Die Brut - Sie sind da - Ezekiel Boone - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Brut - Sie sind da E-Book

Ezekiel Boone

4,6
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Etwas lebt. Und es vermehrt sich rasend schnell. Am Amazonas stirbt eine Wandergruppe. Kurz zuvor war ein merkwürdiges Summgeräusch zu hören. In Indien schnellen die Seismographen in die Höhe, doch es folgt kein Erdbeben. In China wird eine Atombombe gezündet. Angeblich versehentlich. In Minneapolis stürzt ein Flugzeug vom Himmel. Im Wrack findet Agent Mike Rich eine verbrannte Leiche aus der etwas Schwarzes kriecht. Biologin Melanie Guyer erhält in Washington eine FedEx-Sendung. Ein mysteriöser Fund von den Nazca-Linien. Nervenzerrende Spannung – Sie werden das Atmen vergessen!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 452

Bewertungen
4,6 (98 Bewertungen)
68
18
12
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Ezekiel Boone

DIE BRUT

Sie sind da

Aus dem Amerikanischen von Rainer Schmidt

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Sara und SandyPrologManú National Park, PeruThe HatchingMinneapolis, MinnesotaStaatliches Informationszentrum für erdbebensicheres Bauen, Kanpur, IndienAmerican University, Washington, D.C.Das Weisse HausProvinz Xinjiang, ChinaMarine Corps Air Ground Combat Center, Twentynine Palms, KalifornienHindukusch, Grenze zwischen Afghanistan und TadschikistanDesperation, KalifornienMarine Corps Air Ground Combat Center, Twentynine Palms, KalifornienHenderson Tech Falcon 7X, über Minneapolis, MinnesotaMinneapolis, MinnesotaIndischer OzeanDas Weisse HausAmerican University, Washington, D.C.Metro Bhawan, Delhi, IndienStornoway, Isle of Lewis, äussere Hebriden, SchottlandDesperation, KalifornienAmerican University, Washington, D.C.Metro Bhawan, Delhi, IndienContainerfrachter Mathias Maersk, Triple-E Class, Pazifischer Ozean, 400 Meilen vor Los AngelesCNN Center, Atlanta, GeorgiaDas Weisse HausMinneapolis, MinnesotaMarine Corps Base Camp Pendleton, San Diego, KalifornienAmerican University, Washington, D.C.Desperation, KalifornienDesperation, KalifornienPoint Fermin Park, Los AngelEs, KalifornienStornoway, Isle of Lewis, äussere Hebriden, SchottlandCNN Center, Atlanta, GeorgiaDas Weisse HausSoot Lake, MinnesotaAmerican University, Washington, D.C.Highway 10, KalifornienDesperation, KalifornienDas Weisse HausNational Institute of Health, Bethesda, MarylandCNN Center, Atlanta, GeorgiaMinneapolis, MinnesotaHighway 10, KalifornienNational Institute of Health, Bethesda, MarylandMinneapolis, MinnesotaDas Weisse HausEpilogLos Angeles, KalifornienMinneapolis, MinnesotaAmerican University, Washington, D.C.Càidh Island, Loch Ròg, Isle Of Lewis, äussere HebridenDesperation, KalifornienCNN Center, Atlanta, GeorgiaMarine Corps Base Camp Pendleton, San Diego, KalifornienDas Weisse HausSoot Lake, MinnesotaDanksagungLassen Sie das Licht lieber an! Die Brut lebt.

Für Sara und Sandy

Prolog

Manú National Park, Peru

Gern hätte der Wanderführer die amerikanische Gruppe aufgefordert, den Mund zu halten. Natürlich würden sie so keine Tiere zu sehen bekommen. Ihr dauerndes Gemecker vertrieb sie ja alle. Nur die Vögel waren noch da, doch selbst die wirkten nervös. Aber er war nur ein Wanderführer, und deshalb sagte er nichts.

Es waren fünf Amerikaner. Drei Frauen, zwei Männer. Die interessante Frage für den Führer war, wie sie zusammengehörten. Es kam ihm unwahrscheinlich vor, dass der dicke Mann, Henderson, alle drei für sich beanspruchte. Egal, wie reich er war, sollten zwei Frauen auf einmal nicht genug sein? Vielleicht gehörte dem großen Mann noch eine? Aber vielleicht auch nicht? Soweit der Führer es erkennen konnte, war der große Mann nur als Hendersons Bodyguard und Leibdiener dabei. Er und Henderson benahmen sich nicht wie Freunde. Der große Mann trug Wasser und Proviant für den dicken Mann, und sein Blick blieb an keiner der Frauen hängen. Es war keine Frage, dass er von Henderson bezahlt wurde. Genau wie der Führer.

Der Führer seufzte. Er würde ja sehen, wo die Frauen im Camp ihr Schlaflager bezogen. Bis dahin würde er tun, wofür er bezahlt wurde: Er würde sie durch den Urwald führen und sie auf Dinge aufmerksam machen, die sie beeindrucken sollten. Machu Picchu hatten sie natürlich schon gemacht, und danach hatten die Touristen immer das Gefühl, sie hätten alles gesehen, was Peru zu bieten hatte, und jetzt waren nicht mal Tiere da, die man ihnen zeigen konnte. Er sah sich nach Henderson um und entschied, dass es Zeit für die nächste Pause war. Sie hatten alle zwanzig Minuten haltmachen müssen, damit der reiche Mann sich ins Gebüsch schlagen und seinen Darm entleeren konnte, und jetzt bekam der Führer Angst, Henderson könnte sich überanstrengen. Es war offensichtlich, dass ihm die Hitze zusetzte. Er war rot im Gesicht und wischte sich immer wieder mit einem feuchten Taschentuch über die Stirn.

