Deutschland, eine Winterreise - Willi Winkler - E-Book

Deutschland, eine Winterreise E-Book

Willi Winkler

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Beschreibung

Achthundert Kilometer sind es zu Fuß vom atheistischen Hamburg ins erzkatholische Altötting. Willi Winkler hat sich im Winter 2013/14 auf diese Wallfahrt begeben – die ihn durch ein erstaunlich unbekanntes Deutschland führte. Für Wochen war er aus der Welt. Keine Finanzkrise, kein Kanzler-Machtwort, keine Fußballergebnisse, nichts. Dafür erfährt Winkler, dass Deutschland weiter geteilt ist: Im Norden kennt niemand das Altöttinger Gnadenbild, und von der Walhalla an der Donau aus gesehen liegt Hamburg irgendwo hinter den sieben Bergen Norwegens. Winkler bezwingt die Lüneburger Heide und die Grenze zur ehemaligen DDR, besucht den Halberstädter Dom und Luthers Sterbehaus in Eisleben, stapft im Fichtelgebirge durch tiefen Schnee. Er trifft Niedersachsen, richtige Sachsen, Thüringer und Bayern, Totengräber, Jäger, FC-Nürnberg-Fans, Waldarbeiter und Stammtischhocker. Die meisten erklären ihn für verrückt: von Hamburg nach Altötting? Zu Fuß? Im Winter? Aber Deutschland im Winter ist auch fast menschenleer, und unvermutet taucht hinter Einkaufscentern wieder eine Landschaft auf. In der Morgensonne warten selbst die Windparks auf einen neuen Caspar David Friedrich, und neben der ICE-Trasse fließt die Saale fast noch so, wie Goethe sie sah. Eine abenteuerliche Pilgerreise, nach der man unser Land ganz neu erlebt.

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Seitenzahl: 212

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Willi Winkler

Deutschland, eine Winterreise

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Über dieses Buch

Achthundert Kilometer sind es zu Fuß vom atheistischen Hamburg ins erzkatholische Altötting. Willi Winkler hat sich im Winter 2013/14 auf diese Wallfahrt begeben – die ihn durch ein erstaunlich unbekanntes Deutschland führte. Für Wochen war er aus der Welt. Keine Finanzkrise, kein Kanzler-Machtwort, keine Fußballergebnisse, nichts. Dafür erfährt Winkler, dass Deutschland weiter geteilt ist: Im Norden kennt niemand das Altöttinger Gnadenbild, und von der Walhalla an der Donau aus gesehen liegt Hamburg irgendwo hinter den sieben Bergen Norwegens. Winkler bezwingt die Lüneburger Heide und die Grenze zur ehemaligen DDR, besucht den Halberstädter Dom und Luthers Sterbehaus in Eisleben, stapft im Fichtelgebirge durch tiefen Schnee. Er trifft Niedersachsen, richtige Sachsen, Thüringer und Bayern, Totengräber, Jäger, FC-Nürnberg-Fans, Waldarbeiter und Stammtischhocker. Die meisten erklären ihn für verrückt: Von Hamburg nach Altötting? Zu Fuß? Im Winter?

Über Willi Winkler

Inhaltsübersicht

ReiserouteNie ging einem ...Am besten, ich ...1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. KapitelFür Xaver und ...

Nie ging einem die Ferne so nah.

César Vallejo

Am besten, ich fange mit dem Schluss an. Ermüdungsbruch lautet die Diagnose, der dunkle Fleck bei der CT ist eindeutig: der zweite Mittelfußknochen rechts gebrochen. Der Orthopäde trägt eine Operationsmaske, sieht aber trotzdem aus wie Peer Steinbrück und kann es nicht glauben: «Achthundert Kilometer? Von Hamburg nach Bayern?» So was hat er ja noch nie gehört. «Alles zu Fuß?» Verschärftes Kopfschütteln, aber dann fallen ihm doch noch «die jungen Männer» ein, die damals (er sagt wirklich «damals») von der Krim zurückmarschiert sind. «Die hatten nur Knobelbecher!» und natürlich keinen Kernspin, um Verletzungen unter der Haut zu diagnostizieren. Der Bruch scheint den Arzt zu freuen. «Das wird ganz von allein heilen», sagt er und sagt nicht: So viel Strafe muss sein.

