Die Brüder Karamasow - Fjodor Dostojewskij - E-Book

Die Brüder Karamasow E-Book

Fjodor Dostojewskij

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. ›Die Brüder Karamasow‹,das letzte große Werk von Fjodor Dostojewskij, ist nicht nur eine dramatische Familiengeschichte aus dem Russland des 19. Jahrhunderts und eine unerbittliche moralische Erkundung im Gewand eines Kriminalromans, sondern auch ein gewaltiger Spiegel der gesamten dichterischen Welt Dostojewskijs.

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Seitenzahl: 1886

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Fjodor Dostojewskij

Die Brüder Karamasow

Roman

Aus dem Russischen von Swetlana Geier

FISCHER E-Books

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Inhalt

Anna Grigorjewna Dostojewskaja gewidmet [...]Vom AutorErster TeilErstes Buch Geschichte einer FamilieI Fjodor Pawlowitsch KaramasowII Der erste Sohn wird abgeschobenIII Die zweite Ehe und die zweiten KinderIV Der dritte Sohn AljoschaV Die StarzenZweites Buch Eine unziemliche VersammlungI Die Ankunft im KlosterII Der alte NarrIII Gläubige FrauenIV Die kleingläubige DameV Amen, Amen!VI Wozu lebt ein solcher Mensch!VII Seminarist – KarrieristVIII Der SkandalDrittes Buch Die LüstlingeI In der BedientenstubeII Lisaweta SmerdjastschajaIII Die Beichte eines heißen Herzens. In VersenIV Die Beichte eines heißen Herzens. In AnekdotenV Die Beichte eines heißen Herzens. »Kopfüber«VI SmerdjakowVII Die KontroverseVIII Beim KognäkchenIX Die LüstlingeX Beide zusammenXI Noch ein ruinierter guter RufZweiter TeilViertes Buch NadrywI Vater FerapontII Beim VaterIII Er läßt sich mit Schuljungen einIV Bei ChochlakowsV Nadryw im SalonVI Nadryw in der BauernstubeVII Und an der frischen LuftFünftes Buch Pro und KontraI Das VerlöbnisII Smerdjakow mit der GitarreIII Die Brüder lernen einander kennenIV Die RevolteV Der GroßinquisitorVI Ein vorerst noch höchst UnklaresVII »Schon die Unterhaltung mit einem klugen Menschen ist ein Gewinn«Sechstes Buch Der russische MönchI Starez Sossima und seine BesucherII Aus der Vita des in Gott entschlafenen Hieromonachos Starez Sossima, nach seinen eigenen Worten zusammengestellt von Alexej Fjodorowitsch KaramasowIII Aus den Gesprächen und Unterweisungen des Starez SossimaDritter TeilSiebentes Buch AljoschaI VerwesungsgeruchII Eine ganz besondere MinuteIII Das ZwiebelchenIV Zu Kana in GaliläaAchtes Buch MitjaI Kusjma SamssonowII LjagawyjIII Die GoldminenIV Im DunkelnV Der überraschende EntschlußVI Komme in eigener Person!VII Der Einstige und UnbestritteneVIII IrrsinnNeuntes Buch Die VoruntersuchungI Die Karriere des Beamten Perchotin nimmt ihren AnfangII AlarmIII Der Gang der Seele durch die Peinigungen. Die erste PeinigungIV Die zweite PeinigungV Die dritte PeinigungVI Der Staatsanwalt hat Mitja an der AngelVII Mitjas großes Geheimnis. AusgepfiffenVIII Die Zeugenaussagen. ’s Klei’IX Sie haben Mitja fortgebrachtVierter TeilZehntes Buch Die JungenI Kolja KrassotkinII Die KleinenIII Der SchülerIV SchutschkaV An Iljuschas LagerVI Früh krümmt sich …VII IljuschaElftes Buch Der Bruder Iwan FjodorowitschI Bei GruschenkaII Das kranke FüßchenIII Der KoboldIV Die Hymne und das GeheimnisV Du nicht, du nicht!Elftes Buch Der Bruder Iwan Fjodorowitsch [Fortsetzung]VI Der erste Besuch bei SmerdjakowVII Der zweite Besuch bei SmerdjakowVIII Der dritte und letzte Besuch bei SmerdjakowIX Der Teufel. Iwan Fjodorowitschs AlptraumX »Das hat er gesagt, das hat er gesagt!«Zwölftes Buch Ein JustizirrtumI Der verhängnisvolle TagII Gefährliche ZeugenIII Das medizinische Gutachten und ein Pfund NüsseIV Das Glück lächelt MitjaV Die unvermutete KatastropheVI Der Schlußvortrag des Staatsanwalts. Eine CharakteristikVII Ein chronologischer ÜberblickZwölftes Buch Ein Justizirrtum [Fortsetzung]VIII Ein Traktat über SmerdjakowIX Psychologie im Sturmschritt. Die dahinjagende Trojka. Finale der AnklageredeX Das Plädoyer des Verteidigers. Ein Stock mit zwei EndenXI Kein Geld – kein RaubXII Und auch kein MordXIII Der Idee die Treue gebrochenXIV Die Bäuerlein haben sich nicht beirren lassenEpilogI Projekte zu Mitjas RettungII Für einen Augenblick wird Lüge zur WahrheitIII Iljuschetschkas Begräbnis. Die Rede an dem SteinAnhangEditorische NotizAnmerkungenNamenverzeichnis der wichtigsten PersonenDaten zu Leben und WerkFjodor Dostojewskij, ›Die Brüder Karamasow‹Fjodor DostojewskijDie Übersetzerin

Anna Grigorjewna Dostojewskaja gewidmet

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt es allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viel Früchte.

Johannes 12, 24

Vom Autor

Indem ich mich anschicke, das Leben meines Helden Alexej Fjodorowitsch Karamasow zu beschreiben, sehe ich mich in einer gewissen Verlegenheit, nämlich: Wiewohl ich Alexej Fjodorowitsch meinen Helden nenne, weiß ich selbst, daß er keineswegs ein großer Mensch ist, und sehe deshalb unvermeidliche Fragen voraus, etwa: Was zeichnet Ihren Alexej Fjodorowitsch so weit aus, daß Sie ihn zu Ihrem Helden erkoren haben? Was hat er vollbracht? Wem und wodurch ist er bekannt geworden? Warum soll ich, der Leser, meine Zeit dem Studium der Tatsachen seines Lebens widmen?

Die letzte Frage ist die peinlichste, denn ich kann nur antworten: »Vielleicht werden Sie selbst es aus dem Roman erkennen.« Wenn aber der Roman gelesen, das Bemerkenswerte an meinem Alexej Fjodorowitsch jedoch nicht erkannt und nicht bestätigt wird? Ich sage das, weil ich dies mit tiefem Kummer voraussehe. Für mich ist er bemerkenswert, aber ich habe meine entschiedenen Zweifel, ob es mir gelingen wird, den Leser davon zu überzeugen. Es geht darum, daß er, meinetwegen, auch handelt, aber in einer unbestimmten, unausgeprägten Art und Weise. Übrigens wäre es in einer Zeit wie der unsrigen recht eigenartig, von den Menschen irgendwelche Klarheit zu verlangen. Eines ist vielleicht ziemlich unbezweifelbar: Er ist ein eigenartiger Mensch, sogar ein Original. Aber Eigenart und Originalität gereichen eher zum Schaden, als daß sie ein Recht auf Beachtung garantieren, insbesondere wenn alle danach streben, Vereinzeltes zusammenzufassen und einen, wie auch immer, allgemeinen Sinn in dem allgemeinen Unsinn zu finden. Ein Original aber ist in der Mehrzahl der Fälle etwas Vereinzeltes und Isoliertes. Stimmt’s?

Sollten Sie diese letzte These nicht billigen und erwidern: »Es stimmt nicht«, oder »nicht immer«, so werde ich mich vielleicht, was die Bedeutung meines Helden Alexej Fjodorowitsch betrifft, bestätigt fühlen, denn ein Original ist nicht nur »nicht immer« etwas Vereinzeltes und Isoliertes, sondern kann im Gegenteil das Herzstück des Ganzen sein, während die übrigen Menschen seiner Epoche, alle, von einem zufälligen Windstoß zeitweilig von ihm weggeweht werden.

Ich hätte mir übrigens diese uninteressanten und unklaren Erörterungen am liebsten erspart und kurzerhand auf ein Vorwort verzichtet: Gefällt das Buch, dann wird es auch so gelesen; aber das Unglück will, daß ich nur eine Lebensbeschreibung habe, aber zwei Romane. Der Hauptroman ist der zweite – er handelt von dem Wirken meines Helden schon in unseren Tagen, in unserer Gegenwart. Der erste Roman dagegen liegt dreizehn Jahre zurück und ist fast kein Roman, sondern nur ein Moment aus der ersten Jugend meines Helden. Ich konnte unmöglich auf diesen ersten Roman verzichten, weil sonst vieles im zweiten Roman unverständlich bleiben würde. Dadurch wird meine anfangs erwähnte Schwierigkeit noch vergrößert: Wenn schon ich, das heißt der Biograph selbst, meine Bedenken habe, ob nicht schon ein einziger Roman für einen dermaßen bescheidenen, unbestimmten und wenig ausgeprägten Helden zuviel ist, wie will ich dann zwei vorlegen und meine Anmaßung hinlänglich rechtfertigen?