Man konnte nicht sagen, dass Henderson abscheulich fett war, aber er war auf jeden Fall massig und hatte Mühe, mit dem Rest der Gruppe Schritt zu halten. Der Lange und die drei Frauen waren aber alle gut in Form. Vor allem die Frauen sahen beklemmend sportlich und jung aus – zwanzig oder dreißig Jahre jünger als Henderson. Aber obwohl er älter war als die Frauen, sah er doch zu jung für einen Herzanfall aus. Trotzdem, dachte der Führer, würde es nicht schaden, dafür zu sorgen, dass er genug Flüssigkeit bekam. Wenn alles gutginge, das hatte man ihm unmissverständlich klargemacht, würde Henderson sich vielleicht überreden lassen, dem Park und den hier tätigen Wissenschaftlern eine beträchtliche Spende zukommen zu lassen.

Es war heute nicht heißer als sonst, aber obwohl die Gruppe geradewegs von Machu Picchu gekommen war, schien den Leuten nicht klar zu sein, dass sie sich immer noch in großer Höhe befanden, was das Laufen anstrengender machte. Der Führer hätte ihnen erklären können, dass sie formal gesehen nur Zugang zum Großraum der Biosphäre hatten, während der Park selbst nur von Forschern, Mitarbeitern und den indigenen Machiguenga betreten werden durfte, aber dann wäre ihre Enttäuschung nur noch größer gewesen, als sie ohnehin schon war.

»Besteht die Chance, dass wir einen Löwen sehen, Miggie?«, fragt eine der Frauen ihn.

Die Frau neben ihr, die aussah, als käme sie aus einem der Hefte, die der Führer als Teenager unter seinem Bett versteckt hatte, als es noch kein Internet gab, nahm schwungvoll den Rucksack ab und ließ ihn auf den Boden fallen. »Herrgott, Tina«, sagte sie und schüttelte den Kopf, so dass ihr Haar um Gesicht und Schultern flog.

Der Führer hatte Mühe, nicht in den runden Ausschnitt ihres Hemds zu starren, als sie sich bückte, um ihre Wasserflasche aus dem Rucksack zu nehmen.

»Wir sind in Peru, nicht in Afrika. Miggie wird noch denken, Amerikaner sind Idioten. Es gibt keine Löwen in Peru. Aber wir könnten einen Jaguar sehen.«

Der Führer hatte sich als Miguel vorgestellt, aber sie hatten sofort angefangen, ihn Miggie zu nennen, als wäre Miguel nur ein Vorschlag. Und nein, er hielt zwar nicht alle Amerikaner für Idioten – wenn er keine »Öko-Trek«-Expeditionen mit Touristen führte, arbeitete er oft für die Wissenschaftler im Park, und die meisten von denen kamen von amerikanischen Universitäten –, aber allmählich hatte er doch den Verdacht, dass diese spezielle Gruppe trotz der Anwesenheit Hendersons, der nach allem, was man hörte, ein Genie war, mehr Idioten enthielt, als es normalerweise der Fall war. Sie würden keinen Löwen zu sehen bekommen, und was immer die Frau da erzählen mochte, sie würden auch keinen Jaguar sehen.

Miguel arbeitete seit fast vier Jahren für das Reiseunternehmen, und selbst er hatte noch nie einen Jaguar gesehen. Nicht, dass er wirklich ein Experte war. Er war in Lima geboren und aufgewachsen, und der einzige Grund, weshalb er hier war und nicht in der Stadt mit acht Millionen anderen Leuten, war ein Mädchen. Sie waren zusammen auf der Universität gewesen, und als sie einen Traumjob als Forschungsassistentin ergatterte, hatte er es geschafft, so gute Beziehungen aufzubauen, dass er gelegentlich Aushilfsjobs im Park übernehmen konnte. Aber in letzter Zeit lief es nicht mehr so gut. Seine Freundin wirkte abgelenkt, wenn sie zusammen waren, und Miguel hatte allmählich den Verdacht, dass sie mit einem ihrer Kollegen schlief.

Er sah zu, wie die Amerikaner Wasser tranken und kleine in Plastik verpackte Riegel aus ihren Rucksäcken zu sich nahmen. Er ging ein paar Schritte weiter den Pfad hinunter. Als er sich umschaute, sah er, dass die Löwenfrau, Tina, ihn anlächelte, und zwar so, dass er sich fragte, ob sie ihm heute Abend, wenn Henderson in seinem Zelt wäre, eventuell zur Verfügung stehen würde. Er hatte schon gelegentlich Chancen bei Touristinnen gehabt, obwohl die Gelegenheit sich nicht so oft ergab, wie man es erwarten könnte, aber er hatte jedes Mal abgelehnt. Vielleicht würde er heute Abend, sollte Tina ihm ein Angebot machen, nicht nein sagen. Wenn seine Freundin ihn betrog, war es das mindeste, was er tun konnte, diese Freundlichkeit zu erwidern. Tina lächelte ihn weiter an, und das machte ihn nervös.

