Die Braut im Schnee - Jan Seghers - E-Book
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Die Braut im Schnee E-Book

Jan Seghers

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Beschreibung

Wo du hingehst, da werde ich dich finden. Wo du stirbst, da werde ich gewesen sein. Eine junge Zahnärztin ist ermordet worden. Der Täter hat die Leiche auf widerwärtige Weise zur Schau gestellt. Der Frankfurter Kommissar Marthaler ist von dem Anblick zutiefst erschüttert. Er ahnt, dass sich der Mörder mit diesem einen Opfer nicht zufrieden geben wird. Und er soll Recht behalten … «Der schwedische Autor Henning Mankell hat Seghers zum Krimischreiben inspiriert. Ein Vorbild, das er übertroffen hat.» (PRINZ)

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Jan Seghers

Die Braut im Schnee

Roman

Über dieses Buch

Wo du hingehst, da werde ich dich finden.

Wo du stirbst, da werde ich gewesen sein.

 

Eine junge Zahnärztin ist ermordet worden. Der Täter hat die Leiche auf widerwärtige Weise zur Schau gestellt. Der Frankfurter Kommissar Marthaler ist von dem Anblick zutiefst erschüttert. Er ahnt, dass sich der Mörder mit diesem einen Opfer nicht zufrieden geben wird. Und er soll Recht behalten …

 

«Der schwedische Autor Henning Mankell hat Seghers zum Krimischreiben inspiriert. Ein Vorbild, das er übertroffen hat.» (PRINZ)

Vita

Jan Seghers alias Matthias Altenburg wurde 1958 geboren. Der Schriftsteller, Kritiker und Essayist lebt in Frankfurt am Main.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Ein allzu schönes Mädchen

Partitur des Todes

Dieses Buch ist ein Roman.

Alle Figuren und Ereignisse sind erfunden.

Selbst das Wetter richtet sich nach den Maßgaben des Autors.

Die Sonne scheint, es schneit, es regnet, wann er will.

Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.

Samuel Beckett, Murphy

Erster Teil

Eins

Als die Zahnärztin Gabriele Hasler am Nachmittag des 11. November hörte, wie ihre Sprechstundenhilfe die Praxistür hinter sich ins Schloss zog, wurde sie, wie schon mehrfach in den vergangenen Tagen, von einer unerklärlichen Unruhe erfasst. Im Vorbeigehen schaute sie kurz in den Spiegel und fand, wie so oft in letzter Zeit, dass sie zu alt aussah für ihre gerade noch neunundzwanzig Jahre. «Was ist nur mit mir geschehen?», dachte sie und war zugleich bemüht, sich diese Frage nicht zu beantworten.

Obwohl ihre Sprechstunde für diesen Tag bereits beendet war, wartete sie noch auf einen älteren Patienten, der kurzfristig um einen späten Termin gebeten hatte. Da es sich lediglich um ein Beratungsgespräch handelte, hatte sie beschlossen, ihre Zahnarzthelferin nach Hause zu schicken und so das Geld für die Überstunde zu sparen. Um die Zeit zu überbrücken, setzte sie sich an ihren Schreibtisch und begann, ein paar Unterlagen zu ordnen, doch merkte sie schon bald, dass es ihr an der nötigen Konzentration fehlte. Immer wieder schaute sie auf die Uhr, ging in die Teeküche, um sich ein Glas Wasser einzuschenken, oder versuchte sich auf andere Weise abzulenken.

Gabriele Hasler wusste zu gut Bescheid, um sich Illusionen über ihren Beruf zu machen. Sie hatte sich ihren Start als selbständige Zahnärztin nicht einfach vorgestellt. Dass es allerdings so schwierig werden würde, hatte sie nicht erwartet. Schon, um ihr Studium zu Ende zu bringen, hatte sie einen Kredit aufnehmen müssen, und als sie begann, die bescheidene Praxis am Kleinen Friedberger Platz einzurichten, waren die Schulden ins Unermessliche gewachsen. Bislang hatte sie es abgelehnt, das Haus ihrer Eltern in Oberrad zu verkaufen, bald würde ihr keine andere Wahl mehr bleiben. Sie hatte dieses Haus jahrelang nicht betreten. Erst nachdem Vater und Mutter vor zwei Jahren im Abstand weniger Wochen gestorben waren, war sie dort eingezogen. Nun war das Haus das Einzige, was ihr von ihren Eltern geblieben war.

Sie saß auf dem Schreibtischstuhl in der Rezeption, starrte auf die Eingangstür und lauschte. Obwohl sie wusste, dass es keine vernünftige Erklärung dafür gab, hatte sie das Gefühl, nicht allein in der Praxis zu sein. Um sich zu beruhigen, ging sie ins Sprechzimmer, schloss das gekippte Fenster und zog die Vorhänge zu. Dann schaltete sie das Radio ein und dachte: Fehlt bloß noch, dass ich anfange zu pfeifen, um mir Mut zu machen. Als um kurz nach fünf endlich die Türglocke läutete, reagierte sie mit Erleichterung. Aber auch während des Gesprächs mit dem Patienten merkte sie, wie ihre Gedanken immer wieder abschweiften. Schließlich bat sie den Mann, so lange zu warten, bis sie ihre Sachen gepackt, die Alarmanlage eingeschaltet und die Räume abgeschlossen hatte. Dann verließen sie gemeinsam das Haus. Auf der Straße verabschiedeten sie sich. Gabriele Hasler schaute dem Mann nach, der in eine der Nebenstraßen ging, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Kurz bevor er hinter einer Hausecke verschwand, drehte er sich noch einmal um und winkte ihr zu.

Sie war müde, sie freute sich auf ein Bad, und sie hatte Hunger. Da ihr Kühlschrank leer war und sie weder Lust zum Einkaufen noch zum Kochen hatte, beschloss sie, vor ihrer Heimfahrt noch rasch zu der nur wenige Schritte entfernten Holzhütte zu gehen. Dort hatte sie in den letzten Monaten häufig ihr Abendessen eingenommen. Es handelte sich um einen Imbiss, der von einem Afrikaner betrieben wurde und nach einem ehemaligen Fußballspieler der Kameruner Nationalmannschaft «Roger Millas Grill» hieß. Der Inhaber war groß, korpulent, von dunkelbrauner, fast schwarzer Hautfarbe und trug zu ihrer Überraschung den deutschen Vornamen Rudolf, was er damit erklärte, dass er ein Nachfahre des legendären Häuptlings Rudolf Manga Bell sei, der als Kind an einer Schule in Ulm unterrichtet worden war, bevor er sein Volk in den Widerstand gegen die deutschen Kolonialherren führte und dafür schließlich hingerichtet wurde. Weil ihr die Geschichte gefiel, war es der Zahnärztin egal, ob sie auch stimmte.

In der Dunkelheit seines Verschlags sah man von Rudolf dem Jüngeren fast nichts, außer seinen Augäpfeln und den Zähnen. Auf dem Regal über dem Herd stand ein fettverspritzter Kassettenrecorder, aus dem immer dieselbe Musik kam: die Aufnahme eines Livekonzerts der Têtes Brulées. Gabriele Hasler hatte die Band einmal als Studentin in Paris gehört, und deshalb weckte die Musik angenehme Erinnerungen. Rudolf begrüßte sie so überschwänglich, wie Wirte es häufig tun, stellte ihr unaufgefordert eine Dose Cola light auf den Tresen und empfahl ihr das Tagesmenü: Hähnchenschenkel mit Erdnusssoße und gegrillten Lauchzwiebeln. Gabriele Hasler merkte, wie ihre Anspannung nachließ. Während sie sich hungrig über die kleine Mahlzeit hermachte, hörte sie dem gut gelaunten Geplauder des Imbissbetreibers zu und überlegte, ob sie für die Fahrt nach Oberrad wie üblich die Straßenbahn nehmen oder sich heute ausnahmsweise ein Taxi gönnen sollte. Sie entschied sich für das Taxi. Wie jedes Mal, wenn sie bei ihm aß, lobte sie Rudolfs Kochkünste, während er ihr Komplimente wegen ihres Aussehens machte, was sie sich heute besonders gern gefallen ließ.

Als sie den kleinen Verschlag der Imbissbude verließ, begann sie zu frieren. Und fast augenblicklich war auch ihre Nervosität wieder da. Sie schaute sich um, als könne von einem der Passanten eine Bedrohung ausgehen, aber sie entdeckte nur eine Mutter mit ihrem Kinderwagen, zwei alte Damen, die mit großen Papiertüten von ihren Einkäufen zurückkehrten, und einige junge Männer, die um ein Auto mit offener Motorhaube herumstanden und debattierten.

Sie lief die Friedberger Landstraße hinunter und hielt Ausschau nach einem Taxi. Inzwischen begann es bereits zu dämmern, und die Autofahrer schalteten die Scheinwerfer ein. Sie mochte diese Jahreszeit nicht, sie mochte dieses Wetter nicht, und sie merkte, dass sie auch sich selbst immer weniger mochte. Nicht einmal auf ihren morgigen Geburtstag freute sie sich. Und dass Holger angekündigt hatte, in aller Frühe in Köln loszufahren, um zum gemeinsamen Frühstück bei ihr zu sein, verbesserte ihre Stimmung keineswegs. Doch statt sich endlich von ihm zu trennen, wie sie es insgeheim schon mehrmals vorgehabt hatte, war sie noch im Frühjahr auf seinen Vorschlag eingegangen und hatte einer offiziellen Verlobungsfeier mit seinen Eltern und einigen wenigen Verwandten zugestimmt. Ihr zu Ehren, und um ihr die Umstände der Fahrt zu ersparen, waren alle aus dem Rheinland angereist. Sie hatten sich auf einem Parkplatz am Frankfurter Hauptbahnhof getroffen und waren schließlich in einem kleinen Konvoi zum Gut Neuhof gefahren, einem beliebten und nicht gerade preiswerten Ausflugslokal fünfzehn Kilometer südlich der Stadt. Holgers Vater hatte sich die meiste Zeit hinter seinem Camcorder verschanzt, seine Mutter hatte Gabriele immer wieder bestätigt, wie stolz sie auf ihre künftige Schwiegertochter seien, und am Abend waren alle froh, die Sache mit Anstand hinter sich gebracht zu haben. Einen Moment lang hatte ihr die Vorstellung, nun eine richtige Braut zu sein, sogar geschmeichelt. Aber schon am nächsten Tag, als sie allein war, kam ihr das alles wieder so fremd vor wie damals, als Holger das erste Mal von einer Verlobung gesprochen hatte.