Außerstande, die vorstehenden Fragen zu lösen, entschließe ich mich, sie ungelöst beiseite zu schieben. Der scharfsichtige Leser hat selbstverständlich schon längst erraten, daß ich es darauf von Anfang an abgesehen habe, und nimmt es mir übel, daß ich fruchtlose Reden führe und kostbare Zeit verschwende. Darauf möchte ich nun eine exakte Antwort geben: Ich habe fruchtlose Reden geführt und kostbare Zeit verschwendet, erstens aus Höflichkeit und zweitens aus List: Immerhin könnte ich einwenden, daß ich meine Warnung rechtzeitig ausgesprochen habe. Übrigens bin ich sogar froh, daß mein Roman sich ganz von selbst in zwei Geschichten teilte, »bei wesenhafter Einheit des Ganzen«: Der Leser kann also, nachdem er die erste Erzählung kennengelernt hat, selbst entscheiden: Lohnt es sich überhaupt, die zweite aufzuschlagen? Selbstverständlich muß sich niemand zu irgend etwas verpflichtet fühlen; man kann das Buch nach zwei Seiten der ersten Erzählung zur Seite legen, um es nie wieder aufzuschlagen. Allerdings soll es ja Leser von solchem Feingefühl geben, daß sie das Buch unbedingt zu Ende lesen, um sich ein fehlerfreies und unbefangenes Urteil zu bilden; zu letzteren gehören zum Beispiel alle russischen Kritiker. Und vor solchen Lesern möchte ich auf jeden Fall mein Gewissen erleichtern. Ihnen sei, unbeschadet all ihrer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, die absolute Legitimation erteilt, die Lektüre gleich nach der ersten Romanepisode abzubrechen. So, dies ist nun das ganze Vorwort. Ich gebe uneingeschränkt zu, daß es überflüssig ist, aber da es nun einmal geschrieben vorliegt, mag es dabei bleiben.

Und nun zur Sache.

Erster Teil

Erstes BuchGeschichte einer Familie

IFjodor Pawlowitsch Karamasow

Alexej Fjodorowitsch Karamasow war der dritte Sohn eines Gutsbesitzers unseres Gouvernements, Fjodor Pawlowitsch Karamasow, der seinerzeit so viel von sich reden machte (und noch heute gelegentlich erwähnt wird) durch seinen tragischen und dunklen Tod, der ihn vor genau dreizehn Jahren ereilte und auf den ich an seiner Stelle zu sprechen kommen werde. Im Augenblick möchte ich über diesen »Gutsbesitzer« (wie er bei uns genannt wurde, wiewohl er zu seinen Lebzeiten fast nie auf seinem Gut wohnte) nur so viel vorausschicken, daß er zu einem eigentümlichen Typus gehörte, der jedoch gar nicht so selten vorkommt, und zwar zu jenem Typus von Menschen, die nicht nur miserabel und lasterhaft, sondern gleichzeitig töricht sind, zu jenen Törichten, die sich bestens darauf verstehen, ihre kleinen Geschäfte zu betreiben, das einzige allerdings, was ihnen glückt. Fjodor Pawlowitsch zum Beispiel hatte mit fast leeren Taschen angefangen, gehörte zu den ärmsten Gutsbesitzern, saß möglichst an fremden Tischen, parasitierte, indessen fanden sich bei ihm nach seinem Tod an die hunderttausend Rubel in bar. Und doch zählte er sein ganzes Leben lang zu den albernsten Narren unseres Gouvernements. Ich wiederhole: Es ist nicht Dummheit; die Mehrzahl solcher Narren sind recht gescheit und listig – es ist eben Albernheit, dazu noch eine von ganz besonderer nationaler Art.

Er war zweimal verheiratet gewesen und hatte drei Söhne: den ältesten, Dmitrij Fjodorowitsch, von seiner ersten Gattin, die beiden anderen, Iwan und Alexej, von der zweiten. Die erste Gattin Fjodor Pawlowitschs entstammte einer ziemlich reichen und angesehenen Familie, den Miussows, deren Güter gleichfalls in unserem Gouvernement lagen. Wie es dazu kam, daß ein junges Mädchen mit bedeutender Aussteuer, die auch noch schön und darüber hinaus ein lebhaftes, kluges Köpfchen war, wie sie in unserer Generation gar nicht einmal so selten, aber auch in der vergangenen einzeln aufgetaucht sind, ausgerechnet diese jämmerliche »Vogelscheuche«, wie er bei uns genannt wurde, heiraten konnte, möchte ich nicht weiter erläutern, kannte ich doch eine junge Dame, sogar aus der längst vergangenen »romantischen Generation«, die nach Jahren einer höchst rätselhaften Liebe zu einem Herrn, den sie jederzeit hätte seelenruhig heiraten können, sich schließlich unüberwindliche Hindernisse ausdachte, in einer stürmischen Nacht sich von einem hohen Ufer, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Felsen hatte, in einen ziemlich tiefen Fluß mit recht starker Strömung stürzte und ertrank, was nur auf ihre eigenen Phantasien zurückzuführen war, einzig und allein, um Shakespeares Ophelia zu gleichen, mehr noch, wäre dieser Felsen, den sie schon längst auserkoren und mit dem sie geliebäugelt hatte, nicht so malerisch, wäre an seiner Stelle nur ein prosaisches, flaches Ufer gewesen, hätte dieser Selbstmord vielleicht gar nicht stattgefunden. Dieser Selbstmord ist Tatsache, und es sieht so aus, daß in unserem russischen Leben, in den zwei, drei letzten Generationen, solche Tatsachen nicht einmal selten waren. Auch Adelaida Iwanowna Miussowas Handlungsweise war zweifellos ein Echo fremder Anschauungen und eines betörten Geistes Aufruhr. Vielleicht hatte sie der Wunsch überkommen, sich auf weibliche Art zu behaupten, die gesellschaftlichen Konventionen, den Despotismus der Familie und Verwandtschaft zu sprengen, und die dienstwillige Phantasie überzeugte sie davon, freilich nur vorübergehend, daß Fjodor Pawlowitsch, ungeachtet seiner Rolle als Parasit, zu den kühnsten und sarkastischsten Menschen dieser allem Besseren offenen Übergangsepoche gehörte, während er alles in allem ein bösartiger Possenreißer war und sonst nichts. Die besondere Würze lag auch noch darin, daß Adelaida Iwanowna von ihm entführt werden mußte, und letzteres hatte Adelaida Iwanowna außerordentlich zugesagt. Fjodor Pawlowitsch war solchen Abenteuern allein schon wegen seiner sozialen Lage durchaus geneigt, da er leidenschaftlich wünschte, seine Karriere um jeden Preis voranzutreiben: Die Aussicht, in engen Kontakt zu einer reichen und angesehenen Familie zu treten und eine gute Mitgift einzustreichen, war für ihn ebenfalls äußerst verführerisch. Was jedoch die gegenseitige Liebe betraf, so war von ihr, scheint es, nicht eine Spur vorhanden – weder auf ihrer noch auf seiner Seite, trotz Adelaida Iwanownas Schönheit. Dies war vielleicht der einzige Fall seiner Art in der Biographie Fjodor Pawlowitschs, des größten Lüstlings, der ein Leben lang bereit war, jedem Weiberrock nachzulaufen, sobald sich eine Gelegenheit bot. Und einzig diese Frau hat auf ihn, was seine Leidenschaft betraf, nicht den leisesten Eindruck ausgeübt.

