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Uwe Becker

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Beschreibung

Die Aufnahme Tausender »Fremder« im Sommer 2015 wurde medial euphorisiert als »deutsches Wunder« beschrieben. Die Geflüchteten selbst tauchten in dieser Perspektive kaum auf. Dem Narrativ der »Willkommenskultur« folgte ein Wechselbad der Diskurse hin zum drohenden Staatsversagen, der Belastungsgrenze oder sexueller Übergriffe. Dabei ging es primär um die Befindlichkeit der Nation und der »Flüchtling« wurde zum Verursacher nationaler Bedrängnisse. Uwe Becker analysiert diese Diskurse und zeichnet nach, welche Narrative sich im »langen Sommer der Flucht« aufgebaut haben. Dabei zeigt er auf, wie sie im kollektiven Gedächtnis ruhen, jederzeit aktivierbar sind und bis heute eine restriktive Flüchtlingspolitik legitimieren.

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Seitenzahl: 389

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Editorial

Das vermeintliche »Ende der Geschichte« hat sich längst vielmehr als ein Ende der Gewissheiten entpuppt. Mehr denn je stellt sich nicht nur die Frage nach der jeweiligen »Generation X«. Jenseits solcher populären Figuren ist auch die Wissenschaft gefordert, ihren Beitrag zu einer anspruchsvollen Zeitdiagnose zu leisten. Die Reihe X-TEXTE widmet sich dieser Aufgabe und bietet ein Forum für ein Denken ›für und wider die Zeit‹. Die hier versammelten Essays dechiffrieren unsere Gegenwart jenseits vereinfachender Formeln und Orakel. Sie verbinden sensible Beobachtungen mit scharfer Analyse und präsentieren beides in einer angenehm lesbaren Form.

Uwe Becker ist Professor für Sozialethik, designierter Präsident der Evangelischen Hochschule Darmstadt und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Er publiziert zu Themen gesellschaftlicher Exklusion u.a. in der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Rundschau und der ZEIT.

Uwe Becker

Deutschland und seine Flüchtlinge

Das Wechselbad der Diskurse im langen Sommer der Flucht 2015

Diese Publikation wurde im Rahmen des Fördervorhabens 16TOA002 {FID:3\\ FPID:79} mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Open Access bereitgestellt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell.

(Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Uwe Becker

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-6426-3

PDF-ISBN 978-3-8394-6426-7

EPUB-ISBN 978-3-7328-6426-3

https://doi.org/10.14361/9783839464267

Buchreihen-ISSN: 2364-6616

Buchreihen-eISSN: 2747-3775

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Einleitung

1 Diskurstheoretische Anmerkungen – eine Hinführung

1.1 Grenzen des Diskurses

1.2 Es zählt, was erzählt wird

2 Die »Flüchtlingskrise« und ihre Umdeutung

2.1 Moralische Abwehr – die Figur des »Schleppers« im medialen Diskurs

2.2 »Wir« brauchen »Euch« - der »Flüchtling« als homo oeconomicus

2.3 »Hilfe, Flüchtlinge«

2.4 Diskursanalytische Bilanz I

3 Moralische Landnahme

3.1 »Wir« – Deutschland schafft das

3.2 Ailan Kurdi – die Entstehung einer großen Erzählung

3.3 Willkommen im gelobten Land

3.4 Rechtsbruch und »Willkommenstrance« – zur Transformation eines Narrativs

3.5 Die Grenze – eine Metapher mit Wirkung

3.6 Diskursanalytische Bilanz II

4 Kölner Silvesternacht

4.1 Eine neue Dimension

4.2 Es müssen »Flüchtlinge« sein

4.3 »Wir« brauchen einen starken Staat

4.4 Der arabische Mann

4.5 Diskursanalytische Bilanz III

5 Fremde Freunde – Fremde Feinde

5.1 Von Fremden zu Feinden

5.2 Ein Hoch auf uns

5.3 Die Freunde der Fremden

Epilog: »Guter Flüchtling« – »Schlechter Flüchtling«

Literatur

Material

Einleitung

Die sogenannte »Flüchtlingskrise«, die historisch insbesondere den Jahren 2015 und 2016 zugeschrieben wird, scheint längst »erfolgreich« abgeschlossen und bewältigt. Bereits Anfang Juli 2016 erklärte der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière, dass die »Lösung« der Flüchtlingskrise »in Europa gut voranschreite« (FAZ 9.7.2016, zitiert in: Schulze Wessel, 2017: 64). Der Journalist und Hauptstadtkorrespondent der »Welt am Sonntag«, Robin Alexander, formuliert einleitend zu seinem Buch von 2017 über Angela Merkels Flüchtlingspolitik: »Ein Jahr nach den Ereignissen, von denen ich in diesem Buch berichte, scheint die Flüchtlingskrise schon Geschichte« (Alexander, 2017: 9). Bei Wikipedia fließt die Festschreibung dieser zeitlichen Eingrenzung definitorisch wie selbstverständlich ein, wenn es dort heißt: »Als Europäische Flüchtlingskrise (auch europäische Migrationskrise oder nur Asylkrise) werden der mit der Ein- und Durchreise von 1-2 Mio. Flüchtenden in die Europäische Union in den Jahren 2015/16 verbundene starke Anstieg der Zahl der Asylbewerber in den EU-Staaten, […] und die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen dieser Fluchtbewegung verstanden« (Europäische Flüchtlingskrise). Derartig bilanzierende Bemerkungen setzen eine spezifische Prägung des Begriffs der »Flüchtlingskrise« voraus, die nicht die Krise derer meinen kann, die noch immer zur Flucht getrieben werden, denn deren Leidenssituation ist ungebrochen dramatisch, auch in Syrien (vgl. Unter Assad, 2021; Helberg 2018). Vielmehr kommt hier ein Krisenbegriff zur Geltung, der nationalstaatlich oder europäisch konturiert als die deutsche oder europäische Krise zu verstehen ist, die durch Geflüchtete ausgelöst worden ist. Damit hat sich eine kaum hinterfragte und auch medial gestützte Umschreibung, eine inhaltliche Metamorphose des Krisenbegriffs vollzogen, die nun die durch die Flüchtlingsbewegung zur Krise stilisierte Situation Deutschlands oder Europas fokussiert. Entsprechend nachvollziehbar ist auch, dass diese Krise in der Tat zeitlich begrenzt war, denn ihr wurde mit einer massiven und zügig umgesetzten, europäischen Abschottungspolitik begegnet, die es inzwischen für viele Geflüchtete verunmöglicht, die Tore Europas zu erreichen. Diese Krise ist also gebannt! Gemäß dieser nationalstaatlichen Perspektivität, unter der sich die Ereignisse seit dem Spätsommer 2015 aufdrängten, fokussierte auch die mediale Berichterstattung überwiegend die Zustandsbeschreibung der Nation. Die diesbezüglich aufgebauten Narrative kreisten um eine Reihe von Metaphern, die allesamt einer Bewertung der nationalen »Befindlichkeit« verpflichtet waren. Es war die Rede von der »Belastungsgrenze« Deutschlands, der drohenden nationalen »Überforderung« oder, noch dramatischer, dem »Staatsversagen« und schließlich von einem »starken Staat«, der angesichts der Silvesterereignisse von 2015/16 in Köln dringend geboten sei. Und bereits die von einem flüchtlingsfreundlichen Duktus geleitete »Schaffens-Botschaft« von Kanzlerin Merkel auf der Sommerpressekonferenz Ende August 2015 war deutlich aus der Sicht der Nation geschrieben: »Wir schaffen das«, also: Deutschland! Es zeichnete sich aber, mit zunehmend kritischer Infragestellung dieser Botschaft, das gegenteilige Bild einer durch Geflüchtete an den Rand der Bedrohung gebrachten Republik (vgl. Goeßmann 2019). Diese Republik hat nun, wenn auch nicht allein, den vermeintlichen Kampf um ihren »Selbsterhalt« inzwischen gemeistert: Asylrechtliche Verschärfungen durch das sogenannte Asylpaket I und II, der »Türkei-Deal« vom März 2016, die Sperrung der Balkanroute durch kilometerlange Zäune an den Grenzen von Slowenien, Ungarn und Mazedonien, Einrichtung von Hotspots unter anderem auf den ägäischen Inseln (vgl. Ziegler 2020), ein Rückführungsabkommen Deutschlands mit Afghanistan im Jahr 2017, eine selbstermächtigte Erweiterung der libyschen Seenotrettungszone auf 74 Seemeilen bis weit hinein in internationale Gewässer, um eine brutale Rückführung von Geflüchteten weit ab von der libyschen Küste in die Gefängnisse und Folterkammern libyscher Menschenhändler zu ermöglichen (vgl. Das sind, 2017) und ein intensiv von der EU betriebener Export von Grenzkontroll-Knowhow in afrikanische Staaten zur »›Prävention von illegaler Migration‹« (Jakob/Schlindwein 2017: 196) – das sind nur einige, knapp skizzierte Eckwerte, die allerdings jene Botschaft des »Wir schaffen das« in ein anderes Licht rücken. Damit ist dem Narrativ der bedrohten Republik der Boden entzogen und folglich verwundert es nicht, dass auch jene Leitmedien, die seit dem Frühjahr 2015 bis zum Frühjahr 2016 die Flüchtlingsthematik prominent und unablässig unter diesem Fokus in die Schlagzeilen gebracht hatten, diesem inzwischen weitgehend die Aufmerksamkeit entzogen haben. Denn wozu sollte man noch ergiebig über etwas berichten, das sich im common sense stabil als ein erledigter und bewältigter Sachverhalt etabliert hat? Es gibt also eine gewisse Kongruenz des »Verschwindens«: Die real- und machtpolitische Abschottung geht einher mit der diskursiven Ausblendung des »Flüchtlings«.

