Die außergewöhnlichste Liebe aller Zeiten - Franz Alt - E-Book

Die außergewöhnlichste Liebe aller Zeiten E-Book

Franz Alt

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Beschreibung

Er ist der Inbegriff des miesen Verräters und sie die schillerndste Frau im Christentum: Um Judas und Maria Magdalena ranken sich unzählige Gerüchte und Vermutungen, sie faszinieren seit zwei Jahrtausenden die Menschen. Nach jahrelangen Recherchen zeigt Franz Alt in diesem bahnbrechenden Buch, dass Judas ein Freund Jesu war und Maria Magdalena als vertraute Gefährtin Jesu nicht länger das Schmuddelimage und Quotenfrau-Dasein verdient. Ein fesselnder Streifzug durch die Bibel und Kirchengeschichte mit spektakulären Wendungen. Eine Antwort auf die Frage, wie Kirche wieder "systemrelevant" sein kann.

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Franz Alt

Die außergewöhnlichste Liebe aller Zeiten

Die wahre Geschichte von Jesus, Maria Magdalena und Judas

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © LiliGraphie – iStock – GettyImages

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-451-38709-8

ISBN E-Book 978-3-451-82240-7

Für ein integrales Menschen- und Gottesbild.

Inhalt

I. Er sprach Aramäisch – warum die Frauen verrückt nach Jesus waren

1. Jesus hat die Welt verändert

2. Kirchen können vergehen – Jesus wird bleiben

3. Jesus war kein Christ

4. Jesus »Superstar«

5. Das Geheimnis des Reiches Gottes

6. Was lernen wir aus der Corona-Krise?

7. Ihr seid Götter und Göttinnen

8. Sohn Gottes, nicht Gott

9. Die Bergpredigt ist nur politisch zu verstehen

10. Der aramäische Jesus

11. Aramäisch – die Tür zu biblischen Rätseln

12. Wer ist Gott?

13. Jesus, der Poet

14. Gott will nur Gutes

15. Fake News in der Bibel

16. Jesus, der erste neue Mann

17. Ostern verändert alles

18. Jesus: »Ich bin nicht gestorben«

19. Die Kirche – eine »Hure Roms«?

20. Jesus und die Seele

21. Ein fürchterlicher Gott?

22. Papst Franziskus: »Gott führt uns nicht in Versuchung«

23. Liebt man einen Feind, dann hat man keinen mehr

24. Was haben die Kirchen aus Jesus gemacht?

25. Die Poesie der frühen Christen

26. Jesus: Wir werden wiedergeboren

27. Die Lehre der Kirche oder die Worte Jesu?

28. Liebe ist im Aramäischen identisch mit Mutterschoß

29. Jesus war ein Grüner

30. Der außergewöhnlichste Mensch aller Zeiten

31. Die Gottesherrschaft ist bereits da!

32. Was hat Jesus über Sex gesagt?

33. Jesus über Kinderschänder

34. Jesus: Achtet auf euer Gewissen

35. Erkenne dich selbst

36. Menschen können keine Sünden vergeben

37. Jesus ist der Fels, nicht Petrus

38. Jesus verabschiedet sich von seinen Freunden

II. Es gibt keine Sünde – Warum Jesus und Maria Magdalena sich küssten

1. Von der Sünderin zur ersten Päpstin

2. Die Liebe ist stärker als der Tod

3. Das Evangelium der Maria Magdalena

4. Das christliche Europa begann mit einer Frau

5. Es gibt keine Sünde

6. Maria Magdalena küsst Jesus

7. Die Synthese von Rationalität und Religion

8. Bewusste Gewaltfreiheit

9. Jesus – Liebling der Frauen

10. Gibt es eine feministische Außenpolitik?

11. Der Tod hat nicht das letzte Wort

12. Jesu geheime Botschaft an eine Frau

13. Der Wutanfall von Petrus

14. Das Geheimnis gelingender Partnerschaft

15. Der matriarchale Jesus

16. Das Traumpaar Maria Magdalena und Jesus

17. Paulus: Ein Bischof soll verheiratet sein

18. Erste Päpstin 2039?

III. Freispruch für Judas!

1. War Judas ein mieser Verräter?

2. Verschwörungstheoretiker brauchen Verräter

3. Das Fehlurteil

4. SS-Führer, Massenmörder und feinfühliger Musiker

5. Die Blutspur von Golgatha bis Auschwitz

6. Die Rolle des Judas

7. Freispruch für Judas

8. Auch ich muss mich entschuldigen

9. Übergeben, nicht verraten

10. Das Judasevangelium

11. Warum wurde Judas zum Verräter gestempelt?

12. Judas als Sündenbock

IV. Das gefährliche Trio: Jesus, Judas und Maria Magdalena verändern die Welt

1. Wir brauchen Vorbilder

2. Maria Magdalena ist keine Quotenfrau und kein Covergirl der Kirche

3. Eine Judas-Revision auf dem nächsten Konzil

4. Jesus war eher Ökologe als Theologe

Literatur

Über den Autor

I. Er sprach Aramäisch – warum die Frauen verrückt nach Jesus waren

»Was die Christen glauben – Jesus lehrte es nicht!

Und was Jesus lehrte – die Christen wissen es nicht.«

Günther Schwarz

1. Jesus hat die Welt verändert

Die Bibel ist das am meisten gekaufte, aber – gemessen an seiner Auflage – das am wenigsten gelesene Buch der Welt – der unbekannte Bestseller, »das mächtigste Buch der Welt« (Der Spiegel). Die Bibel ist das Buch der Bücher, der Bestseller aller Bestseller und sie wird es auch in Zukunft bleiben. Jesus von Nazareth ist nicht nur der einzigartigste Mensch aller Zeiten, er ist auch die wichtigste Persönlichkeit der Bibel. Er ist zugleich der wirkmächtigste Mensch der Weltgeschichte. Sein Leben ist das Wunder eines erwachten Menschen auf Erden. Er zeigte, dass die Liebe die stärkste Kraft ist. Seine Botschaft berührt den göttlichen Kern in uns. Er hatte das Herz eines sanften Rebellen. Deshalb erscheinen jeden Tag weltweit drei neue Jesus-Bücher. Jeden Tag! Also 1000 Bücher pro Jahr über diesen wunderbaren jungen Mann aus Nazareth, der vor 2000 Jahren gelebt hat – ein einmaliges Phänomen. Jesus kann nicht sterben. Er hat nie eine Universität besucht, aber Tausende Universitäten sind heute nach ihm benannt. Können Sie dieses Phänomen rational erklären? Und schließlich sein Kreuz. Warum hängen sich Millionen Menschen ein Hinrichtungsgerät um den Hals? Sein Grundsatzprogramm heißt: Vertrauen, hoffen, lieben! Er war ver-rückt aus Liebe. Alle Liebenden wissen, was das heißt. Sie waren doch sicher auch schon mal verliebt.

Dieses Buch erzählt die größte Liebe aller Zeiten: die Liebe Jesu zu seinem »Abba«, seine Liebe zu allen Menschen, die bedingungslose Liebe zwischen Jesus und seiner Gefährtin Maria Magdalena, welche die Kirche zu einer Hure gemacht hat, sowie die Liebe zwischen Jesus und Judas, den die Kirche zum »Verräter« stempelte und damit den Samen für 2000 Jahre Antisemitismus pflanzte. Verrat statt Liebe. Heute wissen wir es besser und wir wissen mehr. Wir kennen den aramäischen Jesus (ab Seite 83), und es tauchten das »Evangelium der Maria Magdalena« (Kapitel II) und das »Judasevangelium« (Kapitel III) auf. Jesus sprach also nicht die Sprache der Überlieferung, das Griechische, sondern seine Muttersprache, das Aramäische, die erste Weltsprache überhaupt. Dies ändert viel Fragwürdiges, Widersprüchliches, Unsinniges und Gnadenloses, das wir in den griechischen Texten finden. Darum geht es in diesem Buch. Sie, liebe Leserin und lieber Leser, dürfen gespannt sein. Mein Arbeitsmotto: Wissen ist besser als blind glauben. Und: Immer in der Spur Jesu bleiben. Alles Schöpferische Denken ist immer ein Umdenken. Das größte Wunder ist die Umkehrmöglichkeit des menschlichen Willens. Zweifel und Kritik ist der Anfang jeden wirklichen Glaubens. Die Kirche muss immer neu in die Schule Jesu gehen, erwachsen werden und endlich ihre Windeln abstreifen. Nur dann wird es aufhören, dass sie eine Generation nach der anderen verliert. Reformation von unten ist die ewige Aufgabe der Kirche.