Adelaida Iwanowna brauchte nicht lange, um nach der Entführung zu erkennen, daß sie für ihren Gatten nichts als Verachtung empfand. Daher stellten sich die Folgen dieser Eheschließung unverzüglich ein. Ungeachtet dessen, daß ihre Familie sich ziemlich bald mit der neuen Situation aussöhnte und der Flüchtigen ihre Mitgift auszahlte, kam es bald zwischen den Gatten unaufhörlich zu Szenen, und das Leben nahm einen äußerst turbulenten Verlauf. Es wurde erzählt, daß die Jungvermählte dabei ungleich mehr Anstand und Charakter gezeigt habe als Fjodor Pawlowitsch, dem es, wie sich nun herausstellte, gelungen war, auf einen Schlag das ganze Geld, rund fünfundzwanzigtausend Rubel, kaum daß sie es erhalten hatte, in die eigene Tasche zu stecken, und zwar derart, daß diese Tausende für sie seitdem nicht wieder auftauchten. Lange Zeit versuchte er, auch ihr Gütchen und das recht ansehnliche Stadthaus, die gleichfalls zu ihrer Mitgift gehörten, auf seinen eigenen Namen überschreiben zu lassen, scheute weder Zeit noch Mühe, um irgendwie eine entsprechende Überschreibungsakte zu erlangen, und hätte sein Ziel zweifellos erreicht dank der Verachtung und des Widerwillens seiner Gattin, die den unaufhörlichen schamlosen Erpressungsversuchen und zermürbenden Betteleien ein Ende machen wollte, nur um ihn loszuwerden. Glücklicherweise trat Adelaida Iwanownas Familie für sie ein und wies den Raffgierigen in seine Grenzen. Es ist definitiv bekannt, daß es zwischen den Gatten nicht selten zu Gewalttätigkeiten kam, aber wie die Fama sagt, war es nicht Fjodor Pawlowitsch, der zuschlug, sondern Adelaida Iwanowna, eine heißblütige, kühne, brünette junge Dame von bemerkenswerten physischen Kräften. Endlich aber hielt sie es nicht länger aus, lief mit einem bettelarmen Seminaristen und Lehrer davon und überließ Fjodor Pawlowitsch den dreijährigen Mitja. Fjodor Pawlowitsch verwandelte das Haus im Handumdrehen in einen regelrechten Harem und feierte darin die wüstesten Gelage, aber zwischendurch bereiste er fast das ganze Gouvernement, um sich mit Tränen in den Augen bei allen und jedem über die Flüchtige zu beklagen und sich en passant ausführlich über gewisse Details seines Ehelebens zu verbreiten, was für einen Gatten völlig unschicklich ist. Vor allem aber schien er es offenbar als angenehm und sogar als schmeichelhaft zu empfinden, vor der Öffentlichkeit die eigene komische Rolle des gekränkten Ehemanns zu spielen und die Einzelheiten der ihm angetanen Schmach sogar mit allen Farben auszuschmücken. »Man könnte ja glauben, Fjodor Pawlowitsch, Sie seien in den Genuß einer Beförderung gekommen, so glücklich sehen Sie aus, ungeachtet Ihres Kummers«, spotteten manche. Andere fügten sogar hinzu, daß er sich über die aufgefrischte Narrenrolle freue, mit voller Absicht, um den Lacheffekt zu steigern, und sich nur den Anschein gebe, als fiele ihm seine eigene Lächerlichkeit nicht auf. Wer weiß, so hätte es bei ihm auch wirklich sein können. Endlich gelang es ihm, die Spur seiner Flüchtigen aufzunehmen. Die Arme war, wie sich herausstellte, in Petersburg, wohin sie mit ihrem Seminaristen gezogen war und wo sie sich rückhaltlos emanzipiert aufführte. Fjodor Pawlowitsch machte umgehend Anstalten, nach Petersburg zu reisen. Was er damit bezweckte? Das wußte er natürlich selbst nicht. Vielleicht wäre er damals wirklich gefahren: aber sobald sein Entschluß gefaßt war, fühlte er sich berechtigt, sich vor Antritt der Reise, zur Stärkung, von neuem uferlos zu betrinken. Und ausgerechnet da erhielt die Familie seiner Gattin die Nachricht, daß sie in Petersburg gestorben sei. Sie starb irgendwie unvermittelt, irgendwo in einer Dachkammer, die einen sagten, am Typhus, die anderen angeblich – vor Hunger. Fjodor Pawlowitsch war betrunken, als er die Nachricht von dem Tode seiner Gattin erhielt; man erzählt, er sei über die Straße gelaufen und habe mit gen Himmel erhobenen Armen freudig ausgerufen: »Nun lässest Du Deinen Diener in Frieden fahren!« während andere sagen, er habe laut geweint wie ein kleines Kind, so bitter, daß er einem leid tat, ungeachtet aller verdienten Verachtung. Vielleicht stimmt sowohl das eine wie das andere, das heißt, er hätte sich über seine Befreiung gefreut und seine Befreierin beweint – beides gleichzeitig. Meistens sind die Menschen, sogar Bösewichte, wesentlich naiver und einfältiger, als wir annehmen. Wir sind ja auch nicht anders.

IIDer erste Sohn wird abgeschoben

Man kann sich natürlich vorstellen, was für einen Erzieher und Vater dieser Mensch abgeben konnte. Als Vater verhielt er sich genau so, wie er sich verhalten mußte, das heißt, er gab sein Kind, das ihm Adelaida Iwanowna geboren hatte, vollständig auf, und zwar nicht, weil er ihm Böses wünschte oder aus irgendwelchen gekränkten Gefühlen eines Gatten, sondern ganz einfach, weil er es vollkommen vergaß. Während er mit seinen Tränen und Klagen alle belästigte und sein Haus in eine Lasterhöhle verwandelte, nahm sich Grigorij, der treue Diener dieses Hauses, des dreijährigen Mitja an, und wenn er es damals nicht getan hätte, hätte sich keine Seele gefunden, um dem Kind auch nur das Hemdchen zu wechseln. Dazu kam, daß auch die Verwandten des Kindes mütterlicherseits es zunächst gleichfalls zu vergessen schienen. Sein Großvater, das heißt Herr Miussow persönlich, Adelaida Iwanownas Vater, hatte das Zeitliche bereits gesegnet, seine verwitwete Gattin, Mitjas Großmutter, die nach Moskau übergesiedelt war, war erkrankt, die Schwestern hatten eine nach der anderen geheiratet, so daß Mitja ein ganzes Jahr bei dem Diener Grigorij bleiben und mit ihm im Gesindehaus wohnen mußte. Übrigens, hätte sich sein Vater an ihn erinnert (denn es war unmöglich, daß er von der Existenz seines Kindes wirklich nichts mehr wußte), hätte er ihn selbst in das Gesindehaus zurückgeschickt, denn das Kind wäre ihm bei seiner ausschweifenden Lebensweise im Wege gewesen. Aber da geschah es, daß der Vetter der seligen Adelaida Iwanowna, Pjotr Alexandrowitsch Miussow, aus Paris zurückkam. Später sollte er viele Jahre im Ausland verbringen, damals aber war er ein noch sehr junger Mann, eine ganz besondere Erscheinung unter den Miussows, gebildet, urban, mit ausländischer Aura, Europäer durch und durch, und am Ende seines Lebens ein Liberaler der vierziger und fünfziger Jahre. Im Verlauf seiner Karriere hatte er Gelegenheit, mit vielen der liberalsten Persönlichkeiten seiner Epoche Verbindungen anzuknüpfen, in Rußland und im Ausland, kannte persönlich sowohl Proudhon als auch Bakunin, erinnerte sich besonders gern an die letzte Phase seiner Wanderschaft und erzählte von den drei Tagen der Februarrevolution Achtundvierzig in Paris, wobei er durchblicken ließ, er habe beinahe selbst auf den Barrikaden gestanden. Es war eine seiner erfreulichsten Jugenderinnerungen. Er besaß ein ansehnliches Vermögen – nach früherer Rechnung rund tausend Seelen. Sein herrliches Gut lag unmittelbar hinter der Stadtausfahrt und grenzte an die Ländereien unseres berühmten Klosters, gegen das Pjotr Alexandrowitsch seit seiner Jugend, kaum daß er sein Erbe angetreten hatte, prozessierte, und zwar wegen irgendeiner Fischerei- oder Waldgerechtsame, ich weiß es nicht genau, aber einen Prozeß gegen die »Kleriker« anzustrengen, hielt er für die bürgerliche Pflicht jedes gebildeten Menschen. Nachdem er alles über Adelaida Iwanowna, an die er sich selbstverständlich erinnerte und der einst sogar sein besonderes Interesse galt, gehört und erfahren hatte, daß ein Mitja zurückgeblieben war, beschloß er, trotz seines jugendlichen Unmuts und seiner Verachtung für Fjodor Pawlowitsch, in diesem Fall einzugreifen. Dabei ergab es sich, daß er zum ersten Mal Fjodor Pawlowitsch gegenübertrat und ihn kennenlernte. Ohne Umschweife ließ er ihn wissen, daß er die Erziehung des Kindes zu übernehmen bereit sei. Noch lange danach bezeichnete er es als einen charakteristischen Zug Fjodor Pawlowitschs, daß dieser, als er auf das Kind zu sprechen kam, völlig verständnislos dreingeblickt und sich sogar darüber erstaunt gezeigt habe, daß in seinem Hause irgendwo sein kleiner Sohn lebte. Selbst wenn Pjotr Alexandrowitsch bei seiner Schilderung übertrieb, muß dennoch etwas Wahres daran gewesen sein. Aber Fjodor Pawlowitsch hat tatsächlich die Neigung, sich zu verstellen, sein ganzes Leben beibehalten und liebte es, plötzlich in einer völlig verblüffenden Rolle aufzutreten, ohne jeden Anlaß, mitunter sogar zum unübersehbaren eigenen Nachteil, wie zum Beispiel im vorliegenden Fall. Dieser Zug ist übrigens sehr vielen Menschen eigen, sogar sehr klugen, nicht nur einem Fjodor Pawlowitsch. Pjotr Alexandrowitsch nahm sich der Angelegenheit sehr energisch an und wurde sogar zum Vormund des Kindes (zusammen mit Fjodor Pawlowitsch) bestellt, weil dessen Mutter ihm ein kleines Gut mit Gutshaus und Ländereien hinterlassen hatte. Mitja übersiedelte tatsächlich zu diesem Onkel zweiten Grades, der allerdings keine eigene Familie hatte und das Kind einer in Moskau lebenden Tante zweiten Grades anvertraute, da er selbst, unmittelbar nachdem er die Frage der Einnahmen aus seinem Gut geregelt hatte, eilig für längere Zeit nach Paris zurückkehrte. Und nun geschah es, daß er in Paris Wurzeln schlug und seinerseits das Kind völlig vergaß, besonders während der Februarrevolution, die seine Phantasie zutiefst erschütterte und die er sein Leben lang nicht vergaß. Die Moskauer Dame starb, und Mitja wurde von einer ihrer verheirateten Töchter übernommen. Es scheint, daß er in der Folge noch einmal, zum vierten Mal, das Nest wechseln mußte. Ich möchte mich hier darüber nicht länger verbreiten, zumal ich noch öfter Gelegenheit haben werde, über Fjodor Pawlowitschs Erstgeborenen zu berichten, sondern mich nur auf das Notwendigste beschränken, auf Tatsachen, ohne die es mir unmöglich wäre, mit meinem Roman zu beginnen.