Sie hatte sich immer einen Mann gewünscht, der ihr ebenbürtig, der ihr weder über- noch unterlegen war. Es gab keinen Grund, Holger nicht zu mögen, und das war es, was ihr die Trennung so schwer machte. Er war der freundlichste und rücksichtsvollste Mann, mit dem sie bislang zusammen gewesen war. Am Anfang hatte ihr das gut getan. Aber er war ihr nicht gewachsen. Bei jedem Konflikt gab er am Ende nach. Wenn es darauf ankäme, würde er ihr wie ein geprügelter Hund nachlaufen. Und notfalls, da war sie sicher, würde er sich in sie verbeißen.

Gabriele Hasler wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ein Radler sie im Vorüberfahren streifte. Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie fluchte. Ein paar Meter weiter hielt der Radfahrer an und blickte sich nach ihr um. Sie machte sich auf einen Streit gefasst. Stattdessen lächelte der junge Mann unsicher und entschuldigte sich bei ihr.

Sie bog nach rechts in eine Seitenstraße. Am Scheffeleck hatte sie endlich Glück. Vor dem Maingau-Krankenhaus stand ein Taxifahrer neben seinem Wagen und rauchte. Der Mann schaute sie an. Dann kam er um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür. Obwohl sie eigentlich lieber auf der Rückbank saß, stieg sie einfach ein.

«Nach Oberrad», sagte sie.

Als sie losfuhren, bemerkte Gabriele Hasler, dass ganz in der Nähe ein weiteres Fahrzeug startete. Sie drehte sich um und entdeckte einen dunkelblauen BMW, der sich hinter ihnen in den Feierabendverkehr einfädelte. Sie klappte die Sonnenblende herunter und begann sich die Lippen zu schminken. Im Spiegel sah sie, dass der BMW ihnen folgte.

«Irgendwas nicht in Ordnung?», fragte der Taxifahrer.

Gabriele Hasler verneinte. Sie versuchte sich zu entspannen. Der Verkehr war so dicht, dass sie nur schrittweise vorankamen. Einmal berührte der Fahrer beim Schalten wie versehentlich ihr Knie. Statt sich zu entschuldigen, sah er nur kurz zu ihr rüber, als wolle er feststellen, wie sie reagierte. Sie verlagerte ihre Beine in die andere Richtung.

Als sie das nächste Mal durch die Heckscheibe sah, war der BMW noch immer hinter ihnen. Sie bat den Taxifahrer, die Richtung zu ändern.

«Da ist alles dicht. Außerdem ist es ein Umweg», sagte er.

«Machen Sie einfach, was ich sage», erwiderte sie.

Aber mit einem Mal war der BMW nicht mehr zu sehen. Sie hatte sich getäuscht. Niemand war in der Praxis gewesen. Niemand hatte sie auf der Straße beobachtet. Sie wurde nicht verfolgt. Keiner bedrohte sie.

«Hübsch», sagte der Taxifahrer und grinste. Er beugte sich ein Stück zu ihr hinüber. Sie konnte sein Rasierwasser riechen.

«Was meinen Sie?», fragte Gabriele Hasler.

Statt zu antworten, schaute er auf ihre Beine.

«Lassen Sie mich hier aussteigen!», sagte sie. «Ich gehe den Rest zu Fuß.»

«Was?»

«Es heißt nicht ‹was›, es heißt ‹wie bitte›! Ich möchte zahlen.»

«Ich kann hier nicht halten.»

«Doch, Sie können.»

Sie öffnete die Wagentür. Abrupt stoppte das Fahrzeug. Sofort wurde hinter ihnen gehupt. Gabriele Hasler ließ sich nicht beirren. Sie begann in den Tiefen ihrer großen Handtasche zu wühlen. Umständlich kramte sie ihr Kleingeld zusammen. Der Fahrer zählte nach. «Fehlen fünfzig Cent», sagte er. Sie nahm die Münzen wieder an sich und hielt ihm einen Zweihundert-Euro-Schein hin. Sie merkte, wie er böse wurde.

«Kann ich nicht wechseln. Meine Schicht hat gerade erst angefangen.»

«Tja», sagte sie. «Was machen wir nun?»

In seinem Gesicht arbeitete es.

«Gib das Kleingeld her und verzieh dich!», platzte er heraus.

«Das üben wir nochmal», sagte sie.

«Was?»

«Wie bitte!»

Endlich schien er verstanden zu haben. «Geben Sie mir das Geld und steigen Sie aus! Bitte! Und wenn Sie das nächste Mal in der Taxizentrale anrufen, sagen Sie der Telefonistin, dass Sie keinesfalls mit der Nummer 476 fahren möchten. Merken Sie sich das: vier-sieben-sechs!»

«Ja», sagte sie. «Das hatte ich mir bereits vorgenommen.»

Sie warf die Münzen in die Konsole unter dem Taxameter. Sie blieb sitzen. Der Fahrer wartete. «Ist noch was?»

«Ja. Ich hätte gerne eine Quittung.»

Er trommelte mit beiden Fäusten aufs Lenkrad. Einen Moment lang befürchtete sie, er könne sie schlagen. Stattdessen schüttelte er den Kopf und brach in nervöses Gelächter aus. Dann reichte er ihr ein ausgefülltes Quittungsformular.

Gabriele Hasler stieg aus und ließ die Beifahrertür so weit offen, dass der Taxifahrer von seinem Sitz aus den Griff nicht erreichen konnte. Er musste aussteigen und den Wagen umrunden, um die Tür zu schließen. Sie verstand nicht, was er ihr nachrief. Aber im Weggehen hörte sie, wie das Hupkonzert der erbosten Autofahrer immer lauter wurde.

Am Main-Plaza erreichte sie den Fluss. Die Luft war feucht und kalt. Ein leichter Nieselregen setzte ein. Der Uferweg, der sonst von Spaziergängern, Freizeitsportlern und Hundehaltern bevölkert wurde, war jetzt menschenleer. Inzwischen war es dunkel geworden. Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch und machte sich auf den Weg. Rechts sah sie die Lichter des neu erbauten Deutschherrnviertels. Als die Bebauung endete, wurde der Uferstreifen breiter, aber auch dunkler. Das Gelände war von Bäumen bewachsen und von Hecken gesäumt. Sie zögerte kurz, dann marschierte sie los. Sie wollte zielstrebig und entschlossen wirken. Niemand, der sie sah, sollte ihre Angst bemerken. Fünf Minuten später kam sie an den flachen Gebäuden der Wassersportvereine vorbei, dann lag noch einmal eine kurze, dunkle Strecke vor ihr. Als sie die Gerbermühle erreicht hatte, atmete sie auf. Jetzt musste sie nur noch die Straße überqueren und durch die Bahnunterführung laufen, dann war sie zu Hause.

Bereits bevor sie das Grundstück erreicht hatte, tastete sie in ihrer Tasche nach dem Schlüsselbund. Der Eingang wurde von einer kleinen Außenlaterne schwach beleuchtet. Als sie gerade den Schlüssel ins Schloss gesteckt und die Haustür geöffnet hatte, versteiften sich ihre Schultern. Sie merkte, dass jemand hinter ihr in der Dunkelheit stand. Sie fuhr herum. Ein fremder Mann schaute sie an. Ein Fremder, der dennoch eine Erinnerung in ihr weckte. Dann erkannte sie ihn und begann im selben Moment zu schreien. Niemand hörte sie. Der Mann stieß sie in den Hausflur, folgte ihr und schloss hinter sich die Tür.

Zwei

Es war fünf Uhr, als Nikolas Schäfer am Morgen des 12. November im Schlafzimmer seiner Wohnung in Hanau-Steinheim aufwachte. Er knipste die Nachttischlampe an, legte sich auf den Rücken und lächelte. Er ließ seine rechte Hand unter der Decke hervorgleiten, und ohne hinzuschauen begann er das Fell der Katze zu kraulen, die im Korb neben dem Bett schlief.

Nikolas Schäfer arbeitete als Krankenpfleger in der Klinik auf dem Frankfurter Mühlberg. Er hatte seine Kollegin Rosi für den Abend zum Essen eingeladen, und diesmal hatte sie zu seiner Verwunderung sofort zugesagt. Damit sie es sich nicht anders überlegte, hatte er umgehend im Restaurant Maingau angerufen und einen Tisch für zwei Personen bestellt. Er hoffte, das würde sie davon abhalten, in letzter Minute wieder abzusagen.