Damit kommen wir zu dem Anliegen dieses Buches. Es widmet sich dem Verlauf und den Botschaften des medialen Diskurses vom Frühjahr 2015 bis hin zum diskursiven Verschwinden, der »Zerstreuung« der Flüchtlingsthematik, die mit der sehr dicht frequentierten Berichterstattung über die Silvesterereignisse 2015/16 an der Kölner Domplatte eine letzte Phase und zugleich einen letzten Höhepunkt der follow-up-Nachrichten erreicht hat. Dazu nur ein Beispiel: Vor der italienischen Insel Lampedusa kenterte im April 2015 wie auch im April 2016 jeweils ein Flüchtlingsschiff mit einer jeweils ähnlich hohen Zahl von Toten, im ersten Fall waren es rund 500, im zweiten 469 Todesopfer. Das erste Ereignis wurde medial prominent aufgegriffen und fand in über 1000 Artikeln wochenlang Resonanz, in der »Polittalkshow Günter Jauch in der ARD« wurde gar in einer Schweigeminute der Opfer gedacht (Goeßmann, 2019: 236, Hervorh. i.O.). Im folgenden Jahr hingegen thematisierten nur noch rund 100 Artikel das ähnlich dramatische Ereignis.

»Nach ein paar Tagen verschwand das Massensterben wieder schnell von der Bildfläche, ohne signifikante follow-up-Berichterstattung. Die Katastrophe hinterließ keine politischen Spuren. Schweigeminuten […] blieben aus. Allein schon der quantitative Vergleich deutet auf eine extreme Diskrepanz hin. Über die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer im Jahr 2015 wurde zehnmal mehr in der Presse berichtet als ein Jahr später. Oder anders formuliert: Die Aufmerksamkeit wurde um 90 Prozent abgesenkt, obwohl beide Ereignisse gleichermaßen katastrophal waren.« (Ebd.: 237)

Ein hier verfolgtes, erkenntnisleitendes Interesse gilt der Frage, wie genau sich diskursiv der Prozess vollzogen hat, dass ein Thema, das mit derartiger Dichte, Dominanz und emotionaler Dynamik über Monate die Medien frequentiert hat, inzwischen verbraucht und abgenutzt zu sein scheint und das, obwohl sich, wie erwähnt, an der grundsätzlichen Tragik und Problematik derer, die flüchten, sich zur Flucht entscheiden oder auch an ihr gehindert werden, nichts verändert hat. Die in diesem Buch gewählte Vorgehensweise zeichnet – notgedrungen auch selektiv – den erwähnten Zeitraum vom Frühjahr 2015 bis zum Frühjahr 2016 mit der »Hermeneutik eines Zeitungslesers« nach. Gemeint ist, dass die (fiktive) Perspektive eines Zeitungslesers gewählt wurde, der sich der regelmäßigen Lektüre eines Print- und Onlinemediums widmet und keine allumfassende Sichtung weiterer Medien betreibt. Die Wahrnehmungen und Entschlüsselungsbemühungen sind dabei überwiegend konzentriert auf die Wochenzeitung »Die ZEIT« wie auch ihre online-Version »ZEIT ONLINE« und das aus doppeltem Grund: Zum einen ist damit ein Medium Gegenstand der Untersuchung, dessen Leserinnen und Leser sich aus dem kosmopolitisch affinen Milieu rekrutieren und das eine kapital- und bildungsbürgerlich dominante Bevölkerungsgruppe adressiert, der maßgebliche, modernisierungsgestaltende Potenz zugeschrieben wird. In der ZEIT heißen sie »Entscheider:innen« (DIE ZEIT Verlagsgruppe, 2022). 69  % der ZEIT-Leser und Leserinnen »haben Abitur oder einen Hochschulabschluss, und 57  % verfügen über ein monatliches Haushalts-Nettoeinkommen von 3.500 € und mehr« (DIE ZEIT. Preisliste 2022, 2022: 5). Sie ist zudem ein Leitmedium mit einer durchschnittlichen Reichweite von knapp 2,3 Millionen Leserinnen und Lesern und einer beachtlichen Auflage von »weit über 500.000 verkauften Exemplaren« (ebd.). Darüber hinaus bietet der Einblick in die wöchentliche Kommentierung und Berichterstattung über einen Zeitraum von gut einem Jahr nicht nur ein analytisch und methodisch einigermaßen machbares Unterfangen, sondern es löst sich auch, zumindest gilt das für die Printausgabe, von den teilweise überschlagenden Tagesnachrichten zugunsten wöchentlich frequentierte Überblickseinheiten.

