Die 5. Plage - Women's Murder Club - - James Patterson - E-Book

Die 5. Plage - Women's Murder Club - E-Book

James Patterson

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Beschreibung

Wer spielt Gott mit dem Leben anderer Menschen?

Der »Women’s Murder Club« hat ein neues Mitglied: Yuki Castellano hat noch vor kurzem Lieutenant Lindsay Boxer brillant vor Gericht verteidigt. Jetzt ist die Rechtsanwältin selbst auf Lindsays Hilfe angewiesen. Ihre Mutter ist das jüngste Opfer in einer Reihe mysteriöser Todesfälle im San Francisco Hospital. Versucht der eiskalte Dr. Garza eigene Fehldiagnosen zu kaschieren? Oder hinterlässt ein perfider Serienmörder seine blutige Spur im Krankenhaus? Gier oder Wahnsinn – wer verbreitet das tödliche Chaos?

Eiskalt, rasant, auf jeder Seite überraschend!

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Inhaltsverzeichnis
 
Prolog - Die Mitternacht zog heran
Kapitel 1
Kapitel 2
 
Erster Teil - Vorsätzlich
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
 
Copyright
Prolog
Die Mitternacht zog heran
1
Der Regen prasselte an die Fenster, als im San Francisco Municipal Hospital die Nachtschicht begann. Von Beruhigungsmitteln eingelullt, schlief die dreißigjährige Jessie Falk friedlich in ihrem Bett auf der Intensivstation und ließ sich in einem See aus kühlem Licht treiben.
Jessie träumte den schönsten Traum seit Jahren.
Mit ihrem kleinen Engel, der dreijährigen Claudia, spielte sie im Swimmingpool in Omas Garten. Claudie, splitternackt bis auf die knallrosa Schwimmflügel, planschte im Wasser, und ihre blonden Locken glitzerten im Sonnenlicht.
»Alle Entchen fliegen hoch, Claudie!«
»So, Mami?«
Sie flatterte mit den Ärmchen, und Mutter und Tochter fassten sich juchzend und lachend an den Händen, wirbelten im Kreis und fielen mit lautem Gekreische ins Wasser, als plötzlich und ohne Vorwarnung ein stechender Schmerz Jessies Brust durchzuckte.
Mit einem Schrei erwachte sie, richtete sich kerzengerade im Bett auf und hielt sich mit beiden Händen die Brust.
Was passierte da? Was war das für ein Schmerz?
Dann merkte Jessie, dass sie im Krankenhaus lag - und dass ihr wieder übel war. Sie erinnerte sich, wie sie hierhergekommen war - die Fahrt im Krankenwagen, der Arzt, der ihr versichert hatte, dass es nichts Ernstes sei, dass sie sich keine Sorgen machen müsse.
Der Ohnmacht nahe, sank Jessie auf die Matratze zurück und tastete mit fahrigen Bewegungen nach der Klingel auf ihrem Nachttisch. Doch das Gerät glitt ihr aus der Hand und fiel herunter, schlug mit einem dumpfen Scheppern gegen das Bettgestell.
O Gott, ich kriege keine Luft! Was passiert mit mir? Ich kann nicht mehr atmen. Es ist entsetzlich. Oh, mir geht es gar nicht gut.
Jessie warf den Kopf hin und her und blickte voller Panik in dem dunklen Krankenzimmer umher. Da sah sie aus dem Augenwinkel heraus eine Gestalt in der Ecke stehen.
Das Gesicht kannte sie.
»Oh, G-Gott sei Dank!«, keuchte sie. »Helfen Sie mir bitte. Es ist mein Herz.«
Sie streckte die Hände aus, fuchtelte schwach in der Luft herum, doch die Gestalt blieb in der dunklen Ecke stehen.
»Bitte!«, flehte Jessie.
Die Gestalt kam nicht näher, machte keine Anstalten, ihr zu helfen. Was ging da vor? Das hier war doch ein Krankenhaus. Die Person dort in der Ecke arbeitete hier.
Winzige schwarze Pünktchen tauchten vor Jessies Augen auf, während ein brutaler Schmerz ihr die Luft aus der Lunge quetschte. Plötzlich verengte sich ihr Gesichtsfeld zu einem Tunnel aus weißem Licht.
»Bitte, helfen Sie mir. Ich glaube, ich...«
»Ja«, sagte die Gestalt in der dunklen Ecke, »du stirbst, Jessie. Es ist eine Wonne, dir zuzusehen, wie du hinübergehst.«
2
Jessies Hände schlugen auf die Bettdecke wie die Flügel eines kleinen Vogels. Und dann lagen sie plötzlich ganz still. Jessie war tot. Der Engel der Nacht trat vor und beugte sich tief über das Krankenbett. Die Haut der jungen Frau war bläulich gefleckt und fühlte sich feucht und kalt an; ihre Pupillen waren starr. Sie hatte keinen Puls. Keinerlei Vitalzeichen. Wo war sie jetzt? Im Himmel, in der Hölle - oder nirgendwo?
Die schattenhafte Gestalt hob die heruntergefallene Klingel auf und zupfte dann die Bettdecke zurecht. Sie strich das Haar der jungen Frau glatt, richtete den Kragen ihres Krankenhauskittels und tupfte ihr mit einem Papiertaschentuch den Speichel von den Mundwinkeln.
Flinke Finger griffen nach dem gerahmten Foto, das neben dem Telefon auf dem Nachttisch stand. Sie war so hübsch gewesen, diese junge Mutter mit ihrem Baby auf dem Arm. Claudia - so hieß doch ihre Tochter, nicht wahr?
Der Engel der Nacht stellte das Bild zurück, schloss die Augen der Patientin und legte zwei kleine Plättchen, die wie Messingmünzen aussahen - nicht ganz so groß wie ein Zehncentstück -, auf Jessie Falks Lider.
Auf jedes der kleinen Plättchen war ein Äskulapstab geprägt - eine Schlange, die sich um einen Stab windet. Das Symbol der Heilberufe.
Ein geflüsterter Abschiedsgruß mischte sich mit dem Zischen der Autoreifen auf dem nassen Asphalt der Pine Street fünf Stockwerke tiefer.
