Die Bibliothek meines Oheims Eine Genfer Novelle - Töpffer, Rudolf - kostenlos E-Book

Die Bibliothek meines Oheims Eine Genfer Novelle E-Book

Rudolf, Töpffer

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Project Gutenberg's Die Bibliothek meines Oheims, by Rudolf TöpfferThis eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and mostother parts of the world at no cost and with almost no restrictionswhatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms ofthe Project Gutenberg License included with this eBook or online atwww.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll haveto check the laws of the country where you are located before using this ebook.Title: Die Bibliothek meines Oheims       Eine Genfer NovelleAuthor: Rudolf TöpfferRelease Date: February 4, 2015 [EBook #48158]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE BIBLIOTHEK MEINES OHEIMS ***Produced by The Online Distributed Proofreading Team athttp://www.pgdp.net (This book was produced from scannedimages of public domain material from the Google Printproject.)

Die Bibliothek meines Oheims.

Eine Genfer Novelle.

VonRudolf Töpffer.

Vollständige Deutsche Ausgabe, mit 137 Bildern von der Hand des Verfassers.

Leipzig:Brockhaus & Avenarius. 1847.

Inhalt.

Seite

I.

Die beiden Gefangenen   

3

II.

Die Bibliothek

105

III.

Henriette

171

I. Die beiden Gefangenen.

Ich habe Leute kennen gelernt, die an der Schwelle des väterlichen Kramladens groß geworden sind. Dieselben hatten sich in dieser Lebensweise eine gewisse praktische Menschenkenntniß erworben, und so eine Art spießbürgerlichen Sinn, einen Philistergeschmack, eine Gewöhnlichkeit der Ansichten bei kleinstädtischer Engherzigkeit und Vorurtheilen. Man machte sie zu Advokaten, Beamten, und jeder übertrug denn von seiner Ladenschwelle weg gute oder schlechte Eindrücke, die sich nie verwischten, in diese seine Wirkungskreise.

Andere saßen dieselbe Lebenszeit, ich will sagen etwa ums funfzehnte Jahr, in einem einsamen Kämmerlein unterm Dache, über stillem Hofe. Die wurden nachdenkliche Leute, und – wie wenig sie mit den Straßenneuigkeiten bekannt waren – ein kleiner Kreis von Nachbarn genügte ihnen, reiche Beobachtungen über diese für sich anzustellen. Sie erwarben sich eine zwar minder ausgebreitete, dafür aber desto innerlichere Menschenkenntniß. Wie manche Zeit verbrachten sie, fern von jeder Zerstreuung, mit sich selbst, während jene Ersteren auf ihrer Ladenschwelle immer von neuen Gegenständen angezogen wurden und so weder Zeit noch Lust bekamen, eine Bekanntschaft ihres eigenen Innern zu machen. Ob Advokat oder Minister, muß nicht der Mann aus dem Dachstübchen andere Weisen haben, als der von Vaters Thüre!

Oder hätte das etwa keinen Einfluß, was einem vor Augen geschieht? und die Leute, die um einen herumlaufen, und das Gerede, das man hört, und die düsteren oder aufheiternden Gegenstände, die man sieht, und die Nachbarschaft und all die tausend Zufälligkeiten? Fürwahr! es ist ein eigen Ding um die Erziehung! Indeß Ihr mit klarem Bewußtsein nach den Rathschlägen eines Freundes oder Buchs Geist und Herz Eures Kindes zu dem von Euch erwünschten Ziele zu lenken sucht, kommen Dinge, Gerede, Nachbarn, Zufälligkeiten und verschwören sich gegen Euch oder helfen auch wol nach, ohne daß ihr Einfluß zu verhindern oder nur zu entbehren wäre.

Später endlich, wenn's so über zwanzig, fünfundzwanzig Jahre kommt, thut der Einfluß der Wohnung wenig mehr. Mag dieselbe düster oder heiter, bequem oder ärmlich sein: sie gleicht einer Schule, worin der Unterricht geschlossen ist. In diesem Alter baut der Mensch seine Lebensbahn; er ist bereits vor jener, die Zukunft einschließenden Wolke angelangt, die ihm eben noch so fern erschien; seine Seele ist nicht mehr träumerisch und gelehrig; die Gegenstände spiegeln sich wol in ihr ab, lassen aber keinen Eindruck mehr zurück.

Ich nun wohnte in einem einsamen Stadttheile[1], nämlich hinter der Peterskirche in der Nähe des bischöflichen Gefangenhauses. Durch das Grün einer Akazie gewahrte ich die Fensterbogen der Kirche, den Fuß des hohen Thurms, ein schmales Fenster des Gefängnisses und in der Ferne zwischen den Dächern hin den See und seine Ufer. Wie viel vortreffliche Lehren hätte ich nicht daraus gewinnen können; wie sehr hatte mich das Schicksal vor andern Knaben meines Alters begünstigt! Mag ich sie nun auch nicht recht zu benutzen gewußt haben, so rechne ich es mir doch zum Ruhme an, aus dieser Schule hervorgegangen zu sein, die edler als eine Ladenschwelle und reicher als ein einsames Stübchen war. Sicher, hätte ich nur im mindesten Anlage besessen, wäre ich darin zum Dichter geworden.