Obwohl er noch Zeit hatte, stand er zehn Minuten später bereits in der Küche und setzte Wasser auf. Er schaute auf das Außenthermometer am Fenster: Es zeigte unter zwei Grad Celsius. Er ging ins Bad, um sich zu waschen, dann zog er seinen Bademantel über, trank eine Tasse Tee und aß zwei Scheiben Toast mit Orangenmarmelade. Anschließend öffnete er den Kleiderschrank und überlegte lange, was er anziehen sollte. Fast hätte er darüber vergessen, das Radio einzuschalten. Er mochte alte Schlager und konnte viele Texte auswendig. Seine Mutter war als Sängerin durch die Tanzcafés der Umgebung gezogen, und manchmal hatte er sie an den Wochenenden oder während der Schulferien begleiten und das ein oder andere Lied mitsingen dürfen. Gerne hatte er sie angeschaut, wenn sie in der Garderobe vor dem Spiegel noch im Unterrock ihr Lächeln prüfte, dann das Kleid überstreifte und sich vor ihm drehte, als brauche sie außer ihm kein weiteres Publikum. Manchmal war am Morgen nach einem Auftritt ein fremder Mann aus ihrem Schlafzimmer gehuscht und hatte Nikolas verlegen zugenickt, bevor er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zog. Wenn der Junge seine Mutter später angeschaut hatte, schüttelte sie nur den Kopf und lächelte ihn an: «Keine Angst, Kleiner. Du wirst immer mein Bester bleiben.» Es waren diese Erinnerungen, die seine Behauptung nährten, eine schöne Kindheit gehabt zu haben. Ein Plakat mit dem Foto seiner Mutter, das einen ihrer Auftritte im «Rote-Rosen-Club Seligenstadt» ankündigte, hatte er nach ihrem Tod rahmen lassen und im Wohnzimmer aufgehängt.

Als er die vertraute Stimme des Moderators hörte, drehte er das Radio ein wenig lauter: «Auf Wunsch unseres treuen Hörers Nikolas Schäfer aus Hanau-Steinheim spielen wir nun ‹Marina› in der italienischen Originalaufnahme mit Rocco Granata.» Sofort begann er mitzusummen. Er wusste, dass ihm die Melodie den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf gehen würde.

Bevor er die Wohnung verließ, machte er eine Runde durch die Zimmer und drehte überall die Heizungen herunter. Dann ging er noch einmal rasch ins Bad, um ein wenig Rasierwasser aufzutragen. Erst ganz zum Schluss schaltete er das Radio aus.

Draußen zog er den Reißverschluss seiner Winterjacke noch ein Stück höher. Er nahm die Zeitung aus dem Briefkasten, steckte sie in den Rucksack und machte sich auf den Weg. An der S-Bahn-Station schaute er auf die Uhr. Er war früher dran als gewöhnlich, und das war der Grund, warum er die anderen Fahrgäste, die auf den nächsten Zug warteten, nicht kannte.

Er hatte Glück, er fand eine leere Viererbank und setzte sich ans Fenster. Er begann in der Zeitung zu lesen, merkte aber bald, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Seine Vorfreude auf den Abend mit Rosi war zu groß. Er lehnte den Kopf an die kalte Scheibe und schaute hinaus in die Dunkelheit. Die S-Bahn durchquerte Mühlheim, dann Offenbach. Auf den Straßen stauten sich die Autos. Scheinwerfer wurden aufgeblendet, manche Fahrer hupten; an den Ampeln standen frierende Fußgänger mit müden Gesichtern.

Hinter dem Kaiserleikreisel fuhr die Bahn noch einmal durch offenes Gelände. Auf der rechten Seite lagen der Main und das Deutschherrnufer, auf der linken die Felder einer Großgärtnerei. Wie so oft an dieser Stelle verlangsamte der Zug seine Fahrt, bevor er das Frankfurter Stadtgebiet erreichte, und musste für eine Weile warten, bis die Strecke frei war.

Zwischen den Feldern, direkt an den Bahngleisen, stand ein einzelnes altes Haus aus gelbrotem Backstein. Nikolas Schäfer wusste, dass es von einer jungen Frau bewohnt wurde. Er hatte sie in den vergangenen Monaten einige Male gesehen. Sie hatte am Fenster des Badezimmers gestanden und sich das Haar gekämmt. Oder sie war vom Einkaufen gekommen und hatte schwere Taschen ins Haus getragen. Und ein paarmal hatte sie auf einer Campingliege auf einem kleinen verwilderten Rasenstück gelegen und sich gesonnt. Meist war sie allein. Er hatte sich vorgestellt, die Frau kennen zu lernen und sie zu besuchen. Jetzt hielt er beide Hände an die Scheibe und hoffte, dass eines ihrer Fenster erleuchtet sei und er sie beobachten könne, aber das Haus war dunkel. Alle Rollläden waren heruntergelassen. Draußen begann es gerade erst zu dämmern. Dann entdeckte er etwas.

Im Hof neben dem Haus sah er eine Art helles Bündel. Er schaute genauer hin, konnte aber nicht erkennen, um was es sich handelte. Es war noch zu dunkel.

Er stand auf, verließ seinen Platz und ging in den nächsten Waggon, um eine bessere Position zu haben. Er stellte sich an die Tür und schaute wieder hinaus. Jetzt war er sicher, dass da im Hof des Hauses etwas war. Ein Tier, dachte er, vielleicht ein großer Hund.

Auf einem der Feldwege näherte sich ein Kleinlaster. Als das Fahrzeug an dem Haus vorüberkam, streifte das Licht der Scheinwerfer für einen kurzen Augenblick den Hof. Dieser Moment genügte. Nikolas Schäfer trat einen Schritt zurück. Er merkte, wie sich sein Magen verkrampfte. Es war kein Tier, was er gesehen hatte. Es war ein Mensch. Der Körper einer Frau. Eine unvollständig bekleidete Frau, die dort reglos auf dem geschotterten Boden in der Dunkelheit kauerte. Er war sicher, dass die Frau nicht mehr lebte. Niemand hielt sich bei diesen Temperaturen freiwillig halb nackt im Freien auf.

Am Mühlberg stieg er aus. Oberhalb der Treppe, die zur Station führte, stand der Verkaufswagen einer Bäckerei.

«Was ist denn mit Ihnen los?», fragte die Verkäuferin. «Sie sind ja ganz blass. War wohl spät gestern Abend.»

Er nickte. Wie immer nahm er ein Käse- und ein Schinkenbrötchen. Er legte das Geld auf die Plastikschale. Seine Hände zitterten. Dann ging er, ohne sich zu verabschieden. Er gab sich Mühe, seine Aufregung zu bezwingen, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen. Er hatte ein einziges Mal mit der Polizei zu tun gehabt, als man ihn als Jugendlichen einmal beschuldigt hatte, eine E-Gitarre aus dem Schaufenster eines Musikgeschäftes gestohlen zu haben. Noch immer erinnerte er sich seiner Scham, als die beiden Uniformierten an der Wohnungstür geklingelt und mit seiner Mutter gesprochen hatten. Bis heute bekam er jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn er einen Streifenwagen sah.

Er überlegte einfach anzurufen, ohne seinen Namen zu nennen. Er konnte sagen, was er gesehen hatte, und wieder auflegen. Aber sofort fürchtete er, dass man das Telefonat aufzeichnen und später seine Stimme übers Fernsehen ausstrahlen würde. Er konnte auch einfach schweigen. Irgendwer würde die Frau finden und es melden. Er wollte keine Schwierigkeiten.

Bis zum Krankenhaus brauchte er nicht mal zehn Minuten. Als er das Stationszimmer betrat, sah ihn Rosi freundlich an. Dann erstarb ihr Lächeln. «Wie siehst du denn aus?»

Ohne seine Jacke auszuziehen, erzählte er, was passiert war. Vor Aufregung stotterte er ein wenig.

«Was ist, wenn die Frau noch lebt?», fragte Rosi. «Vielleicht sollten wir einen Notarztwagen hinschicken.»

«Nein, sie ist tot. Und ich bin sicher, sie ist nicht von selbst gestorben.»

«Was meinst du damit?»

«Ich glaube, sie wurde umgebracht.»

«Umgebracht? Wie kommst du denn darauf?»

«Ich weiß nicht, aber ich bin sicher.»

«Was machst du dann noch hier? Du musst zur Polizei gehen.»

Nikolas Schäfer zögerte einen Moment. Dann nickte er. «Ja, ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich etwas später anfange. Es bleibt doch bei heute Abend?»

Rosi sah ihn an. «Ja», sagte sie, «ich freu mich schon.»

 

Als der dritte Tropfen Wasser auf seinen Schreibtisch fiel, schaute Hauptkommissar Robert Marthaler an die Decke seines neuen Büros und begann zu brüllen.

«Nicht schon wieder!», schrie er. «Verdammt nochmal, nicht schon wieder!»

Elvira öffnete vorsichtig die Tür und streckte den Kopf herein. Obwohl nur zehn Jahre älter als er selbst, war seine Sekretärin im Lauf der Zeit zu einer Art mütterlicher Freundin für Marthaler geworden. Sie wollte gerade erst ihren Arbeitstag beginnen und hatte den Mantel noch nicht abgelegt, als die laute Stimme ihres Chefs aus dem Nebenzimmer ertönte.

«Robert, was ist los? Kann ich dir helfen?»

Marthaler schien sie nicht zu bemerken. In seiner Wut holte er aus und fegte mit einer einzigen Armbewegung sämtliche Unterlagen von seinem Schreibtisch. Hilflos wiederholte Elvira ihre Frage. Endlich schaute Marthaler sie an.

«Was? Ja, hilf mir! Bestell ein Abbruchunternehmen! Sag ihnen, sie sollen den ganzen Bau dem Erdboden gleichmachen! Schau dir diese Sauerei an! Es kommt schon wieder Wasser von der Decke. Wie soll man da arbeiten? Ich will hier raus, verstehst du, ich verlange umgehend einen trockenen warmen Arbeitsplatz.»