In unserer Lernfähigkeit steckt der Sinn unseres Hierseins. Das hat uns Jesus vorgelebt. Unsere Lernfähigkeit hängt mit unserer göttlichen Quelle zusammen, die in jedem und jeder von uns sprudelt.

Die Einzigartigkeit Jesu erkennen auch jüdische Theologen wie der renommierte Gelehrte Joseph Klausner an: »Die endgültigen Lehren der Evangelien stammen von einem einzigen Mann und jede einzelne trägt dasselbe einzigartige Gütezeichen. Ein Mann wie Jesus, für den das ethische Ideal alles bedeutete, war im Judaismus jener Tage beispiellos.« Viel Interesse an Jesus auch außerhalb der christlichen Kirchen, aber wenig wirkliches Interesse von Christen an der Bibel. Und heute immer weniger Interesse an den Kirchen. Woher diese Diskrepanz? Woher diese Tücken und Lücken? Liegt das an Jesus oder an den Kirchen? Oder an falschen Übersetzungen der Worte Jesu?

Kein anderes Buch hat die Weltgeschichte so geprägt wie die Bibel und kein anderer Mensch so sehr wie Jesus von Nazareth. Über niemanden wurden mehr Gedichte geschrieben, Bilder gemalt und Lieder komponiert als über Jesus. Für niemanden wurden mehr Gebäude (Kirchen), Kreuze und Denkmäler errichtet. Ohne Jesus sähe fast jede süd- und nordamerikanische oder jede europäische Dorfmitte mit ihrer Kirche völlig anders aus. Das gilt auch für die Innenstädte aller europäischen Metropolen: Berlin mit seiner Gedächtniskirche, Köln mit seinem gotischen Dom, München mit seiner Marienkirche, Paris mit Notre Dame, Moskau mit seiner Basilius-Kathedrale, Rom mit der Peterskirche, Wien mit dem Stephansdom, der als Österreichs Nationalheiligtum gilt, das norwegische Trondheim mit seinem Olavs-Pilgerdom, Barcelona mit seiner verschnörkelten Sagrada Familia, St. Petersburg mit seinen 279 Kirchen, das isländische Reykjavik mit seiner Hallgrimskirche, die gotische Kathedrale in Reims, in der jahrhundertelang die französischen Könige gekrönt wurden, der nach byzantinischem Vorbild gebaute Markusdom in Venedig, Freiburg und Ulm mit ihren Münstern, Frankfurt am Main mit seinem Kaiserdom, St. Petersburg mit seiner Blutskirche, Mailand mit seinem von riesigen Glasfenstern beherrschten Dom, Hamburg mit seinen fünf Hauptkirchen, London mit seiner Westminister-Abbey, Danzig mit seiner Oliva-Kathedrale oder gar Paderborn mit seinem Dom und dessen sehr katholisch geprägter Umgebung. Das ist doch ein unglaubliches Phänomen – finden Sie nicht auch?

Praktisch alle unsere Städte und Dörfer wurden um Kirchen herum gebaut. Das ist uns nur nicht mehr bewusst.

Dass ohne diese Gotteshäuser den meisten etwas fehlen würde, ist nach dem verheerenden Brand in Notre Dame in Paris 2019 überraschend deutlich geworden. Viele Bewohner der Stadt waren mehr als erschüttert. Im Fernsehen hörte ich eine Atheistin klagen: »Diese Kirche ist doch das Herz und die Seele unserer Stadt.« Auch die »heidnischen« Sachsen sind stolz auf ihren Thomanerchor so wie die katholischen Regensburger auf ihre »Domspatzen«. Auch wenn ohne Kirche etwas fehlt, wissen doch auch viele nicht mehr, was fehlen würde. Für immer mehr Menschen im christlichen Abendland ist der alte Glaube nicht mehr glaub-würdig. Alte Religionsgewissheiten verschwinden mehr und mehr, aber neue sind noch nicht klar erkennbar. Vielleicht kann dieses Buch dabei helfen.

Wenn unsere Kirchengebäude immer mehr Objekte des Tourismus werden, bleiben sie zwar materiell erhalten, aber ihr Sinn geht verloren. Dabei zeigt die Geschichte, dass auf Dauer keine Gesellschaft ohne Religion auskommen kann. Religion, definierte der Religionsphilosoph Friedrich Schleiermacher, »ist Sinn und Geschmack für das Unendliche« oder die »Verzauberung von Tod und Leben«. Die Muttersprache jeder Kirche ist die Seelsorge. Der Dalai Lama erzählte mir, dass heute selbst im kommunistischen China 400 Millionen Menschen praktizierende Buddhisten sind. Er sagt allerdings auch: »Ethik ist wichtiger als Religion.« Damit meint er: Nicht fromme Lippenbekenntnisse sind entscheidend, sondern unser ethisches Handeln.

Das empfinden Sie doch sicher genauso? Oder?

Jerusalem, Karfreitag im Jahr 30 (Jesus wurde wahrscheinlich 4 v. Chr. geboren): Ein Mann wird gekreuzigt. Er war von Pilatus, dem römischen Statthalter, zum Tode verurteilt worden. Die Freunde des Gekreuzigten hatten zuvor große politische Hoffnungen auf ihn gesetzt. Sie stritten sogar darüber, wer von ihnen neben ihrem Meister Jesus künftig wohl den größten Einfluss haben werde. Doch ihr Lehrer hatte auf ein Kind gezeigt und ihnen dieses als Vorbild hingestellt. Und dann war da noch diese Frau, der Jesus besonders zugetan war. Eine Frau! Das ging schon gar nicht. Aber jetzt am Karfreitag schien für die Männer um Jesus alles verloren. Ihr Meister endete wie ein Schwerverbrecher am römischen Schandmal. Eine Welt stürzte für sie ein. Alles schien verloren. Doch »diese Frau« und Jesu »Lieblingsjünger« Johannes standen unter dem Kreuz, und die Frau glaubte weiterhin an ihren Gefährten. Doch ihre Trauerqual muss unermesslich gewesen sein.

Ihr Name war Maria Magdalena, auf Aramäisch Mirjam. Sie hatte ungebrochenes Vertrauen zu Jesus und seiner Botschaft. Sie war eine erwachte Frau, die um den göttlichen Kern in uns wusste, sie wollte selbst denken, statt einfach nachzuplappern, was in »Heiligen Schriften« stand. Sie wusste: Erst wenn wir in das Gefühl unserer eigenen Kraft kommen, können wir selbstbewusst und selbstbestimmt werden. Und sie wollte mit keinem Mann zusammen sein, der ihre Seele nicht berührt. Sie wollte ihr Leben nicht verträumen, sie wollte ihre Träume leben: weiblich – stark – und als Jesus-Freundin. Sie war die intellektuelle Partnerin Jesu und hat seine Lehre schon zu dessen Lebzeiten verstanden. In der Gnosis und im apokryphen (nichtoffiziellen) Philippusevangelium wird sie als »Gefährtin Jesu« bezeichnet. Wahrscheinlich hat niemand so authentisch wie sie Jesu Botschaft weitergegeben. Sie war Jesu wichtigste Botschafterin.

Aber: Wie ich im nächsten Kapitel aufzeige, ist Maria Magdalena »ein typischer Missbrauchsfall männlicher Geschichtsschreibung« (Maria von Blumencron).

Es fällt auf und ist außergewöhnlich, dass ihr Name nicht wie damals üblich mit dem Namen ihres Vaters in Verbindung gebracht wird, sondern mit der Stadt, aus der sie kommt, aus Magdala. Mirjam heißt im Aramäischen die Schöne, aber auch die Bittere.