Die Mühe gilt dem Versuch, einige wesentliche Diskursstränge zum Thema »Flüchtling« thematisch zu verfolgen, ihre Botschaften nachzuzeichnen und sie diskursanalytisch zu entschlüsseln. Dazu wurde insgesamt eine Auswahl von rund 200 Artikeln, Kommentierungen, Gastbeiträgen und Interviews mit Expertinnen und Experten aus ZEIT und ZEIT ONLINE ausgewertet. Die »Stationen«, entlang derer der Diskurs verfolgt wird, setzen zunächst mit einer Hinführung an, in der auch die diskurs- und erzähltheoretischen Bezugspunkte erläutert werden (Kapitel 1). Die eigentliche Diskursanalyse beginnt in Kapitel 2 mit der Darstellung und Auswertung von drei Diskurssträngen. Der erste betrifft die in zahlreichen Artikeln thematisierte Figur des »Schleppers«. Dieser kommt über einen langen Zeitraum die Funktion zu, angesichts der zahlreichen Meldungen über Schiffbrüchige und das Ertrinken von teilweise Hunderten von Geflüchteten einen »Schuldigen« zu konstruieren, dessen Bekämpfung ein entschiedenes »Europa« inszeniert, ohne an der restriktiven Flüchtlingspolitik etwas verändern zu müssen. Ein zweiter Diskursstrang, der variantenreich zu finden ist, bezieht sich auf die ökonomischen Projektionen, Geflüchtete von ihrer verwertbaren Seite her für den deutschen Arbeitsmarkt wie auch für die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme im Zeitalter des demografischen Wandels anzupreisen. Schließlich geht eine Spurensuche der Veränderung des Sicherheitsdispositivs nach, durch die Geflüchtete zunehmend als die eigentlichen Verursacher einer politischen Krise fungieren, die durch das Erstarken der rechtspopulistischen Szene ausgelöst wurde, was sich an der Berichterstattung über die Ereignisse in Meißen, Freital oder Heidenau exemplarisch festmachen lässt. Der Zeitraum zwischen Anfang September 2015 mit der Nachricht über den Tod des zweijährigen Ailan Kurdi sowie der wenige Tage später sich ereignenden Entscheidung, die deutsch-österreichische Grenze nicht zu schließen und Tausenden von Geflüchteten den Zutritt in die Bundesrepublik zu gewähren, bis zum Ende des Jahres 2015, ist im dritten Kapitel Gegenstand diskursanalytischer Beobachtungen. Die »moralische Landnahme«, also die Herstellung eines Selbstbildes von Deutschland als eine Nation, die kulturell offen ist und humanitären migrationspolitischen Impulsen folgt, das sich besonders im Herbst 2015 aufbauen sollte, wird ebenso im dritten Kapitel behandelt wie der Diskurs über die »Willkommenskultur« und ihre teils latente oder auch ganz offensichtliche Diskreditierung. Ausführlich widmet sich der letzte Teil dieses Kapitels der Metapher der »Grenze«, die variantenreich zur Anwendung kam: als vermeintliche »Belastungsgrenze«, als eine zwingend einzuziehende »Obergrenze« oder als die gefährlich ungesicherte »Grenze«, die »allen« offenstehe. Im vierten Kapitel wird zu beleuchten sein, welche Narrative sich als Reaktion auf die in der Silvesternacht 2015 erfolgten Übergriffe gegenüber Frauen aufbauten. Sie hatten eine enorm dicht frequentierte Berichterstattung zur Folge, die sich zugleich als Vorstufe eines allmählich einsetzenden Desinteresses an dem Thema »Flüchtlinge« erweisen sollte. Drei Diskursbilanzen am Ende des zweiten bis vierten Kapitels bündeln die durch die Analyse der Artikel gewonnenen Erkenntnisse. Den Abschluss bilden einige resümierende Ausführungen (Kapitel 5), welche die zunächst gewonnenen Erkenntnisse bilanzieren und in einen erweiterten soziologischen und kulturtheoretischen Kontext stellen. Der letzte Teil des Kapitels gilt einer Wirklichkeit, die kaum diskursive Beachtung fand, also einer »Welt jenseits des Diskurses«. Gemeint ist das beachtliche und zeitweilig von Millionen von Menschen betriebene Engagement, denen, die geflüchtet sind, humanitär, sozial, politisch und vor allen Dingen auch aktiv gegen rechtspolitische Umtriebe zur Seite zu stehen. Dieser Bewegung der Hilfe für Geflüchtete, die ich mit Eva von Redecker als Kräfte der »Revolution für das Leben« verstehen möchte (von Redecker 2020), soll dieses Buch, vor allem im letzten Kapitel, auch als ein bescheidener Beitrag zur Ermutigung dienen, sich weiterhin gegen das Vergessen von geflüchteten Menschen zur Wehr zu setzen. Der Kriegsbeginn in der Ukraine ereignete sich zu einem Zeitpunkt kurz vor Fertigstellung dieses Buches. Die durch diesen Krieg ausgelösten Fluchtereignisse, mit – so der Stand Anfang April 2022 – über vier Millionen Geflüchteten (vgl. Flüchtlinge aus, 2022), haben in Deutschland einen intensiven Diskurs ausgelöst. Diesen angemessen zu bewerten, würde einen eigenen Beitrag abverlangen, zumal seine Botschaften teilweise denen des Spätsommers 2015 ähnlich sind, teilweise aber auch gegenüber »2015« deutlich abgrenzende Unterschiede aufweisen. Sie sollen im Rahmen eines Epilogs zumindest ansatzweise bedacht werden.

Zwei abschließende Bemerkungen der Erklärung einerseits und des Dankes andererseits. Erklärend: Bewusst wird in diesem Buch der Begriff »Flüchtlinge« zugunsten der Wortwahl »Geflüchtete« vermieden. Wo er doch verwendet wird, um den gängigen Gebrauch wiederzugeben, steht er in Anführungsstrichen oder aber er wird in Wortkombinationen gebraucht (z.B. »Flüchtlingspolitik«), die so beibehalten werden sollten, um nicht den Sinn zu verfälschen (es ist ja nicht die Politik der Geflüchteten). Ganz abgesehen davon, dass der erste Begriff, »Flüchtlinge«, maskulin eingrenzt und damit die Assoziation stärkt, es handle sich bei Geflüchteten nur um Männer, essentialisiert er die Geschichte von Menschen, die geflüchtet sind und fixiert sie in ein Substantiv, das diese Menschen auf diese Geschichte reduziert, sie kategorisiert und damit auch stereotypisiert. »Geflüchtete« hingegen deutet an, dass es sich um Menschen handelt, die eine Geschichte hinter sich haben, die sicher oftmals prägend, nicht selten traumatisierend gewesen ist, die aber eben nur einen Teil ihres Lebens ausmacht und neben der und außerhalb derer neue und ganz andere (Selbst)zuschreibungen Raum finden sollten.

Die zweite Bemerkung des Dankes betrifft all diejenigen, die mich bei der Abfassung dieses Buches ermutigt, korrigiert, kritisiert und insofern diskursiv begleitet haben. Ohne deren Rat, fachliche Hilfestellung und ausdauerndes »Gegenlesen« hätte ich vermutlich nicht die Geduld und Zeit aufgebracht, die der Abschluss des Buches abverlangt hat. So danke ich besonders Esther Almstadt, Christel Eckart, Sabine Hark und Julia Schulze Wessel für ihre wertvollen Einwände und korrigierenden Anmerkungen; Claus-Ulrich Prölß für seine geduldige Beratung, wenn es um die Aufklärung von asylrechtlichen Sachverhalten ging; Bettina Schmidt für ihre kritischen und anstachelnden Provokationen und Franziska Hirschmann für ihre gewohnt akribische Art und Weise des Korrekturlesens. Ein besonderer Dank gilt zwei weiteren Menschen: Karin Werner vom transcript Verlag danke ich dafür, dass sie mit ausdauernder Geduld die verzögerte Abgabe des Buches Mut machend getragen hat. Und Stefanie H. C. Becker hat mit feinem Gespür für gedankliche Sprünge und inhaltliche Brüche den Text mehrfach korrigierend und beratend gelesen und zugleich zum Weiterschreiben ermutigt. Die Verantwortung für gedankliche Fehlpässe, sprachliche Eigenarten oder überspitzte Provokationen trägt natürlich der Verfasser, ohne jegliche Mithaftung der genannten Personen, völlig allein.

1 Diskurstheoretische Anmerkungen – eine Hinführung

Gelegentlich sind es einzelne, in ihrer öffentlich zugänglichen Dramatik so eindeutige Ereignisse, die im Stande sind, millionenfach Aufmerksamkeit zu binden. Einem Moment des Stillstandes gleich, erheben sie sich zum allpräsenten Erzählstoff, der welterklärenden Zugang vermittelt. In ihrer Eindeutigkeit verdrängen sie die Flut der unüberschaubaren Informationen und verbannen sie in die Nachrangigkeit des gerade Unwichtigen. Ein solches Ereignis, bebildert mit fotografisch aufdringlicher Präzision, war der Tod des am 2. September 2015 am Strand von Bodrum leblos aufgefundenen zweijährigen Ailan Kurdi. Er war nur eines der zahlreichen syrischen Opfer, die auf dem von Schleppern organisierten Seeweg ihr Leben verloren. Auf diesem tödlich riskanten Weg in einem völlig überfüllten Boot ist er am Ende zusammen mit seinem Bruder und seiner Mutter den Gefahren der Wellen erlegen. In fast schlafend anmutender Haltung lag dieses Kind mit T-Shirt, einem kurzen Höschen und Turnschuhen bekleidet am Strand, und so vermittelte dieses Foto gerade in seiner anklagenden Schweigsamkeit mehr als jede bis dato veröffentlichte Nachricht über die Zahl der Toten. Es war eine Botschaft über die Dimension des Elends, die das tausendfach anonym registrierte Zahlenwerk der Flüchtlingstoten nicht zu senden in der Lage war. Nun aber eröffnete sich für viele Menschen in Europa und weltweit eine »Wahrheit großer Reichweite«, die in der Lage war den »Schleier zu reißen« und »bis dahin akzeptiertes Verhalten« als »verantwortungslos, zynisch oder gar kriminell« abzuurteilen (Koschorke 2017: 199, Hervorh. i.O.). Denn diese Botschaft spiegelte offenbar die ganze Unmenschlichkeit der verschlossenen Tore Europas, sie provozierte weltweit selbstkritische und reumütige Stimmen der Politik und erfüllte die Medien mit nachdenklich anklagenden Rufen. Im Kurznachrichtendienst Twitter wurde das Bild unter dem am meisten verbreiteten Hashtag #KiyiyaVuranInsanlik – türkisch für »Die fortgespülte Menschlichkeit« – veröffentlicht (Foto, 2015).