Elvira, die seit langem mit Marthaler zusammenarbeitete und seine gelegentlichen Wutausbrüche kannte, versuchte ihn zu beruhigen. «Warte», sagte sie, «das haben wir gleich. Ich hole rasch einen Lappen.»

«Genau das wirst du nicht tun! Du wirst stattdessen Herrmann benachrichtigen! Er soll herkommen und sich das ansehen. Und den Chef der Haustechnik! Ich will, dass endlich etwas passiert! Drei Monate lang haben wir hier drin geschwitzt wie in einer Sauna, weil die Klimaanlage nicht funktionierte. Jetzt ist es draußen kalt, und wir müssen frieren, weil schon wieder irgendwas kaputt ist. Und nun werden wir wieder geduscht, ohne es zu wollen. Ich bleibe keine Minute länger hier.»

Er ließ Elvira einfach stehen, nahm seine Winterjacke, verließ das Büro und warf die Tür des Vorzimmers hinter sich ins Schloss.

Auf dem Gang begegnete ihm seine junge Kollegin Kerstin Henschel, die ihn erstaunt begrüßte. «Hallo, Robert, was ist los? Du gehst schon wieder?»

Marthaler blieb vor ihr stehen und ruderte hilflos mit den Armen. «Ja, ich gehe», rief er, «und ich werde diese Bruchbude nicht wieder betreten.»

Erst ein Dreivierteljahr zuvor hatten sie das riesige neue Präsidium an der Adickesallee im Frankfurter Norden bezogen. Die meisten Kollegen waren froh gewesen, endlich aus dem alten, viel zu eng gewordenen Gebäude am Platz der Republik ausziehen zu können. Manche hatten wohl auch die wochenlang dauernden Umzugsaktivitäten als willkommene Abwechslung begriffen.

Robert Marthaler hingegen gehörte zu den wenigen, die von Beginn an ihren Unmut darüber geäußert hatten, dass sie ihre vertraute Umgebung verlassen mussten. «Unser Alltag ist turbulent genug», hatte er auf einer Sitzung gesagt. «Wir müssen uns ständig auf neue Situationen einstellen, da kann es nicht gut sein, wenn wir auch noch durch neue Büros und neue Arbeitsabläufe abgelenkt werden.» Die jüngeren Kollegen, bei denen er für seine Sturheit bekannt war, hatten gelächelt. Und er hatte gewusst, dass sein Widerstand zwecklos war. Der Umzug war vor Jahren beschlossen worden, und so blieb ihm schließlich nichts anderes übrig, als darauf zu bestehen, wenigstens seinen alten Schreibtisch mitnehmen zu dürfen.

Als sich die Pannen in dem neuen Gebäude häuften und immer mehr Kollegen zu klagen begannen, hatte er einen leisen Triumph nur mühsam verbergen können. Man hatte sogar vergessen, Toiletten in die Arrestzellen einzubauen, sodass jetzt immer ein Beamter abgestellt werden musste, um die Häftlinge zum Klo zu begleiten. Auch machte Marthaler keinen Hehl daraus, dass er die Architektur des Neubaus nicht mochte, der wie eine kalte, leblose Kaserne aussah, einen ganzen Häuserblock umfasste und von der Bevölkerung schon bald «Bullenkloster» genannt wurde.

Jetzt stand er in dem großen Innenhof und atmete durch. Mit einem Mal kam ihm sein Furor lächerlich vor. Er zog den Reißverschluss seiner dicken Winterjacke hoch, setzte die Wollmütze auf und streifte die Handschuhe über. Er stieg auf sein Fahrrad und fuhr den Alleenring entlang. Die Haut seiner Wangen schmerzte in der kalten Luft. Bald würde er das Rad im Keller lassen müssen. An der Eckenheimer Landstraße bog er nach links. Ein paar hundert Meter weiter, kurz hinter dem großen Supermarkt, hielt er an. Rund um den Hauptfriedhof hatten sich im Laufe der Jahrzehnte nicht nur eine ganze Reihe von Gärtnereien und Steinmetzbetrieben angesiedelt, sondern auch ein paar Cafés, deren Kundschaft vor allem aus dunkel gekleideten älteren Damen und Herren bestand. Nach den Besuchen an den Gräbern ihrer Lieben trafen sie sich hier, klagten ohne Leidenschaft, sprachen über ihre Krankheiten und die Rente. Und manchmal schlossen sie wohl auch neue Bekanntschaften. Niemals aber schienen sie ihre Hüte abzunehmen.

Marthaler mochte das sanfte Geplätscher der belanglosen Gespräche. Er hörte gerne dem leisen Geklapper der Bestecke und dem Klirren des Geschirrs zu. Und es besänftigte ihn, inmitten von Leuten zu sitzen, denen jeder Ehrgeiz und der größte Teil ihrer Eitelkeit längst vergangen war. Vielleicht, dachte er, fühle ich mich deshalb hier wohl, weil ich selbst langsam älter werde. Und dieser Gedanke beunruhigte den Hauptkommissar nicht im Geringsten.

Er hängte seine Jacke an die Garderobe, suchte sich einen freien Tisch, bestellte eine Tasse Tee und ein Käsebrötchen und bat die Serviererin, ihm außerdem eine Schachtel Mentholzigaretten zu bringen. Er blätterte eine Tageszeitung durch und brauchte eine Weile, bis er merkte, dass sie bereits zwei Wochen alt war. Die Rentner, so schien es, legten auf Neuigkeiten keinen großen Wert. Als er sich gerade eine Zigarette angesteckt hatte, klingelte sein Mobiltelefon. Es war seine Sekretärin.

«Elvira, was gibt’s?»

«Ich fürchte, du musst die Bruchbude doch nochmal betreten», sagte sie.

«Nein!»

«Doch, Robert. In Oberrad ist die Leiche einer Frau gefunden worden. Es sieht nach einem Tötungsdelikt aus. In fünf Minuten ist Einsatzbesprechung.»

 

Marthaler betrat den Konferenzraum und schaute sich um. Bevor er sich noch hinsetzen konnte, herrschte Herrmann ihn an: «Wo kommen Sie jetzt her?»

«Vom Kaffeetrinken», antwortete Marthaler.

Der Leiter der Mordkommission schluckte trocken. Eine Erwiderung schien ihm nicht einzufallen. Auf eine ehrliche Antwort war er wohl nicht gefasst gewesen. Mit dem Mittelfinger schob Herrmann seine neue randlose Brille zurecht. Es war dasselbe Modell, das auch der Polizeipräsident seit ein paar Wochen trug.

Herrmann räusperte sich. Dann begann er mit den Händen zu flattern. «Wie auch immer», sagte er, «Sie übernehmen bitte den Fall. Ich habe eine dringende Besprechung.»

Er war schon fast aus der Tür, als Marthaler ihn noch einmal zurückrief.

«Wir müssen hier raus», sagte er so ruhig wie möglich. Er wusste, wie leicht sich jede seiner Begegnungen mit Herrmann zu einem Krach entwickeln konnte. Mit den Jahren hatten sich Marthalers Vorbehalte gegen seinen Chef zu einer stabilen Abneigung ausgewachsen.

Herrmann sah ihn verständnislos an. «Was heißt das: Wir müssen hier raus?»

«Das heißt, was es heißt. Dass wir unsere Büros hier verlassen werden. Dass wir hier nicht arbeiten können. Dass Sie sich Gedanken machen müssen.»

Herrmanns Blick blieb leer. Dann nickte er.

«Verstehe», sagte er, «verstehe.» Er verließ den Raum und schloss leise die Tür hinter sich.

Marthaler wandte sich an Elvira: «Also, sag uns, was passiert ist.»

«Das 8. Polizeirevier hat angerufen. Heute Morgen ist ein Mann zu ihnen gekommen und hat einen Leichenfund in der Nähe eines einzeln stehenden Hauses in Oberrad gemeldet. Sie haben einen Streifenwagen losgeschickt, um die Sache zu überprüfen. Die Angaben des Mannes haben sich bestätigt. An der angegebenen Stelle wurde der leblose Körper einer Frau gefunden. Das ist es, was die Kollegen mir gesagt haben. Und dass wohl alles dafür spricht, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelt.»

«Was spricht dafür?», fragte Marthaler.

Elvira schüttelte den Kopf. «Mehr weiß ich nicht. Ich habe die Spurensicherung bereits benachrichtigt. Walter Schilling hat versprochen, sofort loszufahren.»

«Gut. Wer ist frei? Wer hat Zeit, sich die Sache mit mir anzusehen?» Marthaler schaute in die Runde. Er wusste nur zu gut, dass es unter seinen Kollegen von der ersten Mordkommission niemanden gab, der auf einen weiteren Fall erpicht war. Liebmann und Döring mühten sich seit drei Tagen, die Identität einer männlichen Wasserleiche zu klären, die man aus dem Main geborgen hatte. Kerstin Henschel bereitete sich auf ihre Zeugenaussage bei einem Prozess wegen Totschlags vor. Und Manfred Petersen untersuchte einen Unfall auf der Autobahn, bei dem es eine Woche zuvor drei Tote, aber keine Zeugen gegeben hatte. Keiner von ihnen hatte auf zusätzliche Arbeit gewartet.

«Tut mir Leid, Sven», sagte Marthaler, «dann muss ich dich bitten, mit mir zu kommen. So lange, bis wir wissen, was es mit der Sache in Oberrad auf sich hat, soll Kai alleine weitermachen.»

Sven Liebmann nickte. Alle wussten, dass Marthaler gerne mit dem schlaksigen Polizisten zusammenarbeitete. Er mochte die besonnene Art des jungen Kollegen, der wenig sprach und auch in turbulenten Situationen die Übersicht behielt. Liebmann hatte oft bewiesen, dass er sich von Marthalers aufbrausendem Temperament nicht beeindrucken ließ.