Erstens war dieser Dmitrij Fjodorowitsch der einzige von den drei Söhnen Fjodor Pawlowitschs, der mit der Überzeugung aufwuchs, er verfüge immerhin über ein gewisses Vermögen und würde mit seiner Volljährigkeit unabhängig werden. Seine Kindheit und Jugend verliefen ziemlich chaotisch: Er verließ das Gymnasium ohne Abschluß, geriet anschließend in eine Offiziersschule, fand sich plötzlich im Kaukasus wieder, wurde befördert, duellierte sich, wurde degradiert, abermals befördert, lebte auf großem Fuß und gab verhältnismäßig viel Geld aus. Das Geld aber sollte er von Fjodor Pawlowitsch erst nach seiner Volljährigkeit bekommen, und bis dahin machte er Schulden. Fjodor Pawlowitsch, seinen Vater, lernte er erst als Volljähriger kennen, er sah ihn zum ersten Mal, als er mit der Absicht zu uns kam, sich mit ihm über seine Vermögensverhältnisse auszusprechen. Es sah so aus, als gefiele ihm sein Vater schon damals nicht besonders, er blieb nicht lange und verließ ihn, sobald er lediglich eine gewisse Summe von ihm erhalten und gewisse Absprachen über die weiteren Einnahmen aus seinem Gut getroffen hatte, über dessen Erträge (eine bemerkenswerte Tatsache) und dessen Wert er damals von Fjodor Pawlowitsch keinerlei Auskunft erhalten konnte. Fjodor Pawlowitsch bemerkte sogleich, auf den ersten Blick (auch das muß festgehalten werden), daß Mitja sich von seinem Vermögen eine übertriebene und unzutreffende Vorstellung machte. Das konnte Fjodor Pawlowitsch nur recht sein, denn er hatte seine besonderen Pläne. Er war zu dem Schluß gekommen, daß der junge Mitja leichtsinnig, unbeherrscht, leidenschaftlich, ungeduldig und ein Lebemann war, dem man nur vorübergehend etwas zuzustecken brauchte, um ihn, wenn auch nur für kurze Zeit, aber augenblicklich zu beruhigen. Und dies begann Fjodor Pawlowitsch auszunutzen, das heißt, ihn mit kleinen Summen, mit Auszahlungen in unregelmäßigen Abständen abzuspeisen, bis schließlich, etwa vier Jahre später, Mitja die Geduld verlor und zum zweiten Mal in unserem Städtchen erschien, um mit dem Vater endgültig abzurechnen, aber plötzlich, zu seiner allergrößten Überraschung, feststellen mußte, daß er überhaupt nichts mehr besaß, daß von einer Abrechnung nicht die Rede sein konnte, daß mit den Auszahlungen Fjodor Pawlowitschs der Wert seines Besitztums längst überschritten und er möglicherweise der Schuldner seiner Vaters geworden war; daß er nach den getroffenen Absprachen nicht das geringste Recht auf irgendwelche weiteren Forderungen hatte, usw., usf. Der junge Mann, wie vom Blitz getroffen, vermutete Betrug, Täuschung, geriet fast außer sich und schien dem Wahnsinn nahe. Eben dieser Umstand führte zu der Katastrophe, deren Schilderung den Gegenstand meines ersten, einleitenden Romans abgeben wird oder, besser gesagt, seine äußere Seite. Aber bevor ich mich diesem Roman zuwende, obliegt es mir, auch auf die beiden anderen Söhne Fjodor Pawlowitschs einzugehen, auf Mitjas Brüder, und zu erklären, woher sie kamen.

IIIDie zweite Ehe und die zweiten Kinder

Sehr bald, nachdem Fjodor Pawlowitsch den vierjährigen Mitja abgeschoben hatte, heiratete er zum zweiten Mal. Diese zweite Ehe dauerte acht Jahre. Seine zweite Gattin, ein ebenfalls blutjunges Geschöpf, Sofja Iwanowna, holte er sich aus einem anderen Gouvernement, das er in einer seiner dunklen geschäftlichen Angelegenheiten aufgesucht hatte, und zwar in Begleitung eines kleinen Juden. Trotz seiner Gelage, Ausschweifungen und Skandale hörte Fjodor Pawlowitsch niemals auf, für den günstigen Einsatz seines Kapitals Sorge zu tragen, und verstand es, seine Geschäfte stets mit Erfolg, wenn auch fast immer nicht sonderlich ehrenhaft, abzuwickeln. Sofja Iwanowna war eine »Waise«, seit früher Kindheit ohne Angehörige, die Tochter eines verarmten Diakons, die im Hause ihrer Wohltäterin, Erzieherin und Peinigerin, einer hochangesehenen alten Generalin, der Witwe des Generals Worochow, groß geworden war. Nähere Details sind mir unbekannt, ich habe lediglich gehört, daß die Pflegetochter, sanft, lammfromm und demütig, eines Tages aus einer Schlinge befreit wurde, die sie an einem Haken in der Vorratskammer befestigt hatte, so schwer war es gewesen, den Eigensinn und die ewigen Vorwürfe dieser Alten zu ertragen, die offensichtlich nicht böse, sondern vor lauter Nichtstun in unerträglichen Eigensinn verfallen war. Fjodor Pawlowitsch machte einen Heiratsantrag, man zog Erkundigungen über ihn ein und warf ihn hinaus; aber da schlug er der Waise, wie bei seiner ersten Ehe, eine Entführung vor. Es ist sehr, sehr gut möglich, daß sogar sie ihm um keinen Preis gefolgt wäre, wenn sie rechtzeitig etwas mehr über ihn gewußt hätte. Aber sie lebte in einem anderen Gouvernement. Und was hätte auch ein sechzehnjähriges Mädchen verstehen können, das lieber ins Wasser gegangen als noch länger bei ihrer Wohltäterin geblieben wäre? Also vertauschte die Ärmste die Wohltäterin mit einem Wohltäter. Fjodor Pawlowitsch ging dieses Mal leer aus, weil die Generalin in Zorn geraten war, nichts, nicht einen Pfennig herausgerückt und darüber hinaus beide verflucht hatte; aber dieses Mal ging es ihm nicht um den Profit, sondern nur um die außergewöhnliche Schönheit des unschuldigen Mädchens, vor allem um ihr unschuldiges Aussehen, das ihn, den Lüstling und bisher lasterhaften Liebhaber plumper weiblicher Schönheit, tief getroffen hatte. »Diese unschuldigen Äuglein schnitten mir damals wie ein Rasiermesser tief ins Herz«, pflegte er später mit seinem widerwärtigen Kichern zu sagen. Aber bei einem lasterhaften Menschen kann auch das nur eine lüsterne Regung sein, und da Fjodor Pawlowitsch keinerlei pekuniäres Äquivalent erhielt, machte er mit seiner Gattin keinerlei Umstände, hielt sich darüber hinaus zugute, daß sie sozusagen in seiner »Schuld« stünde und daß er sie beinahe »aus der Schlinge befreit« hätte, nutzte außerdem ihre phänomenale Gefügigkeit und Hilflosigkeit aus und trat sogar die elementarsten Regeln des ehelichen Anstands mit Füßen. In seinem Haus, vor den Augen seiner Frau, versammelte er die verrufensten Weibsbilder und feierte Orgien. Ich möchte als einen charakteristischen Zug an dieser Stelle erwähnen, daß der Diener Grigorij, ein stets finsterer, strohdummer und eigensinniger Räsonneur, der die frühere Herrin Adelaida Iwanowna geradezu gehaßt hatte, diesmal zu der neuen Herrin hielt, sie stets verteidigte, ihretwegen mit Fjodor Pawlowitsch in einer für einen Diener unerhörten Weise debattierte, irgendwann einmal einer Orgie mit Gewalt ein Ende setzte und sämtliche Weiber, die sich dazu eingefunden hatten, aus dem Hause jagte. Mit der Zeit befiel die unglückliche, seit frühester Kindheit eingeschüchterte junge Frau ein nervöses Frauenleiden, das man sonst vorwiegend bei einfachen Bäuerinnen findet, die dann Klikuscha genannt werden. Die schrecklichen hysterischen Anfälle, die diese Krankheit begleiten, verdüsterten sogar zeitweilig den Verstand der Kranken. Dennoch gebar sie Fjodor Pawlowitsch zwei Söhne, Iwan und Alexej, den ersten im ersten Jahr ihrer Ehe, den zweiten drei Jahre später. Als sie starb, war der kleine Alexej noch keine vier Jahre alt, aber ich weiß es ganz genau, obwohl es unglaublich klingt, daß er sich sein ganzes Leben lang an seine Mutter erinnern konnte, wenn auch nur wie im Traum natürlich. Nach ihrem Tode erging es den beiden Knaben ganz genauso wie dem ersten, Mitja: Vom Vater vollkommen vergessen und nicht beachtet, kamen sie zu demselben Grigorij in dasselbe Gesindehaus, und in diesem Gesindehaus wurden sie von der alten extravaganten Generalin, der Wohltäterin und Erzieherin ihrer Mutter, entdeckt. Sie lebte noch und hatte die ganze Zeit, die ganzen acht Jahre lang, die erlittene Kränkung nicht überwunden. Über »ihrer Sofjas« Leben und Leiden in diesen acht Jahren hatte sie sich unter der Hand ganz genau unterrichten lassen, und als sie hörte, wie krank sie und wie widerwärtig ihre Umgebung sei, hatte sie laut zu ihrem Gefolge, das bei ihr das Gnadenbrot aß, gesagt: »Geschieht ihr recht; der liebe Gott hat sie für ihre Undankbarkeit gestraft.«

Drei Monate nach Sofja Iwanownas Tod, auf den Tag genau, erschien die Generalin plötzlich in unserer Stadt, begab sich höchstpersönlich geradewegs zu Fjodor Pawlowitsch, blieb etwa eine halbe Stunde im Städtchen, hat aber viel ausgerichtet. Es war Abendzeit. Fjodor Pawlowitsch, den sie ganze acht Jahre nicht zu Gesicht bekommen hatte, begrüßte sie in angetrunkenem Zustand. Man erzählt sich, daß sie ihm augenblicklich, ohne weitere Erklärung, kaum daß sie ihn sah, zwei tüchtige, schallende Ohrfeigen verabreicht, anschließend ihn dreimal von oben nach unten an der Haartolle gerissen und darauf, immer noch wortlos, sich in das Gesindehaus zu den beiden Jungen begeben hätte. Sie sah auf den ersten Blick, daß sie ungewaschen waren und schmutzige Wäsche trugen, versetzte sofort noch eine weitere Ohrfeige, diesmal Grigorij selbst, und verkündete, daß sie die beiden Kinder mitnähme, verließ mit ihnen, so wie sie waren, das Haus, wickelte sie in eine Reisedecke, setzte sie in die Kutsche und fuhr mit ihnen in ihre Stadt zurück. Grigorij nahm diese Ohrfeige hin wie ein ergebener Knecht, ohne jede Widerrede, begleitete die alte Generalin bis zu ihrer Kutsche, verneigte sich tief vor ihr und sprach gemessen, daß »Gottes Lohn für die Waisen« ihr sicher sei. »Trotzdem bist du ein alter Dummkopf!« rief ihm die Generalin beim Anfahren zu. Fjodor Pawlowitsch erfaßte sofort, daß die Lösung günstig war, und machte bei der formellen Einverständniserklärung über die Erziehung der Kinder durch die Generalin keinerlei Schwierigkeiten. Von den erhaltenen Ohrfeigen erzählte er persönlich bei seinen Rundfahrten durch die ganze Stadt.