Maria Magdalena ist zweifelsfrei eine der bedeutendsten und umstrittensten Figuren an der Seite Jesu. Mit ihr und ihrem Verhältnis zum Wanderprediger Jesus beschäftigen wir uns ausführlich im zweiten Kapitel dieses Buches. Doch so viel schon jetzt: Mit ihrem Mut, bei der Kreuzigung dabei zu sein, riskierte Maria Magdalena ihre eigene Kreuzigung, wie Historiker berichten. Spätestens unterm Kreuz wurde sie seine Gefährtin. Die wichtigen Männer um Jesus waren weit weg.

Wenn damals unterm Kreuz jemand zu einem anderen Zuschauer gesagt hätte: Dieser hier elend Gekreuzigte wird die ganze Welt für alle Zeit verändern, wäre er mit Sicherheit ausgelacht worden. Doch auf diesen Karfreitag folgte Ostern. Die spannendste Geschichte – manche sagen: der spannendste Krimi – aller Zeiten: Der gekreuzigte Himmelsbote selbst war die Botschaft! Die Botschaft, die Sinn in unser Leben bringen kann. Seither können wir wissen: Was heute unmöglich scheint, kann morgen Realität sein. Ostern verändert alles. Selig sind die, welche Vertrauen in die Zukunft haben.

Die wahre Geschichte Jesu wächst in einem, je mehr man sich damit auseinandersetzt. Seither glaubt fast die gesamte Christenheit und betet es auch im Glaubensbekenntnis: gekreuzigt, gestorben und begraben, auferstanden von den Toten.

Wie oft haben auch Sie das schon so gebetet?

Das ist der Kern der christlichen Botschaft. Nur: Auferstanden von den Toten? Kann das wirklich sein, und wie soll das gehen? Gibt es Augenzeugen oder nur Glaubensbekenntnisse? Die Hypothese vom Scheintod konnte nie wirklich widerlegt werden. Doch nun gibt es neue medizinische, aber auch sprachliche Erkenntnisse und Hinweise aus der Symbolik. Steckt in den Thesen vom Scheintod am Kreuz vielleicht doch eine bisher verkannte Wahrheit, obwohl die meisten heutigen Theologen noch immer auf dem Tod am Kreuz beharren? Davon später. Noch ein wenig Geduld bitte!

Zum Tod selbst hatte Jesus eine nüchterne und für viele Christen, die heute Angst vor dem Tod haben, überraschende, ja befremdliche und ärgerliche Einstellung: »Folge mir nach. Lass die Toten ihre Toten begraben.« (Mt 8,22 und Lk 9,60) Für ihn gibt nicht der Tod, sondern das Leben dem Leben einen Sinn. Angst vor dem Tod? Die Natur lehrt uns, dass ein gesunder Wald auch tote Bäume braucht. Damit neues Leben entstehen kann.

Im Glaubensbekenntnis der Christen wird das zentrale Anliegen Jesu, nämlich die Liebe, nicht mal erwähnt. Jesus meinte ein Urvertrauen, das alle Menschen verbindet, das tut aber das christliche Glaubensbekenntnis nicht. Erst Papst Franziskus schreibt davon ganz Jesus-authentisch in seinen drei Enzykliken. Er outet sich dabei nicht nur als sozialer Papst, sondern auch als grüner Papst, ganz in der Spur des Bergpredigers entwickelt er eine sozialökologische Theologie. Franziskus ist ein grüner Jesuaner. Grün ist die Hoffnung. Grün ist die Zukunft. Grün ist Leben. Endlich sagt ein Papst, was Jesus vor 2000 Jahren gesagt hat. Das finde ich überraschend und großartig.

Das Christliche – in Dogmen, Glaubenssätzen und moralischen Verboten erstarrt – verdrängt das Jesuanische. Jesus warnte immer vor Dogmen. Der Sabbat ist für die Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat (Mk 2,27). Er räumt auf mit religiösen und kultischen Traditionen. Er wertet den Sabbat um, er streicht das Fasten, er hebt Speisegebote auf und die Grenzen zu anderen Religionen und Kulturen. Sein Gott will keine Opfer, sondern Barmherzigkeit. Er isst mit Sündern, Huren und Zöllnern. Er streitet für neues Denken und noch mehr für neues Handeln: »Neuer Wein in neue Schläuche« (Mk 2, 22). Alles ist möglich dem, der sich etwas zutraut. Das sind die Originalität und die Einmaligkeit dieses jungen Mannes aus Nazareth. Noch das letzte Buch der Bibel sagt von ihm: »Ich mache alles neu.« Die Theologin und Psychotherapeutin Hanna Wolff: »Das Wort neu umfasst also das gesamte Problem der Selbstidentität des Christen oder des religiösen Existenzvollzugs.« Jesus wollte, dass »alles neu« wird, aber die meisten Kirchenmänner wollen, dass alles beim Alten bleibt. So schafft die Kirche das Christentum ab. Und die Kirchen schaffen sich selbst ab. Wichtig ist nicht, dass so viele Menschen nicht mehr an Gott glauben. Es ist aber wichtig, dass Gott an alle Menschen, an jeden und jede von uns, glaubt.

1950 waren noch 97 Prozent der Deutschen Mitglied einer christlichen Kirche. 2020 sind es noch 62 Prozent. Diese Zahlen des Statistischen Bundesamtes ergeben in der Projektion bis zum Jahr 2100, dass dann die beiden großen Kirchen jeweils null Mitglieder haben werden. Die vom Jesusforscher und Aramäisch-Kenner Günther Schwarz wiederhergestellten Jesus-Worte in seiner aramäischen Muttersprache hingegen bieten eine hoffungsvolle und wegweisende Botschaft, die ursprünglich in poetischer Sprache formuliert war und weit über die klassische christliche Lehre hinausgeht. Diese Jesus-Botschaft ist wegweisend für alle, die wahrhaftig nach der Wahrheit suchen. Darum geht es in diesem Buch: um ein revolutionäres Gottes-, Menschen- und Weltbild. Sie erfahren bald mehr darüber.

2. Kirchen können vergehen – Jesus wird bleiben

Jesus hat die ganze Welt verändert und verwandelt – äußerlich und innerlich. Verwandelt er uns auch heute noch? Berührt er heute noch unser Herz und unsere Seele? Warum erscheint er uns heute äußerlich noch immer interessant, innerlich aber eher fremd? Das Geheimnis seiner »Wunder« und das Heilsame an Jesus sind seine sanfte und konsequente Freundlichkeit. Dieser Jesus ist die Seele und das Herz und der Geist des Evangeliums. Er konnte Menschen in tiefster Kränkung und Verletzung aufrichten. Er war im wahrsten Sinn des Wortes ein Heiland, ein großer Heiler. Dieser Heiler übersah das Böse in den Menschen nicht, er suchte sie aber immer so zu sehen, wie sie sein könnten. Jesus hatte nicht das konventionelle ärztliche Handwerk gelernt, aber er bewirkte erstaunliche Heilungen. Er initiierte für damalige Zeiten sensationelle seelische Heilprozesse, weil er die Menschen mit seinem großen Herzen betrachtete und ihnen mit grenzenloser Güte begegnete. Er strömte alle Fürsorge aus, zu der ein Mensch nur fähig sein kann. Der große Seelenheiler aus Nazareth wusste: Die Seele ernährt sich von dem, was ihr Freude bereitet.

Er zog zur Zeitenwende mit seinen Aposteln und vielen Frauen durch Galiläa, ein fruchtbares Land, reich an Viehweiden und Wald. Die Bevölkerung war dem Tempelkult in Jerusalem verpflichtet. Es wurde Aramäisch gesprochen, die Amtssprache war Griechisch. Landwirtschaft, Handwerk und Fischerei werden wohl für ein einträgliches Leben gesorgt haben. Maria und Joseph nannten ihren Sohn Joshua oder Jeschua, Sohn des Joseph. Als gläubiger Jude ließ sich Jesus am Jordan mit etwa dreißig Jahren vom Propheten Johannes taufen. Bei dieser Taufe erlebte er den Zusammenbruch seines alten Weltbildes und seiner alten Religion.