Am Anfang stand ein Gelübde, leichtsinnig abgelegt vor fast zwanzig Jahren. Wenn, so der fromme Wunsch, wenn die FDP doch endlich aus dem Bundestag fliegen würde, dann würde ich zum Dank eine Fußwallfahrt zur Schwarzen Madonna von Altötting unternehmen. Das ist guter Brauch in Bayern, eine mehrstündige Anwanderung, vielleicht auch über mehrere Tage, den größten Teil der Strecke allerdings im Bus absolviert und immer zusammen mit weiteren Pilgern, die restlichen Kilometer dann tatsächlich zu Fuß, um nach vielen Rosenkränzen und Muttergottesanrufungen, den letzten leichten Berg hinauf, endlich den großen Platz in Altötting zu erreichen, die Gnadenkapelle vor Augen, in der die Herzen der bayerischen Könige, in schöne Silberkapseln gefasst, vor dem wundertätigen Bild der Madonna aufgehängt sind. Die Kapelle ist rundum mit Votivbildern behängt, auf denen in naiver Malerei dargestellt ist, wie sich Menschen aus der ganzen Welt in Not, Elend und Gefahr der Maria von Altötting anempfahlen und Rettung und Heilung erlebten. Kreuze erinnern an die vielen Gebete, Krücken, Schienen, Kugeln an die erlittene Unbill, von der einen das Gelübde befreite.

Deshalb war es natürlich ein bisschen frivol, das Altöttinger Gnadenbild mit einem doch recht irdischen Wunsch zu behelligen. Andererseits die FDP: War sie nicht für jeden rechtdenkenden Menschen eine schlimme Plage, ein hartnäckiges Übel, von dem einen nur großer persönlicher Einsatz, ein richtiges Opfer würde erlösen können?

Fromm war der Wunsch dennoch, weil es einfach zu unwahrscheinlich schien, dass er je in Erfüllung gehen sollte. Die FDP gehört seit Gründung der Bundesrepublik zu deren Grundausstattung, sagen die Unterstützer der FDP. Bei der Wahl am 22. September 2013 kam die Grundausstattung aber nur mehr auf 4,8 Prozent. Meine Freude am Wahlabend war riesengroß, fast schon unbeschreiblich, das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie wiederhergestellt.

Wahltag ist Zahltag, das Gelübde, das einst vor Zeugen abgelegt wurde, durfte nicht missachtet werden. Doch gleich befiel mich der Kleinmut, schlich sich Unreines in meine Gedanken: Muss das wirklich sein? Wirklich von Hamburg aus? Gilt es nicht auch bei besserem Wetter? Oder mit dem Fahrrad? Wochen und Monate wurde die Einlösung des Gelübdes hinausgeschoben, Wochen und Monate gingen statt meiner ins Land, es wurde Herbst, es wurde kälter, schließlich kam der Winter.

Noch mehr Bedenken. Vor zwölf Jahren wollte ich Werner Herzog nachwandern, der sich von München nach Paris aufmachte, nachdem er gehört hatte, die Filmkritikerin Lotte Eisner, der er und der junge deutsche Film so viel verdankten, sei lebensgefährlich erkrankt. Wenn er zu Fuß zu ihr reise, so fasst Herzog seine Wette mit dem Schicksal in dem Buch «Vom Gehen im Eis» zusammen, könne Lotte Eisner gar nicht anders, als am Leben zu bleiben. 2002 bin ich wie Herzog in München-Pasing in grob westlicher Richtung losgegangen, völlig unvorbereitet allerdings, nach einem längeren Flug irgendwie verbogen, mit lumpigen Schuhen, und hatte noch nicht einmal den Rhein erreicht, als ich wegen beidseitiger Sprunggelenksentzündung aufgeben musste. (Ein wenig über diese Kränkung hinweggeholfen hat mir, als ich vor kurzem las, dass Lotte Eisner, die damals tatsächlich ihre Erkrankung überlebte, Freunden amüsiert erzählte, der große Wandersmann sei seinerzeit mit dem Zug in Paris angekommen.)