Doch der Urwald machte ihn noch nervöser. In den ersten paar Monaten, nachdem er aus Lima hierhergekommen war, hatte er ihn gehasst. Inzwischen hatte er sich an die drückende Enge fast gewöhnt. An das beständige Summen der Insekten, die Bewegungen, die Hitze, das Leben, das anscheinend überall war. Das alles war irgendwann zu einem Hintergrundrauschen geworden, und es war lange her, dass ihm der Urwald Angst eingejagt hatte – bis heute. Aber heute war es anders. Das Hintergrundrauschen war verstummt. Abgesehen von dem Geplapper der Gruppe hinter ihm war es beunruhigend still. Sie hatten sich darüber beschwert, dass keine Tiere da waren, und wenn er ehrlich wäre – das war er natürlich nicht, denn dafür wurde ein Führer nicht bezahlt –, hätte er der Gruppe gesagt, dass ihn das auch störte. Normalerweise hätten sie mehr Tiere zu sehen bekommen, als ihnen lieb wäre: Faultiere, Wasserschweine, Rehe, Affen. Gott, sie liebten die Affen. Die Touristen bekamen nie genug von den Affen. Und von den Insekten natürlich. Sie waren normalerweise überall, und wenn alle anderen Versuche, die Touristen zu unterhalten, scheiterten, hob Miguel, der nie Angst vor Spinnen gehabt hatte, oft eine mit dem Ende eines Zweiges hoch und überraschte eine der Frauen in der Gruppe damit. Es gefiel ihm, wie sie kreischten, wenn er ihnen die Tiere dicht vor die Nase hielt, damit sie sie anschauen konnten, und wie die Männer so taten, als ob ihnen die Spinnen nichts ausmachten.

Hinter Tina sah er Henderson, der sich zusammenkrümmte und sich den Bauch hielt. Der Mann mochte sehr reich sein – Miguel hatte ihn nicht erkannt, aber er hatte natürlich von Hendersons Unternehmen gehört; die Forscher arbeiteten nur mit den kleinen silbernen Computern von Henderson Tech –, aber er sah nicht außergewöhnlich aus. Er hatte sich den ganzen Vormittag über beklagt – über die Straßen, über den fehlenden Internetzugang in der Lodge, über das Essen. Ah, das Essen. Er hatte sich endlos über das Essen beklagt, und als Miguel jetzt sah, wie Henderson sich mit verzerrtem Gesicht zusammenkrümmte, musste er eingestehen, dass der Mann zumindest, was das Essen anging, vielleicht nicht ganz unrecht gehabt hatte.

»Alles okay, Boss?« Der Bodyguard ignorierte die drei Frauen, die immer noch darüber stritten, wo genau die Heimat der Löwen war.

»Mein Bauch bringt mich um«, sagte Henderson. »Das Fleisch von gestern Abend. Ich muss scheißen. Schon wieder.« Er schaute zu Miguel herauf, und der signalisierte ihm mit dem Daumen, er solle vom Pfad heruntergehen.

Miguel sah ihm nach, als er mit für seine Fülle sehr behänden Schritten zwischen den Bäumen verschwand, und wandte sich dann wieder nach vorn. Die Touristikfirma pflegte den Pfad so gut, dass es kein Problem war, mit den Fremden hier durchzukommen, solange nicht jemand wie Henderson dabei war, der dauernd haltmachen musste. Sie hatten mit dem Bulldozer einen Streifen durch den Wald planiert und die Wanderführer angewiesen, auf dem Pfad zu bleiben, damit niemand verlorengehen konnte. Wie bei allen anderen menschlichen Übergriffen gegen den Regenwald versuchte der Dschungel, den Pfad zurückzuerobern, und deshalb schickte die Firma die Maschine alle paar Wochen erneut los. Der Pfad war eine wesentliche Arbeitserleichterung für Miguel. Wenn er nach vorn schaute, konnte er fast hundert Meter weit genau sehen, wohin sie gingen. Außerdem entstand dadurch eine Lücke im Laubdach, und wenn er hochschaute, konnte er den blauen Himmel sehen. Da war weit und breit keine Wolke, und einen Moment lang wünschte Miguel, er könnte irgendwo am Strand sein, statt diese Amerikaner durch den Wald führen zu müssen.

Ein Vogel flog durch die Lücke im Laubdach. Miguel beobachtete ihn einen Augenblick lang und wollte sich gerade wieder nach seiner Gruppe umdrehen, um zu sehen, ob Henderson von seinem Toilettengang zurück war, als ihm auffiel, dass mit dem Vogel etwas nicht stimmte. Er schlug hektisch mit den Flügeln und bewegte sich ziellos. Er hatte irgendwie Mühe, in der Luft zu bleiben. Aber da war noch etwas. Der Führer wünschte, er hätte ein Fernglas, denn die Federn des Vogels sahen nicht aus, wie sie sollten. Sie schienen zu wimmeln, als ob da –

Der Vogel fiel vom Himmel. Er hörte auf zu flattern und fiel einfach herunter.