Er erlebte den Durchbruch zu seinem neuen Gottes- und Menschenbild. Seine Taufe war sein Abba-Erlebnis. »Abba« kann aus dem Aramäischen mit »mütterlicher Vater« übersetzt werden. Danach zog er als Heiler durch Galiläa und solidarisierte sich mit den Schwachen, den Hungernden, den Kranken, den Gefangenen, den Kindern und den Frauen. Sie vor allem waren seine »Kundschaft«.

Lena Naumann in ihrem Roman über Maria Magdalena über Jesu heilende Kräfte: »Was immer Jeschua tat, er war und blieb ein Zimmermann und Baumeister. Mit einem zarten Gefühl für Zerbrochenes, das behutsam wieder aufgerichtet werden musste. Das konnte er. Er gab Vertrauen, wo Vertrauen fehlte, und nahm die Last, die zu viel wog. Seine Heilungen geschahen nach dem Gesetz des Ausgleichs.« Davon zeugen auch seine Gleichnisse und Geschichten: das Gleichnis vom verlorenen Sohn und dem gütigen Vater, die Geschichte vom Sämann und vom fruchtbaren und unfruchtbaren Ackerboden, seine Gespräche mit Frauen und erst recht seine Erzählungen vom Vater, von seinem und unserem Abba, oder die wunderbare und ewig eindrucksvolle Geschichte vom barmherzigen Samariter. Oder auch der Vergleich des kleinen Senfkorns mit dem »Reich Gottes« und der Hinweis auf die »Vögel des Himmels, die nicht säen und nicht ernten«, die nicht mal eine Scheune haben, aber von Gottes Liebe leben. Oder die Bilder vom Weinstock und den Reben, vom Winzer und vom Feigenbaum. Großartige naturnahe Gleichnisse, die Weltliteratur wurden! Der ökologische Jesus! Das Land am Jordan war sehr fruchtbar.

Seine Empathie galt nicht nur den Fischern am See Genezareth, sondern auch den Fischen im See, seine Aufmerksamkeit schenkte er nicht nur dem Sämann, sondern auch dem Samen, seine Liebe nicht nur den Menschen, sondern auch den Vögeln. Das ist in den heutigen Zeiten der globalen ökologischen Zerstörung die Jahrtausendbotschaft. Und sein Evangelium, das er den wenig gebildeten Fischern, Bauern und Handwerkern in den Dörfern Galiläas in seiner und ihrer Muttersprache verkündete, muss etwas Einfaches und leicht Verständliches gewesen sein.

Es geht also nicht darum, den christlichen Glauben neu zu erfinden, wohl aber, ihn neu am wirklichen Jesus zu orientieren. Es geht um eine Wiederbelebung und um die Auferweckung einer jesuanisch-reformierten Kirche. Nur dann kann sich ihre heilsame Wirkung entfalten – ohne Zentralismus und ohne Klerikalismus. Religion braucht Wandel. Und zwar aus Liebe zu Jesus. Vielleicht wird auch »Religion ohne Kirche« (Claudia Mönius) eines der ganz großen geistigen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts. Oder Religion ohne Fokus auf Priester. Dabei müssten freilich unser verstümmeltes Gottesbild und unser verkrüppeltes Jesus-Bild eine »Wiedergeburt« erfahren.

Das geistig sehr vitale Urchristentum der ersten 300 Jahre nach Jesus bestand aus vielen kleinen Gemeinden ohne zentralistische Strukturen. Sie wurden oft von Frauen geleitet. Doch mit Kaiser Konstantin wurde ab dem Jahr 325 alles anders. Aus der vielfältigen und verfolgten Jesus-Bewegung wurde eine Staatsreligion und eine männliche Großkirche. Die katholische Kirche ist die einzige absolute Monarchie, die jenseits der Antike bald 1700 Jahre überlebt hat. Das war lange ihre scheinbare Stärke, wird aber 500 Jahre nach der Reformation und seit der Aufklärung, Liberalisierung und Demokratisierung immer mehr zu ihrer Schwäche.

Allein im Jahr 2019 sind in Deutschland 542 771 Menschen aus den beiden Großkirchen ausgetreten. Die Zahl der Kirchenaustritte steigt seit vielen Jahren. Noch nie haben so viele Menschen die Kirchen verlassen wie heute. Ist das nun ein Fehler der Kirchen oder der Kirchenmitglieder? Bisher zumindest trat kein Bischof zurück. Vor allem durch die Missbrauchsskandale hat sich das Grundvertrauen vieler Christen in ihre Kirche in ein Grundmisstrauen verwandelt. Doch das Selbstmitleid der Kirchenfürsten über den »bösen Zeitgeist« ist noch immer größer als das Mitleid mit den Opfern. Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung: »Die sexuelle Ausbeutung von Wehrlosen ist das Risiko einer zwangszölibatären autoritären Kirche, die in 2000 Jahren zwar die Frauen aus allen Machtpositionen vertrieben hat, aber den Menschen nicht die Sexualität austreiben konnte.« Noch immer wird vertuscht, dass und wie vertuscht wurde. Dass die christliche Kirche nach 2000 Jahren in einer existentiellen Systemkrise steckt, wird noch immer verdrängt.

Ich träume von einer integralen und freiheitlichen Kirche, in der Theologen wie Eugen Drewermann und Hans Küng oder feministische Theologinnen wie Hanna Wolff, Christa Mulack oder Dorothee Sölle geachtet und nicht geächtet sind. Diese Kirchenrevolution ist bereits im Gang, auch wenn es viele Kirchenfürsten noch nicht gemerkt haben.

Je mehr Menschen von einer jesuanischen Kirche träumen, desto eher wird sie Realität. Bevor unsere Träume wahr werden, müssen wir aber erst mal träumen. Der indische Ex-Präsident Abdul Kalam: »Träumt, träumt, träumt! Träume werden Gedanken und aus Gedanken werden Taten.«

Damit aber Neues wachsen kann, muss erst mit dem Überkommenen und Übernommenen aufgeräumt werden. Diese Aufräumarbeiten können schmerzlich sein, wie wir alle aus unseren persönlichen Erfahrungen mit Aufräumarbeiten wissen. Jesuanische Kirchen sollten keine Moralpolizei sein, aber Menschen bei Gewissensentscheidungen inspirieren. Dafür braucht es therapeutische Begleitung und Hilfestellung, aber keine hierarchische und klerikale Befehlsgewalt.

Jesus träumte vom Reich Gottes, aber es kam die real existierende Männerkirche. Wenn die Kirche an Pfingsten wirklich vom Heiligen Geist erfüllt wurde, warum strahlt sie dann heute so wenig Geistesgegenwart aus? Warum so viel frommes Schweigen zu aktuellen Problemen? Die Frage nach dem Reich Gottes ist grundsätzlich die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, nach Gleichwertigkeit von Mann und Frau, nach ökologischem Gleichgewicht und nach Frieden in einer Gesellschaft. Das sind die zentralen Bewährungsproben christlicher Praxis im Geiste der Bergpredigt.

Um fair zu sein: Die christlichen Kirchen haben immerhin das Andenken an Jesus bewahrt. Und im Laufe meines langen Lebens bin ich immer wieder Männern und Frauen begegnet, die beispielhaft und überzeugend im Geiste Jesu gelebt und gearbeitet haben. Die katholische Weltkirche unterhält weltweit über 100 000 soziale und humanitäre Institutionen. Dafür bin ich sehr dankbar – bei aller Kritik an der real existierenden Männerkirche. Männerkirchen sind jedoch kranke Kirchen.

Es ist niemals christlich oder jesuanisch, an der Realität von Armut und Ungerechtigkeit oder an der Zerstörung der Natur vorbeiglauben zu wollen.

Einige Prozent der Taufscheinchristen gehen zwar noch in die Kirche, aber auch sie wissen, dass sie dort oft mit Märchen, Mythen und vorchristlicher Magie abgespeist werden anstatt mit jesuanischem Schwarzbrot. Kirche ist ein Gott-Mensch-Projekt. Erfüllt sie diesen Auftrag noch?