»Gute Nacht, Prinzessin.«
Erster Teil
Vorsätzlich
3
Ich saß an meinem Schreibtisch und wühlte mich durch einen Stapel Akten - achtzehn ungeklärte Tötungsdelikte, um genau zu sein -, als Yuki Castellano, ihres Zeichens Rechtsanwältin und Strafverteidigerin, auf meinem Privatanschluss anrief.
»Meine Mom will uns zum Lunch ins Armani Café einladen«, verkündete das neueste Mitglied unseres Clubs der Ermittlerinnen. »Du musst sie unbedingt kennenlernen, Lindsay. Sie ist ein solcher Charmebolzen, dass sie jeden um den Finger wickeln kann, und das meine ich wirklich ganz positiv.«
Mal sehen - wofür sollte ich mich entscheiden? Für kalten Kaffee und Thunfischsalat in meinem Büro? Oder für ein leckeres italienisches Essen - vielleicht Carpaccio mit Rucola und frisch gehobeltem Parmesan und einem Glas Merlot dazu - mit Yuki und ihrer charmesprühenden Mama?
Ich richtete den Aktenstapel fein säuberlich aus, sagte unserer Teamassistentin Brenda, dass ich in etwa zwei Stunden wieder da wäre, und verließ das Präsidium. Es würde völlig ausreichen, wenn ich zu unserer Teambesprechung um drei zurück wäre.
Nach einer Reihe von Regentagen schien heute endlich wieder die Sonne, und dieser herrliche Septembertag war einer der letzten Lichtblicke, bevor das kühle, feuchte Herbstwetter über San Francisco hereinbrechen würde.
Es war ein Genuss, an der frischen Luft zu sein.
Ich traf mich mit Yuki und Keiko, ihrer Mutter, vor dem Saks im noblen Shoppingviertel am Union Square. Kurz darauf marschierten wir drei schon munter schwatzend die Maiden Lane hinauf Richtung Grant Avenue.
»Ihr Mädchen, einfach zu modern«, sagte Keiko. Sie war richtig süß, zierlich wie ein Vögelchen, perfekt gekleidet und frisiert und beladen mit Einkaufstüten, die an ihren Armbeugen baumelten. »Kein Mann wollen Frau, die zu selbstständig«, erklärte sie uns.
»Mom, bitte!«, rief Yuki genervt. »Jetzt mach aber mal einen Punkt, ja? Wir leben schließlich im 21. Jahrhundert. Das hier ist Amerika!«
»Sie auch nicht besser, Lindsay«, sagte Keiko, ohne auf Yukis Proteste zu reagieren, und stupste mich in die Seite. »Sie haben Knarre unter Arm!«
Yuki und ich prusteten los, und unser schallendes Gelächter übertönte fast Keikos ernsthafte Beteuerung, dass »kein Mann wollen Frau mit Waffe«.
Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht, während wir an einer roten Fußgängerampel warteten.
»Ich habe aber einen Freund«, sagte ich.
»Aber hallo«, rief Yuki und erging sich gleich in Lobeshymnen über meinen Verehrer. »Joe ist ein sehr gut aussehender italienischer Typ. Genau wie Dad. Und er hat einen superwichtigen Job bei der Regierung. Heimatschutzministerium.«
»Er bringen dich zum Lachen?«, fragte Keiko, die Yukis Auflistung von Joes Qualitäten demonstrativ ignorierte.
»Mhm. Manchmal lachen wir uns regelrecht scheckig.«
»Er dich gut behandeln?«
»Oh, er behandelt mich ja soooo gut«, erwiderte ich grinsend.
Keiko nickte anerkennend. »Ich kennen diese Lächeln«, sagte sie. »Du haben Mann mit langsame Hände gefunden.«
Wieder brachen Yuki und ich in johlendes Gelächter aus, und an dem schelmischen Blitzen in Keikos Augen konnte ich ablesen, wie sehr sie dieses »Verhör« genoss.
»Wann du kriegen Ring von diese Joe?«
Jetzt wurde ich doch tatsächlich rot. Keiko hatte ihren perfekt manikürten Finger genau auf den wunden Punkt gelegt. Joe wohnte in Washington, D. C. Ich nicht. Das ging einfach nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie unsere Beziehung sich entwickeln würde.
»Wir sind noch nicht im Ringe-Stadium angelangt«, erklärte ich ihr.
»Du lieben diese Joe?«
»Total«, gestand ich.
»Er lieben dich?«
Yukis Mom blickte amüsiert zu mir auf, da sah ich, wie ihre Gesichtszüge plötzlich erstarrten, als hätten sie sich in Stein verwandelt. Ihre lebhaften Augen wurden glasig, und ihre Knie knickten ein.
Ich streckte die Hand aus, um sie aufzufangen, aber es war zu spät.
Mit einem Stöhnen, bei dem mir fast das Herz stehen blieb, klappte Keiko auf dem Gehsteig zusammen. Ich konnte nicht glauben, was gerade passiert war, und ich verstand die Welt nicht mehr. Hatte Keiko einen Schlaganfall erlitten?
Yuki schrie auf, sank neben ihrer Mutter in die Hocke und schlug ihr mit der flachen Hand auf die Wangen. »Mommy, Mommy, wach auf!«, rief sie.
»Lass mich mal hin, Yuki. Keiko! Keiko, können Sie mich hören?«
Mein Herz schlug wie ein Dampfhammer, als ich zwei Finger an Keikos Halsschlagader legte, ihren Puls fühlte und dabei den Sekundenzeiger meiner Armbanduhr beobachtete.
Sie atmete, aber ihr Puls war so schwach, dass ich ihn kaum tasten konnte.
Ich riss mein Handy aus der Gürteltasche und rief die Leitstelle an.
»Lieutenant Boxer, Dienstnummer 27-21«, bellte ich ins Telefon. »Einen Rettungswagen in die Maiden Lane, Ecke Grant. Sofort!«
4
Das San Francisco Municipal Hospital ist riesig - wie eine Stadt in der Stadt. Früher ein städtisches Krankenhaus, ist es vor einigen Jahren privatisiert worden, nimmt aber immer noch mehr als seinen vorgeschriebenen Anteil an bedürftigen Patienten und dem Überschuss aus anderen Kliniken auf. Über hunderttausend Patienten werden hier jedes Jahr behandelt.
Und in diesem Moment lag Keiko Castellano in einem der mit Vorhängen abgeteilten Betten, die an den Wänden der riesigen, von hektischer Betriebsamkeit gekennzeichneten Notaufnahmestation aufgereiht standen.