Diese moralische Anklage brannte sich allerdings nur kurzzeitig ins kollektive Gedächtnis des westlichen »Wir« ein. Sie provozierte – wenn auch nicht alleine – eine zeitlich sehr begrenzte Wende in der Flüchtlingspolitik. Nur wenige Tage nach der Nachricht über den ikonografisch präsentierten Tod des kleinen Ailan entschied die Bundeskanzlerin, die Grenzen für Tausende von Geflüchteten, die sich bereits von Ungarn aus auf dem Marsch an die österreichische Grenze befanden, nicht zu schließen, was in vielen Medien als ein moralisch inspirierter Akt der Humanität positiv kommentiert wurde. Ebenso begrüßten Tausende von deutschen Bürgerinnen und Bürgern mit warmherzigen Worten, Kleidung, Decken, Lebensmitteln und diversen Gesten der Hilfsbereitschaft jene aus dem Elend der Flüchtlingscamps, der nackten Not und dem Verzweiflungsweg der Flucht Entronnenen. Sehr bald wurde diese »Grenzöffnung« inklusive der ersten zivilgesellschaftlich gastfreundlichen Reaktionen, z.B. am Münchner Bahnhof, unter dem zunehmend zur Prominenz heranwachsenden, aber keineswegs neuen Leitbegriff der »Willkommenskultur« rubriziert (vgl. Haller 2017: 86ff.). Die sich überschlagenden öffentlichen Kommentare waren bemüht zu erfassen, zuzuordnen und diesem Phänomen eine historisierende Note zu verleihen. Es galt als »deutsches Wunder« (Das deutsche, 2015) oder wurde in seiner Bedeutsamkeit mit den Ereignissen der Wende von 1989 verglichen.

Im Nachhinein allerdings wird diese affektive Hochkonjunktur des »Willkommens« bis heute als eine Episode gehandelt, die durchaus ambivalente Narrative bindet. Positive Zuschreibungen, die jene »Willkommenskultur« als einen Akt der Menschlichkeit, der kollektiven Empathie und Solidarität einer großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung erinnern, haben inzwischen an Deutungsmacht verloren (vgl. Kober/Kösemann 2019: 8). Stattdessen hat sich die bislang juristisch nicht verifizierte, aber hartnäckig verbreitete These durchgesetzt, bei der »Öffnung« der Grenzen, sie waren ja nie verschlossen, handele es sich um einen Rechtsbruch (vgl. Detjen/Steinbeiß 2019: 185) und die Willkommenskultur sei von politischer Naivität durchsetzt gewesen. Solche nachbetrachtenden Bewertungen, ob im Sinn der historischen Großtat, des Rechtsbruchs, des politischen Strategiefehlers oder des naiven Humanitätsimpulses, auf die noch dezidiert einzugehen sein wird, haben eine gemeinsame Eigenart: Sie heben allesamt diese Phase in ihrer historisch abgeschlossenen Einzigartigkeit hervor. »Willkommenskultur« wird in derartigen historisierenden Denkfiguren zu etwas konfiguriert, das sich niemals wieder ereignen darf (konservativ-restriktiv), als etwas, das sich in seiner einzigartigen Vergangenheit als positives Beispiel für Humanität und kollektive Empathie wohl niemals wiederholen kann (pragmatisch) oder aber als etwas, das unbedingt erneut zu gestalten ist (visionär-libertär). In allen Fällen existiert diese Willkommenskultur als abgeschlossener Bezugspunkt und substanziell Vergangenes im kollektiven Gedächtnis. Aber im Prozess dieser Historisierung wird in der jeweiligen Gegenwart dynamisch und als Gegenstand eines Deutungskampfes rekonstruiert, als was diese vergangene Willkommenskultur aktuell handlungsleitend in Geltung steht: Ob als ein Scheitern, ein Gelingen, politisches Versagen oder Gutmenschen-Naivität. Jede »historiographische Unternehmung« wird zu einer »Umschrift der Vergangenheit«, bei der diejenigen die Deutungshoheit einnehmen, die »die Macht des letzten Wortes« haben (Koschorke 2017: 227, Hervorh. i.O.). Diese Neukonstituierung des Wissens kann also vormalige Wissensbestände auch diskreditieren, sie umschreiben oder sie gar vollständig aus dem »Feld des Sagbaren« verdrängen (Jäger 2011: 94, Hervorh. i.O.).

Dieses Beispiel aus dem Kontext des »Flüchtlingsdiskurses« soll nur andeuten, dass es mit Blick auf die hier vorgenommene Diskursanalyse nicht unerheblich ist, zwischen dem, was einst narrativ in Geltung stand, und dem, was inzwischen umgeschrieben, rekonstruiert oder neu konfiguriert wurde, zu unterscheiden. Und es verweist auch darauf, dass solche und weitere Differenzierungen zu beachten sind, welche beispielsweise die Initiation und den Aufbauprozess eines Narrativs betreffen, seine eindeutige Geltung oder umstrittene Eindeutigkeit sowie die Identifizierung von diskursdominanten Eliten oder Gruppen, die maßgeblich die Narrativstruktur prägen. Insofern macht es Sinn und ist hinführend wichtig, einige grundsätzliche Anmerkungen über die diesbezüglichen methodischen, diskurs- und erzähltheoretischen Grundlagen anzubringen.

1.1 Grenzen des Diskurses

Michel Foucault, dessen Analysen maßgeblich die Entwicklung der Diskursanalyse inspiriert haben, hat keine durchdeklinierte, diskursanalytische Methode geliefert, sondern – wie er selbst formuliert – lediglich »Werkzeuge« an die Hand gegeben: »Das ist nicht eine allgemeine Methode, die für andere oder für mich definitiv gültig wäre. Was ich geschrieben habe, sind keine Rezepte […] Es sind bestenfalls Werkzeuge […]« (Foucault 2001-2005, Bd 4: 53, zit. in Jäger 2015: 77). Aber nicht nur das methodische Rüstzeug zur Diskursanalyse wird ganz unterschiedlich zur Anwendung gebracht und hat damit in den Sozialwissenschaften eher einen »schillernde[n] Begriff« (Viehöver 2011: 193) etabliert und zu einem »Wuchern der Diskursanalyse« (Link 2011: 433) geführt, sondern auch die Fragen, was eigentlich Diskurs bedeutet und wie er strukturell und hinsichtlich seiner Funktion definiert werden kann, werden keineswegs einhellig beantwortet. Die »immense Vielfalt unterschiedlicher Diskursbegriffe« (Keller 2011: 141) und die nicht »mehr überschaubare Anzahl theoretischer und empirischer Arbeiten zu den verschiedensten Gegenstandsbereichen« (Schwab-Trapp 2011: 287) machen daher den Mut zur Lücke unverzichtbar, sich hier auf wesentliche und weitgehend konform gehandelte Aspekte des Diskurses und seiner formalen und funktionalen Eigenarten zu begrenzen. Statt also die getreue Gefolgschaft gegenüber irgendeiner Schule der Diskursanalyse zu leisten, soll auf Gesichtspunkte fokussiert werden, die bei der Sichtung, Clusterung und Analyse des Textmaterials sinnvoll und das heißt vor allen Dingen im Ergebnis noch gut lesbar erscheinen.

Nach Foucault lassen sich Diskurse als eine Ordnung des Wissens begreifen, was innerhalb der Diskursforschung die differenziert diskutierte Frage nach den diese Ordnung gestaltenden Faktoren aufgeworfen hat. Ein breiter Konsens besteht darüber, dass eine grundlegende Ordnungsfunktion »spezifische[n] Argumentations- und Deutungsmuster[n]« zukommt, die umso wirkungsvoller sind, je dominanter sie allgemein in Geltung stehen (Knaut 2014: 99). Aus dem umfänglichen Reservoir des potenziell aktivierbaren Wissensbestandes wird also Ordnung durch Zuerkennung von Bedeutung produziert, womit einhergeht, dass dieser Wissensbestand durch den Diskurs nicht nur in seiner Komplexität reduziert, sondern auch »kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird« (Foucault 2014: 11). Die generierte Wissensordnung ist insofern nicht natürlich gegeben, sondern Ergebnis eines gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses, bei dem diverse Deutungs , aber auch Handlungsstrukturen mit »konkurrierenden Wahrheitsansprüchen« (Viehöver 2014: 77) konfliktträchtig um Legitimation und Durchsetzung ringen (vgl. Keller 2011: 125). Denn »Diskurse« sind das Feld, auf dem »eine bestimmte Sichtweise auf die Welt« legitimiert wird (Knaut 2014: 100). Folglich arrangieren sie sich in der Regel an Konfliktlinien, also dort, wo Deutungspluralität vorliegt, die mittels Deutungshoheit in »Eindeutigkeit« überführt werden soll. Wenn es nichts zu streiten gibt, kein Deutungspluralismus auftaucht, bildet sich auch kein Diskurs ab, weil es keine umstrittene und angefochtene Deutung etwa von sozialen und gesellschaftspolitischen Ereignis- oder Entscheidungskontexten gibt, die sich um Legitimation bemühen müssten. Anders gesagt: »Wo jedermann davon überzeugt ist, daß weiß weiß und schwarz schwarz ist und auf der Grundlage dieser Überzeugung handelt, braucht niemand mehr zu sagen, daß weiß weiß und schwarz schwarz ist.« (Schwab-Trapp 2011: 286)