Kirche muss nicht fragen: Wie kriegen wir die Menschen wieder in die Kirchen rein? Sondern: Wie gehen wir zu den Menschen raus? Vor allem zu denen an den Rändern? Wie es Papst Franziskus immer wieder fordert.

Der Hindu Mahatma Gandhi beantwortet diese Frage so: »Europa ist heute nur noch dem Namen nach christlich. In Wirklichkeit betet es den Mammon an. Jesus hat vergebens gelebt und ist vergebens gestorben, wenn er uns nicht gelehrt hätte, unser ganzes Leben nach dem Gesetz der Liebe einzurichten.« Gandhi spricht vom »Gesetz der Liebe« wie über göttliche Mathematik.

In diesem Buch geht es primär um die nie genug zu preisende, wahre Liebe, die uns Jesus gelehrt hat und die er mit Maria Magdalena und Judas lebte. Es geht tatsächlich um die außergewöhnlichste Liebe aller Zeiten.

Kirchen können vergehen, Jesus wird bleiben. Jesus ist gerade heute so richtig wichtig: der soziale Jesus der Bergpredigt zur Überwindung der weltweiten sozialen Ungerechtigkeiten, der ökologische Jesus für die Bewahrung der Schöpfung (»Die Sonne des Vaters scheint für alle«), der pazifistische Jesus für eine effizientere Friedens- und Abrüstungspolitik im Atomzeitalter (»Selig sind die Friedensstifter«) und der feministische Jesus, der mit seiner Gefährtin Maria Magdalena vorgelebt hat, was echte Gleichberechtigung von Frau und Mann bewirken kann. Jesus und Maria Magdalena – aramäisch: Jeschua und Mirjam – können uns helfen, das Gott-Mensch-Projekt besser zu verstehen.

Die beiden: zwei Herzen, viele Träume über eine menschlichere Welt und eine Liebe! Träumen wir nicht alle diesen Traum? Maria Magdalena und Jesus – ein Traumpaar. In ihrem Roman über Maria Magdalena schreibt Lena Naumann über das Geheimnis dieses Traumpaars: »Zwei-Sein – führt ins Paradies.« In solchen Beschreibungen wirkt die Gefährtin Jesu wirklich wie seine »bessere Hälfte«. Nicht nur in den vielen Legenden über die Frau aus Magdala, auch in den Evangelienberichten zeigt sich, dass sie vor allem in den ersten drei Jahrhunderten nach Jesus eine hohe Wertschätzung und Verehrung genoss.

Welch ein Vorbild für Millionen Paare in unserer Zeit mit aktuellen Partnerschaftsproblemen. Die Liebeswirklichkeit am Beginn des 21. Jahrhunderts: Belgien hat eine Scheidungsrate von knapp 70 Prozent, Spanien und Portugal über 60 Prozent, Frankreich, USA oder Russland um die 50 Prozent, Deutschland über 40 Prozent, der EU-Durchschnitt beträgt 44 Prozent, in Ostasien wie in China, Japan oder Südkorea lassen sich um die 30 Prozent der Verheirateten scheiden. Hingegen Jesus und seine Gefährtin Maria Magdalena, ein Paar aus biblischer Zeit, ein zeitloses Paar (Zahlen nach »Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland«, 2015).

Das Geheimnis Jesu lässt Lena Naumann ihre Heldin Maria Magdalena so zusammenfassen: »Nein, Jeschua hat nicht die Welt erlöst, er hat sich selbst erlöst. Und das ist mehr als die Welt.« Welch ein neues, erfrischendes und aktuelles Jesus-Bild für alle, die mit dem vorherrschenden Jesus-Bild der heutigen Kirchen nicht mehr klarkommen. Das ganz Besondere an diesem Mann: Er war ein ganzer Mann, weil er männlich und weiblich zugleich war. Sie wurde seine Gefährtin, weil sie eine ganze Frau war, weiblich und männlich zugleich. Selbstbewusste Weiblichkeit lässt auch den Mann in allen Kulturen seine Wertigkeit finden. Es ist eine weltumspannende Erfahrung und eine Botschaft dieses Buches: Gelebte Partnerschaft wie zwischen Jesus und Maria Magdalena und echte Freundschaft wie zwischen Jesus und Judas sind wahre Göttlichkeit im Mensch-Sein. Gerade in den heutigen Zeiten der Vereinzelung ist Freundschaft die neue Schwester der Solidarität.

In seinem Welt-Bestseller »Sakrileg« (auf Deutsch 2004 erschienen) unterstellt der Romanschriftsteller Dan Brown, dass im Maria-Magdalena-Evangelium entscheidende Informationen über den historischen Jesus zu finden seien, die aber von den christlichen Kirchen seit 2000 Jahren verheimlicht würden. Dan Brown vertritt die heikle These, dass Maria Magdalena die Geliebte Jesu war, mit der er eine gemeinsame Tochter hatte. Dieses Wissen sei auf dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 gezielt ausgelöscht worden. Wir wollen in diesem Buch fragen, ob das Verhältnis Jesu zu seiner Gefährtin mehr als nur platonisch war und ob die apokryphen, erst vor Kurzem aufgetauchten Evangelien tatsächlich ein neues Verhältnis zwischen Jesus und Judas begründen.

In meinem Buch »Jesus – der erste neue Mann« schrieb ich 1989: »Ich nenne Jesus den ersten neuen Mann, weil er beispielhaft das Weibliche in sich nicht verdrängt und unterdrückt, sondern entwickelt und integriert hat. Als Mann des rationalen Gefühls ist Jesus das leuchtende Beispiel für emanzipierte Frauen, erwachsene Männer und suchende Jugendliche. Deshalb waren Frauen vor 2000 Jahren ›verrückt‹ nach ihm. Jesus ist der Traum von einem Mann.«

Im gesamten Neuen Testament finden wir bei den vielen Begegnungen, die Jesus mit Frauen hatte, kein einziges zorniges Wort gegen sie, aber viele zornige Worte gegen Männer. Im Vergleich zu Buddha ist Jesus der tiefer Fühlende, Buddha der stärkere Denker.

Ein zeitgenössisches Urteil über diesen außergewöhnlichen Mann: »Nie hat ein Mensch so geredet, wie dieser Mensch redet.« (Joh 7,46 in der Rückübersetzung aus dem Aramäischen von Günther Schwarz) Jesu aramäischer Originalton in der Bergpredigt lässt sich im Deutschen kaum wiedergeben. Deshalb sind heute viele Christen spirituell heimatlos oder religiös unmusikalisch. Gehören Sie auch dazu?

3. Jesus war kein Christ

Die Reaktion der Menschen auf Jesu Lehre: Sie »wunderten sich«, sie waren »erstaunt« oder gar »entsetzt«, denn er lehrte »ganz anders« als ihre Schriftgelehrten. Hanna Wolff: »In Jesus steht der nicht-animose Mann vor uns.« Das heißt: Er zeigt sein warmes Interesse gegenüber den Armen, den Schwachen, den Frauen, den Kindern, den Sündern. Das macht ihn einmalig. Vor allem seine Haltung gegenüber Frauen sagt Grundsätzliches über ihn. Das lässt sich so weder über Buddha noch über Mohammed, noch über Sokrates oder Aristoteles sagen.

Das Denken und Handeln vieler Männer ist bis heute nicht ganzheitlich männlich-weiblich. Das heißt: überwiegend egoistisch, psychisch frigide, dominant, unkontrolliert und gereizt, von keinem weiblichen Gefühlsmoment befruchtet, dogmatisch oder rein intellektualistisch und werteblind. Jesus ist unter den prominenten Männern der Geschichte die ganz große Ausnahme.

