Konzentrierte Macht, umgeben von wirbelndem Wind und Eis, schoss in einer Säule gleißenden Lichts in den Himmel und bohrte sich ins Herz des Sturmes über ihnen. Blitze explodierten quer über den Himmel hinweg und ließen verängstigte Beobachter hektisch Schutz suchen. Regen gefror berstend mitten in der Luft und fiel in einem Hagel aus Eiskristallen auf die Stadt nieder.

Er spürte den atemlosen Schock des Wettermagiers, nahm im Wind den Geschmack von eindeutig weiblicher Macht und Wut wahr. Und zu seiner Freude eine Spur von Angst. Gut. Die frühreife Prinzessin war vermutlich noch nie jemandem begegnet, der ihr gewachsen war. Bis jetzt.

Sie würde lernen, wie ihr Vater es gelernt hatte, dass der Winterkönig kein verwöhnter Schwächling ohne Rückgrat war, dem man unbedacht drohen konnte. So wie ihr Bruder es noch lernen würde, falls der Feigling es je wagte, dem Mann gegenüberzutreten, dem er unrecht getan hatte. Sie würde lernen, dass das wilde, ungestüme Sommergewitter der harten, unbarmherzigen Herrschaft des Winters nicht gewachsen war.

Die erste Lektion war erteilt worden – und angekommen. Er spürte, wie die Sommerlandhexe sich aus dem Himmel zurückzog. Der Wind verstummte. Unterstützt von Wynters Magie löste sich der wütende Sturm so schnell auf, wie er gekommen war, und die aufgetürmten schwarzen Gewitterwolken verschmolzen zu dichten Schwaden winterlichen Graus. In der darauffolgenden Stille fiel Schnee in großen, weichen Flocken und bedeckte die Erde.