Es geschah jedoch, daß die Generalin bald darauf das Zeitliche segnete, allerdings erst, nachdem sie in ihrem Testament die beiden Buben jeweils mit tausend Rubel bedacht hatte, »für ihre Ausbildung, die ganze Summe darf nur für sie ausgegeben werden unter der Bedingung, daß sie bis zu ihrer Volljährigkeit ausreichen muß, weil für solche Kinder auch dieses Almosen mehr als genug ist, aber wenn es jemand gefällt, kann er ja selbst den Großzügigen spielen«, usw., usf. Ich habe das Testament nicht selbst gelesen, habe aber gehört, daß es höchst merkwürdig und ausgesprochen eigenwillig abgefaßt war. Der Haupterbe der Alten erwies sich indessen, wie es sich herausstellte, als ein Ehrenmann, es war der Adelsmarschall jenes Gouvernements, Jefim Petrowitsch Polenow. Nachdem er mit Fjodor Pawlowitsch korrespondiert und sofort erkannt hatte, daß irgendwelche Mittel für die Erziehung seiner Kinder von diesem Vater nicht zu erwarten waren (obwohl er niemals etwas direkt abschlug, sondern bei solchen Gelegenheiten auswich und die Sache in die Länge zog, sogar nicht ohne sentimentale Ergießungen), nahm er sich der Waisen selbst an, wobei er ganz besonders den Jüngeren, Alexej, ins Herz schloß, so sehr, daß dieser über längere Zeit in seiner eigenen Familie aufwuchs. Das sollte sich der Leser von Anfang an merken. Und wenn es jemanden gab, dem diese jungen Leute ihre Erziehung und Bildung für ihr ganzes Leben zu danken hatten, so war es kein anderer als dieser Jefim Petrowitsch, der vornehmste und humanste Mensch, dem man je begegnen konnte. Er ließ das Geld, das die Generalin den Kleinen hinterlassen hatte, unangetastet, so daß es bei ihrer Volljährigkeit mit den Prozenten auf je zweitausend angewachsen war, und bestritt ihre Erziehung aus eigener Tasche, wobei er für jeden weit mehr als tausend Rubel ausgab. Auf eine ausführliche Schilderung ihrer Kindheit und Jugend möchte ich wiederum einstweilen verzichten und mich allein auf die wichtigsten Fakten beschränken. Über den älteren, Iwan, sei nur bemerkt, daß er als Junge irgendwie düster und verschlossen wirkte, zwar keineswegs schüchtern, aber bereits mit zehn Jahren von der Einsicht durchdrungen, daß er und sein Bruder in einer fremden Familie aufwuchsen, dank fremder Barmherzigkeit, und daß ihr eigener Vater jemand sei, den man, um der Peinlichkeit zu entgehen, nicht einmal erwähnen sollte, usw., usf. Sehr früh, fast noch als kleines Kind, so erzählte man wenigstens, zeigte er beim Lernen eine außergewöhnliche und glänzende Begabung. Ich kenne keine Einzelheiten, aber es kam dazu, daß er schon mit dreizehn Jahren die Familie Jefim Petrowitschs verließ und in ein Moskauer Gymnasium und in die Schülerpension eines erfahrenen und damals berühmten Pädagogen, eines Jugendfreundes von Jefim Petrowitsch, überwechselte. Iwan selbst pflegte später zu sagen, daß alles aus Jefim Petrowitschs »Feuereifer für gute Taten« geschehen sei, da er sich gerade für die Idee begeisterte, ein Schüler mit genialen Fähigkeiten brauche einen genialen Pädagogen. Übrigens waren weder Jefim Petrowitsch noch der geniale Pädagoge mehr am Leben, als der junge Mann das Gymnasium beendete und ein Universitätsstudium anfing. Da Jefim Petrowitsch seine Angelegenheiten ungeordnet hinterließ, wodurch ein Versehen unterlaufen war, das die Auszahlung des von der eigensinnigen Generalin übermachten eigenen Geldes der Kinder, das inzwischen auf je zweitausend angewachsen war, verzögerte, infolge verschiedener, bei uns völlig unvermeidlicher Formalitäten, waren die ersten zwei Studienjahre an der Universität äußerst hart, da er während dieser Zeit gezwungen war, für seinen Lebensunterhalt und seine Unterkunft selbst aufzukommen und gleichzeitig zu studieren. Es sei angemerkt, daß er damals auf jeden Versuch verzichtete, sich mit seinem Vater brieflich zu verständigen – vielleicht aus Stolz, aus Verachtung, aber möglicherweise auch aus der kalten, nüchternen Einsicht, daß von dem lieben Papa eine auch nur ein bißchen ernstzunehmende Unterstützung nicht zu erwarten sei. Jedenfalls gab der junge Mann sich nicht geschlagen und fand ausreichend Arbeit, am Anfang mit Stundengeben, zwanzig Kopeken pro Stunde, und dann, nachdem er die Zeitungsredaktionen abgeklappert hatte, mit Artikeln über Straßenverkehr, zehn Kopeken pro Zeile, unterzeichnet: »Ein Augenzeuge.« Diese kleinen Artikel sollen, wie man hört, so interessant und spannend abgefaßt gewesen sein, daß sie riesigen Anklang fanden, und schon allein dadurch bewies der junge Mann seine praktische und intellektuelle Überlegenheit über jene vielköpfige, ewig notleidende und glücklose Menge unserer studierenden Jugend beiderlei Geschlechts, die in den Metropolen von morgens bis abends vor den Redaktionen verschiedener Zeitungen und Zeitschriften Schlange steht, ohne eine bessere Idee als die Bitte um eine Übersetzung aus dem Französischen oder eine Schreibarbeit. Nachdem Iwan Fjodorowitsch die Redaktionen einmal kennengelernt hatte, wollte er später die Verbindungen nicht abreißen lassen und veröffentlichte in seinen letzten Universitätsjahren höchst talentierte Besprechungen verschiedener Sachbücher, die ihm eine gewisse Popularität sogar in den literarischen Kreisen verschafften. Allerdings gelang es ihm erst in der allerletzten Zeit, plötzlich die Aufmerksamkeit eines sehr viel größeren Leserkreises zu erregen, so daß er mit einem Schlag von recht vielen bemerkt und sein Name behalten wurde. Das war ein ziemlich interessanter Fall. Bereits nach dem Abschluß seiner Universitätsstudien traf Iwan Fjodorowitsch Anstalten, mit seinen zweitausend Rubeln eine Auslandsreise zu machen, da druckte plötzlich eine der großen Zeitungen einen eigenartigen Artikel von ihm, der sogar die Aufmerksamkeit von Nichtspezialisten auf sich lenkte und der bemerkenswerterweise einem Gegenstand gewidmet war, der dem Verfasser keineswegs vertraut sein konnte, weil dieser das Studium der Naturwissenschaften absolviert hatte. Der Artikel behandelte die damals allerorten diskutierte Frage von der kirchlichen Gerichtsbarkeit. Nachdem er auf einige bereits bekannte Meinungen zu dieser Frage eingegangen war, äußerte der Verfasser seine persönliche Ansicht. Das Besondere lag im Ton und in der verblüffenden Neuheit seiner Schlußfolgerungen. Indessen hielten mehrere Kirchenmänner ihn entschieden für einen der ihren, aber plötzlich meldeten sich nicht nur Bürgerliche, sondern sogar Atheisten zu Wort und applaudierten dem Artikel ihrerseits. Zu guter Letzt glaubten einige gewitzte Köpfe, daß dieser Artikel nichts als eine dreiste Farce und purer Hohn sei. Ich erwähne diesen Fall namentlich deshalb, weil dieser Artikel rechtzeitig auch unser berühmtes stadtnahes Kloster erreichte, wo der Frage der kirchlichen Gerichtsbarkeit überhaupt große Bedeutung zugemessen wurde – der Artikel erreichte es und löste allgemeine Verblüffung aus. Als der Name des Verfassers bekannt wurde, fand man es interessant, daß er aus unserer Stadt stammte und der Sohn »dieses wohlbekannten Fjodor Pawlowitsch« war. Und plötzlich, ausgerechnet zu dieser Zeit, tauchte bei uns der Autor persönlich auf.