Altötting, sagt der Routenplaner, liegt sechshundertachtundachtzig Kilometer von Hamburg entfernt. Der Routenplaner hat immer recht, aber er denkt natürlich nicht an unbewaffnete Wallfahrer, sondern führt einen mit Vorliebe an Bundesstraßen entlang, wo die Pendler-Autos sich von dem einsamen Fußgänger bedrängt fühlen. Der Wanderer hat auf der Straße nichts verloren. Der Wanderer soll sich auf den Jakobsweg verdrücken oder vielleicht auf irgendwelchen Saumpfaden in den Bergen versuchen, ein besserer Mensch zu werden. In Deutschland ist er seltsam oder noch schlimmer: ein Verkehrshindernis.

Knapp siebenhundert Kilometer, das sind bei dreißig Kilometern am Tag dreieinhalb Wochen, Ruhetage, Schneestürme und Malaria nicht gerechnet. Vier Wochen also, das sollte möglich sein. Welche Strecke? Abkürzungen sind naturgemäß nicht möglich. Der Routenplaner schlägt die B 4 vor, Lüneburg bis Braunschweig fast schnurgerade von Norden nach Süden, aber dann? «Aber abseits, wer ist’s? / In’s Gebüsch verliert sich sein Pfad, / Hinter ihm schlagen / Die Sträuche zusammen. / Das Gras steht wieder auf / Die Öde verschlingt ihn.» Mein lieber Mann, der Goethe traute sich was! Aber eine Harzreise im Winter? Was, wenn es die Straßen richtig zuschneit? Lieber nicht. Lieber im Norden daran vorbei, dann die Saale aufwärts durch den Thüringer Wald, und das ist dann erst die Hälfte. Der Rest wird sich schon finden.

Die Wallfahrt – Altötting als Ziel, der Triumph über die FDP – soll genügend Zugkraft entwickeln, dass ich nicht wieder abschlappe auf halber Strecke. Die Ausrüstung ist entscheidend, sagen die Profis, das Wichtigste ist die Ausrüstung. Die Profis trekken um den Annapurna in Nepal, durchqueren die Anden oder wenigstens die Rocky Mountains, sind braungebrannt wie Luis Trenker und arbeiten, wenn sie nicht gerade mit Bären oder Kolibakterien ringen, im Outdoor-Laden und erklären dem Neophyten mit professionell gebremstem Mitleid, worauf es ankommt.

Genau genommen kommt es auf alles an: Skiunterwäsche, Teleskopstöcke, Strümpfe, Thermo-Anorak, Fleecejacke, Handschuhe für zwanzig Grad minus, Frostschutzcreme, Ohrenschützer und vor allem Schuhe, gut eingelaufene Schuhe. Das Einlaufen ist ein schöner Vorwand, die Abreise weitere zwei Wochen hinauszuzögern. Ein Kompass muss her, ohne Kompass geht es nicht. Sonst keine große Planung; das Wetter, die Tagesform, das Schicksal oder die Laune entscheiden über Strecke und jeweilige Länge einer Etappe. Die Herbergen, in denen die Pilger einst aufgenommen wurden, zu siebt in einem Bett schliefen, mit der Wirtstochter noch schnell ein hundertprozentig katholisches Kind zeugten und am Morgen in ihrem Blute lagen, weil sie dem Räuber den Schnappsack nicht freiwillig überlassen wollten, diese traditionsreichen Herbergen wird es nicht mehr geben, aber dafür doch ausreichend Pensionen am Wegesrand.

1

Lüneburg bietet sich als erstes Etappenziel an. Fünfundzwanzig Kilometer nach einem späten Aufbruch, das ist zu schaffen, und bestimmt wird man da irgendwo übernachten können. Der gesetzlich vorgeschriebene tränenreiche Abschied von der Familie. Werde ich Frau und Kinder je wiedersehen? Werden sie mich noch erkennen, wenn ich wiederkehre, verwandelt, wie ich es ohne Zweifel sein werde, ein anderer womöglich? Für die Wallfahrt erspare ich mir allerdings Hamburg und lasse mich an den östlichsten Rand der Freien und Hansestadt bringen, zum Zollenspieker, wo früher im Namen Hamburgs begrüßt und kassiert wurde und sich heute bei gutem Wetter die Motorradfahrer zusammenrotten.