Die durch den Diskurs tangierte Dimension der Handlungsstruktur prägt erheblich gesellschaftliche Realität, denn Diskurse laufen nicht neben einer davon separierten faktischen Realität her, sondern sie »determinieren« diese ebenso und fließen als handlungs- und politikrelevantes Wissen in die Alltagskultur und politische Faktensetzung ein (Jäger 2011: 95). Folglich gilt: »Ändert sich der Diskurs, ändert der Gegenstand nicht nur seine Bedeutung, sondern er wird quasi zu einem anderen Gegenstand, er verliert seine bisherige Identität.« (Ebd.: 104) Damit ist schon angedeutet, dass Diskurse dynamisch sind. Ihre Konfiguration ist nicht starr, sondern in einer Fließbewegung begriffen, in die sich die den Diskurs gestaltenden Akteurinnen und Akteure teilweise verbinden und gegenüber anderen konkurrierend einbringen. Derartige »›Diskursgemeinschaften‹« (Schwab-Trapp 2011: 292) oder auch »Diskurskoalitionen« (Hajer 2010: 280) sind demnach nicht nur Gruppen von Akteurinnen und Akteuren, sondern es sind Deutungsgemeinschaften, die um die öffentlich vernehmbare Durchsetzung ihrer Narrative bemüht sind. Deren Spektrum umfasst »politische Parteien, Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbände, kirchliche Organisationen und andere organisierte Kollektive« ebenso wie »Gemeinschaften […], die […] keine Organisationsstruktur« und »keine Mitgliedschaftsregeln […] besitzen. Diese Diskursgemeinschaften besitzen eher den Charakter politisch-kultureller Milieus.« (Schwab-Trapp 2011: 292f.)

Die vernehmbaren Zugänge zum Diskurs sind jedoch nicht allen und zu jeder Zeit gegeben, sondern sie werden regelrecht in einem »Kampf um Artikulationschancen« (Gadinger et al. 2014: 11) besonders von denen erfolgreich erstritten, denen das Prestige der gesellschaftlichen Elite zukommt. Zu diesen Eliten zählen die öffentlich bekannten »Repräsentanten der politischen Parteien und zentraler politischer Institutionen«, intellektuelle Deutungseliten sowie Medienakteurinnen und Medienakteure »in Presse, Rundfunk und Fernsehen« (Schwab-Trapp 2011: 294f.). Auf eine Gefahr im Kontext dieser elitären Prägekraft von Diskursen verweist die Medienwissenschaft unter dem Stichwort Indexing. Der Begriff stammt von dem US-amerikanischen Politologen W. Lance Bennett und meint den Sachverhalt, dass Medien dazu neigen, »die Spanne der Meinungen und Argumente in der offiziellen politischen Debatte, also in Parlament und Regierung anzuzeigen, zu ›indexieren‹« (Krüger 2016: 60). Es entsteht demnach eine Art der Diskursbegrenzung, die aus der Fixierung auf das politisch gehandelte Themensetting resultiert. Wenn also »die Leitfrage« der journalistischen Arbeit, insbesondere in den Leitmedien, nicht mehr lautet: »›Was geschieht gerade Relevantes im Lande?‹«, sondern: »›Worüber reden Parlament und Regierung?‹«, dann wird die thematische Komplexität strukturell reduziert (ebd.: 61). Der Erzählstoff wird beispielsweise durch Konflikte konfiguriert, die etwa zwischen »zwei oder mehr hochrangigen Politikern« bestehen, was sich »fast von selbst« erzählen lässt, »spannend« und von einem hohen »›Nachrichtenwert‹« ist (ebd.). Der journalistische Output fokussiert dann die unterschiedlichen Diskurskoalitionen oder bringt Botschaften und Deutungsvarianten ein, die, ob nun kritisch, affirmativ oder moralisch-appellativ, jene politischen Kräfte adressieren. Es entsteht eine Art elitäre Diskurswelt, die anderslautenden »Stimmen aus der Zivilgesellschaft« nur dann Raum gibt, wenn sie sich in dieses Setting einfügen (ebd.: 60). Hinzu kommt eine weitere Tendenz zur diskursiven Eingrenzung durch die im Printjournalismus immer stärker werdende Assimilation von Auswahl und Inhalt der jeweiligen Botschaften an die großen Leitmedien. Rationalisierungsmaßnahmen und Verdichtung von Arbeit in den meisten Redaktionen angesichts rückgehender Auflagenzahlen und Werbeeinnahmen lassen vielfach eine solide Recherchearbeit vermissen und mindern entsprechend die Qualität des Outputs. Der Arbeitsalltag ist geprägt von Multitasking, bei dem Printredakteurinnen und Printredakteure auch zuständig sind für das Layout, das Bedienen des Online-Kanals oder die Fotos bei Außenterminen (vgl. ebd.: 40). »Augenzeugenschaft und Vor-Ort-Recherche werden seltener« und folglich verwundert es nicht, wenn ersatzweise, statt eigener Recherchen, die Orientierung am Themensetting der großen Leitmedien gepflegt wird (ebd.: 41). Der Medienwissenschaftler Uwe Krüger zitiert dazu den Kommentar von Stefan Kornelius von der Süddeutschen Zeitung: »›Durch das Internet bspw. können wir alle morgens die New York Times oder die Singapur Straits Times lesen. Dadurch entsteht so etwas wie ein globaler Nachrichten- und Thementrend.‹« (ebd.) Für Krüger wird darin mit knappen Worten eine Tendenz beschreibbar: »Mainstream schlägt Relevanz, Beschleunigung schlägt Recherche« (ebd.: 42). So ergab eine Studie der Universität Leipzig, die auf der Befragung von 235 Journalistinnen und Journalisten beruhte, dass pro Tag »für Überprüfungsrecherchen, also für Quellencheck und Faktenkontrolle«, nur 11 Minuten verwendet werden (ebd.). Das »Indexing« wie auch die wachsende, strukturelle Abhängigkeit innerhalb des Printmedienbereichs von den großen Trendsettern medial gehandelter Botschaften generieren also eine doppelte, diskursiv eingrenzende Formatierung des Wissensbestandes.

Das leitet über zu einem ergänzenden Aspekt. Entscheidend dafür, welche Botschaften in welchem Maße in der Lage sind sich durchzusetzen, sind erstens die Diskursarenen, auf denen sie sich verbreiten, und zweitens die Akzeptanz, die jene Botschaften bei den Rezipierenden finden müssen. Eine prominente Rolle bezüglich der Arenen oder auch der Räume des Diskurses kommt besonders den Massenmedien zu. Sie bieten den dort in Erscheinung tretenden Akteurinnen und Akteuren insbesondere wegen des quantitativen Verbreitungsgrades grundsätzlich die Möglichkeit, ihre Botschaften über die »eigenen Gruppen- oder Organisationsgrenzen« hinaus zu platzieren und damit auch »strukturelle Effekte« zu erzielen, indem sie beispielsweise umstrittene, politische Handlungsstrategien kommunikativ legitimieren (Viehöver 2011: 200). Insofern ist die Entscheidung über die Auswahl der Diskursteilnehmenden, da, wo sie medial verfügt werden kann, auch eine Entscheidung über die zur Sprache kommenden Wissensformate, die durch die Teilnehmenden fokussiert und zugleich begrenzt werden. Mit anderen Worten, es sind auch diese »öffentlichen Arenen«, die »in entscheidender Weise sowohl die Chancen der Diskursteilnehmer [bestimmen], in der Öffentlichkeit Gehör zu finden, als auch ihre Chancen, sich mit ihren Deutungsangeboten gegen konkurrierende Deutungsangebote anderer Akteure durchzusetzen.« (Schwab-Trapp 2011: 291) Die Gestaltung und Begrenzung dieser Arenen hat den Effekt, etwa in Polittalks, nicht nur Raum für den Diskurs herzustellen, sondern der Diskurs stellt auch eine bestimmte Art der Repräsentation von Wirklichkeit her, ihm kommt eine »wirklichkeitsbedingende[n] Position« zu (Goebel 2017: 27). Jedenfalls bestätigt die Mediensoziologie bezüglich der Flüchtlingsthematik, dass »das Wissen über die Einstellung zu Migration und Integration wesentlich davon »beeinflusst« wird, »wie die Thematik von Migration und Integration in den Medien präsentiert wird« (Geißler 2011: 1, zit. in ebd.).