«Gut. Dann machen wir uns an die Arbeit. Ich schlage vor, wir treffen uns nach dem Mittagessen wieder.»

Elvira wartete, bis alle außer Marthaler den Raum verlassen hatten. «Robert, du denkst daran, dass Tereza heute zurückkommt. Du wolltest sie vom Flughafen abholen. Ich sollte dich daran erinnern.»

Marthaler sah seine Sekretärin an. Dann lächelte er.

«Ja», sagte er. «Daran denke ich ganz bestimmt.»

Drei

Schweigend fuhren sie durch die Stadt. Während Sven Liebmann den grauen Daimler lenkte, saß Marthaler auf dem Beifahrersitz, schaute aus dem Fenster und versuchte, nicht daran zu denken, was sie am Tatort erwartete. Aber wie immer, wenn sie an den Schauplatz eines Verbrechens gerufen wurden, konnte er seine Unruhe kaum unterdrücken.

Die Stadt war grau. Die Kälte der letzten Tage kündigte bereits den Winter an. Die Bewegungen der Fußgänger wirkten wie eingefroren, und die Kinder in ihren dicken Mänteln sahen aus wie steife Teddybären. Marthaler sehnte sich in den Süden. Sein letzter längerer Urlaub war fast anderthalb Jahre her. Damals hatte er sich kurz nach Ostern mit Tereza in dem kleinen Ort Tina Mayor an der spanischen Atlantikküste getroffen. Zwei Wochen lang hatten sie in dem winzigen Häuschen des ehemaligen Strandwärters gewohnt. Obwohl es kalt gewesen war und oft geregnet hatte, erinnerte sich Marthaler noch immer gerne an diese Tage. Die Stimmung zwischen ihnen war entspannt gewesen. Morgens hatten sie lange im Bett gelegen, waren anschließend in die kleine Bar im Dorf gegangen, um zu frühstücken, und abends hatten sie gemeinsam gekocht und hinterher mit einer Flasche Rotwein am Kamin gesessen. Zweimal noch hatte ihn Tereza danach in Frankfurt für ein verlängertes Wochenende besucht. Beide Male hatte Marthaler gespürt, dass der große Abstand ihnen nicht gut tat. Die Tage, die sie miteinander verbringen konnten, waren zu kurz, als dass sie ihre Befangenheit hätten überwinden können.

Drei Jahre war es her, dass sie sich im Lesecafé kennen gelernt hatten. Tereza war gerade aus Prag nach Frankfurt gekommen. Sie hatte kurz bei ihm gewohnt, war dann aber nach Madrid gegangen, wo sie deutschen Kunstreisenden die Stadt zeigen und ihre Studien im Prado fortsetzen wollte. Sie hatten kaum eine Chance gehabt, miteinander vertraut zu werden. Umso mehr freute sich Marthaler, dass Tereza heute zurückkam. Sie hatte eine Stelle als freie Mitarbeiterin im Städelmuseum angenommen, wo sie für die Organisation von Ausstellungen zuständig sein würde. Schon morgen würde sie mit ihrer Arbeit dort beginnen.

Sven Liebmann steuerte den Wagen über die Alte Brücke. Kurz nachdem sie den Main überquert hatten, kamen sie durch Alt-Sachsenhausen, jenes Gaststättenviertel, das im Sommer und an den Wochenenden überschwemmt wurde von Touristengruppen, allesamt auf der Suche nach der berühmten Apfelwein-Folklore. Niemand sagte ihnen, dass die Frankfurter das Viertel längst mieden.

Marthalers Anspannung wuchs. Sie fuhren unter der Eisenbahnbrücke hindurch und bogen nach links in die Offenbacher Landstraße. Kurz bevor sie Oberrad erreichten, begann es zu schneien. «Auch das noch», sagte Sven Liebmann. Marthaler schaute stumm aus dem Fenster.

In der Ortsmitte mussten sie noch einmal anhalten, um nach dem Weg zu fragen. Sie kamen durch eine abschüssige schmale Straße; dann hörte die Bebauung auf, und vor ihnen lagen die Felder einer Großgärtnerei. Schon von weitem sahen sie das einzeln stehende Haus. Es war ein altes Gebäude aus gelbrotem Backstein. Davor stand ein Kleinbus der Spurensicherung. In der Zufahrtsstraße parkte ein leerer Streifenwagen und versperrte ihnen den Weg. Sven Liebmann wollte hupen, aber Marthaler hielt ihn davon ab. «Lass», sagte er. «Wir gehen zu Fuß.»

Das gesamte Grundstück war bereits mit rot-weißem Plastikband gesichert. Neben dem Haus stand ein hölzerner Schuppen, dessen Wände überwuchert waren von Gestrüpp. Dahinter ein überdachter Abstellplatz voller Gerümpel. Außerhalb der Absperrung patrouillierten uniformierte Polizisten. Trotz des schlechten Wetters hatten sich die ersten neugierigen Passanten bereits eingefunden. Marthaler und Liebmann wurden durchgewinkt. Vor der Einfahrt blieben sie stehen und sahen zu, wie auf dem Hof eine große weiße Plane aufgespannt wurde, um den Platz vor dem heftiger werdenden Schneefall und vor den Blicken der Schaulustigen zu schützen. Walter Schilling, der Chef der Spurensicherung, hob abwehrend die Hände, als er die beiden Neuankömmlinge bemerkte. «Bleibt, wo ihr seid», rief er. «Ich bin gleich bei euch.»

Marthaler trat von einem Bein aufs andere. Er spürte, wie der Schneeregen bereits durch den Stoff seiner Hose drang. Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog eine Packung Mentholzigaretten hervor, überlegte es sich aber anders und steckte sie wieder ein.

Zwei Minuten später kam Schilling auf sie zugestapft. «So eine Sauerei», sagte er.

«Was meinst du?», fragte Marthaler.

Schilling sah in den Himmel. «Den Schnee», sagte er, «ausgerechnet jetzt.» Dann machte er eine Kopfbewegung in Richtung des Hauses. «Und das da meine ich natürlich auch.»

«Wann seid ihr fertig?»

Schilling schüttelte den Kopf. Seine Worte kamen stockend. «Keine Ahnung. Das Gebäude ist groß. Anscheinend hat die Frau hier allein gewohnt. Wir müssen alles untersuchen. Und eins ist sicher: Das hier wird keine Routine.»

Marthaler wartete, dass sein Kollege weitersprach, aber Schilling zog den Kopf zwischen die Schultern und schwieg.

«Also, berichte!», forderte Marthaler ihn auf.

Der Chef der Spurensicherung setzte an, etwas zu sagen, brach aber wieder ab. «Nein, bitte, wartet noch zehn Minuten. Unser Kameramann ist bald fertig. Dann könnt ihr in den Hof, um euch das Opfer selbst anzuschauen.»

«Wer ist die Frau? Wie alt? Wie ist sie umgekommen? Wann? Irgendwas musst du doch sagen können. Wie sollen wir anfangen zu arbeiten, wenn wir nichts wissen.»

Schilling sah Marthaler direkt in die Augen, dann begann er zögernd zu sprechen: «Wie es aussieht, wurde sie erdrosselt. Vielleicht mit einem Strick, eher wohl mit einem Gürtel. Wir nehmen an, dass es sich um die Bewohnerin des Hauses handelt. Ihr Name ist Gabriele Hasler. Ich schätze sie auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Wahrscheinlich wurde sie im Innern des Hauses getötet. Es gibt Schleifspuren, die von der Haustür bis in den Hof führen. Ihre Leiche wurde … ich weiß nicht, wie ich es nennen soll … sie wurde ausgestellt. Es sieht aus, als habe man sie drapiert.»

Marthaler wollte nachhaken, aber Schilling kam ihm zuvor: «Robert, bitte, zehn Minuten! Dann könnt ihr euch selbst ein Bild machen.»

Marthaler nickte. Er drehte sich um und ging wortlos davon. Er nahm den Weg durch die Felder. Einmal blieb er stehen. Die feuchte Jacke hing schwer an ihm herab. Nicht weit von ihm standen drei große Gewächshäuser. Das mittlere war hell erleuchtet. Marthaler sah, wie sich im Inneren eine schemenhafte Gestalt bewegte. Er steckte sich eine Zigarette an, aber schon nach den ersten Zügen hatte der Schnee die Glut wieder gelöscht. Er dachte an nichts. Er legte den Kopf in den Nacken und starrte in das Gestöber der fallenden Flocken, bis ihm schwindelig wurde. Schillings Worte hatten in seinem Kopf eine große Leere hinterlassen. Er spürte, wie ihm mit der Nässe auch das Elend dieses Morgens in die Knochen kroch. Mit einem Mal erinnerte er sich an jenen Tag in seiner Kindheit, als sie mit der Grundschule einen winterlichen Ausflug unternommen hatten. Marthaler war sechs oder sieben Jahre alt gewesen. Für einen Moment war er hinter seinen Mitschülern zurückgeblieben, um sich die Schuhe zu binden. Als er wieder aufschaute, waren die anderen verschwunden. Immer wieder hatte er gerufen, aber niemand schien ihn zu hören. Schließlich hatte er sich auf seinen Schlitten gesetzt und geweint.

Als er wieder vor dem Haus ankam, schaute er auf die Uhr. Es war kurz nach elf. Sven Liebmann nickte ihm zu. Der Kameramann der Spurensicherung packte gerade seine Ausrüstung zusammen.