Was führte damals Iwan Fjodorowitsch in unsere Gefilde – ich erinnere mich, das habe ich mich schon damals mit einer Art Beunruhigung gefragt. Dieser verhängnisvolle Besuch, der so zahlreiche Fragen nach sich zog, blieb für mich noch lange danach, ja fast für immer, ein Rätsel. Schon ganz allgemein betrachtet, war es sehr eigenartig, daß ein junger Mann, überaus gelehrt, von überaus stolzem und umsichtigem Betragen, plötzlich in einem derart unanständigen Haus erschien, bei einem Vater, der ihn sein ganzes Leben lang ignoriert, von ihm nichts gewußt und sich nie um ihn gekümmert hatte, der selbstverständlich unter keinen Umständen und in keinem Fall dem Sohn, auf dessen Bitten hin, mit Geld ausgeholfen hätte, zumal er sein ganzes Leben lang davor zitterte, daß auch die Söhne Iwan und Alexej eines Tages erscheinen und Geld verlangen könnten. Und nun zieht der junge Mann in das Haus seines Vaters, wohnt Seite an Seite mit ihm, einen Monat und noch einen, und beide vertragen sich so gut, daß es besser kaum möglich ist. Letzterer Umstand überraschte nicht nur mich, sondern auch andere über die Maßen. Pjotr Alexandrowitsch Miussow, den ich bereits oben erwähnt habe, Fjodor Pawlowitschs entfernter Verwandter seitens seiner ersten Gattin, weilte damals zufällig unter uns, er war aus Paris gekommen, wo er sich nun endgültig niedergelassen hatte, und wohnte vorübergehend auf seinem Gut vor der Stadt. Ich erinnere mich, daß gerade er mehr als alle anderen sich darüber wunderte, nachdem er den ihn außerordentlich interessierenden jungen Mann kennengelernt hatte, mit dem er, nicht ohne ein gewisses inneres Unbehagen, gelegentlich heftig in Kenntnissen rivalisierte. »Er ist stolz«, pflegte er uns dann über Iwan Fjodorowitsch zu sagen, »er wird immer haben, was er braucht, er hat ja auch jetzt die Mittel für eine Auslandsreise, was sucht er denn hier? Es ist allen klar, daß er nicht des Geldes wegen seinen Vater besucht, weil dieser Vater ihm auf keinen Fall etwas geben wird. Er trinkt nicht, er macht sich nichts aus Frauen, aber inzwischen kann der Alte nicht mehr ohne ihn sein, so sehr haben sich die beiden aneinander gewöhnt!« Das stimmte; der junge Mann übte offensichtlich einen gewissen Einfluß auf seinen Vater aus; dieser schien ihm sogar manchmal zu gehorchen, wiewohl er außerordentlich, bis zum Boshaften, eigensinnig sein konnte; allmählich führte er sich sogar etwas anständiger auf …

Erst in der Folge sollte sich herausstellen, daß Iwan Fjodorowitsch zum Teil auf Bitten und im Interesse seines älteren Bruders, Dmitrij Fjodorowitsch, gekommen war, den er während dieses Besuchs damals zum ersten Mal im Leben sah und kennenlernte, mit dem er aber in einer wichtigen, hauptsächlich Dmitrij Fjodorowitsch betreffenden Angelegenheit schon vor seiner Ankunft bei uns von Moskau aus korrespondiert hatte. Über alles Nähere wird der Leser zu gegebener Zeit mit allen Einzelheiten unterrichtet werden. Dennoch kam mir Iwan Fjodorowitsch später sogar, als auch ich bereits über diese besonderen Umstände unterrichtet war, immer noch rätselhaft und sein Besuch bei uns trotz allem unerklärlich vor.

Es sei hinzugefügt, daß Iwan Fjodorowitsch damals zwischen seinem Vater und seinem älteren Bruder Dmitrij Fjodorowitsch, der mit seinem Vater in heftigem Streit lag und sogar gerichtlich gegen ihn vorzugehen beabsichtigte, als Vermittler und Schlichter aufzutreten schien.

Diese schöne Familie, ich wiederhole, war damals zum ersten Mal im Leben vollzählig versammelt, und einige ihrer Glieder standen einander zum ersten Mal in ihrem Leben gegenüber. Nur den jüngsten Sohn, Alexej Fjodorowitsch, der schon seit ungefähr einem Jahr bei uns lebte, hatten wir eben deshalb vor den anderen Brüdern kennengelernt. Und gerade über diesen Alexej fällt es mir am schwersten, in diesem meinem einführenden Bericht zu sprechen, bevor ich ihn die Bühne des Romans betreten lasse. Aber ein auch ihn betreffendes Vorwort läßt sich nicht vermeiden, jedenfalls nicht die unerläßliche Erklärung einer äußerst sonderbaren Tatsache – nämlich: Ich sehe mich genötigt, gleich in der ersten Szene seines Romans meinen künftigen Helden dem Leser in der Kutte des Novizen vorzustellen. Jawohl, damals lebte er seit ungefähr einem Jahr in unserem Kloster, und es sah ganz danach aus, als bereite er sich darauf vor, dort sein ganzes Leben als Mönch zu verbringen.

IVDer dritte Sohn Aljoscha

Er war damals erst zwanzig (sein Bruder Iwan stand damals im vierundzwanzigsten und der älteste Bruder Dmitrij im achtundzwanzigsten Lebensjahr). Als erstes möchte ich festhalten, daß dieser Jüngling, Aljoscha, keineswegs ein Fanatiker und wenigstens meiner Meinung nach nicht einmal ein Mystiker war. Ich möchte im voraus meine unerschütterliche Überzeugung zum Ausdruck bringen: Er war einfach ein früher Menschenfreund, und wenn er sich auf den Klosterweg begab, so aus dem einzigen Grund, daß dieser allein ihn tief beeindruckt hatte und ihm sozusagen ein Ideal für seine aus dem Dunkel des Bösen dieser Welt zum Licht der Liebe leidenschaftlich strebende Seele wies. Beeindruckt aber hatte ihn dieser Weg einzig und allein deshalb, weil er auf ihm damals einem seiner Meinung nach außerordentlichen Wesen begegnet war – unserem berühmten Klosterstarez Sossima, dem er sich sofort mit der ganzen heißen, ersten Liebe seines unersättlichen Herzens hingab. Übrigens kann ich nicht bestreiten, daß er schon damals, ja sogar schon in seiner frühesten Kindheit, durchaus eigenartig war. Ich habe bereits erwähnt, daß er, der seine Mutter in frühester Kindheit, noch vor seinem vierten Lebensjahr, verloren hatte, sich später sein ganzes Leben lang an sie erinnern konnte, an ihr Gesicht, ihre Zärtlichkeiten, »ganz, als stünde sie lebendig vor mir«. Solche Erinnerungen reichen (eine bekannte Tatsache) gelegentlich noch weiter zurück, sogar bis ins zweite Lebensjahr, aber sie leuchten in späteren Zeiten nur wie helle Punkte in einem Dunkel, gleichsam wie ein Ausschnitt eines riesigen Tableaus, das sonst gänzlich erloschen und verschwunden ist, bis auf diesen einzigen kleinen Ausschnitt. Bei ihm war es ganz genauso: Er erinnerte sich an einen stillen Sommerabend, das offene Fenster, die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne(an diese schrägen Strahlen erinnerte er sich am deutlichsten), die Ikone in der Ecke des Zimmers, davor das brennende Ewige Licht, und vor der Ikone die kniende Mutter, schluchzend wie in einem hysterischen Anfall, kreischend und schreiend, sie packt ihn mit beiden Armen, umarmt ihn so fest, daß es ihm weh tut, betet für ihn und hält ihn mit beiden Händen zur Ikone hinauf, wie unter den Schutzmantel der Gottesmutter … da stürzt plötzlich die Kinderfrau herein und entreißt ihn erschrocken seiner Mutter. Welch ein Tableau! Aljoscha erinnerte sich auch an das Gesicht seiner Mutter in diesem Augenblick: Er sagte, es sei entrückt, aber wunderschön gewesen, jedenfalls soweit er sich erinnere. Aber er war nur selten bereit, diese Erinnerung preiszugeben. In seiner Kindheit und Jugend war er alles andere als extrovertiert, und sogar selten gesprächig, aber weniger aus Mißtrauen, Schüchternheit oder finsterer Menschenscheu, im Gegenteil, es war etwas anderes, irgendwie ein inneres Anliegen, das, ausgesprochen persönlich, keinen anderen Menschen anging, aber für ihn bedeutend genug war, um seinetwegen die anderen scheinbar zu vergessen. Aber er liebte die Menschen: Er liebte sein ganzes Leben, wie es schien, in dem ungebrochenen Glauben an die Menschen, indes hielt ihn niemand für einfältig oder naiv. In ihm war etwas, was den untrüglichen Eindruck erweckte (sein ganzes Leben hindurch), daß er niemals über einen Menschen zu Gericht sitzen und sich niemals ein Urteil anmaßen und jemand verurteilen wolle. Es schien sogar, daß er alles geschehen ließ, ohne es zu mißbilligen, wiewohl er häufig voll bitterer Tränen war. Noch mehr, es kam schließlich soweit, daß ihn niemand weder in Erstaunen noch in Schrecken versetzen konnte, und zwar schon in jungen Jahren. Als er im zwanzigsten Lebensjahr zu seinem Vater kam, in diese wirklich schmutzige Lasterhöhle, entfernte er sich, unberührt und keusch wie er war, sobald ihm der Anblick unerträglich wurde, aber ohne das geringste Zeichen von Verachtung oder Verurteilung, wessen auch immer. Sein Vater, der früher in fremden Häusern parasitiert hatte und deshalb für Kränkungen ungemein hellhörig und feinfühlig war, hatte ihn anfangs mißtrauisch und abweisend empfangen (»Er schweigt mir zuviel und denkt im stillen zuviel«), war aber bald soweit, und zwar nach kaum vierzehn Tagen, daß er ihn schrecklich oft umhalste und küßte, allerdings unter Tränen alkoholisierter Rührseligkeit, und doch war zu merken, daß er ihn aufrichtig und tief liebgewonnen hatte, und zwar so, wie es einem Menschen wie ihm kaum jemals zu lieben gelingt.