Der zweite, für die Durchdringungskraft von diskursiven Botschaften entscheidende Aspekt betrifft die Akzeptanz der Rezipierenden. Wenn eine »diskursive Vorherrschaft« gelingen soll (Nonhoff 2010: 300), genügt natürlich nicht nur die pure Verbreitung der Botschaft, sondern sie benötigt auch entsprechende »Resonanzgrundlagen« für das diskursive Anliegen bei denen, die diese Botschaften vernehmen. Insofern geht es im diskursiven Geschehen immer auch um die strategisch notwendige »Herstellung von Passungsverhältnissen« der Botschaft gegenüber einem breiten Publikum, um das entsprechende »Mobilisierungspotential« bezüglich der Zustimmung zu aktivieren (Keller 2011: 145). Zielen folglich diskursive Botschaften in der Regel auf Einvernehmen, so fließen die suggerierte Erwartungshaltung und der unterstellte Verstehenshorizont, also die »Kultur des Rezipienten«, auch in die Performance der Botschaft ein und modulieren ihren Inhalt (Donati 2011: 164). Denn Menschen werden durch Diskurse ja nicht einfach »kolonialisiert«, sie eignen sich die Botschaft an oder eben auch nicht (Fairclough 2011: 370). Mit anderen Worten: »Macht wird [zwar] diskursiv transportiert und durchgesetzt« (Jäger 2015: 43), allerdings beruht die Machtwirksamkeit eines Diskurses wesentlich darauf, dass sein Inhalt von wenigstens einer Mehrheit der Subjekte akzeptiert wird (vgl. ebd.: 44f.) und sich möglichst auch in anderen Diskurssträngen spiegelt. Ein Beispiel für Letzteres, bezogen auf das Themensetting der »Flüchtlingskrise«, bietet eine repräsentative Studie, die die ZEIT beim Berliner Institut Policy Matters für Oktober 2019 in Auftrag gegeben hatte. Die Ergebnisse der Studie beruhten auf einer Befragung von »1029 Menschen in den fünf ostdeutschen Ländern und in Berlin« hinsichtlich des politischen Klimas (Jetzt hört, 2019: 3). In der Bilanz, die der Leiter der Studie, Richard Hilmer, im Rahmen der Veröffentlichung zog, machte er die Grenzpolitik der Kanzlerin im September 2015 für wesentliche Ergebnisse mitverantwortlich. Unter anderem hatte die Studie erhoben, dass »58 Prozent der Ostdeutschen […] das Gefühl [haben], heute nicht besser vor staatlicher Willkür geschützt zu sein als in der DDR« (ebd.). Hilmer erklärte dazu, diese Willkür-Erfahrungen resultierten auch aus der Entscheidung der Kanzlerin im September 2015, die Grenzen für Geflüchtete nicht zu schließen. Dass dies »›ohne jegliche Einschränkung‹« erfolgt sei, »›unkontrolliert und ohne Debatte und Abstimmung im Bundestag‹«, sei »›von vielen Menschen als willkürliches staatliches Handeln […] empfunden worden‹« (ebd.).Hier fällt zwar nicht das Wort Rechtsbruch, aber dem staatlichen Handeln indirekt Kontrollverlust, Willkür und eine Umgehung parlamentarischer Gepflogenheiten zu unterstellen, folgt demselben Duktus jenes Rechtsbruch-Narrativs über die Flüchtlingspolitik.

Ein Indikator für die Akzeptanz von Botschaften ist auch die Art und Weise, wie und in welcher Dichte sie Verbreitung finden. Hierbei kommt den Sozialen Medien eine immer größere Bedeutung zu, die auch Auswirkungen auf das Agieren der Print , aber auch der Online-Medien hat. Die neue digitale Technologie verschafft nicht nur einem weiteren Medium Zugang zu Informationsverarbeitung und Kommunikationsmöglichkeiten, sondern dieses ändert auch erheblich deren Gestalt und Qualität. Der ehemalige Redakteur der FAZ, Stefan Schulz, sieht insbesondere Facebook als Trendsetter, der auf eine Art Interaktion setzt, bei der die Information wesentlich darauf abzielt, die Nutzer »zu begeistern, sie zum Lachen zu bringen und sie zu motivieren« (Schulz 2016: 26). Inzwischen dürfte Twitter diesbezüglich Facebook den Rang abgelaufen haben. Die Informationsfrequenz und auswahl folgen dem Prinzip der Aufmerksamkeitsökonomie, ihre Inhalte werden kurz verfasst und sind von einer Halbwertszeit mit einem rasant schnellen Verfallstakt. Ein Tweet hat »heute eine Halbwertzeit von 24 Minuten« (ebd.: 44). Für Schulz spielen sich die Ursachen »des Medienwandels […] nicht in den Redaktionen, sondern bei den Lesern« ab (ebd.: 39). Statt dem Prinzip der Tageszeitung, dem »Moment der bewusst gewählten intellektuellen Kommunikation« nachzugehen, zählt nun verstärkt die »emotionale und kommunikative Aufgeregtheit« (ebd.: 29), die, so der Medienwissenschaftler Horst Simanowski, besonders durch das Moment der »Selbstexpression« hergestellt wird (Simanowski 2016: 33). Die Maxime ist: »›Erzähle dich selbst‹« und Facebook lädt dazu ein, »das eigene Leben mit anderen zu teilen […], Tag für Tag, wie bedeutsam das Ereignis auch sein mag« (ebd.: 32). Ein maßgeblicher Indikator der Bedeutsamkeit von medialen Botschaften ist daher ihre Akzeptanz in den Sozialen Medien, also ihr Emotionalisierungswert, der durch die entsprechend dort registrierbare Verbreitungsfrequenz angezeigt wird: »Niemand soll bloß lesen, jeder soll sich einbringen – im Idealfall Inhalte per Mail oder soziale Netzwerke empfehlen« (Schulz 2016: 40). Dieses »Prinzip des Teilens« hat inzwischen erhebliche Auswirkungen auf den Printjournalismus (ebd.: 41). Längst haben sich die Verlage intensiv und von Online-Redaktionen gestaltet dem digitalen Verbreitungsmarkt verschrieben und erreichen im Vergleich zu den gedruckten Angeboten ein wachsendes Niveau. Schätzungen gehen teilweise von einem »mindestens zehnmal so große[n] Publikum« aus (ebd.: 34). Bei dieser Art der digitalen Informationsaufbereitung und der Kommentierungen schleichen sich ähnliche Mechanismen der Bewertung ein wie bei den Sozialen Medien. Das sogenannte »Chartbeat« gibt dank einer farbigen Markierung in grün, grau oder rot Auskunft über die Klicks der Nutzer. Nur ein »besonders klickträchtiges Thema lässt sich vielleicht zwei Mal durch inhaltliche Aktualisierung ›nachdrehen‹. […] Themen erhalten heute eine informationelle Halbwertzeit, die sich erschreckend genau quantifizieren lässt« (ebd.: 32). Chartbeat wirkt dabei wie eine technisch kontrollierende Software mit redaktioneller Entscheidungshoheit. Schulz schildert das Beispiel eines Feuilletontextes der FAZ, der unter rotem Dauerbeschuss stand und abgesetzt werden sollte, bis der damalige Feuilleton-Chef Frank Schirrmacher sich genötigt sah darauf hinzuweisen, dass über die »Linie der Zeitung von den fünf Herausgebern entschieden werde und nicht von einer Software« (ebd.: 33). Schulz bilanziert, dass die Quantität der Nutzerinnen und Nutzer und ihre Verbreitung von Artikeln die Qualität eines Gütesiegels gewinnt, was sich im Rahmen von Paid-Content auch ökonomisch rechnet. »Ein Text erhält eine neue Form von Relevanz, wenn er Lesern von Freunden oder Bekannten empfohlen wird.« (Ebd.: 41) The Economist nennt bei seinen Artikeln auch gar keine Autorennamen mehr, sondern verlässt sich auf »seine engagierten Leser, die als ›Empfehler‹ die Funktion des Autors übernehmen und den Inhalt eines Artikels mit einer Person verknüpfen – ihn autorisieren« (ebd.). Der ehemalige Chefredakteur der »Bild«, Kai Diekmann, erklärt zu diesem »Paradigmenwechsel in der Mediennutzung«: »Früher waren wir Journalisten […] die Agenda-Setter. Wer etwas mitteilen wollte, musste darauf hoffen, dass ein Chefredakteur ihm die Sendezeit oder den Zeitungsplatz zur Verfügung stellt. […] Heute kann jeder zu seinen Bedingungen über die sozialen Medien kommunizieren. […] Wir sehen uns als Ghostwriter der digitalen Welt« (Ich finde, 2020: 24).