Frauen gehören wie selbstverständlich zu seinem Jüngerkreis und zu seinen ständigen Begleiterinnen – bis unters Kreuz. Sechs Jüngerinnen sind in den Evangelien namentlich bekannt: Johanna, Susanne, Salome, Maria – die Frau des Kleopas – und Maria – die Mutter des Jakobus – sowie Maria Magdalena, die in den Evangelien meistgenannte. Sie alle gehörten zum Wanderkreis des Wanderpredigers. Im Neuen Testament ist an mehreren Stellen davon die Rede, dass noch »viele andere Frauen« ihm folgten – sehr außergewöhnlich zur damaligen Zeit.

Den Frauen begegnet Jesus in »spontaner Selbstverständlichkeit« (Hanna Wolff) wie zum Beispiel der Samariterin am Jakobsbrunnen, der er das große Wort sagt: »Gott ist eine Geistperson. Und jene, die ihm opfern wollen, geistig sollen sie ihm opfern.« (Joh 4,24 wiederum in der Rückübersetzung von Günther Schwarz. Die Erklärung dafür wird bald geliefert.) Nie hat Jesus Frauen als Frauen zurechtgewiesen, wohl aber Männer wie Petrus oder die Pharisäer. Er ging wie selbstverständlich in die Häuser von Frauen, auch in Abwesenheit ihrer Männer. Damals nahezu eine Unmöglichkeit. Hanna Wolff: »Nur so ist er auch für die Frauenwelt aller gegenwärtigen und aller künftigen Generationen partnerschaftliches Vorbild.« Ehe und Partnerschaft sind eine Liebes- und Arbeitsgemeinschaft mit einem gleichgesinnten und gleichgestimmten Du. Ehe und Partnerschaft sollten kein Altersheim sein, sondern eher ein Jungbrunnen, so wie eine jesuanische Kirche kein Beerdigungsinstitut, sondern eine Entbindungsstation sein sollte.

Jesus lebte in verantwortlicher Bewusstheit. Und solche Bewusstheit erfordert in tiefenpsychologischer Sicht Reife und Tiefe. Dabei war Jesus die ganz besondere Ausnahme. Er ist und war unverwechselbar. Denn zu seiner Zeit war Animosität gegen das Weibliche geradezu ein gesellschaftliches Gesetz. In der früheren Fassung der zehn Gebote waren »Acker, Vieh und aller übrige Besitz« und die Frau zusammengefasst, die Frau war selbstverständlich Besitz des Mannes. Der bedeutende Psychologe Bruno Bettelheim über die Stellung der Frau im damaligen Judentum: »Ich habe ein Gefühl, das ich schwer in Worte kleiden kann: Kaum eine Religion hat das Frauentum so stark abgelehnt wie die jüdische, die in der Weiblichkeit einen Fluch sah.« Nach damaligem Recht durften Frauen keinen Besitz haben und kein Erbe antreten. Eine verheiratete Frau musste ihren Mann als Herrn und Meister anerkennen. Und zum Gebetsinhalt eines Mannes gehörte der Dank an Gott, nicht als Frau geboren worden zu sein. Ohne diesen gesellschaftlichen Hintergrund ist Jesus als neuer Mann überhaupt nicht verständlich. Das vorherrschende Menschenbild war das eines Mannes und daraus ergab sich das vorherrschende Gottesbild eines männlichen Gottes, eines Herr-Gotts. Männer repräsentierten wie selbstverständlich die Herrlichkeit Gottes.

Ganz anders Jesus.

Das partnerschaftliche Gott-Mensch-Projekt, von dem Jesus träumt, meint zweifellos eine bessere, eine gewaltfreiere Welt. Eine Welt der Mann-Frau-Geschwisterlichkeit und Mann-Frau-Ebenbürtigkeit. Eine bessere Welt aber gibt es nicht ohne bessere Menschen, nicht ohne Menschen, die partnerschaftlich leben wollen. Auch nicht ohne Menschen, die endlich begreifen, dass auch Tiere und Pflanzen lebendige Wesen und Kinder Gottes sind. Menschen, Pflanzen und Tiere wachsen durch das Sonnenlicht. Und durch dieses Sonnenlicht strahlt die Kraft des Göttlichen auf unseren Planeten. Ohne Sonne kein Leben. Würde die Sonne nur drei Wochen nicht scheinen, wäre auf unserem Planeten alles Leben tot. Sonne ist Leben und Leben ist göttlich. Es lebt von der Quelle hinter der Sonne. Gott ist die Sonne hinter der Sonne, die Urenergie.

Kann es also jemals eine bessere Welt geben? Haben diejenigen recht, die gebetsmühlenartig behaupten, »Menschen sind nun mal, wie sie sind. Da kann man gar nichts machen! Kriege wird es geben, solange es Menschen gibt. Und so wird es immer bleiben«?

2019 habe ich in der Tageszeitung Die Welt einen Artikel über die heutigen Konsequenzen der jesuanischen Gewaltfreiheit der Bergpredigt publiziert. Die Überschrift lautete: »Frieden vorbereiten«. Die Zeiten, in denen das altrömische Motto galt: »Wer Frieden will, muss den Krieg vorbereiten«, seien im Atomzeitalter endgültig vorbei. Als Reaktion kamen etwa 150 Leserbriefe an die Redaktion. 80 Prozent hielten die Vorschläge Jesu für »naiv«, »weltfremd« und »absolut unbrauchbar«. War Jesus also ein politischer Depp? Hat sich also gar nichts geändert in den letzten 2000 Jahren? Wollen wir – auch noch im Atomzeitalter – wirklich eher weitere Kriege und Massenmord vorbereiten, anstatt es mal ganz anders zu versuchen, so wie es Jesus vorgeschlagen hat, nämlich mit »Feindesliebe« und Barmherzigkeit? Liegt es lediglich daran, dass die heutigen Kirchen die jesuanischen Träume einer friedlichen Welt nicht mehr verständlich machen können? Oder war Jesus tatsächlich nur ein unverbesserlicher Träumer, bar jeden Realitätssinns?

Nachdenklich stimmen müsste doch wenigstens die Erkenntnis des Realpolitikers Dwight D. Eisenhower, General und US-Präsident: »Krieg nennt man einen Zustand, in dem sich Menschen gegenseitig totschießen, die sich gar nicht kennen, und zwar auf Befehl von Menschen, die sich sehr gut kennen, sich aber nicht totschießen.«

Gegenfrage: Gab es nicht viele Jahrhunderte ständig Kriege in Europa, und jetzt haben wir über 75 Jahre Frieden? Ist dieses Friedensprojekt EU nicht der überzeugende Beweis dafür, dass Völker auch ohne Kriege zusammenleben können? Die Europäische Union hat im Jahr 2012 zu Recht den Friedensnobelpreis bekommen für »ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte«. Ich halte diese EU für ein jesuanisches Friedensprojekt. Europa wurde nach 1945 von einem Kontinent des Krieges zu einem Kontinent des Friedens, ein Vorbild für andere Kontinente. Oder: Hätten Sie es im August 1989 für möglich gehalten, dass die Berliner Mauer bald fallen wird? Doch sie fiel schon wenige Wochen später.

Vieles ist in den letzten Jahren auch in Europa wieder unsicher geworden. Und globale Bedrohungen sind dazugekommen: Die soziale Spaltung wird tiefer, die Klimaerhitzung bedroht alles Leben, die Zerstörung der Ernährungsgrundlagen und der Kampf um Rohstoffe werden immer brutaler. Die Ärmsten und Schwächsten sind davon am meisten betroffen. Und anstatt Flüchtlingen Brücken zu bauen, mauert sich die EU immer mehr ein. Das ist eines Friedensnobelpreisträgers unwürdig.

In Westdeutschland ist heute nur noch ein Drittel der Menschen davon überzeugt, dass Kirchen zur Lösung dieser Probleme wichtig sind, in Ostdeutschland weniger als ein Viertel. Warum nur gelingt es den Kirchen nicht, die Botschaft von Jeschua und Mirjam so heutig zu machen, dass sie für viele Menschen attraktiv und anziehend wird? Der wirkliche Mann aus Nazareth eignet sich nicht als reine Kultfigur.