[1]: Dieser Stadttheil grenzt an die Hauptkirche Genfs, das in Rede stehende Haus ist unter dem Namen Maison de la bourse française (französisches Stift) bekannt, weil es zur Unterstützung von genfer Protestanten französischer Abkunft bestimmt war.

Indeß bei Licht besehen, ist es so besser; denn ich bezweifle gar sehr, daß es jemals einen glücklichen Dichter gegeben hat. Oder kennt Ihr etwa einen Einzigen auch unter den Glücklichsten von ihnen, der seinen Durst nach Ruhm und Ehre stillen konnte? Kennt Ihr Einen selbst unter den Größten und gerade unter diesen, der je mit seinen Arbeiten zufrieden gewesen wäre und in ihnen die himmlischen Gebilde wieder erkannte, die sein Genius ihm vorhielt? Ein Leben voll trügerischer Hoffnungen, Enttäuschungen, Ueberdruß, das ist alles! Ja, mehr noch! dies ist nur die Oberfläche, sie muß, denke ich, noch größere Schmerzen, noch bitterern Unmuth einschließen. Diese Köpfe bauen sich ein übermenschliches Glück, welches jeden Tag zerschellt oder zusammenbricht. Sie strecken ihr Haupt hoch in die Himmel und sind an die Erde gefesselt; sie lieben Göttinnen und finden nur Sterbliche. Tasso, Petrarca und du, Racine, ihr empfindsamen, kranken Seelen, ihr nimmer ruhigen, ewig blutenden, klagereichen Herzen, sagt einmal, um welchen Preis ihr unsterblich geworden!

Das ist Ursache und Wirkung. Weil sie Dichter sind, leiden sie solche Qualen und weil sie solche Qualen leiden, sind sie Dichter. Aus dem Kampfe in ihrem Innern springt, wie ein Blitz aus der Wolke, der Strahl, welcher aus ihren Versen uns anglänzt; das Leiden enthüllt ihnen die Freude, die Freude lehrt sie das Leiden; an der Seite ihrer Enttäuschungen blühen ihre Hoffnungen. Aus diesem reichen Chaos, aus diesen fruchtbaren Schmerzen entstehen ihre erhabenen Lieder. So entlockt der Sturm der einsamen Aeolsharfe die süßesten Töne.

Ich wundere mich darum gar nicht mehr, daß ich einmal einen gescheiten Mann sagen hörte: lieber ein Winkelkrämer als weltberühmter Dichter, lieber der namenlose Giraud als Dante Alighieri.

Diese Vorstellung, die ich mir vom Dichter mache, ist ganz wahr, denn man sehe nur, wonach diejenigen ringen, welche nach diesem Berufe streben. Ist es nicht, wenn irgend möglich, nach dieser Verwirrung, diesen Schmerzen, diesem reichen Chaos? Gleich wie man die Tugend durch fromme Redensarten nachäfft, so äffen sie die Poesie durch Worte der Klage, der Angst und unaussprechlichen Schmerzes nach. Sie leiden in ihren Versen, sie seufzen in ihren Versen, sie schleppen darin mit zwanzig Jahren das ersterbende Alter eines verbitterten Lebens, sie vergehen darin! Fast Alle beginnen damit. Ach! Freundchen, es ist nicht so leicht als du denkst, traurig, unglücklich, betrübt sein; von Wünschen gefoltert, von Entzücken gegeißelt zu werden, sein Leben verbittern, sterben wie Millevoye! Darum die Maske herunter und zeige dein Antlitz heiter. Warum, du dicker Freund, o warum deiner Natur nicht folgen? Was für einen Vorzug erblickst du darin, seufzend und klagend zu erscheinen, für todt und doch nicht im Grabe vergessen zu gelten?

Wenn ich übrigens von fruchtbaren Schmerzen rede, so will ich damit keinesweges sagen, daß jeder große Dichter in seinen Versen nothwendig seufzen und weinen müsse; im Gegentheil, die reizendsten Phantasien überdecken seinen bittern Unmuth. Selbst wenn er uns in ein entzückendes Elysium zaubert oder uns die Schönheit mit den himmlischsten Farben malt, so ist es die Leere der Erde, die ihn zur Flucht in glücklichere Höhen bewog. Er malt die Gesundheit, weil er krank ist, den Sommer, weil er auf Eisfeldern irrt, frische Quellen, weil ringsum Dürre schmachtet. Der Unglückliche kostet einige Minuten lang entzückenden Rausch und läßt uns aus der Schale mittrinken; wir bekommen den Nektar, ihm bleiben die Hefen.