Miguel fröstelte es. Die Frauen schwatzten immer noch hinter ihm, aber im Wald waren keine Tiergeräusche zu hören. Sogar die Vögel schwiegen. Er lauschte aufmerksam, und dann hörte er doch etwas. Ein rhythmisches Stampfen. Raschelndes Laub. Gerade hatte er begriffen, was für ein Geräusch das war, als ein Mann um die Wegbiegung gerannt kam. Selbst über die Entfernung von hundert Metern sah man, dass da etwas nicht stimmte. Der Mann sah Miguel und schrie etwas, aber Miguel verstand kein Wort. Wild gestikulierend warf der Mann darauf einen Blick zurück über den Pfad, und dabei stolperte er und fiel schwer zu Boden.

Für Miguel sah es aus, als ob ein schwarzer Fluss über ihn hinwegströmte. Der Mann konnte sich nur noch auf die Knie aufrichten, bevor eine dunkle Masse über ihn hinweg- und um ihn herumrollte.

Miguel wich ein paar Schritte zurück, aber er stellte fest, dass er sich nicht abwenden konnte. Das Bild, das sich ihm bot, war geradezu bizarr. Der schwarze Fluss blieb bei dem Mann, wogte auf ihm hin und her und schwoll an. Eine klobige Bewegung ließ erkennen, dass der Mann darunter sich noch sträubte. Dann fiel der Klumpen in sich zusammen. Die schwarze Flut schwappte vorwärts und weiter den Pfad entlang. Für Miguel sah es aus, als sei der Mann einfach verschwunden.

Und dann strömte die schwarze Flut auf ihn zu. Sie bedeckte den ganzen Pfad und bewegte sich schnell voran, fast so schnell, wie ein Mann laufen konnte. Miguel wusste, er sollte wegrennen, aber die Stille dieser glänzenden Schwärze, die wie wogendes Öl aussah, wirkte hypnotisierend. Es rauschte nicht wie ein Fluss, im Gegenteil, die Masse schien jedes andere Geräusch aufzusaugen. Er hörte nur ein Wispern, ein Rieseln wie von einem Sprühregen. Wie dieser schwarze Fluss sich bewegte, war auf seine Art schön. Er teilte sich pulsierend an manchen Stellen in einzelne Rinnsale und floss ein paar Schritte weiter wieder zusammen. Als er näher kam, wich Miguel doch einen Schritt zurück, aber als er begriff, dass es in Wirklichkeit gar kein Fluss war und überhaupt nicht aus Wasser bestand, war es zu spät.

The Hatching

Minneapolis, Minnesota

Agent Mike Rich war es zuwider, wenn er seine Exfrau anrufen musste. Fuck, er hasste es, besonders wenn er wusste, dass ihr Ehemann – fuck, und er hasste die Tatsache, dass der jetzt ihr Ehemann war – ans Telefon kommen konnte, aber das war nicht zu ändern. Er würde sich verspäten, und wenn es etwas gab, womit er seine Exfrau noch wütender machte als mit seinen Verspätungen, dann damit, dass er wusste, er würde sich verspäten, und nicht anrief. Verdammt, wenn er in diesen beiden Punkten von Anfang an besser pariert hätte, wäre Fanny vielleicht immer noch seine Frau. Er starrte sein Telefon an.

»Bring’s einfach hinter dich, Mike.«

Sein Partner, Leshaun DeMilo, war selbst geschieden, aber er hatte keine Kinder vorzuweisen. Leshaun sagte immer, er habe einen sauberen Schnitt gemacht. Nicht, dass es ihm besonders viel Spaß zu machen schien, wieder solo zu sein. Er redete mit grimmiger Entschlossenheit davon, mit Frauen auszugehen, und Mike fand außerdem, dass er in letzter Zeit etwas zu intensiv in Bars verkehrte. Seit der Scheidung war er mehr als einmal ein bisschen lädiert wirkend zum Dienst erschienen.

»Weißt du, je länger du wartest, desto schlimmer wird’s«, sagte Leshaun.

»Fuck you, Leshaun«, erwiderte Mike, aber er schaltete das Telefon mit dem Daumen ein und wählte die Nummer seiner Exfrau. Natürlich meldete sich ihr Neuer.

»Ich vermute, Sie rufen an, um zu sagen, dass Sie sich wieder verspäten?«

»Sie haben mich durchschaut, Dawson.«

»Mir ist lieber, Sie nennen mich Rich, Mike. Das wissen Sie.«

»Ja, sorry. Bloß, wissen Sie, wenn ich Rich höre, denke ich an mich. Agent Rich. Und so weiter. Ich finde es komisch, Sie mit meinem Nachnamen anzureden. Wir wär’s mit Richard?«

»Solange Sie mich nicht Dick nennen – zumindest in meiner Anwesenheit –, kann ich damit leben.«