Als ich neben Yuki im Wartezimmer saß, konnte ich ihre Panik spüren, ihre Angst um das Leben ihrer Mutter.
Und vor meinem inneren Auge blitzte eine Erinnerung an meinen letzten Aufenthalt in einer Notaufnahme auf. Ich sah noch die geisterhaften Hände der Ärzte, die sich an mir zu schaffen machten, hörte das laute Wummern meines Herzens - und erinnerte mich daran, wie ich mich gefragt hatte, ob ich hier jemals lebend rauskommen würde.
Ich war nicht im Dienst gewesen an jenem Abend, war aber trotzdem einen Einsatz mitgefahren, ohne zu ahnen, dass die Routineüberprüfung von einer Minute auf die andere in eine Katastrophe umschlagen und ich angeschossen am Boden liegen würde. Das Gleiche galt für meinen Freund und ehemaligen Partner, Inspector Warren Jacobi. Wir hatten jeder zwei Kugeln abbekommen, dort in der menschenleeren Seitenstraße. Er war bewusstlos, und ich lag blutend auf der Straße, als es mir irgendwie gelang, meine letzten Kräfte zu mobilisieren und das Feuer zu erwidern.
Ich zielte gut - vielleicht zu gut.
Es gehört zu den unerfreulichen Zeichen der Zeit, dass Zivilisten, die von der Polizei angeschossen werden, in der Öffentlichkeit mehr Sympathien genießen als Polizisten, auf die ein Zivilist das Feuer eröffnet. Ich wurde von den Familien der so genannten Opfer verklagt und hätte alles verlieren können, was mir lieb und teuer war.
Damals hatte ich Yuki noch kaum gekannt.
Aber Yuki Castellano war die kluge, leidenschaftliche und enorm talentierte junge Anwältin, die mich nicht im Stich gelassen hatte, als ich sie wirklich brauchte, und dafür würde ich ihr immer dankbar sein.
Ich drehte mich zu Yuki um, als sie auf mich einredete. Ihre Stimme war brüchig vor Aufregung, ihre Stirn voller Sorgenfalten.
»Das ist einfach nicht zu begreifen, Lindsay. Du hast sie doch gesehen. Du meine Güte, sie ist erst fünfundfünfzig! Das reinste Energiebündel. Was ist denn da los? Warum sagen sie mir nichts? Oder lassen mich wenigstens zu ihr?«
Ich wusste keine Antwort, aber wie Yuki war ich mit meiner Geduld am Ende.
Wo zum Teufel blieb der Arzt?
Das war eine Unverschämtheit. Absolut inakzeptabel.
Was dauerte denn da so lange?
Ich war drauf und dran, in die Notaufnahme zu stürmen und Antworten auf meine Fragen zu verlangen, als endlich ein Arzt in den Warteraum trat. Er blickte sich um und rief dann Yukis Namen.
5
Auf dem Namensschild über der Brusttasche seines weißen Kittels stand: »Dr. Dennis Garza, Leiter Notaufnahme.«
Ich konnte nicht umhin, zu bemerken, dass Garza ein attraktiver Mann war - Mitte vierzig, circa eins fünfundachtzig, um die achtzig Kilo schwer, breitschultrig und durchtrainiert. Seine spanische Herkunft zeigte sich in seinen schwarzen Augen und dem dichten, ebenfalls schwarzen Haar, das ihm in die Stirn fiel.
Aber was mir am meisten auffiel, war die körperliche Anspannung, die der Arzt ausstrahlte, durch seine verkrampfte Haltung wie auch durch die Art, wie er permanent am Armband seiner Rolex zupfte, als wollte er sagen: Ich bin ein viel beschäftigter Mann. Ein wichtiger, viel beschäftigter Mann. Machen wir es kurz. Ich weiß nicht, warum, aber ich mochte ihn nicht.
»Ich bin Dr. Garza«, wandte er sich an Yuki. »Ihre Mutter hatte wahrscheinlich einen neurologischen Insult, entweder eine TIA, wie wir es nennen, eine transitorische ischämische Attacke, oder einen Mini-Schlaganfall. Im Klartext: eine Unterbrechung der Blut- und Sauerstoffversorgung des Gehirns, möglicherweise in Verbindung mit einem leichten Anfall von Angina pectoris - das sind Schmerzen, die von einer Verengung der Herzkranzgefäße herrühren.«
»Ist das etwas Ernstes? Hat sie noch Schmerzen? Wann kann ich sie sehen?«
Yuki bombardierte Dr. Garza mit Fragen, bis er schließlich abwehrend eine Hand hob.
»Sie redet noch wirr. Die meisten Patienten erholen sich binnen einer halben Stunde. Bei anderen, zu denen ihre Mutter vielleicht gehört, dauert es bis zu vierundzwanzig Stunden. Wir müssen sie weiter beobachten. Und Besuch kommt derzeit noch nicht in Frage. Warten wir einfach ab, wie es ihr heute Abend geht, ja?«
»Aber sie wird doch wieder gesund, nicht wahr? Nicht wahr?«, bedrängte Yuki den Arzt.
»Miss Castellano. Jetzt atmen Sie erst mal tief durch«, entgegnete Garza. »Ich sage Ihnen Bescheid, sobald wir mehr wissen.«
Die Tür zur Notaufnahme schloss sich hinter dem unsympathischen Arzt. Yuki sank kraftlos auf einen der Plastikstühle, ließ den Kopf in die Hände sinken und begann zu schluchzen. Ich hatte Yuki noch nie weinen sehen, und es machte mich fertig, sie so leiden zu sehen und ihr nicht helfen zu können.
So tat ich das Einzige, was ich tun konnte.
Ich legte Yuki den Arm um die Schultern und sagte: »Ist ja schon gut, Süße. Sie ist hier in guten Händen. Deiner Mom wird es schon ganz bald besser gehen, das weiß ich.«
Und dann streichelte ich Yukis Hände, während sie sich die Augen aus dem Kopf heulte. Sie wirkte so zerbrechlich und so verängstigt, fast wie ein kleines Mädchen.
6
Das Wartezimmer hatte keine Fenster. Die Zeiger der Uhr über dem Kaffeeautomaten rückten quälend langsam vor, während der Nachmittag in den Abend und die Nacht in den Morgen überging. Dr. Garza tauchte nicht wieder auf, und er ließ uns auch keine Nachricht zukommen.