Aber da ertappe ich einen häßlichen Gedanken, der hinter einer Falte meines Gehirnes hervorguckt, nämlich den Gedanken, daß ich meiner Lust willen es wol zufrieden bin, daß solche duldende Seelen gelebt haben,... daß Unglückliche sich lange Jahre in Kummer hinschleppten, um einige Gedanken, einige Verse zu hinterlassen, die mich entzücken, die mich einen Augenblick erregen!... Der entsetzlichen Selbstsucht des Herzens, der grausamen Lust, die sich selbst ganz sich selber opfert! Aber dennoch... Racine, ein Dütenkrämer, Virgil, ein Ellenhändler;... Nein, ich bin noch nicht gescheit genug, über meinen grauen Schädel sind noch nicht Jahre genug gezogen. Es wird ein Tag kommen, und nur zu bald, wo ich gescheiter, wenn auch nicht minder selbstsüchtig, den jungen Leuten dies zu Gemüth führen will. Und wenn so ein alberner Gedanke, wie ich ihn da eben ertappe, in ihrem Gehirn aufsteigt, so soll er ihre Stirne umziehen und ihnen auf den Lippen sitzen bleiben.

Es gibt viele solcher schmählichen Gedanken in dem Gehirn, die sich vor Scham verbergen, die aus Furcht, verhöhnt zu werden, schweigen, und die, wenn sie zuweilen einmal aus ihrem Versteck hervorgucken, die Schamröthe bis hoch auf die Stirn treiben. Einstmals hat ein Mann eine Haussuchung in seinem eigenen Gehirn angestellt; er durchforschte alle Falten desselben, suchte zu unterst und zu oberst und ließ auch nicht das kleinste Titelchen unbeschauet. Was er so fand, daraus machte er ein Buch voll Lebensregeln, einen treuen Spiegel, in dem sich der Mensch weit häßlicher sieht als er zu sein glaubte.

Der Herzog[2], der dies that, befolgte darin die Lehre des Sokrates, welcher den Menschen ermahnt, in sein eigenes Gehirn zu schauen. Γνῶθι σεαυτόν (ist griechisch) will nichts weiter sagen. Ich wenigstens zweifle sehr, ob bei so einer beständigen Selbstbetrachtung viel zu gewinnen ist; in gar vielen Dingen ist es besser, sich nicht zu kennen. Manche werden, je besser sie sich kennen lernen, je schlechter; ein anderer, der einsieht, daß auf seinem Acker kein gutes Korn gedeihen will, faßt gar den Entschluß, mit dem Unkraut zu wuchern.

[2]: Franz, Herzog von Larochefoucauld.

Darum schaue ich nicht mehr so viel in mein Gehirn, dagegen ist es mir der angenehmste Zeitvertreib, Anderen hineinzulugen. Ich nehme die Lupe dazu, das Vergrößerungsglas, und ihr glaubt nicht, wie viel kleine, sonderbare Eigenthümlichkeiten ich entdecke, der großen, die man mit bloßen Augen sieht, und der ungeheuern, welche von weitem schon auffallen, gar nicht zu erwähnen. Gall war gewiß ein Narr, daß er den Inhalt nach der Schale, den Geschmack der Frucht nach ihrem Aussehen, den Balsam nach der Büchse beurtheilen will. Ich mache auf und koste, ich öffne den Deckel und rieche.

Denkt, alle Gehirne sind aus einerlei Stoff gemacht; ich begreife es, daß sie alle dieselbe Anzahl Zellen haben, dieselben Knötchen enthalten, gleichwie in jeder Orange dieselbe Anzahl Kerne in derselben Zahl gleicher Zellen sich befindet; allein von diesen Knötchen misrathen einige, andere gedeihen übermäßig und daraus kommen Misverhältnisse, welche jene Unterschiede in den Charakteren bilden, wodurch die Menschen einander unähnlich werden.

Sonderbar ist es, daß eines dieser Knötchen niemals misräth; daß es sich von Nichts wie von Vielem ernährt, eines der ersten seinen Wachsthum nimmt und als letztes von allen abstirbt, so daß man, wenn dies gestorben ist, sicher sein kann, daß der ganze Mensch aufgehört hat zu leben. Dies ist die Eitelkeit. Ich habe dies von einem Todtenbeschauer, der hat mir anvertraut, daß er sich lediglich an dies Zeichen hielte und es als das sicherste von allen andern ansehe; riefe man ihn zu einem Verstorbenen, so überzeuge er sich vor allen Dingen, ob derselbe nicht noch nach irgend einem Schein strebe, ob nicht irgend eine Sorgsamkeit in seiner Miene oder seiner Haltung, nicht irgend eine Besorgniß vor fremdem Blicke vorhanden sei. In diesem Falle gab er, ohne nur nach dem Puls zu fühlen, die Erlaubniß zur Bestattung, und wiewol er dieses Verfahren immer beobachtet hatte, war er doch überzeugt, noch niemals einen Lebenden unter die Erde gebracht zu haben, was, wie er sagte, seinen Amtsgenossen öfterer passire, die auf den Puls, den Athem und andere unzureichende Anzeichen etwas gäben. Er behauptete, dieser Todtenbeschauer nämlich, daß nicht so sehr Umstände, Vermögen und Beschäftigung diese Knötchen entfalten, sondern wenn irgend etwas Einfluß übe, so sei es das Alter. In der Kindheit ist es just nicht das erste, das sich zeigt, in der Jugend eben nicht das stärkste, aber von zwanzig Jahren an ist's eine gewaltige, gefräßige Knolle, welche ihre Nahrung aus Allem saugt.