Der erste der siebenhundert Kilometer ist der einfachste: Die Fähre bringt einen über die Elbe. Der Wind drückt von der Nordsee her, feiner Regen sprüht mir ins Gesicht. Es ist das für Norddeutschland bestimmte Wetter, also keine Klagen. Die konzentrierten Männer auf der Fähre mit ihren harten Gesichtern, die Möwen, die tiefhängenden Wolken: alles bester «Tatort»-Existenzialismus. Schlimm ist die Welt, lautet die Botschaft, aber wir werden auch das überstehen, so wie wir bisher alles überstanden haben. Eine bessere Einstimmung kann ich mir gar nicht wünschen. Am anderen Ufer sofort von Stöckte weg zum Deich, an den Zuflüssen der Elbe, die Luhe entlang. Kein Mensch draußen, kein Hund, vereinzelt immerhin ein paar unerschrockene Wasservögel. Sogar die rüstigen Rentner sind zu Hause geblieben. Unter Planen immer wieder Motorboote, auch viele Autos. Der Norden hat Humor: In einem Vorgarten Wildschweine aus Plastik, in einem anderen sind die Ziersteine in den Farben des HSV gestrichen, weiß und blau, wie die riesige Fahne darüber. Wird auch nicht mehr helfen: Der HSV ist die FDP der Bundesliga.

Das Dörfer- und Straßenvermeiden endet bald, der Weg nach Lüneburg mündet in die B 4. Es sind noch zehn oder elf Kilometer bis zum Zentrum, das in der beginnenden Dezemberdunkelheit eher ferner zu rücken scheint. Von jetzt an regieren die Lastwagen, und es folgt die endlose und endlos öde Batterie von Automarkt, Tankstelle, Supermarkt, Gartencenter, McDonald’s und noch einem Automarkt. Diese sparsame Möblierung wird sich baugleich vor jeder Stadt wiederholen, ein riesiges Gewerbegebiet, geplant ausschließlich für die autofahrende Kundschaft. Fußgänger sind hier nicht vorgesehen, schon weil sie sähen, wie rücksichtslos hässlich diese Niemandsbucht angelegt ist.

Keiner ist so verrückt, im Feierabendverkehr an der Ausfallstraße langzugehen, aber es ist der schnellste Weg nach Süden, auch der einzige. Erschöpft, ausgekühlt und bereits unterzuckert in einen Supermarkt, irgend-irgendwas essen, damit es weitergehen kann. Es ist wie eine Rückkehr in die Hochzivilisation. Unterwegs war niemand zu grüßen, niemand nach dem Weg zu fragen, es gab überhaupt niemanden, allenfalls die stumme und zunehmend erbitterte Zwiesprache mit den herandrängenden Autos. Und jetzt mit einem Mal wieder künstliches Licht, Wärme, andere Menschen, überhaupt Menschen. Das vertraute Geschiebe an der Kasse zum Feierabend: die alleinstehende Akademikerin, die sich noch schnell mit einer Pizza und der Flasche Wein für den Abend eindeckt; das quengelnde Kind vorn im Einkaufswagen, das die erpressten Gummibärchen selber über den Scanner ziehen will; die Teenager, die sich gegenseitig mit dem Handy fotografieren und sich dann die Bilder zeigen.

Die Innenstadt von Lüneburg ist die Ankunft in der Vorweihnachtshölle. Nach der grauen Elbniederung und den grauen Lastern plötzlich der rauschgoldengelblonde Lärm des norddeutschen Christkindlmarkts. Es war nur ein halber Tag allein draußen, aber schon machen mir die Mitmenschen Mühe durch ihr bloßes Da- und In-zu-großer-Nähe-Sein. Nicht viel anders müsste sich jemand fühlen, der von Außerirdischen in deren Raumschiff geführt wird. In den Rathausarkaden gospelt ein braver Chor, Nikoläuse bimmeln, Kinder quäken, Mütter schniefen; gebrannte Mandeln und nachgemachte russische Pelzmützen vervollkommnen die Disney-Schneekugel.