In diesen achtzehn langen Stunden standen Yuki und ich abwechselnd auf, um uns die Beine zu vertreten, Kaffee zu holen oder zur Toilette zu gehen. Wir aßen Sandwiches aus dem Automaten zum Abendbrot, tauschten Zeitschriften aus und lauschten in der unheimlichen fluoreszierenden Stille unseren flachen Atemzügen.
Kurz nach drei Uhr früh schlief Yuki an meiner Schulter fest ein - nur, um zwanzig Minuten später mit einem Ruck aufzufahren.
»Ist irgendetwas passiert?«
»Nein, Schätzchen. Schlaf nur ruhig weiter.«
Aber das konnte sie nicht.
Schulter an Schulter saßen wir in diesem von künstlicher Helligkeit erfüllten, unwirtlichen Raum, während die Gesichter um uns herum wechselten: das Pärchen, das die ganze Zeit Händchen hielt und ins Leere starrte; die Familien mit kleinen Kindern im Arm; ein älterer Mann, der ganz allein dasaß.
Jedes Mal, wenn die Schwingtür zur Notaufnahme aufgestoßen wurde, schossen alle Blicke dorthin.
Manchmal kam ein Arzt heraus.
Manchmal waren danach Schreie und Schluchzen zu hören.
Es war fast sechs Uhr morgens, als eine junge Assistenzärztin mit müden Augen und blutverschmiertem OP-Kittel aus der Notaufnahme kam und Yukis Namen vollkommen falsch aussprach.
»Wie geht es ihr?«, fragte Yuki, die sofort aufgesprungen war.
»Sie ist jetzt klarer im Kopf - das heißt wohl, dass es ihr besser geht«, antwortete die Assistenzärztin. »Wir werden sie noch ein paar Tage hierbehalten und einige Tests machen, aber Sie dürfen sie besuchen, sobald wir sie in ihr Zimmer gebracht haben.«
Yuki dankte der jungen Ärztin, und das Lächeln, mit dem sie sich zu mir umwandte, war viel strahlender, als die Aussage der Ärztin es gerechtfertigt hätte.
»O Gott, Linds, meine Mom wird es schaffen! Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel es mir bedeutet, dass du die ganze Nacht bei mir geblieben bist«, sagte Yuki.
Sie fasste mich an beiden Händen, und in ihren Augen standen Tränen. »Ich weiß nicht, wie ich das überstanden hätte, wenn du nicht hier gewesen wärst. Du hast mich gerettet, Lindsay.«
»Yuki, du bist meine Freundin. Wenn du irgendetwas brauchst, musst du gar nicht erst fragen. Das weißt du doch, oder? Egal, was es ist. Und vergiss nicht, mich anzurufen«, schärfte ich ihr ein.
»Das Schlimmste ist überstanden«, sagte Yuki. »Mach dir keine Sorgen mehr um uns, Lindsay. Und danke. Vielen, vielen Dank!«
Als ich das Krankenhaus durch die automatische Schiebetür verließ, drehte ich mich noch einmal um.
Yuki stand immer noch da und sah mir nach. Sie hatte ein Lächeln auf den Lippen, als sie mir zum Abschied zuwinkte.
7
Ein Taxi stand mit laufendem Motor vor dem Eingang des Krankenhauses. Glück gehabt. Ich stieg ein und sackte erschöpft auf dem Rücksitz zusammen. So kaputt, wie ich mich fühlte, konnte ich gar nicht aussehen. Sich die Nächte um die Ohren schlagen ist was für College-Studentinnen, aber nicht für große Mädels wie mich.
Der Fahrer hielt dankenswerterweise den Mund, während er mich in der Morgendämmerung nach Potrero Hill kutschierte.
Wenige Minuten später steckte ich den Schlüssel ins Haustürschloss des dreigeschossigen blauen Reihenhauses, das ich mit zwei anderen Parteien teile, und nahm immer zwei Stufen auf einmal, als ich die Treppe zum ersten Stock hinaufging.
Sweet Martha, meine Border-Collie-Hündin, begrüßte mich an der Wohnungstür, als wäre ich ein ganzes Jahr weg gewesen. Ich wusste, dass ihre Hundesitterin sie gefüttert und ausgeführt hatte - Karens Rechnung lag auf dem Küchentisch -, aber Martha hatte mich vermisst, und ich sie auch.
»Yukis Mama liegt im Krankenhaus«, erklärte ich meinem Hundchen. Albernes Frauchen. Ich schlang die Arme um ihren Hals, und sie bedeckte mein Gesicht mit ihren feuchten Küssen, um mir dann ins Schlafzimmer zu folgen.
Am liebsten hätte ich mich gleich in mein gemütliches Bett fallen lassen und wäre sieben oder acht Stunden lang nicht mehr aufgestanden, aber stattdessen schlüpfte ich in einen zerknitterten Jogginganzug und ging mit meiner vierbeinigen Freundin laufen, während der schimmernde Morgennebel noch über der Bucht hing.
Um Punkt acht Uhr saß ich an meinem Schreibtisch und sah durch die Glaswände meines Kabuffs zu, wie die Frühschicht allmählich im Kommandoraum eintrudelte.
Der Aktenstapel auf meinem Schreibtisch war noch gewachsen, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, und das rote Lämpchen am Anrufbeantworter blinkte aggressiv. Ich wollte mich gerade den diversen Störfaktoren widmen, als ein Schatten auf meinen Schreibtisch und den noch ungeöffneten Kaffeebecher vor mir fiel.
Ein kräftiger Mann mit schütterem Haar stand in der Tür. Ich kannte seine zerknautschte Boxervisage fast so gut wie meine eigene.
Mein Expartner hatte das leicht ramponierte Aussehen eines Polizeibeamten im höheren Dienst, der die Fünfziger-Klippe schon umschifft hat. Inspector Warren Jacobis spärliche Haarpracht war schon fast ganz weiß, und seine tief liegenden Augen unter den schweren Lidern blickten härter, seit er sich damals in der Larkin Street diese zwei Kugeln eingefangen hatte.