Ich vergesse aber, daß ich von meiner Wohnung sprechen wollte. Ich verbrachte die heitern Tage meiner ersten Jugendzeit in tiefer Stille, lebte wenig mit meinem Lehrer zusammen, mehr mit mir selber und viel mit Eucharis, Galathea und vorzugsweise mit Estella.

Es gibt ein Alter; aber in der That nur eines und das dauert nicht lange: wo die Schäferromane Florians einen eigenthümlichen Reiz üben; in diesem Alter befand ich mich. Mir schien nichts liebenswürdiger als diese jungen Schäferinnen, nichts naiver als ihre zierlichen Redensarten und ihre Rosenwassergefühle, nichts ländlicher, bäurischer als ihre schmucken Mieder und die hübschen Hirtenstäbe mit winkenden Bändern; bei den hübschesten Mädchen der Stadt fand ich kaum halb so viel Anmuth, Schönheit, Geist und namentlich Gefühl als bei meinen lieben Schäfermädchen. Darum hatte ich ihnen mein Herz ohne Rückhalt gegeben und meine junge Phantasie gelobte, es ihnen treu zu bewahren.

Kindische Liebe, erster Glanz jenes Feuers, das später alles ergreifend und verheerend auflodert! ...... Welchen Reiz, welch' heitere reine Lust gewährt die unschuldige Vorempfindung eines Gefühls, das so reich an Stürmen ist!

Das Unglück bei meiner Leidenschaft war, daß ich mich nicht so recht sicher ihr hingeben durfte, und dies einer höchst ernsthaften Unterredung wegen, die ich ganz kürzlich mit meinem Lehrer gehabt hatte. Die Veranlassung gab Telemachs schönes Benehmen auf der Insel der Kalypso, als er in seiner Tugendhaftigkeit Eucharis verließ; wir übersetzten dies Benehmen zusammen in schlechtes Latein:

Und er stürzte Telemach in das Meer...

Et Telemachum in mare de rupe praecipitavit, hatte ich eben übersetzt, als es Herrn Ratin, so hieß mein Lehrer, einfiel, mich zu fragen, was ich von dem Benehmen Mentors hielte.

Die Frage setzte mich sehr in Verlegenheit, denn so viel wußte ich schon, daß man in Gegenwart seines Lehrers den Mentor nicht tadeln darf. Im Grunde genommen fand ich aber, daß Mentor sich bei dieser Gelegenheit etwas grob benommen habe. – Ich meine, versetzte ich, daß Telemach froh sein konnte, mit einigen Zügen Meerwasser davongekommen zu sein.

Du begreifst meine Frage nicht, versetzte Herr Ratin; Telemach war in die Nymphe Eucharis verliebt; die Liebe aber ist die unseligste, die verächtlichste, der Tugend feindlichste Leidenschaft. Wenn ein junger Mann verliebt ist, so verfällt er in Schlaffheit und Weichlichkeit, er taugt zu nichts mehr, als bei den Frauen zu schmachten, wie Herkules zu den Füßen der Omphale. Dies Benehmen des weisen Mentor, den Telemach vom Rande des Abgrundes zu retten, war daher das Bewundernswürdigste von Allem. So, setzte Herr Ratin hinzu, hättest du mir antworten sollen.

Auf diese mittelbare Weise wurde es mir klar, daß ich mich in einem schwierigen Falle befand und bereits weit von der Tugend abgewichen sei, denn die Estella liebte ich in meinen Augen offenbar eben so sehr als Telemach die Eucharis. Ich beschloß also, ein so frevelhaftes Gefühl zu bekämpfen, welches, der Bewunderung nach zu urtheilen, mit der Herr Ratin das Benehmen Mentors erhob, früher oder später zum Schlimmen führen mußte.

Herrn Ratins Worte hatten übrigens einen großen Eindruck auf mich gemacht; wol weniger weil ich sie begriff, als darum, weil sie dunkel und geheimnißvoll erschienen. Um weise zu sein und nicht in den Abgrund zu stürzen, unterdrückte ich ein unschuldiges Feuer, meine Einbildung heftete sich an die unheilkündenden Worte Ratins, um deren Sinn zu erforschen und große Offenbarungen daraus zu ziehen.

Das war meine erste Liebe; wenn sie auch, ihrer durchaus eingebildeten Natur gemäß, keine Folgen hatte, so drückte doch die Weise, wie sie durch Herrn Ratins Belehrung verscheucht wurde, jeder meiner andern Liebe einen eigenthümlichen Stempel auf, wie man aus den nachfolgenden Erzählungen sehen kann.