Das war noch ein Grund, weshalb Mike über den neuen Mann seiner Exfrau sauer war. Rich Dawson war ein Strafverteidiger – was als Grund eigentlich gereicht hätte, aber dazu kam, dass er irgendwie auch ein cooler Typ war. Wenn Dawson nicht damit reich geworden wäre, dass er genau die Arschgeigen, die Mike berufsmäßig zu verhaften hatte, wieder aus dem Knast holte, und wenn Dawson sein Rohr nicht bei seiner Exfrau verlegen würde, hätte Mike sich durchaus vorstellen können, gelegentlich ein Bier mit ihm zu trinken. Alles wäre einfacher gewesen, wenn Dawson einfach ein skrupelloser Drecksack gewesen wäre, denn dann hätte er einen Grund gehabt, ihn zu hassen, aber Mike musste sich damit abfinden, dass er niemanden hatte, auf den er sauer sein konnte, außer sich selbst. Daher konnte er letztendlich nicht entscheiden, ob er die Sache positiv sehen sollte, weil Dawson so fabelhaft mit Annie umging, oder ob das den neuen Gatten seiner Exfrau nur noch schlimmer machte. Natürlich brachte es ihn um, dass seine Tochter sich so schnell von Dawson hatte einnehmen lassen, aber für sie war es gut gewesen. Nachdem er und Fanny sich getrennt hatten und bis Fanny sich mit Dawson eingelassen hatte, war ungefähr ein Jahr vergangen, und in dieser Zeit war sie sehr still gewesen. Nicht traurig – zumindest hatte sie das nicht zugegeben –, aber sie hatte nicht viel gesprochen. Aber in den anderthalb Jahren, seit Dawson bei seiner Ex ein Thema war, hatte Annie sich wieder berappelt.

»Lassen Sie mich einfach mit Fanny sprechen, okay?«

»Gern.«

Mike rutschte auf dem Sitz hin und her. Er beklagte sich nie darüber, dass er stundenlang im Wagen sitzen musste, über den abgestandenen Kaffee, den stickigen, fauligen Gestank von Schweiß und Socken, der den Wagen erfüllte, wenn sie in der Sonne schmoren mussten. Es war um die dreißig Grad, ungewöhnlich warm für Minneapolis im April. Er konnte sich an Jahre erinnern, in denen am 23. April noch Schnee gelegen hatte. Außer im Hochsommer waren dreißig Grad für Minneapolis heiß. Er und Leshaun ließen den Motor für gewöhnlich laufen und die Klimaanlage auf vollen Touren arbeiten – oder im Winter entsprechend die Heizung –, aber Mikes Tochter war auf der Grundschule in eine von diesen kleinen Umweltschutz-Kreuzzüglerinnen verwandelt worden, und sie hatte sich von ihm und Leshaun versprechen lassen, dass sie den Motor nicht mehr laufen ließen, wenn sie während einer Observation nur herumstanden. Wenn er allein gewesen wäre, hätte Mike wahrscheinlich kapituliert und die Klimaanlage eingeschaltet, aber Leshaun ließ es nicht zu.

»Ein Versprechen ist ein Versprechen, Alter, besonders wenn du es deinem Kind gegeben hast«, hatte Leshaun erklärt, und dann hatte er sogar wiederverwendbare Kaffeebecher aus Metall gekauft, die sie im Wagen aufbewahrten. Zumindest war er nicht so weit gegangen, Mike zu zwingen, die Pissflasche auszuspülen und mehrmals zu benutzen, wenn sie im Einsatz waren und kein McDonald’s oder Starbucks in der Nähe war, wo sie rasch auf die Toilette gehen konnten.

Tatsächlich hatten sie nicht mehr allzu viele Beobachtungseinsätze, aber irgendwie vermisste Mike Tage wie heute, an denen sie noch stattfanden. Das gehörte schließlich zum Job, und es hatte etwas Romantisches, so dazusitzen und zu warten. Und zu warten. Und zu warten. Aber heute brachte sein Rücken ihn um. Sie saßen schon seit neun Stunden im Auto, und den Tag zuvor hatte er mit Annie im YMCA mit Schwimmen verbracht, und er hatte sie in die Luft geworfen und war hinter ihr hergehetzt. Mit neun war Annie schon ein ziemlicher Brocken, aber was sollte er machen? Im Schwimmbad nicht mehr mir ihr herumtollen?

Er bog das Kreuz durch und streckte sich ein bisschen, um bequemer zu sitzen. Leshaun hielt ein Röhrchen Advil hoch, aber Mike schüttelte den Kopf. Sein Magen plagte ihn nämlich auch. Kaffee und Doughnuts und fettige Burger und Fritten und dieser ganze Mist machten es ihm jeden Tag schwerer und schwerer, in Form zu bleiben und die Meilen zu laufen und die Liegestütze zu schaffen, die er brauchte, um die Gesundheitsprüfung zu bestehen. Und jetzt zwei Schmerztabletten einzufahren, um seine Rückenbeschwerden zu lindern, war sicher keine gute Idee. Fuck, dachte Mike. Er war doch erst dreiundvierzig. Zu jung, um schon alt zu werden.

»Um wie viel zu spät, Mike?« Fanny war schon auf hundertachtzig, als sie ans Telefon kam.

Mike schloss die Augen und bemühte sich um einen reinigenden Atemzug. So nannte seine Therapeutin es. Einen reinigenden Atemzug. Als er die Augen öffnete, starrte Leshaun ihn an und zog eine Braue hoch. »Entschuldige dich«, formten seine Lippen.