»Du siehst aus, als hättest du auf einer Parkbank übernachtet, Boxer.«
»Danke für das Kompliment, Partner.«
»Ich hoffe, du hast dich gut amüsiert.«
»Königlich. Was steht an, Jacobi?«
»Leichenfund, ist vor zwanzig Minuten reingekommen«, sagte er. »Weiblich, war mal sehr attraktiv, wie ich höre. Wurde im Parkhaus an der Opera Plaza in einem Cadillac tot aufgefunden.«
8
Das Opera-Plaza-Parkhaus ist ein weitläufiges Labyrinth, direkt neben einem riesigen Multifunktionsgebäude mit Kinos, Büros und Läden inmitten eines dicht bebauten Geschäftsviertels.
Jetzt, an einem Werktagmorgen, steuerte Jacobi unseren Wagen vorsichtig über den Seitenstreifen, vorbei an einer Reihe von Einsatzwagen, die mit Bedacht so geparkt waren, dass sie die Einfahrt von der Golden Gate Avenue blockierten.
Kein Auto fuhr heraus oder hinein, und eine wuselnde Menge von Schaulustigen hatte sich bereits versammelt. Bei ihrem Anblick brummte Jacobi: »Die braven Bürger zerreißen sich schon die Mäuler. Die wissen immer gleich Bescheid, wenn irgendwo was Aufregendes passiert ist.«
Als wir uns einen Weg durch die Menge bahnten, wurden wir von allen Seiten bestürmt. »Sind Sie hier zuständig?«, riefen schrille Stimmen. »He, ich muss zu meinem Wagen! Ich hab in fünf Minuten’nen Termin!«
Ich schlüpfte unter dem Absperrband durch und baute mich mit meinen ganzen eins achtundsiebzig Körpergröße mitten in der Auffahrt auf. Dann nannte ich meinen Namen und bat alle Anwesenden um Entschuldigung für eventuelle Unannehmlichkeiten.
»Bitte haben Sie Verständnis. Es tut mir leid, aber dieses Parkhaus ist als Tatort eines Verbrechens vorübergehend gesperrt. Ich hoffe ebenso sehr wie Sie, dass wir das Feld bald wieder räumen können. Wir werden unser Bestes tun.«
Nachdem ich ein paar Fragen abgeblockt hatte, auf die es keine Antworten gab, hörte ich hinter mir Schritte, und jemand rief meinen Namen. Ich drehte mich um und sah Jacobis neuen Partner, Inspector Rich Conklin, die Auffahrt herunterkommen, um uns zu begrüßen.
Ich hatte Conklin von Anfang an gemocht, als ich ihn vor ein paar Jahren kennengelernt hatte. Damals war er noch ein einfacher Streifenbeamter gewesen, aber schon genauso clever und hartnäckig wie heute. Durch seine Tapferkeit im Dienst und eine beeindruckende Latte von Verhaftungen hatte er sich vor Kurzem im zarten Alter von neunundzwanzig Jahren die Beförderung zur Mordkommission verdient.
Conklin hatte auch vielen Mitarbeiterinnen im Präsidium den Kopf verdreht, nachdem er seine Uniform gegen die goldene Dienstmarke der Detectives eingetauscht hatte.
Conklin war knapp eins neunzig, fit und durchtrainiert, hatte braune Augen, hellbraunes Haar und sah aus wie eine Mischung aus einem College-Baseballspieler und einem Navy-Kampfschwimmer.
Nicht, dass ich auf solche Dinge geachtet hätte.
»Was liegt denn an?«, fragte ich Conklin.
Seine leuchtenden braunen Augen fixierten mich. Sehr ernst, aber voller Respekt. »Das Opfer ist weiß und weiblich, Lieutenant, einundzwanzig oder zweiundzwanzig. Sieht mir nach einer Drosselmarke um den Hals aus.«
»Gibt’s schon irgendwelche Zeugen?«
»Schön wär’s - aber leider nein. Der Typ da drüben« - Conklin wies mit dem Daumen auf den ungepflegten, langhaarigen Kontrolleur im Kassenhäuschen -, »Angel Cortez heißt er, war die ganze Nacht im Dienst und hat natürlich nichts Ungewöhnliches beobachtet. Er hat gerade mit seiner Freundin telefoniert, als eine Kundin schreiend die Auffahrt runtergerannt kam.
Die Kundin heißt« - Conklin klappte sein Notizbuch auf - »Angela Spinogatti. Sie hatte ihren Wagen über Nacht hier geparkt, und heute Morgen hat sie die Leiche in dem Caddy entdeckt. Viel mehr konnte sie uns auch nicht sagen.«
»Habt ihr die Kennzeichen schon überprüft?«, fragte Jacobi.
Conklin nickte knapp und blätterte eine Seite in seinem Notizbuch um. »Der Caddy gehört einem gewissen Dr. Lawrence P. Guttmann, Zahnarzt. Keine Vorstrafen, kein Haftbefehl. Es wird schon nach ihm gefahndet.«
Ich dankte Conklin und bat ihn, die Parktickets und die Überwachungsvideos sicherzustellen. Dann ging ich mit Jacobi die Auffahrt hinauf.
Ich litt unter extremem Schlafmangel, aber ein steter, dünner Adrenalinstrom sickerte in meine Blutbahn. Ich malte mir die Szene aus, noch bevor ich sie zu sehen bekam, und grübelte darüber nach, wie es kam, dass eine junge weiße Frau erdrosselt in einem Parkhaus lag.
Über uns hallten Schritte. Von vielen, vielen Füßen. Meine Leute.
Ich zählte ein Dutzend Beamte des SFPD, verteilt über die in Spiralen ansteigende Rampe des Parkhauses. Sie durchkämmten den Müll, notierten Kennzeichen und hielten die Augen offen nach allem, was uns weiterhelfen könnte, ehe der Tatort wieder für die Öffentlichkeit freigegeben wurde.
Jacobi und ich bogen um die Kurve, die uns zum vierten Parkdeck brachte, und da sahen wir den Caddy stehen. Ein schwarzer Seville, neues Modell, der Lack glänzend und ohne Kratzer. Er parkte mit der Schnauze am Geländer in Richtung des Civic-Center-Parkhauses auf der McAllister.
»Von null auf hundert in sechs Sekunden«, murmelte Warren, und dann pfiff er eine gerade so identifizierbare Version des Jingles aus den Cadillac-Werbespots.
»Ganz ruhig, mein Junge«, sagte ich.
Charlie Clapper, der Chef der Spurensicherung, trug seine übliche Leichenbittermiene und dazu eine graue Jacke mit Fischgrätmuster, die ganz gut zu seinem grau melierten Haar passte.