Inzwischen regnet es heftig, zum Glück finde ich bald ein Hotel. Im Restaurant esse und trinke ich wie ein mit knapper Not geretteter Schiffbrüchiger, wahrscheinlich in der Ahnung, dass es lange Zeit nichts Vernünftiges mehr geben wird. Ein flüchtiger Bekannter kommt auf mich zu, unterm Arm antizyklisch den Klavierauszug für die Johannes-Passion. Der Mann ist Lehrer, er war bei der Chorprobe und wird in der Karwoche Bach aufführen. Ohne Vorwarnung folgt ein raum- und zeitloses Gespräch über alles zwischen der Kritischen Theorie und dem Antijudaismus bei Johann Sebastian Bach. Wie soll man da wieder hinaus in dieses ekelhafte Wetter?

Aber noch bin ich ja geborgen, in einer Stadt mit Supermarkt, Sportgeschäft und Apotheke. Lüneburg wird ein zweites Mal Aufbruch bedeuten, und dann endgültig. Ich rüste mich in diesem letzten Vorposten der Zivilisation: eine Stirnlampe für die nächste allzu frühe Dämmerung; Leuchtstreifen für Brust, Schultern und Beine, damit die Autos sehen, wen sie totfahren; als Wegzehrung: 1 Apfel, 1 Banane, 1 Tafel Schokolade; für den Notfall: Traubenzucker. Alles andere wäre zu viel Gewicht. Es wird ernst. Es ist, denke ich mir hochgemut, als ginge es von St. Louis nach Westen, wo die roten Kerle wohnen und der Weiße Mann den Elementen zu trotzen hat. Auf dem Postamt lasse ich die eben langgeschraubten Teleskopstöcke stehen und muss noch mal zurück. Irgendwas will nicht.

Die Lüneburger ahnen nichts von dem großen Projekt und gehen ungerührt ihrer Arbeit nach, was immer die sein soll: Weihnachtsmarkt besuchen, Lebkuchen backen, Lärm machen. Ein paar müssen auch an die Uni, an der schon Heinrich Heine verzweifelte. Ein halber Alien, der im roten Anorak an ihnen vorbeistakst, fällt da nicht auf; ist ja bald Weihnachten.

2

Am nächsten Morgen an der Bushaltestelle Schüler mit glasigem Blick, die Zigarette noch schnell angeraucht, ehe sich die Tür öffnet. Ein Glück, dass sie den lächerlichen Auftritt eines Mannes nicht sehen, der vor lauter Zivilisationsfluchttrieb die Stöcke so regelmäßig auf den Boden haut, als ginge es über den zugefrorenen Bodensee.

Erste Schwierigkeit: Wie finde ich aus der Stadt heraus? Das Navi weist den Weg, aber ob es der richtige ist, lässt sich in der Innenstadt gar nicht sagen. Wo ist Norden, wo Süden? Als müsste sich jemand mit aller Gewalt über mich lustig machen, taucht an der endlich gefundenen Ausfallstraße ein Hinweisschild mit der Flurbezeichnung «Pilgerpfad-Süd» auf. Und so beginnt unwiderruflich die Hölle der Bundesstraße, zunächst senkrecht von Norden nach Süden durch die Bäume gefräst, voller Laster, die die Maut auf der Autobahn vermeiden wollen, ihr Krach noch jedes Mal verstärkt, wenn es durch den Wald geht.

Dennoch bin ich froh, dass jetzt die Richtung stimmt und es nur noch vorwärtsgehen soll. Karl Philipp Moritz hat die Aufbruchslust 1786 im Ur-Buch aller weltlichen Wallfahrer beschrieben, im «Anton Reiser»: «Und einst, da sie an einem warmen aber trüben Morgen vors Thor hinausgingen, sagte Iffland, dieß wäre gutes Wetter, davon zu gehen – und das Wetter schien auch so reisemäßig, der Himmel so dicht auf der Erde liegend, die Gegenstände umher so dunkel, gleichsam als sollte die Aufmerksamkeit nur auf die Straße, die man wandern wollte, hingeheftet werden.»

So reisemäßig das Wetter: Das Winterwetter kann oder müsste sogar eine existenzielle Bedrohung sein, es hat bloß keine Lust dazu. Es ist nicht warm, wozu ist es schließlich Winter, aber auch nicht kalt, jedenfalls nicht kälter, als der Körper verkraftet, solange er in Bewegung ist. Der Rucksack wiegt keine zehn Kilo, er wärmt den Rücken, und die Stöcke geben den Takt vor. Der Wind weht manchmal heftiger, gut, aber das ist der Norden: flach, menschenfeindlich, dann wieder flach.