Aber alle liebten diesen Jüngling, überall, wo er auch erschien, und dies seit seiner frühesten Kindheit. Kaum war er im Haus seines Wohltäters und Erziehers Jefim Petrowitsch Polenow aufgenommen, hatten alle Mitglieder seiner Familie ihn so ins Herz geschlossen, daß man ihn wirklich für ein eigenes Kind hielt. Dabei hatte er dieses Haus in so zartem Alter betreten, daß man von diesem Kind Berechnung, List, Ränke oder die Kunst zu gefallen unmöglich erwarten konnte, geschweige denn das Talent, allgemeine Liebe zu wecken. Er muß die Gabe, besondere Zuneigung zu gewinnen, in sich getragen haben, sozusagen in seiner eigenen Natur, kunstlos und unmittelbar. Ebenso war es in der Schule, obwohl er scheinbar zu jenen Kindern gehören könnte, die das Mißtrauen, manchmal den Hohn und vielleicht sogar den Haß ihrer Kameraden auf sich ziehen. Er pflegte zum Beispiel plötzlich in Nachdenken zu versinken und sich gleichsam zurückzuziehen. Schon als Kind zog er sich am liebsten in eine Ecke zurück, um dort zu lesen, und trotzdem hatten ihn seine Schulkameraden so gern, daß er während seiner gesamten Schulzeit, wahr und wahrhaftig, der Liebling aller genannt werden konnte. Er war selten übermütig, und er war sogar selten lustig, aber beim ersten Blick sahen alle, daß es nicht an einem düsteren Charakter lag und daß er, im Gegenteil, von Natur ausgeglichen und heiter war. Unter seinen Altersgenossen spielte er sich niemals auf. Vielleicht war dies der Grund, warum er sich niemals und vor niemand fürchtete, indessen hatten die Knaben von Anfang an begriffen, daß er mit seiner Furchtlosigkeit keineswegs prahlte, sondern selbst nicht einmal wußte, daß er mutig und furchtlos war. Er war nicht im mindesten nachtragend. Es kam vor, daß er eine Stunde nach einer Beleidigung dem Beleidiger antwortete oder ihn von sich aus anredete, mit einer so vertrauensvollen und unbeschwerten Miene, als wäre zwischen ihnen nie etwas vorgefallen. Dabei hatte es keineswegs den Anschein, als habe er die Beleidigung zufällig vergessen oder sie gar bewußt verziehen, sondern er nahm sie keineswegs als Beleidigung wahr, und das war es, was die Kinder bestrickte und ihre Herzen gewann. Es gab allerdings einen einzigen Zug, der in sämtlichen Klassen des Gymnasiums, von der untersten bis zur obersten, in seinen Schulkameraden stets den Wunsch weckte, sich über ihn lustig zu machen, wenn auch nicht aus boshaftem Spott, sondern weil sie sich darüber amüsierten. Dieser Zug war eine unerhörte, grenzenlose Schamhaftigkeit und Keuschheit. Er konnte gewisse Worte und gewisse Reden über Frauen nicht ertragen. Diese »gewissen« Worte und Reden sind bedauerlicherweise in den Schulen unausrottbar. Die Knaben, mit ihren reinen Herzen und Seelen fast noch Kinder, sprechen in der Klasse mit Begeisterung, unter sich oder sogar laut, von Dingen, Bildern und Vorstellungen, über die sogar Soldaten nicht sprechen; noch schlimmer, die Soldaten wissen und verstehen nur weniges von dem, was den ganz unreifen Kindern unserer gebildeten und höheren Gesellschaft wohlbekannt ist. Eine moralische Verderbtheit liegt hier vielleicht nicht einmal vor, ebensowenig echter Zynismus, der lasterhaft, innerlich ist, dafür aber ein äußerer, und gerade dieser wird von ihnen häufig für etwas Delikates, Feines, Schneidiges und Nachahmenswürdiges gehalten. Wenn sie merkten, daß »Aljoscha Karamasow«, sobald man »davon« anfing, die Finger in die Ohren steckte, bildeten sie absichtlich einen dichten Kreis um ihn, rissen ihm mit Gewalt die Hände herunter, schrien ihm Schmutziges in beide Ohren, er aber versuchte sich loszureißen, ließ sich auf den Boden fallen, wälzte sich, schlug die Hände vors Gesicht, und dies alles, ohne ein Wort zu sagen, ohne zu schimpfen, stumm die Beleidigung ertragend. Schließlich ließ man ihn in Ruhe und hänselte ihn nicht mehr mit »Mädchen«, sah aber in dieser Beziehung bedauernd auf ihn herab. In der Klasse gehörte er immer zu den Besten, war aber niemals Primus.

Nach Jefim Petrowitschs Tod besuchte Aljoscha noch zwei Jahre das Gouvernementsgymnasium. Jefim Petrowitschs untröstliche Gattin brach fast unmittelbar nach seinem Ableben für längere Zeit nach Italien auf, in Begleitung ihrer ganzen Familie, die ausschließlich aus Personen weiblichen Geschlechts bestand, Aljoscha aber fand sich im Haus von zwei Damen wieder, die er früher noch nie gesehen hatte, entfernten Verwandten Jefim Petrowitschs, aber unter welchen Bedingungen dies geschehen war, das wußte er selber nicht. Es war ebenfalls ein charakteristischer, sogar im höchsten Maße charakteristischer Zug an ihm, daß er sich niemals darüber Gedanken machte, auf wessen Kosten er lebte. Darin stand er im größten Gegensatz zu seinem älteren Bruder, Iwan Fjodorowitsch, der die ersten zwei Jahre auf der Universität bittere Not gelitten, sich durch eigene Arbeit ernährt und bereits von Kindheit an schmerzlich empfunden hatte, auf Kosten eines Wohltäters leben zu müssen. Aber diesen eigentümlichen Charakterzug Alexejs sollte man, glaube ich, nicht voreilig verurteilen, weil jeder, der ihn auch nur flüchtig kennenlernte, sobald eine diesbezügliche Frage auftauchte, davon überzeugt war, daß Alexej zu jenen jungen Menschen gehörte, die etwas von einem Jurodiwyj an sich hatten, der sogar ein zufällig in seinen Händen befindliches Kapital ohne Bedenken bei der ersten Gelegenheit dem ersten Besten überläßt, sei es zu einem guten Zweck, oder möglicherweise sogar einem geschickten Gauner, wenn der ihn nur darum bäte. Und überhaupt schien er den Wert des Geldes nicht zu kennen, natürlich nicht im buchstäblichen Sinne. Wenn er sein Taschengeld bekam, um das er nie bat, wußte er bald wochenlang nicht, was er damit anfangen sollte, bald löste es sich bei ihm sofort in Luft auf. Pjotr Alexandrowitsch Miussow, ein Mensch, der in Sachen des Geldes und des bürgerlichen Anstands außerordentlich heikel war, hatte einst, nachdem er Alexej eine Weile beobachtet hatte, folgenden Aphorismus über ihn ausgesprochen: »Er ist vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der, wenn man ihn plötzlich mutterseelenallein und ohne Geld auf einem Platz einer ihm unbekannten Millionenstadt aussetzte, weder verlorengehen noch vor Kälte und Hunger sterben würde, weil man ihm sofort zu essen gäbe, ihn sofort unterbrächte, und wenn man ihn nicht unterbrächte, würde er im Handumdrehen sich selbst unterbringen, und zwar ohne jede Mühe und ohne sich zu erniedrigen, und jeder, der sich seiner annähme, würde dies keineswegs als Last empfinden, sondern, ganz im Gegenteil, es sich zur Ehre anrechnen.«

Das Gymnasium verließ er ohne Abschluß; er hatte noch ein ganzes Jahr vor sich, als er plötzlich seinen Damen erklärte, er wolle zu seinem Vater fahren, in einer Angelegenheit, die ihn beschäftige. Sie bedauerten das und wollten ihn zunächst nicht fahren lassen. Die Fahrt war nicht teuer, aber die Damen erlaubten ihm nicht, seine Uhr zu versetzen – das Geschenk der Familie seines Wohltäters vor deren Aufbruch ins Ausland –, und statteten ihn großzügig aus, sogar mit neuen Kleidern und Wäsche. Er aber gab ihnen die Hälfte der Summe zurück, mit der Begründung, er wünsche unbedingt Dritter Klasse zu fahren. Als er in unserem Städtchen ankam, blieb er auf die erste Frage seines Vaters: »Wieso erscheinst du ohne Abschlußzeugnis?« eine direkte Antwort schuldig, war aber, wie man erzählt, irgendwie besonders nachdenklich. Es stellte sich bald heraus, daß er das Grab seiner Mutter suchte. Er gab damals sogar an, daß er nur deshalb gekommen sei. Aber der einzige Grund war es gewiß nicht. Vermutlich kannte er damals den eigentlichen Grund selbst nicht und konnte ihn um keinen Preis erklären: Was war das, das damals plötzlich in seiner Seele gewachsen war und ihn unwiderstehlich auf einen neuen, unbekannten, aber schon unvermeidlichen Weg geführt hatte? Fjodor Pawlowitsch konnte ihm die Stelle, wo er seine zweite Frau beerdigt hatte, nicht zeigen, weil er das Grab, nachdem der Sarg mit Erde bedeckt war, niemals aufgesucht und im Laufe der vielen Jahre völlig vergessen hatte, wo sie damals beerdigt wurde …