»Es tut mir leid, Fanny. Es tut mir wirklich leid. Wir sind bei einer Observation, und die Ablösung verspätet sich. Es geht nur um eine halbe Stunde. Fünfundvierzig Minuten, höchstens.«

»Du solltest sie zum Fußball fahren, Mike. Jetzt muss ich das tun.«

Mike tat noch einen reinigenden Atemzug. »Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll, Fanny. Es tut mir wirklich leid. Wir treffen uns am Platz.«

Er wollte gern dort sein. Es hatte etwas mit dem Duft des gemähten Rasens zu tun, und er sah gern zu, wenn sein kleines Mädchen hinter einem Ball herrannte. Die wacklige Holztribüne erinnerte ihn an seine eigene Kindheit und daran, wie es war, bei einem Baseball- oder Footballspiel zur Seitenlinie zu blicken und seinen eigenen Dad dort sitzen und mit ernster Miene zuschauen zu sehen. Wenn er sah, wie Annie mit anderen Kindern herumalberte und wie sie mit konzentriert gerunzelter Stirn versuchte, einen neuen Schritt oder irgendeinen anderen Trick zu lernen, dann war das einer der besten Augenblicke der Woche für ihn. Er dachte dann eigentlich nie an seinen Job oder seine Exfrau oder sonst etwas. Es war eine andere Welt da draußen auf dem Fußballplatz. Das Geschrei der Kids und die Pfiffe der Trainer – das alles wirkte wie eine Reset-Taste. Die meisten anderen Eltern plauderten miteinander, sie lasen Bücher, versuchten, etwas zu arbeiten oder telefonierten mit ihren Handys, aber Mike schaute nur zu. Das war’s. Er sah zu, wie Annie rannte und kickte und lachte, und in dieser Stunde Fußballtraining gab es für ihn nichts anderes auf der Welt.

»Natürlich kann ich sie hinfahren, aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass du einen immer enttäuschst. Ich meine, ich kann dich verlassen. Ich kann die Scheidung einreichen. Aber sie hat dich am Hals, Mike. Sosehr sie Rich liebt, du bist ihr Vater.«

Mike warf einen Blick zu Leshaun hinüber, aber sein Partner hörte demonstrativ nicht zu. Leshaun tat, was er tun sollte: Er starrte in die Gasse zwischen den beiden Gebäuden. Die Chance, dass Two-Two O’Leary, der Pisser, auf den sie warteten, aufkreuzen würde, war nicht sehr groß, aber in Anbetracht dessen, dass er selbst genauso viel Meth verbrauchte, wie er verdealte, und eine Woche zuvor bei einer schiefgegangenen Razzia einen Agenten verwundet hatte, war es wahrscheinlich keine ganz schlechte Idee, dass wenigstens einer von ihnen die Augen offen hielt.

»Ich kann mich nur immer wieder entschuldigen.« Er warf noch einmal einen Blick zu Leshaun hinüber und entschied, dass es ihm egal war, ob Leshaun zuhörte oder nicht. Es war ja nicht so, dass sie über seine Beziehung zu Fanny – oder über Leshauns Beziehung zu seiner Ex – noch nicht geredet hätten, und zwar mehr, als er jemals mit einer Therapeutin oder übrigens auch mit Fanny darüber geredet hatte. Wenn er mit Fanny so ausführlich wie mit Leshaun über alles gesprochen hätte, wäre vielleicht heute noch alles okay. »Du weißt, es tut mir leid. Alles. Alles tut mir leid. Nicht nur, dass ich mich verspäte.« Er wartete darauf, dass Fanny etwas sagte, aber sie schwieg. Er redete weiter. »Ich habe mit meiner Therapeutin darüber gesprochen, und ich weiß, ich sage es ziemlich spät. Ich meine, vielleicht komme ich mit allem zu spät, aber ich will wenigstens eingestehen, dass ich schon lange hätte sagen sollen, es tut mir leid. Es war nicht meine Absicht, alles auseinanderbrechen zu lassen, und auch wenn ich im Grunde nicht glücklich darüber bin, macht es mich doch glücklich, dass du glücklich bist. Weißt du, Dawson – Rich – scheint dich ja glücklich zu machen, und ich weiß, dass Annie ihn liebt. Jedenfalls tut es mir leid. Ich tue mein Bestes, um ein anderer Mensch zu werden, ein besserer Mann, aber ein Teil von mir wird immer einfach so sein, wie ich bin. Und das gilt auch für meinen Job.«

»Mike.« Fannys Stimme klang matt, und Mike rutschte noch einmal hin und her. Er wusste nicht, ob sein beschissenes Telefon sich verabschiedete oder ob sie leiser sprach. »Mike«, wiederholte sie. »Es gibt etwas, worüber ich mit dir sprechen wollte.«

»Was denn? Willst du dich noch mal von mir scheiden lassen?«

Leshaun reckte den Hals und lehnte sich ein kleines Stück weit aus dem offenen Fenster. Mike richtete sich auf. Ein Wagen fuhr in die Gasse. Ein Honda. Eher kein Auto nach Two-Twos Geschmack, aber es war das erste Mal seit langem, dass sich hier etwas bewegte. Der Kofferraum war noch sichtbar, als der Wagen anhielt, und dann stieg ein schwarzer Teenager, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, auf der Beifahrerseite aus. Mike entspannte sich, und Leshaun ließ sich zurücksinken. Two-Two handelte mit Waffen und Meth, aber er war auch ziemlich dick befreundet mit den Rassisten von Aryan Nations, und deshalb war es kaum wahrscheinlich, dass er mit einem schwarzen Jungen unterwegs war.

»Ich möchte Annies Namen ändern lassen«, sagte Fanny.