«Soll ich die eingeschaltet lassen?», fragte er und zeigte auf die beiden Scheinwerfer, die auf hohen Stativen den Fundort der Leiche beleuchteten und vor denen der Schnee zu weißem Nebel verdampfte. Marthaler verneinte stumm. Dann ging er um die weiße Plane herum.

Der Anblick des Opfers traf ihn wie ein unerwarteter Schlag. Die Tote lag nicht, sie kniete auf dem Boden. Zuerst sah Marthaler den entblößten, in die Höhe gereckten Hintern der Frau. Instinktiv kniff er für einen Moment die Augen zusammen, sodass er das Opfer nur noch undeutlich erkennen konnte. Die Beine der Toten waren nackt und leicht gespreizt. Sie trug weder Schuhe noch Strümpfe. Den Slip hatte man ihr bis zu den Knöcheln heruntergezogen, den Rock über die Hüften nach oben geschoben. Tatsächlich sah es so aus, als habe man sie auf besonders schamlose Weise ausstellen wollen. Ihr Oberkörper war weit nach vorne gebeugt. Die Arme waren angewinkelt. Ihr Kopf lag auf dem linken Unterarm und war zur Seite gedreht. Marthaler ging um sie herum, um ihr Gesicht sehen zu können. Unwillkürlich zuckte er zurück. Das Antlitz der Toten war zu einer Grimasse verzerrt. Die blutunterlaufenen Augen waren halb geöffnet und die Mundwinkel wie zu einem schmerzhaften Grinsen nach oben gezogen. Zwischen den bläulich verfärbten Lippen konnte man ihre Zungenspitze sehen.

Marthaler wandte sich ab. Er schaute sich Hilfe suchend nach seinem Kollegen um. Als er versuchte zu sprechen, klang es wie ein Krächzen. «Kannst du mir sagen, was hier passiert ist? Was ist das? Mit was für einem Verbrechen haben wir es zu tun? Verstehst du irgendwas von dem, was wir hier sehen?»

Sven Liebmann stand zwei Meter entfernt und sah ihn kopfschüttelnd an. Dann machte er eine vage Handbewegung in Richtung der toten Frau. «Hast du das gesehen?»

«Was?»

«Sie hält etwas in der Hand. Ein Stück Stoff.»

Marthaler ging neben der Toten in die Hocke. Ihre rechte Hand war halb unter dem Oberkörper verborgen. Trotzdem konnte man erkennen, dass sich ihre Finger krampfhaft um einen Fetzen weißes Gewebe klammerten.

«Sieht aus wie ein Stück von einer Gardine», sagte er. «Was auch immer es sein mag, darum müssen sich die Kriminaltechniker kümmern. Ich verstehe nur, dass ich gar nichts verstehe.»

Marthaler schaute den jüngeren Kollegen an. Kurz hatte er den Eindruck, Sven Liebmann würde weinen. Dann sah er, dass das, was er für Tränen gehalten hatte, Schneeflocken waren, die als Schmelzwasser über Liebmanns Gesicht liefen.

«Man möchte sich abwenden und alles sofort vergessen», sagte Marthaler. «Und trotzdem bin ich schon jetzt sicher, dass wir selten einen Fall hatten, bei dem wir gezwungen waren, so genau hinzuschauen. Das hier hat der Mörder regelrecht inszeniert. Wir dürfen nichts übersehen. Hier ist alles von Bedeutung.»

«Ich werde im Präsidium anrufen», sagte Sven Liebmann. «Wir brauchen mehr Leute. Wir müssen versuchen, Zeugen zu finden, wir müssen die Nachbarn befragen. Wir müssen herausfinden, wer ihre Angehörigen sind. Wir können nicht nur hier herumstehen und die Tote anstarren.»

Marthaler nickte, aber er fühlte sich wie gelähmt. Und er war dagegen, jetzt bereits mit der gewohnten Ermittlungsroutine zu beginnen. Er hatte das Gefühl, dass sie damit lediglich ihre Ratlosigkeit verbergen würden.

Plötzlich kam von der Straße her Lärm. Sie hörten laute Stimmen. Jemand schrie. Es wurde gestritten. Marthaler ging bis zur Absperrung. Zwei uniformierte Polizisten hielten einen Mann fest, der mit Gewalt versuchte, sich loszureißen. Marthaler wandte sich an den Fremden: «Was ist hier los? Wer sind Sie? Was wollen Sie?»

Noch während er die Fragen stellte, kam er sich lächerlich vor. Der Mann tobte weiter. Marthaler wurde laut: «Wenn Sie sich nicht sofort beruhigen, werde ich Sie verhaften lassen!»

Erstaunt sah ihn der Mann an. Seine Widerstandskraft ließ augenblicklich nach. «Ich will zu meiner Verlobten. Sie wohnt hier.»

«Wer sind Sie? Wie heißt Ihre Verlobte? Zeigen Sie mir Ihren Personalausweis!»

Der Mann nestelte in seiner Jackentasche und zog eine Brieftasche hervor. Dann reichte er Marthaler sein Ausweiskärtchen. Marthaler warf einen kurzen Blick darauf und gab es an einen der Uniformierten weiter.

«Wir werden Ihre Daten in unser System eingeben und Ihre Personalien überprüfen. Wie heißt Ihre Verlobte, Herr Assmann? Wann haben Sie sie zuletzt gesehen? Wo waren Sie in den letzten fünfzehn Stunden?»

«Sie heißt Gabriele Hasler», sagte der Mann. Seine Stimme klang wie die eines Automaten. «Ich komme gerade aus Köln. Dort wohne ich. Vor drei Wochen war ich das letzte Mal hier. Ich habe mich verspätet. Gabriele wartet auf mich.» Dann verstummte er. Er starrte Marthaler an und fragte schließlich mit leiser Stimme: «Was ist passiert? Sagen Sie mir bitte, was passiert ist.»

Marthaler schaute zu Boden. Er hatte Kopfschmerzen. Er merkte, dass er nicht in der Lage sein würde, den Mann in den Hof zu führen und ihn zu bitten, die Tote zu identifizieren. Er schaute sich Hilfe suchend um, hob die Hand und winkte Sven Liebmann heran.

«Warten Sie», sagte er, «mein Kollege wird sich um Sie kümmern.»

Liebmann, der den letzten Satz mitgehört hatte, sah Marthaler an, dann nickte er. Er legte dem Mann eine Hand auf die Schulter: «Kommen Sie», sagte er.

Marthaler beeilte sich, die beiden zu überholen. Ohne einen weiteren Blick auf das Opfer zu werfen, ging er über den Hof zur Eingangstür des Hauses, wo ihm Walter Schilling begegnete.

«Du kannst jetzt rein», sagte der Chef der Spurensicherung, «aber fass bitte nichts an.»

«Nein», sagte Marthaler, «solange deine Leute hier zu tun haben, bekomme ich kein Gefühl für das Gebäude. Das muss warten. Gibt es einen Raum, wo ihr schon fertig seid? Können wir irgendwo reden?»

«Ja. Lass uns in die Küche gehen. Ich sage Bescheid, dass wir nicht gestört werden wollen.»

 

«Du siehst nicht gut aus», sagte Marthaler, als sie einander an dem alten Küchentisch gegenübersaßen.

«Dann schau bitte in den Spiegel», erwiderte Schilling.

Marthaler fühlte sich ertappt. «Ich weiß», sagte er, «ich habe gestern lange gearbeitet und heute Nacht schlecht geschlafen.»

«Natürlich, das wird es sein», sagte Schilling und versuchte ein Lächeln. «Hauptsache, wir geben nicht zu, dass es der Anblick der Toten ist, der uns an die Nieren geht, nicht wahr.»

Marthaler vermied es, auf die Kritik seines Kollegen einzugehen. «Was habt ihr bisher herausgefunden? Kannst du mir sagen, was hier geschehen ist?»

Schilling schloss kurz die Augen, als müsse er sich für seinen Bericht sammeln. «Sie heißt Gabriele Hasler, dreißig Jahre alt. Sie ist Zahnärztin und betreibt eine Praxis im Nordend. Ich meine … sie betrieb eine Praxis. Jedenfalls habe ich das den Unterlagen entnommen, die wir gefunden haben. Hier, die Adresse habe ich dir aufgeschrieben.» Schilling reichte Marthaler einen Zettel, dann sprach er weiter. «Ob es Angehörige gibt, wissen wir noch nicht. Wir haben das Material, das wir für wichtig hielten, in zwei Kartons verpackt, damit ihr die sichten könnt. Hier gibt es Tausende Bücher, Zeitschriftenarchive, Aktenordner. Wenn wir das alles überprüfen sollen, werdet ihr erst in ein paar Tagen hier reinkönnen. Die andere Möglichkeit ist, ihr guckt euch das an Ort und Stelle an und sagt Bescheid, wenn ihr unsere Hilfe braucht.»

Marthaler nickte. «Ja. Das ist wohl die bessere Idee. Wir müssen so schnell wie möglich hier rein, um uns selbst ein Bild machen zu können. Was meinst du, kommt ein Raubmord in Frage?»

Schilling schaute skeptisch drein. Dann schüttelte er entschieden den Kopf. «Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Fernseher, Musikanlage, Computer, das alles ist nicht angerührt worden. Auf dem Nachttisch lag eine Brieftasche, in der etwas über zweihundert Euro steckten. Und im Bad haben wir eine Kassette mit Schmuck gefunden. Ein Räuber hätte sich das wohl kaum entgehen lassen.»

«Hat schon ein Gerichtsmediziner die Leiche gesehen?»

«Ja. Dr. Herzlich war hier. Er schätzt, dass ihr Tod gegen Mitternacht eingetreten ist. Was die Todesursache angeht, wollte er sich noch nicht festlegen. Jedenfalls sei sie stranguliert worden.»