Die Kirche stirbt schon an ihrer nicht zeitgemäßen Sprache über Jesus: »Erlöser«, »Christus«, »Gottessohn« oder »Sündenopfer«. Das ist deshalb sehr folgenreich, weil der wirkliche Jesus uns zeigt, wie Menschen auch heute konsequent leben könnten. Würde man uns Heutigen jeden Tag einige Jesusworte auf den Frühstücksteller legen – so meine Lebenserfahrung –, könnten wir besser, glücklicher und humaner leben. Dieser Mann hat uns vor 2000 Jahren zur »Nachfolge« eingeladen.

Jesu Nachfolge heißt: Hör auf deine innere Stimme, auf dein inneres Navi-Gerät, auf dein Gewissen, hab Ehrfurcht vor allem Leben. Das Hören auf unser Gewissen ist Jesu zentrale Forderung nach der »Umkehr der Herzen«. Nicht Geboten und Gesetzen sollen wir gehorchen, sondern in Freiheit unserem Gewissen. Für diese Freiheit war Jesus bereit, in den Tod zu gehen. Er wollte uns zum Frieden befreien, indem wir »tiefer vertrauen, leidenschaftlicher hoffen und inniger zu lieben vermögen« (Eugen Drewermann). Jesus lehrt, dass sich mit »Du sollst« und »Du musst« kein einziges Problem des menschlichen Lebens lösen lässt. Er meinte nicht »Gebote«, sondern Angebote.

Ein vom wirklichen Jesus geschärftes Gewissen ahnt, dass seine Werterevolution die eigentliche Weltrevolution sein wird. Jesus-Werte sind sicher: die Liebe, das Bewusstsein im Sinne von bewusstem Sein und Kreativität. Dieser Jesus ist ein Mann von hinreißender Konsequenz und Eindeutigkeit. Er hat nicht gesagt: »Ich mache die Kirche oder die Religion neu.« Er hat gesagt: »Ich mache alles neu.« (Offb 21,5) Ein ungeheuerlicher Anspruch.

Das aber heißt für wirkliche Jesus-Freunde: Wir sagen Nein zu einer Sprache der Gewalt, stattdessen Ja zu einer Kultur des Friedens, der Vernunft und des Dialogs. Und das heißt ganz konkret und praktisch: Nein zu einer Erhöhung der Militärausgaben, Ja zum Abrüsten statt Aufrüsten. Ja zu einer neuen Entspannungspolitik. Und zwar jetzt – nicht irgendwann. Im Jahr 2020 sind die Rüstungsausgaben der USA etwa zehnmal höher als die Russlands. Wer bedroht hier eigentlich wen? Und die Waffenexporte aus Deutschland erreichen 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls Höchstwerte – warum wundern wir uns dann über Kriegsflüchtlinge? Wer Waffen exportiert, schafft die Voraussetzung für Kriege und bekommt Kriegsflüchtlinge. Wir ernten immer, was wir säen. Das ist ein geistiges Gesetz, unter dem wir alle leben.

Alle Religionsstifter und alle Weisheitslehrer haben uns dieses geistige Gesetz gelehrt.

Es geht in diesem Buch, dem Buch eines theologisch interessierten politischen Journalisten, nicht um theologische Dogmatik, sondern um den Menschen Jesus, um den historischen Jesus und seine Wirkmächtigkeit in den letzten 2000 Jahren und vor allem um seine mögliche Wirkmächtigkeit im neuen Jahrtausend. Ich maße mir nicht an, über den theologischen Christus zu schreiben. Es geht hier also weder um Christologie noch um Dogmatik. Dieses Buch hat den Menschen Jesus, seine Gefährtin Maria Magdalena und seinen Freund Judas zum Gegenstand. Jesus ist für sehr viele Menschen – innerhalb, aber auch außerhalb der Kirchen – ganz einfach eine Vertrauensperson. Er genießt weltweit einen riesigen Vertrauensvorschuss.

Auf der Suche nach Sinn ist Jesus für Millionen Menschen auch heute eine gute Adresse. Er ist Revolutionär in dem Sinne, dass er von einer besseren Welt träumte – er wollte vieles ändern, und zwar gewaltfrei. Sein großes Thema. Und woher nahm er seine Kraft und Sicherheit? Sein Gottvertrauen war seine unerschöpfliche Kraftquelle. Dieser junge Mann widersprach vehement dem gefährlichsten Irrglauben der Geschichte, wonach sich Menschen nicht ändern können. Doch er wusste auch, dass Selbständerungen schwieriger sind als ihre Ankündigungen. Jesus war ein Realist.

Als Journalist geht es mir nicht um glauben, es geht um prüfen und um aufklären. Es geht mir so ähnlich wie es dem Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung ging, als er 1959 in einem Interview von der BBC in London gefragt wurde, ob er an Gott glaube. Seine berühmte Antwort: »I don’t need to believe, I know.« – »Ich muss nicht glauben – ich weiß.« Ich schreibe über meine Lebenserfahrung. Darf man das mit 82?

Jesus war kein Christ, er war weder katholisch noch evangelisch getauft. Auch Gott ist mit Sicherheit nicht Mitglied einer christlichen Kirche. Jesus war Jude, war vom Juden Johannes getauft und hatte eine jüdische Mutter. In Israel gilt bis heute: Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat. Jesus war jedoch ein ganz besonderer Jude, der viele jüdische Gebräuche und Gesetze ablehnte. In erster Linie war Jesus Jesuaner, denn er ging seinen eigenen Weg und er hat gelehrt, dass jede und jeder seinen oder ihren eigenen Weg gehen sollte. Er lehrte, dass auch sein »Vater«, sein Abba weder katholisch noch evangelisch ist, und auch nicht christlich, sondern die Ur-Liebe und die Ur-Energie und der Ur-Geist für alles Leben ist.

4. Jesus »Superstar«

Hanna Wolff, eine Schülerin von Carl Gustav Jung und Theologin: »Er (Jesus) will wirklich etwas von uns, das die Tiefe unseres Menschseins angeht.« So ist Jesus »lebendig, gegenwartsnah und faszinierend«, schreibt sie. Es ist kein Zufall, dass Jesus in unserer Zeit in einem Musical »Superstar« genannt wird. Junge Leute wissen, was damit gemeint ist. Jesu Bergpredigt war in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts die Bibel der Friedensbewegung auf der ganzen Welt und damit die Voraussetzung für Michail Gorbatschows segensreiche Politik der atomaren Abrüstung. Vielleicht leben wir nur deshalb noch. Dieser damalige Kommunistenchef praktizierte eine Politik der Bergpredigt.

Immerhin sind die Botschaften Jesu, so wie sie im Neuen Testament stehen, in 1515 Sprachen komplett übersetzt und zum Teil auch in weitere 1135 Sprachen. Es ist schon deshalb wichtig, zu wissen, was Jesus wirklich gesagt hat. Er ist der große Universalist – in unserer heutigen globalisierten Welt noch mehr als in früheren Jahrhunderten. Darin ist sich die gesamte Jesus-Forschung einig. Meine persönliche Erfahrung: Im Angesicht der atomaren und ökologischen Bedrohungen und der neonationalistischen und neoliberalen Gefährdungen, mit denen wir heute leben, gibt es keine wichtigere Botschaft, kein überzeugenderes Leben und kein hilfreicheres Vorbild als Jesus von Nazareth. Wenn wir das Zeitalter der ökologischen Zerstörung, des Massenaussterbens und der Klimaerhitzung überleben wollen, dann müssen wir uns bewusst werden, dass wir den Planeten in den letzten zwei Generationen an den Abgrund gefahren haben. Jesus von Nazareth bietet uns den Rettungsanker an.