Ein Graffitteur hat netterweise an eine Scheune die Mahnung «Never walk alone» gepinselt, doch ergeht dieser Imperativ zu spät. Pilgern kann zwar eine rosenkranzleiernde Massenveranstaltung sein, doch dazu bräuchte es Gleichgesinnte, ähnlich Leidensbereite, die die absurde Freude an einer komplett sinnlosen Wanderung durch Niesel, Graupel und Lkw-Abgase empfinden können. Niemand würde auf die Idee kommen, mich auf dieser so wenig romantischen Strecke zu begleiten. Bis Melbeck die grausame Ausfallstraße, vier, fünf Kilometer wahrscheinlich bloß, aber sie scheint nicht aufzuhören. Dann plötzlich und unerwartet eine Nebenstrecke und: die Heide, also krumme Straßen, Bauernhöfe, geizige Namensvergabe (Eitzen I und Eitzen II). Rechts, im Westen, eine Formation elliptisch angeordneter Wolken, der Himmel blassgolden, ein Ensemble, wie gemalt für die barocke Entrückung eines Heiligen. Siebenhundert Kilometer noch!

Oder sechshundertachtzig, und das heißt vor allem: weiter, immer weiter. Vom frühen Nachmittag an die Abwägung: Wie weit schaffe ich es, und gibt es da ein Zimmer? Im Winter dämmert es spätestens um halb fünf, nach sieben Stunden auf der Straße muss eine Unterkunft her. In der Lüneburger Heide haben zu dieser Jahreszeit selbst die Pensionen in den Ausflugsorten geschlossen. Das Kloster Ebstorf muss irgendwo in der Ortsmitte liegen, da, wo es besonders dunkel ist. Hier fand man 1830 eine theologische Weltkarte aus dem Hochmittelalter, auf der alle Wege nach Jerusalem führen. Es gibt darauf auch eine Option fürs Paradies. Dafür ist es aber jetzt zu spät.

Auf der Anschlagtafel ist nichts mehr zu erkennen. Mit sacht anschwellender Panik herumfragen bei den wenigen Menschen, die sich mit eingezogenen Schultern überhaupt noch auf die Straße trauen. Schließlich vermietet der türkische Wirt einer griechischen Pizzeria ein ausgekühltes deutsches Fremdenzimmer. Draußen ist Korso der Landjugend, aber die Fenster bleiben eh zu. Im Kissen und in der Zudecke solide Schaumstofffüllung; dafür ist es ein Doppelbett, wenn auch auf der anderen Hälfte Kissen und Decke vorsorglich entfernt wurden.

In der Gaststube unten tagt eine Gruppe schwererziehbarer Jugendlicher mit ihren übellaunigen Aufsehern. Eine dicke Frau sagt zur anderen mit kategorialer Wucht: «Morgen ziehe ich den gestreiften Pulli an.» Der Alleinreisende ist fremd hier und erhält daher das Privileg des indiskreten Lauschens. Er wird nicht wiederkommen, deshalb entsteht auch kein nennenswerter Schaden, wenn man sich vor ihm produziert. Zum Beispiel als Paar. Übers Wochenende sind sie aus Hannover herausgefahren, um auf dem Land endlich das Zwischenmenschliche durchzusprechen. Sie hält seine Hand, er schweigt. Sie erläutert ihm, dass «deine Mimik was ganz anderes ausdrückt, als was du sagst». Er sagt aber doch gar nichts. Die Mimik ist die Mimik und schweigt mit. Die Frau spricht und lässt seine Hand nicht los, bis das Essen kommt. Sie essen schweigend. Nach dem Essen gehen sie schweigend vor die Tür und rauchen schweigend je eine Zigarette. Davor, dabei oder danach haben sie sich offenbar schweigend verständigt und fahren wieder zurück nach Hannover. Von der CD kommt alle zwanzig Minuten der Foxtrott «Weck mich, wenn es Sommer ist».