»Was?«

»Ich möchte, dass sie denselben Nachnamen trägt wie ich, Mike.«

»Moment mal.« Mike legte das Telefon auf seinem Knie ab und rieb sich mit den freien Händen das Gesicht. Er wünschte, er würde noch rauchen, auch wenn Leshaun ihm nicht erlaubt hätte, sich im Wagen eine Zigarette anzuzünden. Der Wagen. Es war so eng und heiß in dem verdammten Wagen. Mit der kugelsicheren Weste über dem T-Shirt schwitzte er. Konnten sie den Motor nicht wenigstens ein paar Minuten laufen lassen und die verdammte Klimaanlage einschalten? Er musste für einen Moment aussteigen, aufrecht draußen stehen, an der frischen Luft. Er öffnete die Tür. Er brauchte einen Schwall kalte Luft, wie sie ihn in der Kaugummiwerbung bekamen. Aber draußen war es auch nicht kühler.

»Mike?« Leshaun sah ihn an. »Was hast du vor?«

»Nichts, Mann. Ich gehe nirgendwohin. Ich will nur draußen stehen, okay? Ich will nur einen Moment lang draußen weitertelefonieren. Hast du was dagegen?« Er merkte, dass seine Stimme laut und hart geworden war, und ihm war klar, dass er sich nach dem Gespräch mit Fanny bei Leshaun würde entschuldigen müssen.

Leshaun war ein guter Partner und ein guter Freund, und er würde Verständnis haben, aber trotzdem kam Mike sich vor wie ein Arschloch. Wie ein noch größeres Arschloch. Leshaun nickte nur, und Mike stieg aus. Er schloss die Tür hinter sich, obwohl es bei offenen Fenstern darauf nicht ankam.

Er hob das Telefon wieder ans Ohr. »Wovon redest du da, Fanny?«

»Komm schon, Mike. Das hast du doch kommen sehen. Hast du es nicht kommen sehen?«

»Nein, Fanny, ich hab es nicht kommen sehen.«

»Ach, Mike. Du siehst nie etwas kommen.«

Er hörte, wie das Telefon über Fannys Wange strich und wie sie leise murmelnd etwas zu Dawson sagte. Er drückte sein Handy fest ans Ohr. »Du wirst Annies Namen nicht ändern. Fuck, sie ist meine Tochter, und sie heißt Annie Rich, nicht Annie Dawson, verdammt.«

»Mike«, sagte sie, »Annie ist auch meine Tochter. Und es ist bizarr, wenn sie anders heißt als ich.«

»Du hättest deinen Namen nicht in Dawson ändern müssen«, sagte Mike. Noch während er es sagte, wusste er, dass es die falsche Entgegnung war, aber er konnte nicht anders.

Fanny seufzte. »Wir können später darüber reden, aber es wird passieren. Tut mir leid, Mike, wirklich, aber die Dinge haben sich geändert.«

»Ich versuche ja auch, mich zu ändern.«

»Das weiß ich zu schätzen. Wirklich«, sagte sie, und dann schwiegen sie beide ein paar Sekunden lang. Mike hörte sie atmen, und dann sagte sie schließlich: »Möchtest du mit Annie sprechen?«

»Bitte.« Er gab sich geschlagen.

Er lehnte am Wagen und schaute in die Gasse, rutschte an der Tür entlang, ließ die Schulter kreisen und zog sein T-Shirt unter der Weste gerade. Es war schweißnass. Aber besser unbehaglich als tot, dachte er. Der Agent, auf den Two-Two in Eau Claire geschossen hatte, wäre wahrscheinlich gestorben, wenn er keine Panzerweste getragen hätte: Drei Schuss waren in der Weste steckengeblieben, und eine Kugel war glatt durch seinen Bizeps gefahren. Aber von Eau Claire zurück nach Minnesota waren es hundert Meilen, und verdammt, niemand nahm an, dass Two-Two – selbst zugedröhnt bis in die Haarspitzen von seinem Nazi-Meth – nach dem Debakel in Wisconsin in seine Bar zurückkehren würde. Mike fummelte an den Gurten, um die Weste zu lockern. Normalerweise trug er ein Hemd darüber, aber er fand, wenn sie sowieso nur den ganzen Tag im Auto herumsaßen, hatte es wenig Sinn, sie zu verbergen. Und er trug ja auch seine Dienstmarke an der Kette um den Hals. Er hatte es gern, wenn er sie tragen konnte, und es gefiel ihm, dass die Leute ihn anders anschauten, wenn er sich als Special Agent Rich vorstellte. Aber als er jetzt die Kette befingerte, dachte er, mitunter sollte er sie vielleicht auch öfter abnehmen.

»Hey, Daddy.«

»Hey, Süße. Wir werden uns am Fußballplatz treffen müssen, okay?«

»Okay.«

»Wie war’s in der Schule?«

»Gut.«

»Irgendwas Aufregendes passiert?«

»Eigentlich nicht.«

So war es immer, wenn sie miteinander telefonierten. Wenn sie zusammen waren, konnte er ihren Redefluss nicht bremsen, aber die Unsichtbarkeit des Gegenübers am Telefon bewirkte, dass sie selten mehr als zwei Worte auf einmal sagte. Es war, als glaubte sie, da sei eine Art böser Zauber am Werk, der ihre Seele stehlen würde, wenn sie dem Telefon zu viele Informationen anvertraute. Bei dieser Vorstellung musste Mike lächeln. Es klang wie aus einem Buch von Stephen King.