Das schon erwähnte Gefängniß hatte nur ein einziges Fenster nach meiner Seite her. Gefängnisse sind überhaupt nicht reich an Fenstern.

Dieses Fenster nun sitzt in einer schwarzen düstern Mauer. Eiserne Stangen wehren dem Gefangenen den Kopf herauszustecken und eine Vorkehrung draußen beraubt ihn der Aussicht auf die Straße und läßt nur wenig Himmelslicht in die Tiefe seiner Klause dringen. Ich erinnere mich, daß der Anblick dieses Mauerlochs mir damals nichts als Schrecken und Zorn einflößte. Ich bildete mir ein, daß die ganze Welt voll ehrlicher Leute sei, und darum schien es mir ruchlos, daß ein Einzelner darin sich herausnahm, Dieb oder Mörder zu sein, und die Gerechtigkeit, welche ehrliche Leute gegen dergleichen Ungeheuer beschirmte, erschien mir als eine heilige, strenge Matrone, deren Urtheile nicht zu streng sein konnten. Später änderte ich diese Ansicht: die Gerechtigkeit erschien mir nicht mehr so heilig, die ehrlichen Leute sanken in meiner Achtung und in jenen Ungeheuern fand ich allzuoft nur Opfer des Elendes, der Verführung, der Ungerechtigkeit.... Da kam das Mitleid und milderte meinen Zorn.

Der Geist eines Kindes ist entschieden, weil sein Auge beschränkt ist. Alle Fragen sind ihm einfach, weil es nur eine Seite derselben sieht, und deshalb scheint seinem minder aufgeklärten als geraden Sinne die Lösung eben so einfach als klar. Aus diesem Grunde sagen die Sanftesten unter ihnen zuweilen Hartherzigkeiten und die Aeußerungen der Zartfühlendsten sind grausam. Ohne daß ich darum gerade diesen Zartfühlendsten angehört hätte, begegnete mir dies oft. Wenn ich einen Menschen nach dem Gefängniß bringen sah, so sprach meine ganze Theilnahme für die Gendarmen, mein ganzer Abscheu gegen den Gefangenen. Dies war weder Grausamkeit, noch Gemeinheit, sondern Rechtlichkeitssinn. Bei minder kindlichem Gemüthe hätte ich die Gendarmen verabscheut und den Gefangenen beklagt.

Eines Tages sah ich einen solchen vorüberziehen, der meine ganze Entrüstung erregte. Es war ein Mitschuldiger an einem grausamen Morde; sie hatten zu zweien einen Greis getödtet, um das Geld desselben zu bekommen, und dann hatten sie sich eines unschuldigen Zeugen, eines Kindes, das bei dem Morde anwesend war, durch einen zweiten Mord entledigt. Der Genosse dieses Menschen war zum Tode, er aber durch die Geschicklichkeit seines Vertheidigers oder durch sonst mildernde Gründe blos zu lebenslänglichem Kerker verurtheilt. In dem Augenblick, wo er ins Gefängniß treten sollte, ging er unter meinem Fenster vorüber, er sah die benachbarten Häuser neugierig an, seine Augen begegneten den meinigen; er lächelte, als ob er mich kennte! Dies Lächeln machte einen tiefen, widerwärtigen Eindruck auf mich. Den ganzen Tag konnte ich es nicht mehr aus den Gedanken bringen. Ich beschloß, meinem Lehrer es mitzutheilen, und dieser ergriff die Gelegenheit, mir eindringliche Vorstellung über die viele Zeit zu machen, die ich durch das Schauen auf die Straße verlöre.

Mein Lehrer war doch, wenn ich es recht bedenke, ein drolliger Mann: brav und pedantisch, ehrbar und komisch, ernst und lächerlich, so daß er auf mich zu gleicher Zeit einen Ehrfurcht und Lachen erregenden Eindruck machte. Die Gewalt strenger Ehrbarkeit, der Einfluß strenger Grundsätze ist aber, wenn das eigene Benehmen ihnen nicht widerspricht, so groß, daß Ratin trotz des wahrhaft lächerlichen Eindruckes, den er auf mich machte, eine weit größere Gewalt über mich übte, als mancher weit geschicktere oder tüchtigere Lehrer, bei dem ich aber den geringsten Zwiespalt zwischen den Vorschriften, die er mir aufstellte, und denen, die er selbst befolgte, bemerkt hätte.

Er war ein Ausbund von Tugend. Wir überschlugen ganze Seiten im Telemach, weil sie den guten Sitten gefährlich wären, und mit der größten Sorgsamkeit suchte er mich vor jeder Neigung zu der verliebten Kalypso zu bewahren, wobei er mir bemerklich machte, daß ich in der Welt noch eine Menge gefährlicher Weiber antreffen würde, die ihr ähnlich wären.