Von der Anstrengung des finsteren Geradeauslaufens kann ich lange nicht einschlafen. Die Kirchturmuhr zählt jede Viertelstunde bis drei Uhr vor. Schwachsinnige Rechnerei: zwei mal fünfundzwanzig Kilometer sind fünfzig, fünfzig Kilometer sind ein Vierzehntel der Gesamtstrecke, die damit erst nach achtundzwanzig Tagen bewältigt wäre.

3

Im Winter sind die Niedersachsen noch tiefer in sich gekehrt, als sie es im Sommer schon sind. Sie fragen einen also auch nicht nach dem Woher und Wohin und Warumgeradejetzt. Wer will andererseits schon wissen, wie dumm die dummen Schafe hinter dem Zaun schauen, wenn plötzlich ein Wanderer vorbeikommt? Oder wie die auf dem Waldboden gehäuften Buchenblätter in der untergehenden Sonne in einem letzten feuerroten Rausch erstrahlen? Oder warum so viele Bananenschalen am Weg liegen?

Was soll der Geher überhaupt anfangen mit seinem unbeschäftigten Hirn? Gedichte aufsagen oder wahlweise chinesische Vokabeln memorieren? Vor zweihundert Jahren hat Jean Paul in seiner «Selberlebensbeschreibung» das Ich entdeckt; noch im Alter konnte er die Geburt seines Selbstbewusstseins genau angeben: «An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht ‹ich bin ein Ich› wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig.» Schön für ihn, aber der Geher wird beim Gehen allenfalls seiner völligen Bedeutungslosigkeit inne. Mitten in Mitteleuropa ist er wie weggesaugt aus der Welt. Nichts, rein gar nichts, kann er mit seinem Kopf anfangen, denn selbst das Hirn wird fürs Fortkommen gebraucht. Die Stille, von der der Jakobspilger vielleicht träumt, die endlich erlangte Gelegenheit zur Meditation, sie findet sich nicht, dafür ist man viel zu sehr mit seinem Körper beschäftigt. Der Geher, der Pilger, der Wanderer kennt unterwegs zwar keinen Menschen mehr als sich selber, aber er wird trotz der schmerzenden Knöchel, die ihn ständig auf seinen beanspruchten Körper zurückverweisen, zu einem Teil des Wegs, er verschwindet in der Landschaft. Sein Schritt ist irrelevant, sein Tempo, gemessen an der Gesamtstrecke, bedeutungslos. In einer Luftaufnahme ginge er endgültig unter. Deutschland ist riesengroß.

Und deutungsbedürftig. In Dreilingen an der Kreuzung hat jemand sein Haus mit Signalzeichen, Andreaskreuz, Baken, Uhr, rotweißer Schranke und Stationsschild als Bahnhof verkleidet. Auf dem Garagendach steht ein Trabbi. Beim Fußball kann er sich nicht entscheiden und hat an der Wand die Fahne sowohl des HSV wie die von Hertha BSC angebracht. Kilometerlang geht der Pilger an einem Schießplatz der Bundeswehr vorbei. Ein Schild warnt vor «Knallgeräuschen», es gibt aber keine. Ein Panzer brummt hinter den Schutzbäumen, sonst herrscht Winterruhe oder könnte herrschen, wären nicht die Laster, die auch hier liefern müssen. Es hilft nur gehen, gehen, gehen wie ein Soldat.

Nach dem Wald von Dreilingen kommt ein sonderöder Ort zum Vorschein, ein endloses Straßendorf. Unterlüß wurde um 1848 als Eisenbahnersiedlung errichtet, wurde dann Truppenübungsplatz und Waffenfabrik, hat aber diese betriebsamen Tage lange hinter sich. Die Geschäfte stehen leer, die Gemeinde vergibt günstig Grundstücke an junge Familien, die sich offenbar lieber anderswo ansiedeln. Ein Hotel heißt zu Recht «Unikat», die Eisdiele «Delicia», was sich aber nicht überprüfen lässt; auch sie steht leer. Nach langem Telefonieren findet sich ein Zimmer in ebenjenem «Unikat», beziehbar aber erst um fünf.