Was ist das Geheimnis dieses jungen Mannes aus dem kleinen, unscheinbaren Nazareth mit seinen damals 100 bis 150 Einwohnern, auf den diese allgegenwärtige Kirchenpräsenz und kirchliche Kunst zurückzuführen ist? Was hat er wirklich gesagt? Wer waren seine engsten Mitarbeiter? Was sind seine wichtigsten Worte? Wer war sein bester Freund? Und wie war sein Verhältnis zu seiner Gefährtin Maria Magdalena, aus der die Kirchenmänner später eine Hure gemacht haben, die aber von Papst Franziskus 2016 »die Apostelin der Apostel«, also quasi die erste Päpstin, genannt wurde? Hatte Maria Magdalena mit Jesus wirklich mehr als nur ein platonisches Verhältnis? Ist Judas wirklich der einzige Jünger, der die Jesus-Botschaft tatsächlich verstanden hat? Und warum hat sich die Kirche so wenig um dieses Jesuswort über Maria Magdalena gekümmert: »Amen, ich sage euch: Überall auf der Welt, wo das Evangelium verkündet wird, wird man sich an sie (Maria Magdalena, F. A.) erinnern und erzählen, was sie getan hat« (Mk, 14,9)? Überall auf der Welt wird man sich an Maria Magdalena erinnern, prophezeit Jesus über seine Gefährtin. Auch wegen dieses Jesus-Wortes schrieb ich dieses Buch.

Besser kann das Verhältnis Jesu zur angeblichen Sünderin nicht beschrieben werden als von Jesus selbst.

Dass die Kirche aus dieser Frau dann jahrhundertelang eine Prostituierte gemacht hat, was sagt uns das über die Kirche?

An Frauen richtete er vor seiner Kreuzigung seine letzten Worte und danach seine ersten. Sie sahen in ihm einen ganzheitlich lebenden »weiblichen Mann«, vielleicht den »ersten neuen Mann« überhaupt. Er verkörperte und lebte weibliche Werte. Frauen verstehen, was es heißt, wenn der Dalai Lama heute zu einer »Weltrevolution des Mitgefühls« aufruft. Dieselbe Forderung stellt Papst Franziskus mit seiner »Revolution der Zärtlichkeit«. Er predigt eine »Theologie der Zärtlichkeit«. Wenn Gott die Liebe ist (1 Joh 4,8 u. 16), ist er zärtlich. Laotse sagt es so: Das Weiche überwindet das Harte. Weiches Wasser besiegt den Stein. Wasser ist das zärtlichste aller Elemente. Zärtlichkeit ist subversiv. Jesus: Letztes wird Erstes. Erstes Letztes.

Und was zeichnet diesen Mann Jesus besonders aus? Sein Erkennungsmerkmal in allen vier offiziellen Evangelien wie in allen apokryphen (von den Kirchen nicht offiziell anerkannt und nicht ins Neue Testament aufgenommenen) Evangelien ist dieses: Er schlägt sich immer und grundsätzlich auf die Seite der Frauen. Seine Ethik ist primär eine weibliche. Und vor allem: Dieser Mann ging in die Schule von Frauen, von ihnen hat er am meisten gelernt. Diese Lernfähigkeit musste dem klassischen Patriarchat bitter aufstoßen.

So wurde Maria Magdalena von der Männerkirche zur Hure und Heiligen zugleich projiziert. Das sagt viel über die Männer in den Kirchen. Aber dadurch steht Mirjam aus Magdala auch symbolhaft für die christliche Umkehr, für die immer mögliche Wandlung, für den radikalen Neubeginn. Im gesamten Mittelalter stand diese Frau als Symbol für die reuige Sünderin, die in den Schoß der Mutter Kirche zurückkehrt.

Judentum, Christentum und der Islam sind in kulturellen Umständen entstanden, die fast komplett vom Patriarchat geprägt wurden. In männlichen Gesellschaften wird Religion zu einem männlichen Monotheismus. Daraus entwickelte sich das Männerpriestertum. Und im Männerpriestertum der abendländischen Religionen entwickelte sich das Patriarchat in sein Extrem. Bisher haben uns weder das einseitige Matriarchat noch das jetzt etwa 6000 Jahre lang vorherrschende einseitige Patriarchat selig gemacht. Gibt es dazwischen ein Drittes? Und hat Jesus dieses »Dazwischen«, diese Integration, diese Versöhnung zwischen Matriarchat und Patriarchat gemeint? Ist er der Prototyp dafür?

5. Das Geheimnis des Reiches Gottes

Die männliche Religionsgeschichtsschreibung ist wirkmächtig bis heute. Wenn Frauen und Mädchen sich im Patriarchat angepasst verhalten, werden sie von Männern kaum gehasst. Doch wenn Frauen oder Mädchen aufbegehren und ihre eigenen Rechte einfordern, ändert sich die Situation schlagartig. Dann werden Frauen abgestraft, drangsaliert, inhaftiert oder sogar als Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Frauen stören die männliche Ordnung, den männlichen Anspruch auf Macht – das ist in den Kirchen nicht wesentlich anders als in der Politik. Bis heute werden Jüdinnen, die an der Klagemauer in Jerusalem beten, von Männern diskriminiert und diffamiert, nicht nur religiös, sondern auch sexistisch. Sie gelten nicht nur als Abtrünnige, sie gelten als Huren. Dahinter, so erklären es Tiefenpsychologen, steckt der Gebärneid vieler Männer, die Dämonisierung der weiblichen Sexualität und die sich aus der weiblichen Sexualität ergebende Kraft, Leben zu spenden. Frauen können gebären und nähren. Männliche Herrschaft kann sich nur mit Hilfe weiblicher Körper halten. Mahatma Gandhi hat gesagt: »Alle Arbeit ist nur halb getan, wenn Frauen nicht mitmachen.« Oder – auf Befehl von Männern – nicht mitmachen dürfen.

In diesen Gedanken finden wir auch die Urbedeutung von Sexualität als göttlich-schöpferischem Akt wieder. In den östlichen Religionen – vor allem im Hinduismus – findet eher eine fröhliche Integration von Sinnlichkeit und Heiligkeit statt. Auch im Mahayana- und im Tantra-Buddhismus haben viele Buddhas eine Frau bei sich, oft in sexueller Vereinigung. Das lässt sich theologisch nicht wegdiskutieren und nicht wegretuschieren. Der österreichische Schriftsteller Günther Nenning, ein guter Kenner östlicher Religionen, schreibt: »Christen mit sexuellen Schwierigkeiten sollten zu Weihnachten oder Ostern Tantra-Statuen geschenkt kriegen. Herr und Frau Gott in geschlechtlicher Vereinigung.«

Das Schönste, was Jesu Abba geschaffen hat, ist die Frau. Allein das ist ein Grund, ihn über alles zu lieben. Wenn die Frau das Schönste in der Schöpfung ist, dann sind Erotik und Sexualität wohl das Raffinierteste.

Die ganze Menschheitsgeschichte zeigt, dass uns Integration, Ganzheit und Vollkommenheit auf dieser Ebene schon immer und noch immer besonders schwerfallen. Deshalb brauchen wir Vorbilder, wie in diesem Buch beschrieben. Ohne Bewusst-Sein und Achtsamkeit kann diese weiblich-männliche Integration nicht gelingen. Gottes Gott-Sein und des Menschen Mensch-Sein sind nur durch Integration und Versöhnung möglich. Nach Jesus führt nur diese Integration zur Vollkommenheit. Dies ist der Weg zur Heilung und Ganzwerdung. Als Heilungsakt kann auch Sexualität ein göttlicher Akt sein. Die Ebenbürtigkeit des Weiblichen und des Männlichen ist die Voraussetzung für gelingende Sexualität und für ganzheitlich gelebte Liebe. Alles andere ist – meist männliche – Illusion und Phantasie. Dazu Papst Franziskus: »Die Lust kommt direkt von Gott, sie ist weder katholisch oder christlich noch irgendetwas anderes, sie ist einfach göttlich. Sexuelle Lust dient dazu, die Liebe schöner zu machen und den Fortbestand der Art zu sichern.«

»Die Verdrängung des Weiblichen aus dem religiös-dogmatischen Denken ist nach wie vor eine Tatsache«, schreibt Gerhard Wehr in seinem Buch »Tiefenpsychologie und Christentum«. Vor allem alttestamentliche Frömmigkeit ist auf das Tun das »Vaters« und neutestamentliche Frömmigkeit auf das Tun des »Sohnes« ausgerichtet – vorherrschende männliche Denkstrukturen.