Diese Kalypso verabscheute er, Kalypso, obwol eine Göttin, war ihm ein Gräuel. Die lateinischen Klassiker lasen wir übrigens nur nach dem gesäuberten Texte des Jesuiten Juventius und dennoch sprangen wir über eine Menge Stellen hinweg, die der strenge Jesuit für ungefährlich gehalten hatte. Hieraus war die entsetzliche Vorstellung, die ich mir von vielen Dingen machte, entsprungen, wie nicht minder die entsetzliche Furcht, dem Herrn Ratin meine unschuldigsten Gedanken merken zu lassen, wenn sie auch nur den leichtesten Anflug von Liebe hatten, oder im entferntesten mit Kalypso in Berührung standen, diesem Gespenste Ratins.

Es ließe sich Vieles hierüber sagen. Diese Methode entzündet weit mehr, als sie löscht; sie läßt nicht zum Ausbruch kommen, aber sie beugt nicht vor. Sie erzeugt viel eher Vorurtheile als Grundsätze. Ihre erste Wirkung ist namentlich, daß sie sonst unfehlbar immer die Unschuld, diese zarte Blume, die ein Lächeln beugt, die nichts wieder aufrichten kann, in Gefahr bringt.

Uebrigens war Herr Ratin ganz vollgepfropft von Latein und alten Rom, sonst aber ein guter Kerl, der nicht so streng war, als gern er Strafpredigten hielt. Beim Dintenfleck citirte er den Seneca, bei einem Schelmenstreich den Cato von Utika als Beispiel. Eines aber konnte er mir nimmer vergeben, und das war mein unsinniges Lachen. Der Mann sah in meinem albernen Gelächter die sonderbarsten Dinge: den Zeitgeist, eine frühzeitige Verderbtheit, das sichere Vorzeichen einer bejammernswerthen Zukunft. Ueber diesen Punkt redete er leidenschaftlich und ohne Aufhören. Ich schreibe dies einer Warze zu, die er auf der Nase hatte.

Diese Warze war von der Dicke einer Kichererbse und mit einer kleinen Anzahl sehr feiner und sehr hygrometrischer Haare besetzt; denn ich hatte bemerkt, daß sie mit der Veränderung der Witterung bald steifer, bald schlaffer dastanden. Nun kam es zuweilen, daß ich während meiner Stunden auf die unschuldigste Weise von der Welt, aus bloßer Neugierde und ohne einen Gedanken an Spott die Warze betrachtete. Dann fuhr er mich heftig an und kanzelte mich über meine Zerstreuung tüchtig ab. Ein anderes Mal, freilich seltener, wollte eine Fliege sich durchaus, trotz des ungeduldigen Zorns meines Lehrers, darauf setzen. Er beschleunigte alsdann die Erklärung unsers Autors, damit ich über der Arbeit diesen sonderbaren Kampf nicht bemerken sollte. Allein das war für mich eben ein Zeichen, daß etwas vorgehe, und eine unwiderstehliche Neugierde trieb mich an, meinen Blick verstohlen auf sein Gesicht zu werfen. Je nachdem, was es nun eben gab, faßte mich meine närrische Lachlust, und je eigensinniger die Fliege war, desto unwiderstehlicher wurde es bei mir und ich platzte heraus. Herr Ratin schien dann durchaus in der Welt nicht die Ursachen eines solchen Scandals zu begreifen; er donnerte gegen das unsinnige Lachen im allgemeinen und führte mir die schrecklichen Folgen desselben zu Herzen.

Nichts desto weniger ist das tolle Lachen eins der herrlichsten Dinge, die ich kenne. Es ist eine verbotene Frucht und darum vortrefflich. Mich haben nicht so sehr die Strafpredigten meines Lehrers davon geheilt, als das Alter. Um so recht mit Herzenslust unsinnig zu lachen, muß man Schüler sein und wo möglich einen Lehrer haben, der auf der Nase eine Warze mit drei spaßhaften Härchen besitzt.

.... Dies Alter ist ohne Rücksicht!

Beim Nachdenken über diese Warze ist mir die Ansicht gekommen, daß alle reizbaren Leute irgend eine physische oder moralische Schwäche haben, eine sichtbare oder unsichtbare Warze, welche sie auf die Meinung bringt, daß man über sie spotte. Vor solchen Leuten lache man nicht: das hieße über sie lachen; man rede niemals von Lupe und Warze: das sind Anspielungen; nimmer von Cicero und Scipio Nasica, sonst hat man es mit ihnen zu thun.

Es war die Zeit der Maikäfer; sie hatten mir bis dahin ungemein viel Vergnügen gemacht, aber ich verlor den Spaß daran. Wie man doch altert!

Indeß, wenn ich allein in meiner Kammer saß und unter tödtlich langer Weile meine Aufgaben arbeitete, so verschmähte ich die Gesellschaft von einem oder einem Paar solcher Thiere nicht. Ich muß übrigens bemerken, daß sie nicht mehr an einen Faden gebunden, um sie fliegen zu lassen, oder an einen kleinen Wagen gespannt wurden, zu dergleichen kindischen Spielereien war ich schon zu alt geworden. Wenn man aber meint, daß sich weiter nichts mit einem Maikäfer anfangen ließe, so irrt man gewaltig. Zwischen den Kinderspielen und den ernsten Studien des Naturforschers liegen noch viele Stufen.