«Stranguliert?»

«Ja … und …»

Zum wiederholten Mal fuhr direkt hinter dem Haus ein Zug vorbei. Der Lärm war so groß, dass sie ihr Gespräch unterbrechen mussten. Die Dielen des Fußbodens vibrierten, und das Geschirr im Küchenschrank klirrte. Marthaler wartete darauf, dass Schilling weitersprach. «Was … und?», fragte er schließlich.

«Und dass man sie gequält hat.»

«Was meinte Herzlich damit?»

«Er meint, dass sie nicht einfach getötet wurde, sondern dass es lange gedauert hat, bis sie gestorben ist. Am besten, du sprichst selbst mit ihm.»

«Das werde ich tun», sagte Marthaler. «Aber ich will von dir wissen, was du von der Sache hältst.»

«Ich denke, dass es einen Kampf gegeben hat. Ich denke, dass sie nicht im Hof getötet wurde, sondern hier im Haus. Es gibt Kampfspuren in mehreren Zimmern. Ich glaube, dass der Täter sie erst ins Freie gebracht hat, nachdem sie bereits tot war. Er hat die Leiche in den Hof geschleift, und dann hat er sie … na ja, er hat sie so hergerichtet, wie sie dann gefunden wurde.»

«Was hältst du davon? Hast du so was schon mal gesehen?»

«Nein, niemals, außer in den Lehrbüchern. Es ist wie von einem anderen Stern.»

Marthaler merkte, dass Schilling noch etwas sagen wollte: «Wie meinst du das: wie von einem anderen Stern?»

«Ich glaube, hier hat nicht einfach jemand töten wollen.» Wieder zögerte Schilling.

«Sondern?»

«Sondern ich glaube, dass hier jemand seinen Spaß hatte.» Schilling sah aus, als sei er nicht sicher, die richtigen Worte gefunden zu haben, als könne er etwas Unpassendes gesagt haben.

Es dauerte lange, bis Marthaler reagierte. Er hatte Mühe, seine Ratlosigkeit zu verbergen. Mit einem sadistisch motivierten Mord hatte er noch nicht zu tun gehabt. Es war nicht so sehr die Brutalität des Verbrechens, die ihn fassungslos machte. Vielmehr war es die unermessliche Fremdheit, die darin zum Ausdruck kam. Wenn es stimmte, was Schilling gerade angedeutet hatte, dann hatten sie es mit einem Fall zu tun, bei dem seine Erfahrungswerte versagten.

«Wie ist der Täter ins Haus gekommen? Gibt es Hinweise, dass er eine Tür oder ein Fenster aufgebrochen hat?»

«Nein, nichts dergleichen. Es sieht zwar aus, als sei die Haustür mal aufgehebelt worden, aber das kommt auch vor, wenn jemand seinen Schlüssel vergessen hat. Außerdem sind die Spuren schon älter. Das gesamte Gebäude ist schlechter gesichert als jede Gartenhütte.»

«Das heißt, dass sie den Täter ins Haus gelassen hat? Dass sie ihn vielleicht sogar kannte.»

Schilling hob die Hände: «Was auch immer es heißt – das müsst ihr herausfinden. Vielleicht hat er auch ein gekipptes Fenster geöffnet, ist eingestiegen und hat es von innen wieder verschlossen.»

«Aber die Rollläden vor den Fenstern sind alle heruntergelassen.»

«Ja, so haben wir es vorgefunden. Aber das muss ja nicht so gewesen sein, als er ins Haus gekommen ist. Das kann auch einfach nur heißen, dass er keine Zuschauer wollte.»

«Ich verstehe», sagte Marthaler. «Habt ihr schon irgendwas, das auf den Täter hinweisen könnte?»

«Wenn du meinst, ob er seine Visitenkarte auf dem Wohnzimmertisch hinterlassen hat – nein. Ich bitte dich, Robert, wir haben Hunderte Spuren eingesammelt. Wir haben Haare und Fingerabdrücke verschiedener Herkunft, benutztes Geschirr, getragene Kleidungsstücke, mehrere Zahnbürsten, Fußabdrücke, die ganze Palette – Sabato wird seine Freude haben. Was davon dem Täter zuzuordnen ist, kann ich dir jetzt noch nicht sagen. Und – wie du selbst weißt – wenn er bislang nicht auffällig geworden ist, dann fehlen uns die Vergleichsproben. Wenn wir ihn nicht in einer unserer Dateien haben, dann werden uns die Spuren erst etwas nützen, wenn ihr ihn gefasst habt.»

Marthaler sah ein, dass es keinen Zweck hatte. «Eins noch», sagte er, «du hast von Kampfspuren gesprochen?»

«Ja. Wie es aussieht, ist die Küche der einzige Raum, wo sich Täter und Opfer nicht gemeinsam aufgehalten haben. Auf dem Flur und in fast allen anderen Zimmern haben wir Hinweise auf eine Auseinandersetzung gefunden. Im Wohnzimmer wurde ein Sessel umgeworfen, und der Teppich ist verrutscht. Außerdem wurde die Gardine heruntergerissen. Im Schlafzimmer sind überall auf dem Boden verstreute Kleidungsstücke zu finden. Auf dem Treppenabsatz zum ersten Stockwerk liegen die Scherben einer zerbrochenen Bodenvase, ein paar Stufen tiefer ein Frauenschuh. Und so weiter. Da dich meine Meinung zu interessieren scheint: Ich denke, der Typ hat mit der Frau Katz und Maus gespielt.»

«Wie kommst du darauf?»

«Als ich das Chaos sah und Dr. Herzlich meinte, der Täter habe die Frau gequält, hatte ich sofort die Vorstellung, dass er sie regelrecht durchs Haus gehetzt haben muss.»

Marthaler schwieg. Wieder brachte ein vorbeifahrender Zug das Haus zum Erzittern. «Ich verstehe nicht, wie man hier leben kann», sagte Schilling.

Marthaler nickte abwesend. Die letzten Worte, die der Chef der Spurensicherung an ihn gerichtet hatte, hatte er schon nicht mehr gehört. Er merkte, wie der Fall ihn von Minute zu Minute mehr in Beschlag nahm. Bereits jetzt hatte er das Gefühl, sich in einer Art Belagerungszustand zu befinden. Kaum etwas drang zu ihm durch, was nichts mit dem Verbrechen zu tun hatte. Alle Gedanken, alle Gefühle waren darauf ausgerichtet herauszufinden, was letzte Nacht in diesem Haus geschehen war. Es war wie immer, wenn sie einen neuen Fall bekamen: Die Privatperson Robert Marthaler hörte auf zu existieren. Übrig blieb ein Ermittler, dessen Wahrnehmung nur noch auf den Täter fixiert war. Es war nicht zuletzt diese Eigenschaft, die Marthalers Erfolg als Kriminalist ausmachte. Bei seinen Kollegen und Vorgesetzten hatte ihm das sowohl Bewunderung als auch Misstrauen eingebracht. Marthaler wusste das. Es war Carlos Sabato gewesen, der ihn im Streit einmal angeschrien hatte: «Du bist nicht fleißig, du bist besessen.» Marthaler hatte diese Bemerkung des Kriminaltechnikers nie vergessen, und fast wäre ihre Freundschaft darüber zerbrochen. Schon oft hatte er sich vorgenommen, einen größeren Abstand zu seiner Arbeit zu wahren. Aber er hatte es einfach nicht in der Hand. Bei jedem neuen Fall war er wieder in seine alten Gewohnheiten verfallen.

 

Plötzlich fand er sich allein in der Küche. Er hatte nicht gemerkt, dass Walter Schilling gegangen war. Er stand auf und schaute aus dem Fenster. Der Schneefall hatte nachgelassen. Hundert Meter entfernt sah er die drei Gewächshäuser im Feld. Noch immer war das mittlere beleuchtet.

Als hinter ihm ein Telefon läutete, schrak er zusammen. Marthaler überlegte einen Moment, dann zog er sein Taschentuch hervor und nahm den Hörer ab: «Ja?»

Am anderen Ende herrschte kurze Zeit Schweigen. Schließlich meldete sich eine Frauenstimme. «Entschuldigung, ich habe mich wohl verwählt.»

«Vielleicht auch nicht. Mit wem spreche ich?», fragte Marthaler. Er wartete, aber niemand gab ihm Antwort. Es wurde aufgelegt.

Eine halbe Minute später klingelte es erneut.

«Hier spricht Robert Marthaler. Ich befinde mich im Haus von Gabriele Hasler. Mit wem spreche ich, bitte?»

«Zahnarztpraxis Hasler. Mein Name ist Marlene Ohlbaum. Ich wollte die Chefin sprechen. Ob sie mich wohl zurückrufen kann?»

«Hören Sie, ich bin Kriminalpolizist. Ihre Chefin kann Sie nicht zurückrufen. Gabriele Hasler ist tot. Und bleiben Sie bitte, wo Sie sind. Ich bin spätestens in einer halben Stunde bei Ihnen.»

Im Haus arbeiteten noch immer die Leute der Spurensicherung in ihren weißen Anzügen. Als Marthaler den Hof betrat, sah er den Leichenwagen des Zentrums der Rechtsmedizin. Gerade wurde die Heckklappe geschlossen. Sven Liebmann kam auf ihn zu.

«Robert, wo hast du gesteckt?»

«Ich habe mir von Schilling einen ersten Bericht geben lassen. Hat die Befragung des Verlobten etwas ergeben?»

«Er hat die Tote identifiziert, dann hat er noch hier im Hof einen Nervenzusammenbruch erlitten. Inzwischen hat er sich ein wenig erholt. Wir haben ihm ein starkes Beruhigungsmittel gegeben.»