Er legte seine Kamera auf der Motorhaube des Subaru Outback ab, der neben dem Caddy parkte, und sagte: »Morgen, Lieutenant - hallo, Jacobi. Darf ich vorstellen: die Leiche.«
Ich streifte mir Latexhandschuhe über und folgte ihm um den Wagen herum. Der Kofferraum war geschlossen, weil die Tote nicht darin lag.
Sie saß auf dem Beifahrersitz, die Hände auf dem Schoß gefaltet, und starrte mit ihren hellen, weit aufgerissenen Augen zur Frontscheibe hinaus.
Als ob sie auf jemanden wartete.
»Ach du Scheiße«, stieß Jacobi angewidert hervor. »So ein hübsches junges Mädchen. Hat sich extra schick gemacht, und wofür? Für nichts und wieder nichts.«
9
»Ich kann nirgendwo eine Handtasche entdecken«, sagte Clapper zu mir. »Ihre Sachen habe ich nicht angerührt, das überlasse ich der Rechtsmedizinerin. Hübsche Klamotten«, meinte er. »Scheint mir aus reichem Hause zu stammen. Was denken Sie?«
Trauer und Wut erfassten mich, als ich in das verträumte Gesicht des Opfers blickte.
Sie hatte einen hellen Teint. Eine feine Puderschicht bedeckte das Gesicht, und auf den runden Wangen schimmerte ein Hauch Rouge. Ihre blonden Strähnchen waren im Meg-Ryan-Stil kunstvoll zerzaust, und die Nägel waren erst vor Kurzem manikürt worden.
Alles an dieser Frau roch nach begüterter Elite, nach glänzender Zukunft, nach Geld. Es war, als sei sie gerade im Begriff gewesen, zu einer Traumkarriere abzuheben, als irgendein Irrer ihr auf einen Schlag alles entriss.
Ich presste den Handrücken an die Wange der Toten. Ihre Haut fühlte sich lauwarm an, was mir verriet, dass sie am Abend zuvor noch gelebt hatte.
»Das waren nicht irgendwelche hergelaufenen Typen, die diese kleine Lady kaltgemacht haben«, bemerkte Jacobi.
Ich nickte zustimmend.
Als ich bei der Mordkommission anfing, lernte ich sehr bald, dass Tatorte generell in zwei Kategorien zerfallen. Beim ersten Typ finden die Spurensicherer ein Chaos vor: Blutspritzer, zerbrochene Gegenstände und Patronenhülsen überall, und die Leichen liegen kreuz und quer herum, wo sie gerade gefallen sind.
Und dann gibt es Tatorte wie diesen.
Alles sauber und ordentlich. Geplant.
Der Vorsatz mit Händen zu greifen.
Die Kleidung des Opfers war makellos - kein zerknüllter Stoff, keine abgerissenen Knöpfe. Sie war sogar angeschnallt, der Gurt stramm über ihren Schoß und die rechte Schulter gezogen.
Hatte der Mörder irgendwelche Gefühle für sie gehabt?
Oder war dieser penibel arrangierte Tatort eine Botschaft, gerichtet an diejenigen, die sie finden würden?
»Die Beifahrertür ist mit einem Stemmeisen aufgebrochen worden«, klärte Clapper uns auf. »Alle Oberflächen wurden sauber abgewischt. Keine Fingerabdrücke, weder innen noch außen. Und sehen Sie mal da.«
Clapper deutete auf eine Kamera, die oben an einem Betonpfeiler montiert war. Sie zeigte genau in die andere Richtung, zur Ausfahrtsrampe.
Mit dem Kinn wies er auf eine zweite Kamera, die auf die Auffahrt zum fünften Deck gerichtet war.
»Ich glaube kaum, dass Sie auf den Videos sehen werden, wie der Täter das Opfer abmurkst«, sagte Clapper. »Dieses Auto steht haargenau im toten Winkel.«
Das mag ich so an Charlie. Er weiß, was er tut, er zeigt einem, was er sieht, aber er versucht nicht, am Tatort das Kommando zu übernehmen. Er lässt die anderen auch ihren Job machen.
Ich richtete den Strahl meiner Taschenlampe ins Wageninnere und hakte im Kopf die wichtigen Details ab.
Das Opfer sah gesund aus, wog schätzungsweise fünfzig Kilo und war um die eins fünfundfünfzig groß.
Kein Ehe- oder Verlobungsring.
Sie trug eine Kristallperlenkette, und direkt darüber war die Drosselmarke zu sehen; leicht zerfasert und nicht sehr tief, als wäre die Frau mit etwas Weichem erdrosselt worden.
An den Armen konnte ich keine Schnitte oder Blutergüsse erkennen, und auch sonst keine Anzeichen von Gewalt - bis auf die Drosselmarke eben.
Ich wusste nicht, wie oder warum dieses Mädchen getötet worden war, aber sowohl meine Augen als auch mein Bauch sagten mir, dass sie nicht in diesem Auto gestorben war.
Sie musste hierhergeschafft worden sein, und dann hatte der Täter sie sorgfältig in Positur gesetzt, weil er wollte, dass irgendjemand sein Werk bewunderte.
Ich bezweifelte, dass irgendwer sich für mich die ganze Mühe gemacht hätte.
Ich hoffte es jedenfalls nicht.
10
»Haben Sie Ihre Bilder im Kasten?«, fragte ich Clapper.
Es war ein bisschen eng, und ich wollte näher herangehen, um mir das Opfer genauer ansehen zu können.
»Ich habe mehr als genug für meine Sammlung«, sagte er. »Ausgesprochen fotogen, das Mädel.«
Er verstaute seine Olympus-Digitalkamera im Futteral und ließ den Deckelverschluss einschnappen.
Ich bückte mich, streckte die Hand aus und angelte vorsichtig nach den Etiketten an der Rückseite der blassrosa Jacke des Opfers und ihres schlank geschnittenen schwarzen Partykleids.
»Die Jacke ist von Narciso Rodriguez«, rief ich Jacobi zu. »Und das Kleid ist ein kleiner Fetzen von Carolina Herrera. Der ganze Fummel kommt schätzungsweise auf sechs Riesen. Und da sind die Schuhe noch nicht drin.«
Seit Sex and the City war Manolo Blahnik in Sachen Schuhe der angesagte Name. Ich erkannte ein Paar seiner unverwechselbaren Sandaletten an den Füßen des Opfers.