Ich hatte einen unter einem umgekehrten Glase sitzen; das Thier quälte sich ab, die Wände desselben hinanzuklettern, um im Augenblick wieder herunterzufallen, und das ging endlos so weiter; zuweilen fiel es auf den Rücken, das ist bekanntlich für einen Maikäfer ein großes Unglück; ehe ich ihm zu Hilfe kam, bewunderte ich seine Langmüthigkeit, mit der er seine sechs Arme in der leeren Luft herumstreckte, in der immer fehlschlagenden Hoffnung, an irgend einen Körper anzuhaken, obgleich keiner da war. – Die Maikäfer sind doch dumme Thiere, sprach ich bei mir.

In der Regel half ich ihm dadurch aus der Noth, daß ich ihm die Spitze meiner Feder hinhielt; dies führte mich zu der größten, glücklichsten Entdeckung. Ich kann in diesem Betracht mit Berquin sagen, daß eine gute Handlung niemals unbelohnt bleibt. Mein Maikäfer hatte sich an den Bart der Feder angeklammert, und während er sich erholte, schrieb ich eine Zeile, wobei ich mehr auf ihn und seine Thaten achtete, als auf die des Julius Cäsar, den ich eben übersetzte. Wird er davonfliegen oder die Feder herunterklettern? Von welchen Zufällen hängen doch alle Dinge ab! Hätte er sich zu dem ersten entschlossen, so wäre es um meine Entdeckung geschehen gewesen, ich hätte sie nicht einmal geahnt; glücklicherweise kletterte er bergab. Als er sich der Dinte näherte, empfand ich eine Vorahnung; ich fühlte, daß große Dinge geschehen würden. So ahnte Columbus, ohne die Küste zu sehen, sein Amerika. Wirklich netzt mein Maikäfer, als er an dem Ende des Schnabels angekommen ist, seine Schwanzspitze mit Dinte. Schnell ein weißes Blatt...... ein Augenblick der höchsten Spannung.

Die Schwanzspitze kommt auf's Papier, die Dinte hinterläßt Spuren und wunderbare Zeichnungen entstehen. Zuweilen hob der Maikäfer, ob aus Verstand oder weil der Vitriol seine Nerven angriff, im vollen Gange den Schwanz in die Höhe und ließ ihn erst später wieder nieder. Daraus entsteht eine Reihe von Punkten, eine Arbeit von wunderbarer Zartheit. Dann wieder änderte er seine Richtung und bog ab; jetzt ändert er den Plan noch einmal und kommt wieder zurück: es ist ein S!... Bei dieser Entdeckung durchzuckte mich ein Lichtstrahl.

Ich versehe dem staunenden Thiere die Schwanzspitze wohl mit Dinte und setze es auf die erste Seite meines Heftes. Dann nehme ich einen Strohhalm, um seine Arbeit zu leiten, um seine Pfade zu lenken, und zwinge den Maikäfer sich so zu bewegen, daß er meinen Namen schreibt. Es bedurfte zweier Stunden; aber welch' Meisterwerk!

»Die edelste Eroberung, welche der Mensch je gemacht hat, sagt Buffon, ist.... sicherlich der Maikäfer!«

Um die Arbeit zu leiten, hatte ich mich dem Fenster genähert, eben wurde der letzte Buchstabe fertig, da rief eine Stimme leise: Freundchen! Ich sah schnell auf die Straße. Da war niemand. – Hier! rief dieselbe Stimme. – Wo? fragte ich. – Im Gefängnisse.

Jetzt merkte ich, daß die Worte aus dem Kerkerfenster gekommen und von dem Verbrecher, dessen abscheuliches Lächeln mich so heftig erschreckt hatte, an mich gerichtet waren. Ich fuhr bis an die andere Wand meines Zimmers zurück.

– Fürchten Sie nichts, fuhr die Stimme fort; ein braver Mensch spricht mit Ihnen... – Schurke! rief ich, wenn Sie mich noch länger anreden, so rufe ich die Wache!

Er schwieg einen Augenblick. – Als man mich neulich durch die Straße brachte, hub er darauf wieder an, sah ich Ihr Gesicht und schloß daraus, daß Sie ein mitleidiges Herz hätten und ein unglückliches Opfer der Ungerechtigkeit beklagen könnten.... – Schweigt! rief ich aufs Neue, Bösewicht! Ihr habt einen Greis und ein Kind ermordet!....

– Ach! ich sehe wol, Sie sind verblendet wie Alle. Noch so jung und doch schon das Schlimmste glauben! Er schwieg, denn er hörte jemand die Straße kommen. Es war ein schwarzgekleideter Mann, ein Leichenträger, wie ich nachher erfuhr.