«Hat er ein Alibi?»

«Er sagt, er sei gestern Abend mit einem Freund in der Kölner Südstadt bis zirka 23 Uhr unterwegs gewesen. Ich habe die Kölner Kollegen bereits gebeten, das zu überprüfen. Dann sei er in seine Wohnung gefahren. Um Mitternacht habe er noch versucht, Gabriele Hasler anzurufen, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren, sie sei aber nicht zu erreichen gewesen. Ich glaube nicht, dass er etwas mit ihrem Tod zu tun hat. Trotzdem sollten wir ihn erst einmal festhalten. Ich habe ihn ins Präsidium bringen lassen. Er hatte nichts dagegen.»

«Du sagst, heute ist Gabriele Haslers Geburtstag?»

«Ja, seltsam, nicht wahr.»

«Ich weiß nicht. Vielleicht, ja.»

«Wie gehen wir weiter vor? Meinst du nicht, wir sollten jetzt Verstärkung anfordern?», fragte Liebmann.

«Doch, du hast Recht», erwiderte Marthaler. «Leite das in die Wege. Die Nachbarn müssen gefragt werden, ob irgendwer etwas Auffälliges bemerkt hat. Und wenn es Angehörige gibt, müssen wir sie benachrichtigen. Ich fahre jetzt in die Zahnarztpraxis von Gabriele Hasler. Gerade hat ihre Sprechstundenhilfe hier angerufen. Ich will sehen, ob sie etwas weiß, das uns weiterhilft.»

Sven Liebmann schaute Marthaler mit ernster Miene an: «Was hältst du von der Sache?»

«Ich denke, dass wir einen riesengroßen Haufen Scheiße an den Hacken haben.»

Liebmann nickte. «Ja», sagte er, «anders kann man es wohl nicht nennen. Und ich fürchte, dass wir diesen Haufen für einige Zeit nicht loswerden.»

Vier

Aus irgendeinem Grund hatte sich Marthaler eine Frau, die den Namen Marlene Ohlbaum trug, älter vorgestellt. Aber die magere Zahnarzthelferin war höchstens Anfang zwanzig. Ihre Augen waren verschwollen, und ihre Stimme zitterte. Bevor sie die Tür zur Praxis vollständig öffnete, um ihn einzulassen, bat sie Marthaler, seinen Ausweis zu zeigen. Als der Geruch der Räume in seine Nase drang, bekam er ein schlechtes Gewissen. Sofort fuhr er mit der Zunge an der Innenseite seiner Zähne entlang. Es war über ein Jahr her, dass er zuletzt beim Zahnarzt gewesen war. Er beschloss, sich noch am Nachmittag einen Termin geben zu lassen. Als er im Vorbeigehen hinter einer offenen Tür den Behandlungsstuhl sah, schaute er schnell weg.

«Was wird jetzt aus mir?», war Marlene Ohlbaums erste Frage, als sie sich in der Teeküche gegenübersaßen. Marthaler schaute die junge Frau an. Den oberen Teil ihrer blonden Haare hatte sie direkt über der Schädeldecke zu einem Schwänzchen zusammengebunden. Sie sieht aus wie ein Zirkuspferd, dachte er. Ein halb verhungertes Zirkuspferd, das geheult hat.

«Interessiert Sie nicht, was passiert ist?», fragte er.

«Doch», sagte sie, «natürlich. Entschuldigen Sie. Ich habe alle Patienten nach Hause geschickt. Ich wusste nicht, wie ich es erklären soll. Ich habe gesagt, die Ärztin sei krank. Dabei bin ich selbst erkältet.»

«Gabriele Hasler ist tot. Sie wurde ermordet. Bitte erzählen Sie mir alles, was Sie über sie wissen.»

Sofort begann Marlene Ohlbaum wieder zu weinen. Ihr Haarschwänzchen hüpfte. Marthaler reichte ihr eine Packung Papiertaschentücher. Dann wartete er.

«Ich weiß nichts über sie. Sie war nervös. Ich weiß, dass sie Geldsorgen hatte. Es kamen immer wieder Briefe mit Mahnungen. Das ist alles so furchtbar. Ich hoffe, ich muss sie mir nicht anschauen. Ich habe noch nie einen Toten gesehen.»

«Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ihr Verlobter hat sie bereits identifiziert.»

«Ihr Verlobter? Davon wusste ich nichts … Ich bin …»

Marthaler unterbrach sie. Weil er nicht schreien wollte, sprach er betont leise: «Was wollten Sie sagen? ‹Ich bin …›? Sind Sie auch verlobt? Wollen Sie mir das jetzt erzählen? Ich, ich, ich. Merken Sie nicht, dass Sie die ganze Zeit nur von sich selbst reden? Ihre Chefin ist ermordet worden. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?»

«Ich …» Marlene Ohlbaum schaute ihn unsicher an.

Marthaler nickte ihr aufmunternd zu: «Reden Sie! Sie dürfen ‹ich› sagen, solange Sie meine Fragen beantworten.»

«Ich habe die Praxis nach der Sprechstunde verlassen. Sie hatte noch ein Gespräch mit einem Patienten. Dann bin ich einkaufen gegangen. Am Scheffeleck habe ich sie nochmal gesehen. Sie ist gerade in ein Taxi gestiegen. Ich habe ihr zugewunken. Aber sie hat mich nicht bemerkt.»

Marthaler hob die Hand: «Nicht so schnell. Das alles ist wichtig. Wer war dieser Patient? An welchem Taxistand haben Sie Gabriele Hasler gesehen? Und wann war das? Versuchen Sie, sich so genau wie möglich zu erinnern. Wir müssen den Taxifahrer ermitteln. Und ich muss mit diesem Patienten sprechen.»

Marthaler tastete nach seinem Notizbuch, merkte aber, dass er es vergessen hatte. Aus den Tiefen seines Mantels kramte er ein Stück Papier hervor. Es war die Einladung zu einer Versammlung der Polizeigewerkschaft, die längst ohne ihn stattgefunden hatte. Er drehte das Blatt herum und wartete darauf, sich Notizen machen zu können. Aber die Zahnarzthelferin schaute ihn nur an. Ihr Mund war leicht geöffnet. Ihre Augen wirkten riesig in dem schmalen Gesicht. Die Wimpern begannen zu flattern. Marthaler hatte den Eindruck, dass seine Fragen sie überforderten. Es half nichts, er musste seine Ungeduld zügeln. Er beschloss, der jungen Frau Zeit zu lassen. «Haben Sie verstanden, was ich von Ihnen will?», fragte er schließlich.

Marlene Ohlbaum nickte, machte aber noch immer keine Anstalten zu antworten. Stattdessen bat sie darum, ihre Zigaretten holen zu dürfen. Marthaler schaute ihr nach. Unter dem kurzen weißen Kittel sah er ihre Beine. Sie waren kaum dicker als seine Unterarme. Es kam ihm vor, als drohten sie bei jedem ihrer Schritte zu zerbrechen.

Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis er endlich die nötigen Informationen erhalten hatte. Marlene Ohlbaum hatte die Zahnarztpraxis am gestrigen Nachmittag gegen 16.30 Uhr verlassen. Sie war nach Hause gegangen, hatte sich umgezogen, das saubere Geschirr aus der Spülmaschine geräumt, den Hamster gefüttert und selbst eine Kleinigkeit gegessen. Anschließend hatte sie ihr Apartment noch einmal verlassen, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Gegen achtzehn Uhr hatte sie ihre Chefin vor dem Maingau-Krankenhaus in ein Taxi steigen sehen. Die Zahnarzthelferin erinnerte sich, das Glockenläuten einer nahe gelegenen Kirche gehört zu haben.

Marlene Ohlbaum wirkte erschöpft. «Was soll ich denn jetzt machen?», fragte sie wieder. Marthaler war froh, dass sie keine Antwort zu erwarten schien. Er hatte keinen Rat, den er der jungen Frau geben konnte. Er wusste, dass es nicht leicht für sie sein würde, eine neue Stelle zu finden. Er ließ sich den Namen und die Adresse des Patienten geben, mit dem die Zahnärztin zuletzt gesprochen hatte. Dann verabschiedete er sich.

«Danke, dass Sie Geduld mit mir hatten», sagte die junge Frau und streckte ihm ihre schmale Hand entgegen. Ihr Händedruck kam Marthaler erstaunlich fest vor. Er fühlte sich beschämt. Wenn ihn etwas kennzeichnete, dann war es seine Ungeduld mit anderen Menschen.

Er stand bereits im Hausflur, als ihm noch etwas einfiel. «Gibt es hier zufällig ein Foto von Gabriele Hasler?», fragte er. Marlene Ohlbaum überlegte. «Ja», sagte sie. «Im Frühjahr ist in der Zeitung ein Artikel über sie erschienen. Sie hat ihn mir ganz stolz gezeigt und mich gebeten, ihn abzuheften.»

Sie verschwand im Nebenraum. Kurz darauf kam sie wieder und reichte ihm den aufgeklebten Zeitungsausschnitt. Der Artikel gehörte zu einer Serie mit dem Titel «Wege in die Selbständigkeit». Neben dem Text war das Porträt einer lachenden Frau abgebildet. Sie ist sehr hübsch gewesen, dachte Marthaler. Hübsch und selbstbewusst, trotzdem sieht man ihr an, dass sie Sorgen hat. Er versuchte, den Bericht zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Er faltete das Blatt zusammen und steckte es in seine Brieftasche.

Als er das Haus verließ und auf den Kleinen Friedberger Platz trat, schaute er zum ersten Mal seit Stunden wieder auf die Uhr. Es war 14.50 Uhr. Marthaler erstarrte.