»Sie riecht sogar nach Geld«, meinte Jacobi.
»Du hast eine gute Nase, mein Freund.«
Das Parfum der Toten hatte einen Moschus-Unterton, der Bilder von rauschenden Ballnächten und Orchideen heraufbeschwor, vielleicht ein Rendezvous im Mondschein unter moosbewachsenen Bäumen. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich den Duft noch nirgendwo gerochen hatte. Vielleicht irgendein hochpreisiges Speziallabel.
Ich beugte mich gerade vor, um noch einmal zu schnuppern, als Conklin einen weißen Mann die Rampe hinaufführte. Er war um die vierzig, klein und gedrungen, mit einem krausen Haarkranz und schwarzen Knopfaugen, die nervös umherzuckten.
»Ich bin Dr. Lawrence Guttman«, blaffte der Mann Jacobi indigniert an. »Und vielen Dank, dass Sie mich gefragt haben - ja, das ist mein Wagen. Was machen Sie damit?«
Jacobi zeigte Guttman seine Marke und sagte: »Gehen wir doch zu meinem Wagen, Dr. Guttman, und fahren zusammen aufs Präsidium. Inspector Conklin und ich haben ein paar Fragen an Sie, aber ich bin mir sicher, dass sich alles im Handumdrehen aufklären wird.«
In diesem Moment entdeckte Guttman die tote Frau auf dem Beifahrersitz seines Seville. Seine Augen schnellten zurück zu Jacobi.
»Mein Gott! Wer ist diese Frau? Sie ist tot! W-Was denken Sie denn?«, stammelte er. »Dass ich jemanden umgebracht und die Leiche in meinem Auto liegen gelassen habe? Sie werden doch wohl nicht glauben... Sind Sie verrückt geworden? Ich will meinen Anwalt!«
Guttmans Stimme ging im Röhren eines starken Motors unter, das von den Betonwänden widerhallte. Ein schwarzer Chevy erklomm mit quietschenden Reifen die spiralförmige Auffahrtsrampe des Parkhauses.
Fünf Meter vor uns blieb er stehen, und die Seitentüren glitten auf.
Eine Frau stieg vom Fahrersitz.
Schwarz, knapp über vierzig, eine gewichtige Persönlichkeit in jeder Hinsicht, strahlte Claire Washburn mit jeder Bewegung die Würde ihres Amtes und das Selbstvertrauen einer allseits beliebten Frau aus.
Die Rechtsmedizinerin war eingetroffen.
11
Claire ist die Leiterin der Rechtsmedizin von San Francisco; eine exzellente Pathologin, eine Meisterin der Intuition, eine ziemlich gute Cellistin, seit zwanzig Jahren verheiratet, Mutter von zwei Jungen - und schlicht und einfach meine beste Freundin im ganzen Universum.
Vor vierzehn Jahren waren wir uns am Fundort einer Leiche zum ersten Mal begegnet, und seitdem hatten wir mehr Zeit miteinander verbracht als so manches Ehepaar.
Und wir verstanden uns auch besser.
Jetzt fielen wir uns dort im Parkhaus um den Hals und stärkten uns an der Liebe, die wir füreinander empfinden. Als wir uns endlich aus unserer Umarmung lösten, stemmte Claire die Hände in die Hüften und nahm den Tatort in Augenschein.
»Also, Lindsay«, sagte sie, »wer hat denn diesmal das Zeitliche gesegnet?«
»Im Moment läuft sie noch unter Jane Doe. Sieht aus, als wäre sie das Opfer eines durchgeknallten Perfektionisten geworden, Claire. Wie aus dem Ei gepellt. Aber wir wollen mal hören, was du dazu sagst.«
»Na ja, schauen wir mal, dann sehen wir schon.«
Claire ging mit ihrem Koffer zu dem Wagen und machte rasch ihre eigenen Fotos. Nachdem sie die Lage des Opfers aus allen Winkeln dokumentiert hatte, stülpte sie Papiertüten über die Hände und Füße der jungen Frau und befestigte sie mit Klebeband.
»Lindsay«, rief sie mich, als sie fertig war, »komm und sieh dir das mal an.«
Ich zwängte mich in die enge Lücke zwischen Claire und der Autotür. Claire zog zuerst die Oberlippe des Mädchens hoch, dann klappte sie die Unterlippe herunter und zeigte mir im Schein ihrer Stablampe die Blutergüsse an den Innenseiten.
»Siehst du das, Schätzchen? Ist die junge Dame vielleicht intubiert worden?«, fragte Claire.
»Nein. Die Sanitäter haben sie nicht angerührt. Wir haben auf dich gewartet.«
»Diese Verletzungen wurden ihr also vor dem Tod beigebracht . Sieh dir ihre Zunge an. Scheint mir eine Schnittwunde zu sein.«
Claire richtete ihre Lampe auf die Furche, die sich um den Hals des Mädchens zog.
»Ungewöhnliche Drosselmarke«, stellte sie fest.
»Das habe ich mir auch gedacht. Ich sehe gar keine Petechien in den Augen«, sagte ich. Ich konnte auch mit Fachausdrücken um mich werfen. »Seltsam, nicht wahr? Wenn sie erdrosselt wurde?«
»Das ist alles sehr seltsam, meine Gute«, erwiderte Claire. »Ihre Kleidung ist makellos. Das sieht man nicht oft bei Mordopfern. Eigentlich nie.«
»Todesursache? Todeszeitpunkt?«
»Ich würde sagen, sie ist irgendwann gegen Mitternacht gestorben. Die Leichenstarre setzt gerade ein. Abgesehen davon weiß ich auch nur, dass das Mädchen tot ist. Ich werde dir mehr sagen können, wenn ich mir die junge Dame bei anständiger Beleuchtung in unserem kleinen Horrorladen angesehen habe.«
Claire stand auf und wandte sich an ihren Assistenten.
»Okay, Bobby. Holen wir das arme Mädchen aus dem Auto. Aber vorsichtig, bitte.«
Ich trat an die Kante des vierten Parkdecks und blickte über die Dächer der Häuser und den Verkehr hinweg, der unten über die Golden Gate Avenue schlich. Als ich mich wieder ein wenig gesammelt hatte, rief ich Jacobi mit meinem Handy an.