Es regnet, es ist kalt, also Aufwärmen an der Kaffee- und Kuchentheke im Netto am Bahnhof. Hier trifft sich die ältere Generation: ein Mann im Rollstuhl, zwei Frauen. Es geht um die letzten Dinge. Der Mann: «Kommt er jetzt in den Ofen oder auf normale Weise unter die Erde?» Gemeint ist der frisch verstorbene Ehemann einer der beiden Frauen. Wenn sie vom Krankenhaus, vom Krebs, vom Sterben berichtet, muss sie manchmal schlucken, sie hält aber ganz gut mit, wenn der wortführende Mann über Sterben und Tod und die Beerdigungskosten flachst. Was kommt günstiger – Seebestattung oder doch Verbrennen? Die Torte ist noch nicht aufgegessen, da weiß der Rollstuhlfahrer die Antwort: zur Uni Hannover. Überlässt man den Studenten die Leiche, kostet es gar nichts. «Die schmeißen dann weg, was sie nicht mehr brauchen.»

Und weil das Leben doch weitergeht, geht es ungesäumt weiter mit der brennenden Frage, wie wichtig Sex im Alter für den Gemütshaushalt ist. Die Frage bleibt, anders als die der preisgünstigsten Beerdigung, ungeklärt, wird aber in veränderter Form drei Stunden später behandelt. Weil Freitag ist, trifft sich der halbe Ort in der Kneipe. Ein Elternpaar hat sich mit dem Trainer des Sportvereins verabredet, um sich darüber zu beklagen, dass die Tochter von den anderen Schülern gemobbt wird. Der betagte Dorfstenz schwärmt die rothaarige Bedienung an: «Du könntest meine Freundin sein, weil du das hier so toll machst.» Sie ist aber nicht auf den Mund gefallen, sondern fragt ihn gleich, was denn seine Frau an diesem Abend mache. Ungleich wichtiger ist ein anderes Problem: das Vordringen des Wolfs in die Südheide. In der «Celleschen Zeitung» steht, dass der böse Wolf nebenan in Hermannsburg zwei unschuldige Schafe gerissen hat. In der Zeitung steht auch, dass die FDP aus ihrem Umfragetief nicht herauskommt. So geh ich doch nicht allein, die FDP bleibt mir treu.

4

Im Nachbarort Eschede hat sich 1998 das furchtbare Eisenbahnunglück ereignet; 101 Menschen starben, als der ICE 884 gegen die überführende Brücke donnerte. Ein Denkmal erinnert daran. Eine Zeitlang hat der ICE aus Respekt vor den Toten bei der Durchfahrt gebremst, aber das ist länger her. Die Druckwelle der gut zweihundert Stundenkilometer bricht sich an den Kiefern am parallel laufenden Weg. Der Tag hat im Regen begonnen, was endgültig ausschließt, dass sich sonst noch jemand draußen aufhält. Irritierend nur das selbsterzeugte Dauergeräusch der Plastiküberhose. Die Öde oder doch die Heide verschlingt mich.

Jeder Mensch sollte wenigstens einmal im Leben in Bargfeld gewesen sein, diesem Nicht-Ort in der südlichen Heide, in dem Arno Schmidt die letzten einundzwanzig Jahre seines Lebens zubrachte, ehe er in Celle starb, 1979. Für den gesteigerten Bedarf oder zur Irreführung allzu neugieriger, aber nicht hundertprozentig kartensicherer Schmidt-Leser gibt es Bargfeld sogar zweimal und nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Im richtigen Bargfeld (hundertachtundachtzig Einwohner, Stand 2005), zwanzig Kilometer südöstlich von dem Nicht-Ort Unterlüß, kaufte sich Arno Schmidt 1958 von seinen Rundfunkhonoraren ein Heidehäuschen und versteckte sich dort vor der Welt, die ihn eben als großen Autor wahrzunehmen begann. Inzwischen hat es «der bekannte Schriftsteller», der er nie war und bestimmt nie sein wollte, auf eine amtliche niedersächsische Wandertafel mit erstaunlich vielen Rechtschreibfehlern gebracht. Arno Schmidts Haus steht sicher verwahrt hinter efeuumrankten Bäumen: blaugrau gestrichenes Holz, klein, sehr klein. Unter einem Findling, in einer leicht böcklinschen Szenerie, liegt er begraben.