Bei dieser Gelegenheit einiges über Fjodor Pawlowitsch. Er hatte bis dahin längere Zeit nicht in unserer Stadt gelebt. Drei oder vier Jahre nach dem Tod seiner zweiten Frau begab er sich in den Süden Rußlands und landete schließlich in Odessa, wo er einige Jahre hintereinander blieb. Dort machte er, nach seinen eigenen Worten, mit allerlei »Juden, kleinen Juden, Judenpack und Judenbengeln« Bekanntschaft und wurde zum Schluß nicht nur bei Juden, sondern »auch bei Hebräern« empfangen. Vermutlich hatte er gerade in dieser Periode seines Lebens die hohe Kunst erlernt, Geld auf- und einzutreiben. In unser Städtchen war er endgültig etwa drei Jahre vor Aljoschas Ankunft zurückgekehrt. Seine früheren Bekannten fanden ihn schrecklich gealtert, obwohl er noch lange kein alter Mann war. Sein Benehmen war nicht etwa vornehmer, sondern noch dreister geworden. Zum Beispiel hatte sich bei dem alten Narren das gemeine Bedürfnis eingestellt, andere zum Narren zu halten. Sein Interesse am weiblichen Geschlecht war nicht nur dasselbe geblieben, sondern war sozusagen noch abstoßender geworden … Es dauerte nicht lange, und er war Besitzer mehrerer neuer Schenken in unserem Gouvernement. Offensichtlich verfügte er über annähernd hunderttausend Rubel, jedenfalls nicht viel weniger. Mehrere Einwohner unserer Stadt und unseres Kreises wurden alsbald seine Schuldner, natürlich nur bei sichersten Garantien. In der allerletzten Zeit wirkte er irgendwie erschlafft, irgendwie unausgeglichen, er verlor den Faden, machte sogar einen leichtfertigen Eindruck, begann mit dem einen und endete mit dem anderen, war irgendwie unstet und immer häufiger betrunken, und wenn nicht derselbe Lakai Grigorij, inzwischen ebenfalls gealtert, ihn fast wie ein Erzieher seinen Zögling bewacht und bedient hätte, wäre Fjodor Pawlowitsch manche Kalamität nicht erspart geblieben. Aljoschas Ankunft übte auf ihn sogar so etwas wie eine moralische Wirkung aus; irgend etwas schien in diesem verkommenen alten Menschen sich wieder zu regen, etwas, das in seiner Seele schon längst verstummt war. »Weißt du auch«, sagte er immer wieder zu Aljoscha und musterte ihn aufmerksam, »daß du ihr ähnlich bist, der Klikuscha?« So nannte er seine verstorbene Frau, Aljoschas Mutter. Ihr Grab hatte Aljoscha schließlich der Lakai Grigorij gezeigt. Er führte ihn auf unseren städtischen Friedhof und deutete dort in einer entlegenen Ecke auf eine nicht besonders kostspielige, aber ordentliche gußeiserne Platte, sogar mit einer Inschrift, die Namen und Stand, Alter und Todesjahr der Verstorbenen und darunter auch noch vier Strophen eines auf den Gräbern des Mittelstandes üblichen Friedhofsspruchs enthielt. Erstaunlicherweise erwies sich diese Platte als das Werk Grigorijs. Er war es, der sie über dem Grab der armen »Klikuscha« auf eigene Kosten hatte errichten lassen, nachdem Fjodor Pawlowitsch, den er unzählige Male wegen dieses Grabes gemahnt und dadurch verärgert hatte, schließlich nach Odessa gefahren war und nicht nur Gräber, sondern alle übrigen Erinnerungen hinter sich gelassen hatte. Aljoscha zeigte am Grab seiner Mutter keine besondere Rührung; er hörte sich die gesetzte und ausführliche Erzählung Grigorijs über die Errichtung der Grabplatte an, blieb eine Weile mit gesenktem Kopf stehen und ging fort, ohne ein Wort zu sagen. Seitdem hat er vielleicht kein einziges Mal im Laufe dieses Jahres den Friedhof wieder betreten. Auf Fjodor Pawlowitsch jedoch machte diese kleine Episode einen gewissen Eindruck, und zwar einen sehr originellen. Er nahm plötzlich tausend Rubel und brachte sie in unser Kloster, um Seelenmessen für seine Gattin lesen zu lassen, allerdings nicht für die zweite, nicht für die Mutter Aljoschas, die »Klikuscha«, sondern für die erste, für Adelaida Iwanowna, die ihn geprügelt hatte. Gegen Abend desselben Tages betrank er sich und schimpfte in Aljoschas Gegenwart über die Mönche. Er selbst war alles andere als ein religiöser Mensch; vielleicht hat er in seinem ganzen Leben kein einziges Fünfkopekenlicht vor einer Ikone angezündet. Ein solches Subjekt kann von überraschenden Gefühlsausbrüchen und überraschenden Einfällen überwältigt werden.

Ich sagte schon, daß er sehr schlaff geworden war. Seine Physiognomie war damals ein deutliches Zeugnis für das Charakteristische und Wesentliche seines ganzen Lebens. Außer den langen und fleischigen Säcken unter den kleinen Augen, die stets unverschämt, mißtrauisch und spöttisch dreinblickten, außer einer Menge tiefer Falten in seinem kleinen, aber ziemlich fetten Gesicht war es der große Adamsapfel unter seinem spitzen Kinn, fleischig und lang wie ein Geldbeutel, der ihm ein abstoßendes, lüsternes Aussehen verlieh. Man füge einen großen fleischigen Mund hinzu mit vollen, weichen Lippen, hinter denen die kleinen, fast schwarzen, beinahe verfaulten Stummelzähne sichtbar waren. Wenn er sprach, sprühte er Speichel. Übrigens witzelte er gern über sein Gesicht, obgleich er, wie es schien, damit recht zufrieden war. Ganz besonderen Gefallen fand er an seiner nicht sehr großen, doch sehr schmalen, mit einem stark ausgeprägten Höcker versehenen Nase: »Echt römisch«, pflegte er zu sagen, »zusammen mit dem Adamsapfel die echte Physiognomie eines alten römischen Patriziers der Verfallszeit.« Er war offenbar stolz darauf.

Und nun, ziemlich bald nach dem Besuch am Grab seiner Mutter, erklärte Aljoscha ihm plötzlich, daß er in das Kloster eintreten wolle und daß die Mönche bereit seien, ihn als Novizen aufzunehmen. Erklärend fügte er hinzu, daß es sein unbedingter Wille sei und daß er ihn um sein feierliches väterliches Einverständnis bitte. Der Alte wußte bereits, daß der Starez Sossima, der in der Einsiedelei des Klosters sein Heil suchte, auf seinen »stillen Jungen« einen besonderen Eindruck gemacht hatte.

»Dieser Starez ist freilich der ehrlichste von allen ihren Mönchen«, sagte er nachdenklich, nachdem er Aljoscha stumm und aufmerksam zugehört hatte, jedoch ohne sich darüber zu wundern. »Hm, da willst du also hin, mein stiller Junge!« Er war stark angeheitert und lächelte plötzlich sein langes, halb betrunkenes Lächeln, jedoch nicht ohne List und Verschlagenheit. »Hm, und ich, ich habe ja schon geahnt, daß du grade mit so etwas enden mußt, kannst du dir das vorstellen? Das war es doch, worauf du es abgesehen hattest. Warum nicht? Na schön, du hast ja deine zweitausend – deine Aussteuer ist also komplett –, ich aber werde dich, mein Engel, niemals im Stich lassen und bin bereit, auch jetzt für dich das Nötige einzuzahlen, wenn sie es verlangen, na ja, und wenn sie es nicht verlangen, dann braucht man sich ja nicht aufzudrängen, nicht wahr? Denn du brauchst ja nicht mehr als ein Kanarienvogel, zwei Körnchen pro Woche, hm. Weißt du, es gibt da irgendwo so ein Kloster, und bei diesem Kloster eine Vorstadt, und alle dort wissen, daß in dieser Vorstadt nur die Klosterweiber leben, so werden sie dort genannt, an die dreißig Stück, glaub ich … Ich war mal dort, und weißt du, es war ganz interessant, natürlich in einem gewissen Sinne, im Sinne der Abwechslung. Das eine aber ist nicht so gut, die entsetzliche Russomanie, noch ist keine einzige Französin dabei, das wäre aber durchaus im Bereich ihrer Möglichkeiten, denn die Mittel sind beträchtlich. Aber die werden das schon wittern und anrücken. Nun, hier geht es ja noch, hier gibt es keine Klosterweiber, dabei sind es doch an die zweihundert Mönche. Ehrsam. Fastenbrüder. Ich gebe zu, daß … hm. Du willst also zu den Mönchen. Du tust mir wirklich leid, Aljoscha, wirklich. Ich habe dich liebgewonnen, ob du es mir glaubst oder nicht … Übrigens ist das nicht ungünstig: Du wirst für uns beten, für uns Sünder, wir haben nämlich hier unten alle zu viel gesündigt. Ich habe mir schon Gedanken gemacht: Wer wird einmal für mich beten? Findet sich auf der ganzen Welt ein solcher Mensch? Weißt du, mein liebes Kind, ich bin in dieser Beziehung schrecklich dumm. Du wirst mir nicht glauben, wie dumm! Schrecklich. Siehst du, ich denke daran, wie dumm ich auch bin. Aber ich denke immer daran, das heißt gelegentlich, man kann ja nicht immer daran denken. Das ist doch unmöglich, denke ich, daß die Teufel vergessen sollten, mich mit Haken