»Ich habe Guttman wieder laufen lassen«, ließ er mich wissen. »Er ist gerade erst mit dem Flieger aus New York gekommen und hatte seinen Wagen im Parkhaus abgestellt, während er verreist war.«
»Alibi?«
»Ist wasserdicht. Jemand anderes hat ihm dieses Mädchen in seinen Caddy verfrachtet. Wie läuft’s bei euch?«
Ich drehte mich um und sah, wie Claire und Bobby die Tote in das zweite von zwei Laken wickelten, um es dann in einen Leichensack zu packen. Das hässliche Geräusch dieses zwei Meter langen Reißverschlusses, mit dem das Opfer luftdicht in einem Plastiksack eingeschlossen wird, ist von einer so abscheulichen Endgültigkeit, dass es einen wie ein Schlag in die Magengrube trifft, ganz gleich, wie oft man es schon gehört hat.
Ich hatte selbst das Gefühl, dass meine Stimme traurig klang, als ich zu Jacobi sagte: »Wir packen gerade zusammen.«
12
Es war fast sechs Uhr abends am selben Tag, zehn Stunden, nachdem wir die Leiche gefunden hatten.
Der Stapel Papier auf meinem Schreibtisch war die Auflistung der siebenhundertzweiundsechzig Autos, die in der vergangenen Nacht in das Opera-Plaza-Parkhaus eingefahren waren oder es verlassen hatten.
Seit dem Morgen jagten wir schon sämtliche Kennzeichen und Zulassungen durch die Datenbank, aber noch hatte bei keinem eine rote Lampe geblinkt - nichts, was auch nur ansatzweise erfolgversprechend gewesen wäre.
Caddy-Girls Fingerabdrücke konnten wir auch vergessen.
Sie war nie verhaftet worden, hatte nie an einer Schule unterrichtet oder in der Armee gedient, und sie hatte auch bei keiner Regierungsbehörde gearbeitet.
Vor einer halben Stunde hatten wir ihr Konterfei in digitaler Form an die Presse gegeben, und morgen würde es in allen Zeitungen zu sehen sein - je nachdem, was sonst noch in der Welt passierte.
Ich zog den Gummi aus meinen Haaren, schüttelte meinen Pferdeschwanz und stieß einen tiefen Seufzer aus, der die Papiere auf dem Tisch vor mir aufflattern ließ.
Dann rief ich Claire an, die immer noch unten im Leichenschauhaus war.
Ich fragte sie, ob sie Hunger hätte.
»Wir treffen uns in zehn Minuten unten auf der Straße«, sagte sie.
Ich begrüßte Claire bei ihrem Privatparkplatz an der McAllister. Sie entriegelte den Wagen, und ich öffnete die Beifahrertür ihres Pathfinder. Claires Tatort-Köfferchen lag auf dem Sitz, zusammen mit einer Wathose, einem Schutzhelm, einer Straßenkarte von Kalifornien und ihrer uralten 35-mm-Minolta.
Ich schaufelte ihr Handwerkszeug auf die Rückbank und kletterte erschöpft auf den Beifahrersitz. Claire warf mir einen taxierenden Blick zu und fing an zu lachen.
»Was findest du denn so lustig, Butterfly?«
»Du hast mal wieder diesen Inquisitorenblick drauf«, antwortete sie. »Aber du musst mir gar nicht die Daumenschrauben anlegen, Baby. Ich hab genau das, was du willst.«
Claire schwenkte einen Stoß Papiere vor meiner Nase, den sie gleich darauf in ihrer Rindsledertasche verschwinden ließ.
Manche Leute denken, Claires Spitzname »Butterfly« kommt daher, dass sie wie Muhammad Ali »schwebt wie ein Schmetterling und sticht wie eine Biene«.
Falsch.
Claire Washburn hat sich einen leuchtend goldenen Monarchfalter auf die linke Hüfte tätowieren lassen.
Ich durchbohrte sie mit meinen Inquisitorenblicken. »Ich kann’s kaum erwarten, dein Urteil zu hören.«
Und da ließ Claire endlich die Katze aus dem Sack.
»Es ist eindeutig Mord«, verriet sie mir. »Die Verteilung der Leichenflecke ist mit einer sitzenden Haltung nicht vereinbar - das heißt, das Opfer wurde bewegt. Und ich habe leichte Blutergüsse an Oberarmen, Brustkorb und Oberbauch festgestellt.«
»Und? Woran ist sie gestorben?«
»Ich tippe auf Burking.«
Der Begriff war mir vertraut.
In den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts machten in Edinburgh zwei charmante Zeitgenossen namens Burke und Hare gute Geschäfte als Leichenbeschaffer. Eine Zeit lang gruben sie Verstorbene aus, um sie an die Medizinprofessoren der Stadt zu verkaufen - bis sie herausfanden, wie leicht es war, frische Leichen zu produzieren: Sie schnappten sich ihre Opfer lebend und setzten sich ihnen auf die Brust, bis sie tot waren.
Burking ist auch heute noch eine beliebte Methode. Mütter mit Wochenbettdepression wenden sie häufiger an, als man glauben mag. Sie stecken das Kind zwischen Sprungfedern und Matratze und setzen sich einfach aufs Bett.
Wenn man den Brustkorb nicht ausdehnen kann, kann man nicht mehr atmen.
Und die Leiche des Opfers weist kaum äußerliche Verletzungen auf.
Ich schnallte mich an, während Claire den Wagen anließ und losfuhr. Unser Ziel war Susie’s Bar.
»Es muss der pure Horror gewesen sein für dieses Mädchen, Lindsay«, sagte Claire. »Ich vermute, dass der eine von den zwei Perversen sich auf ihren Brustkorb gesetzt hat, während der andere ihr eine Plastiktüte über den Kopf zog und sie erstickte. Er muss sie sehr fest zugezogen haben - daher stammt die Drosselmarke. Vielleicht hat er ihr auch gleichzeitig eine Hand auf Mund und Nase gedrückt.«
»Es waren zwei Täter?«
»Wenn du mich fragst, Lindsay: Es wäre gar nicht anders gegangen.«
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »The 5. Horseman« bei Little, Brown and Company, Time Warner Group, New York.
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
 
 
 
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2006 by James Patterson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by Limes Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
eISBN : 978-3-894-80387-2
 
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