Zu bilanzieren ist also eine ganze Reihe von diskursiv eingrenzenden Faktoren, die der Wissensordnung ihr Format geben. Dazu zählt grundsätzlich die Filterung, die durch Validierung, also Bedeutungszuschreibung von Botschaften, generiert wird. Zudem erhält der Diskurs durch elitäre Zirkel, die sich oft in Diskurskoalitionen um Durchsetzung von Deutungshoheit bemühen, eine eingrenzende Konfiguration. Da, wo Leit- und sonstige Massenmedien die Arena, die Plattform des Diskurses, stellen, lauert die Gefahr des Indexing, also eine Art von Echobildung politisch gesetzter Themensettings durch die Medien, die überwiegend responsiv oder reaktiv zu Lasten einer Themen- oder Adressatenerweiterung die politischen Botschaften lediglich reduplizieren. Dies ist umso gravierender, je mehr Redaktionen ihre Botschaften aufgrund von Ressourcenknappheit und eigenen Rechercheengpässen an den Mainstream der großen medialen Trendsetter andocken. Auch die interaktive Ebene der Resonanz bei den Rezipierenden spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Diskurskonfiguration. Der Resonanzfaktor mutiert dabei im Kontext der Aufmerksamkeitsökonomie, wie sie maßgeblich die Sozialen Medien bestimmen, zunehmend zu einem in Quantitäten gemessenen Verbreitungsfaktor, der nicht primär auf die Sachdimension des Inhalts, sondern auf die Sozialdimension der »Klicks« setzt. Diese hier in aller Kürze aufgezeigten »Begrenzungspfähle« des Diskurses sind überwiegend durch äußere Faktoren wie Akteurinnen und Akteure, Arenen, Dynamiken des Journalismus und beeinflussende Trends der Sozialen Medien gekennzeichnet. Sie betreffen weniger die Perspektive seiner Eigenart, seiner Konfigurationsbedingungen und seiner inneren Struktur. In der Diskurstheorie wird dieses auch als Narration, Erzählstruktur oder als narratives Schema bezeichnet, was überleitet zu der Frage nach dem, was diese erzählerische Dynamik des Diskurses ausmacht.

1.2 Es zählt, was erzählt wird

Eine beachtenswerte und auch von der Diskursforschung intensiv aufgegriffene Erzähltheorie hat der Kultur- und Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke mit seinem Buch »Wahrheit und Erfindung« eingebracht (Koschorke 2017). Obwohl er selbst dieser akademischen Disziplin entstammt, geht sein Entwurf weit über das Feld der Literaturwissenschaft hinaus und kündigt bereits im Untertitel eine Allgemeine Erzähltheorie an, die – wie es im Klappentext heißt – »über ihren klassischen Geltungsbereich, die Literatur«, hinausgeht, denn »Erzählungen« seien »ein wichtiges Medium der Selbststeuerung von Gesellschaften«. Das Zentrum dieses universal angelegten Wirksamkeitsfeldes von Erzählungen bildet – im Anschluss an Walther Fisher (vgl. Fisher 1987) – Koschorkes anthropologische Grundbestimmung des Menschen als »homo narrans« (Koschorke 2017: 9, Hervorh. i. O.). Kurzum: Menschen »weben sich ihr Bild der Welt aus Erzählungen« (ebd.). Diese erfüllen danach die wesentliche Funktion, Welt zu erschließen und ihr einen Sinn zuzuschreiben. Sie versehen »ihren Lauf mit Absichten und Zielen«, dienen der Angst- und Kontingenzbewältigung, aber sie bewirken auch das Gegenteil: Sie stehen ebenso im »Dienst des Abbaus von Sinnbezügen«, demontieren Sinnzusammenhänge und beschwören Kontingenz herauf (ebd.: 11, Hervorh. i.O.). Erzählungen können, je nach strategischer Absicht beispielsweise von öffentlichen Konfliktparteien, auch eskalieren, Sinnbezüge angreifen und zerstören sowie »Desorientierung« provozieren (ebd.: 12, Hervorh. i. O.). Letztlich stehen sie damit im Widerstreit zur Wirklichkeit, verleugnen diese und stiften »Unsinn« (ebd.).

Damit verweist Koschorke bereits einleitend auf den im Titel seines Buches angelegten Hauptgedanken, nämlich, dass Erzählungen keineswegs zwingend im Dienst der »Wahrheit« stehen. Stattdessen sind sie ihrer Natur nach von einer »ontologischen Indifferenz« geprägt, »können Irreales als real und Reales als irreal erscheinen lassen«, mit »tieferen Wahrheiten im Bunde stehen« oder auch »den Makel der Betrügerei an sich tragen« (ebd.:17). Dieses zwiespältige Verhältnis zur Wahrheit »betrifft alle Ebenen – von den Alltagsgeschichten über wissenschaftliche Theorien bis hin zu den master narratives, in denen sich Gesellschaften als ganze wiedererkennen« (ebd.: 19, Hervorh. i. O.). Es hat also nicht nur eine interpersonale Dimension, sondern erstreckt sich auch auf öffentlich gehandelte, politische Narrative. Die Folge dieser narrativen Eigenart ist, dass »frei Erfundenes im kollektiven Bewusstsein […] zu einer harten sozialen Tatsache werden« kann, indem es sich »in den Sprachschatz von Gesellschaften« einpflegt und zu »Sprech- und damit Denkweisen« verfestigt (ebd.: 24). Insofern wirkt das Erzählen »in die gesellschaftliche Praxis« hinein und stiftet eine je eigene Realität, die keineswegs fakten- und wahrheitsbasiert sein muss. Koschorke reflektiert wesentliche, »elementare Operationen« der erzählerischen und sozialen Praxis, die er im weiteren Verlauf seines Werkes immer wieder aufgreift: Es geht dabei um Reduktion, Schemabildung, Redundanz und Variation, Diversifikation, Sequenzbildung und Rahmung, Motivation, Positionierung der Erzählinstanz und schließlich um die Erregung und Bindung von Affekten, die jeweils den Akt, den Verlauf und die Struktur von Erzählungen prägen.

So entfalte sich das Erzählen zwar im Reservoir sprachlicher Möglichkeiten, aber es setzt schon von Beginn an mit einer Reduktion ein, denn nicht »alles Wissen kann erzählt werden« (ebd.: 27). Vieles muss auch nicht erzählt werden, entweder, weil es bereits als Wissensbestandteil vorausgesetzt werden kann oder auch, weil sich kein Interesse am Erzählstoff unterstellen lässt. Gerade dieses Interesse aber, die mutmaßliche Aufmerksamkeit und affektive Bindung, auf die eine Erzählung grundsätzlich ausgerichtet ist, selektieren zugleich den Erzählstoff, trennen das, was erzählenswert ist, von dem, was als überflüssig eingeschätzt wird. »Das Nadelöhr der Versprachlichung lässt nichts herein, als was den Fortgang der jeweiligen Geschichte befeuert.« (Ebd.: 29)

Diese selektierende Eigenart des Erzählens ist wesentliches Merkmal der Schemabildung. Die Auswahl des Erzählten bemisst sich nach dem Grad der eingeschätzten Bedeutsamkeit. Für die Einschätzung dessen, was signifikant ist, ist die Erwartungshaltung seitens der Rezipierenden maßgeblich. Läuft der Erzählstoff »Vertrautheitserwartungen entgegen«, so wird durch den Rezeptionsprozess die Geschichte in der Regel an vertraute Erzählmuster angepasst und »Unbekanntes an Bekanntes« assimiliert (ebd.), so dass eine zu starke Fremdheit vermieden wird. Auf diese Weise werden Erzählungen miteinander verbunden oder auch übergeordneten »erzählerischen Generalisierungen« zugeordnet, für die Koschorke den Begriff des »Narrativs« verwendet (ebd.: 30, Hervorh. i. O.). Solche Generalisierungen erfolgen auch durch »Namengebung«, also dadurch, dass noch unbekannte Phänomene begrifflich anschaulich angeglichen und zugeordnet werden (ebd.: 31, Hervorh. i.O.). Koschorke sieht bei solchen Schemabildungen von filternden »Ausdünnungen und Anpassungen« einen Mechanismus am Werk, der vor der Gefahr eines »information overflow« bewahrt, allerdings »um den Preis der Verarmung« der Inhalte. Aber dies entspreche offenbar dem Zweck der »Aufwandsminderung«, die er dem Erzählen grundsätzlich unterstellt. Sowohl derartige komplexitätsreduzierende Aussparungen als auch ihr Gegenteil, nämlich Vervollständigungen, die »unvollständige Schemata« ergänzen, überführen eine eher sperrig daherkommende Geschichte, deren Verständnis viel Aufmerksamkeit und »psychische Energie« abverlangt, in eine vertraute. Schemabildungen ruhen demnach auf »drei Grundvorgängen: Verknappung, Angleichung, Vervollständigung« (ebd.: 32, Hervorh. i. O.). Allen drei ist gemeinsam, dass sie dem Wesen des menschlichen Gedächtnisses entsprechen, das »ein großer Gleichmacher und Vereinfacher« ist, und folglich wächst der »Anpassungsdruck auf Erzählungen […], je häufiger und je länger sie memoriert werden« (ebd.: 33).