Als der Mann vorüber war, fuhr er fort: – Ach! der ehrwürdige Gefängnißprediger ist ganz anders. Der weiß, Gottlob! daß mein Herz rein und meine Seele ohne Flecken ist! Er schwieg wiederum. Diesmal ging ein Gendarm vorüber. Ich trug Bedenken, ihn anzurufen und ihm die Reden des Gefangenen mitzutheilen; allein diese Worte selbst hatten schon zu sehr auf meine Leichtgläubigkeit eingewirkt, als daß ich diese Regung wieder unterdrücken konnte. Außerdem schien es mir ein Verrath zu sein, da doch der Gefangene der Ehrlichkeit meines Gesichts vertraut hatte. Meine Eigenliebe fühlte sich zu sehr geschmeichelt, als daß ich ein solches Lob Lügen strafen konnte. Ich habe ja eben gesagt, daß diese Leidenschaft sich von Allem nährt, es ist keine Hand so schmutzig, daß sie sich nicht gern davon streichen ließe.

Nach der Unterhaltung, die mich zum Fenster gelockt hatte, blieb der Gefangene ruhig und ich kehrte zu meinem Maikäfer zurück.

Welches Entsetzen! das Unheil war groß, unverbesserlich! schnell ergriff ich den Urheber und warf ihn zum Fenster hinaus, dann betrachtete ich mit Schrecken die verzweifelte Geschichte.

Ein langer schwarzer Streifen lief vom vierten Kapitel de bello gallico gerade durch zum linken Rande; da war dem Thiere der Schnitt zu steil gewesen, um hinabzuklettern, und es hatte sich wiederum nach dem rechten Rande umgedreht. Jetzt war es nördlich gewandelt und hatte beschlossen, mittelst des Dintenfasses das Buch zu verlassen, war aber dabei den sanften, glatten Abhang hinuntergeglitten in den Abgrund, in die Gehenna, in die Dinte, zu seinem Verderben und meinem.

Jetzt hatte der Maikäfer leider zu spät bemerkt, daß er nicht auf der rechten Straße sei, und den Weg zurückzugewinnen versucht: von Kopf bis zu den Füßen in Schwarz gehüllt, war er wieder aus der Dinte gekrochen und zum vierten Kapitel de bello gallico zurückgekehrt, wo ich ihn, der keinen Begriff davon hatte, fand.

Das waren entsetzliche Flecken; Seen, Flüsse, eine ganze Kette von Kreuz- und Querstrichen, ohne Geschmack, ohne Genie.... ein schwarzes, abscheuliches Bild!!

Ach! das Buch, das Buch war eine Elzevir-Ausgabe meines Lehrers, ein Elzevir in Quarto, ein seltener, kostbarer, unersetzlicher Elzevir, der mir aufs eindringlichste auf die Seele gebunden war. Ich war unrettbar verloren.

Ich fing die Dinte mit Löschpapier auf, ich trocknete das Blatt und dann begann ich meine Lage zu überdenken.

Ich empfand mehr Angst als Gewissensbisse; am meisten fürchtete ich mich, daß ich den Maikäfer bekennen mußte. Wie schlimm mußte nicht mein Lehrer diesen schändlichen Zeitvertreib ansehen, für einen Knaben von meinen Jahren, wie er zu sagen pflegte, diesen so kindischen und wahrscheinlich höchst unmoralischen Zeitvertreib. Das machte mich zittern.

Satan, dessen ich mich in dem Augenblicke nicht versah, trat heran und bot mir Auswege dar. Satan fehlt niemals zur Stunde der Versuchung; er gab mir eine ganz kleine Lüge an die Hand. Während meiner Abwesenheit wäre die verwünschte Katze des Nachbars ins Zimmer gekommen und hätte das Dintenfaß auf das vierte Kapitel de bello gallico geworfen. Da ich nun aber während der Arbeitsstunden nicht ausgehen durfte, so wollte ich meine Abwesenheit dadurch rechtfertigen, daß ich eine Feder hatte kaufen müssen. Da aber in einem Schranke noch genug Federn zu meiner Verfügung lagen, so hatte ich gestern beim Baden den Schlüssel verloren. Und da ich nun gestern keine Erlaubniß gehabt hatte, baden zu gehen und wirklich auch nicht dort gewesen war, so setzte ich voraus, daß ich ohne Erlaubniß dort gewesen und durch das Geständniß dieses Fehlers meiner kunstreichen Erfindung ungemein viel Wahrscheinlichkeit verlieh, wie sich auch zu gleicher Zeit meine Gewissensangst verminderte, da ich mich ja offenherzig eines Fehlers anklagte, was mich in meinen Augen fast....

Schon war der sinnreiche Plan ganz fertig, als ich Herrn Ratins Schritte auf der Treppe vernahm.

In meiner Verwirrung schlug ich das Buch zu, öffnete es wieder, schlug es nochmals zu und öffnete es rasch aufs neue, damit der Flecken selber spräche, und mir wenigstens die Unannehmlichkeit des ersten Geständnisses ersparte....