Koschorkes Ausführungen zum Thema Redundanz und Variation sind ebenso von der grundsätzlichen Unterstellung einer dem menschlichen Kommunikationsverhalten unterliegenden Trägheit geleitet, die letztlich »narrative Restriktionen« produziert (ebd.: 43). Ein zu hohes Maß an Differenziertheit von Erzählungen laufe daher immer Gefahr, die Bindung von Aufmerksamkeit zu ermüden und »entropische[n] Regungen« zu verfallen (ebd.: 41). Erzählungen sind bemüht, gegen diesen stets drohenden Aufmerksamkeitsentzug anzugehen, indem sie die Einzigartigkeit ihres Stoffes inszenieren und eine Originalität behaupten, die nicht in bereits vorhandenen Wissensbeständen aufgeht. Aber die »Widerstände gegen Differenziertheit« sind beharrlich und fördern, nach kurzer aufmerksamkeitsökonomischer Investition, den Rückfall in gewohnte, nicht selten vorurteilsbehaftete »primitive Erzählschemata« (ebd.: 42, Hervorh. i. O.). Ähnlich wie Nonhoff (vgl. Nonhoff 2010: 300) und Keller (vgl. Keller 2011: 145) betont auch Koschorke, dass das Erzählen mit »Relevanzzumutung« einhergeht, also nur dann Sinn macht, wenn unterstellt werden kann, dass die Botschaft auch für die Zuhörenden »erzählwürdig« ist (ebd.: 39). Häufig werden »singuläre[n] Ereignisfolgen […] in exemplarisches oder in summarisches Erzählen« transformiert, indem man eine Erzählung als typischen Fall für bereits Bekanntes identifiziert oder sie größeren Erzählungen zuordnet (ebd., Hervorh. i. O.). Insofern haben sie eine redundante Ausrichtung und verpacken die »unendliche Zahl möglicher Geschichten in wiederkehrende Muster und Abläufe« (ebd.). Diese Redundanzstruktur von Erzählungen steht nur scheinbar im Widerspruch zur Varianz, denn variantes Erzählen bietet zwar durch die Abweichung vom Bekannten zunächst den Vorteil einer verschärften Aufmerksamkeit. Sie erweitert aber nur das Erzählschema, um dieses dann wieder durch die »Wahl eines anderen mentalen Schemas zu »›normalisieren‹«, es also in Bekanntes einzupflegen (ebd.: 50).

Anders verhält es sich bei Diversifikationen, die ein Beleg dafür sind, dass die »Assimilationskraft« des redundanten Erzählschemas begrenzt ist und sich »widerständige[n] Details« (ebd.: 53) hartnäckig platzieren, lange Zeit unbeachtet ruhen, dann aber auch neue Narrative und die »Entstehung von Sondertraditionen« vorbereiten können. Koschorke liefert hier als Beispiel die redundante Lesart der Zehn Gebote im Kontext der Bücher Mose. Sie sind als humanistische »Magna Charta« in die abendländische Rezeptionsgeschichte eingegangen und haben in diesem Kontext die sperrigen Geschichten über kriegerische Gemetzel und Eroberungsschlachten im Zuge der Landnahme nach dem Auszug aus Ägypten ausgeblendet. In völlig anderem Kontext, etwa der Apartheidpolitik der Weißen in Südafrika oder der Puritaner in Nordamerika, gewannen diese »kriegerischen »›Nebenepisoden‹« legitimatorische Aktualität, und insofern ist »das Randgeschehen« einer »traditionsstiftenden Erzählung […] zum zentralen Motiv einer anderen« geworden (ebd.: 57).

Die Operation der Sequenzbildung und Rahmung betrifft zunächst die Temporalität von Erzählungen. Sie nisten sich gleichsam wie Kapseln in der Zeit ein, aber ihr Anfang und ihr Ende sind keine absoluten Fakten, sondern Ergebnis einer erzählerischen Konstruktion. Dabei wird der Beginn einer Handlung oftmals erst »ex post« bestätigt, so wie der Niedergang eines Fußballvereins erst mit vollzogenem Abstieg im Nachhinein den Trainerwechsel zum Ausgangspunkt dieser Entwicklung erklärt (ebd.: 61). Damit ist ebenso deutlich, dass derartige Konstruktionen nicht nur durch eine einzige kausale Verknüpfung Sinn produzieren, sondern auch mehrere Variationen solcher Verknüpfungen (war es nicht eher das Missmanagement des Vereinsvorstandes bei Spielereinkäufen?) miteinander konkurrieren können. Deshalb ist es insbesondere im politischen Raum nicht unerheblich, wer die »Hoheit über das Erzählen besitzt« und mit entsprechender »Definitionsmacht« das Ende der Erzählung setzt, denn es zählt, was erzählt wird (ebd.: 62). Die Dramaturgie der Erzählung übernimmt nach Koschorke nicht selten die Funktion einer Problembehandlung: Die Lösung setzt mit der reduktionistischen »Untergliederung der Datenmenge« ein, um »Übersichtlichkeit« zu erzeugen (ebd.: 69). Sodann erhält der Sachverhalt eine geschärfte Problemfokussierung, um schließlich eine »›Problemlösungsgemeinschaft‹« zur Anteilnahme zu bewegen, sie also affektiv dahingehend zu mobilisieren, dass sie sich das Problem als solches aneignet. Hat eine derart auf das Problem eingeschworene Gemeinschaft dieses als eigene »Sorge« verinnerlicht, kann der gelingende Abschluss der Erzählung im Sinne der Problemauflösung bei den Adressierten jene Sorge zerstreuen und ihnen »Erleichterung« bescheren (ebd.). Dramatische Techniken jener Performanz binden emotionale Energien besonders dann, wenn in ihrem Verlauf »Wendepunkten und jähen Umschwüngen« Raum gegeben wird. Das Erzählen führt das »Geschehen wie etwas unmittelbar Erlebtes vor Augen«, wodurch die sachliche Berichtsform in eine »szenische Illusion« umschlägt (ebd.: 71).

Wie generiert sich die Motivation für die Rezipierenden einer Erzählung zu folgen? Offensichtlich, so meint Koschorke, ist es ihre narrative Eigenart, nicht vollständig determiniert zu sein und ein »offenes Ende« zu haben (ebd.: 77). Den Zuhörenden wird dadurch eine Art von »Mitautorschaft« zugebilligt. Die Rezipierenden sind nicht einfach passive Empfänger und Transporteure von Botschaften, sondern ergänzen, verkürzen oder variieren sie dynamisch. Sie gestalten einen Prozess »schöpferischer Anverwandlung« (ebd.: 102). Dies gelingt umso besser, je mehr Möglichkeiten offen liegen, eine Geschichte »aufzufüllen«, sie probeweise »mit ergänzenden Handlungsgründen zu versehen« und ihnen damit größeren, kausal verbundenen Zusammenhalt zu geben (ebd.: 76). Derartige »fiktionale Zugaben« stehen daher nicht primär im Dienst der Wahrheit, sondern wollen vor allen Dingen Evidenz herstellen, und was nicht plausibel ist, mit Plausibilität ausstatten (ebd.: 78), auch dadurch, dass sie bestimmten Ereignissen verantwortliche Akteurinnen und Akteure zuschreiben. Eine derartige »Zurechnung von Begebenheiten auf Akteure«, Koschorke nennt dies die »agency