Er wollte sie fragen, was sie zu Mittag gegessen habe, als er den Wagen sah. Es war ein roter Ford-Truck mit dicken Reifen und getönten Fenstern, und er bog in die Gasse ein. »Süße, ich muss Schluss machen.«

»Okay. Ich hab dich lieb, Daddy.«

»Ich hab dich auch lieb, Baby.« Er spürte, wie sich sein Magen umdrehte, und er hob die freie Hand und befingerte wieder die Dienstmarke an seinem Hals. »Ich hab dich sehr, sehr lieb. Vergiss das nicht, okay? Egal, was passiert, du darfst es nie vergessen.«

Der Truck hielt an. Mike schob das Telefon in die Tasche. Er registrierte, wie der Wagen wippte, als Leshaun die Tür öffnete und ausstieg. Mikes Hand wanderte von der Dienstmarke hinunter zur Hüfte, und seine Finger schlossen sich um den Griff seiner Pistole. Das Metall fühlte sich kühl an. Er warf noch einen Blick zurück zu Leshaun. Sein Partner stand jetzt aufrecht. Zu spät begriff Mike, dass Two-Two ihn schon neben dem Wagen hatte stehen sehen. Er hatte die kugelsichere Weste gesehen und die Dienstmarke an der Kette an seinem Hals. Mike hätte nicht neben dem Wagen stehen und telefonieren dürfen. Er hätte sich nicht nach Leshaun umdrehen dürfen. Mike hätte mit seinem Partner im Wagen sitzen und aufpassen müssen. Er hätte so manches müssen.

Two-Twos Beifahrer, ein Vollidiot im Unterhemd und mit rasierter Glatze, der aussah, als wäre er nicht mal zwanzig, kam aus der Gasse und feuerte mit einer Pistole los. Mike war nicht sicher, ob er den Knall der Kanone gehört hatte, aber er hörte das plink, als eine Kugel die Wagentür traf, und er hörte das Glas prasseln, als die Windschutzscheibe zersprang. Er hörte ein Grunzen und dann das dumpfe Geräusch, als Leshaun zu Boden ging. Und das alles, bevor Two-Two ausgestiegen war.

Mikes Kopf war plötzlich leer, und er sah, wie der Mann auf der Beifahrerseite des Trucks das Magazin aus der Waffe fallen ließ, in die Tasche seiner Baggy Pants griff und ein volles Magazin herauszog. Unterdessen ging Two-Twos Wagentür auf, und Mike sah, dass er ebenfalls eine Pistole hatte. Zwei Männer, zwei Kanonen, und Leshaun getroffen, auch wenn Mike noch nicht wusste, wie schlimm. Und dabei hatte er seine eigene Waffe noch nicht mal gezogen. Er wusste, er sollte irgendetwas tun, aber er stand einfach nur da. Wusste nicht wie, wusste nicht was.

Und dann wusste er es.

Es ging ganz schnell.

Den Jungen an der Beifahrerseite schaltete er zuerst aus. Drei Schüsse, dicht nebeneinander in die Brust. Two-Two und sein Kumpel trugen keine Westen. Er hatte gehört, dass einige Agenten, die man als »Waffennarren« bezeichnen konnte, über die Mannstopp-Wirkung der Dienstwaffe Glock 22 gemeckert hatten, aber danach zu urteilen, dass der Bengel zusammensackte wie ein Beutel Chickenwings, waren die .40er Patronen völlig okay. Er hatte noch nie jemanden wirklich angeschossen und seine Waffe während seiner gesamten Dienstzeit überhaupt nur einmal abgefeuert – ein Schuss, einmal, als er gerade ein Jahr dabei war, und da hatte er nicht getroffen –, und er war überrascht gewesen, wie mühelos und normal es ihm vorgekommen war. Jetzt trafen alle drei Kugeln ihr Ziel, und als der Bengel aus den Schuhen kippte, wirbelte Mike herum und zielte auf Two-Two.

Two-Two hatte jedoch die gleiche Idee und zielte zurück.

Mike wusste nicht, wer zuerst schoss oder ob sie gleichzeitig schossen, denn er spürte den Rückstoß der Waffe in seiner Hand gleichzeitig mit einem Reißen an seinem Ärmel. Aber er wusste genau, wer besser gezielt hatte. Two-Twos Kopf flog in einem Nebel von Blut nach hinten. Als Mike auf seinen Arm schaute, sah er ein Loch im Ärmel des T-Shirts, aber nichts an seinem Fleisch.

Der Junge auf der Beifahrerseite rührte sich nicht, und Two-Two auch nicht. Mike schob die Pistole in das Holster und lief um den Wagen herum, um nach Leshaun zu sehen. In Leshauns Hemd waren zwei Löcher. Das eine bildete eine blutige Sauerei am Oberarm, das andere saß in der Brust, sauber und klar: Die Weste hatte ihre Arbeit getan. Leshauns Augen waren offen, und Mike war noch nie so froh gewesen, dass dieser große schwarze Motherfucker ihn anschaute. Aber als er jetzt Unterstützung herbeirief, wurde ihm klar, dass er auch seine Exfrau noch einmal anrufen musste.

Jetzt würde er sich wirklich verspäten.

Staatliches Informationszentrum für erdbebensicheres Bauen, Kanpur, Indien

Egal, was sie tat, es kamen immer komische Zahlen zurück. Dr. Basu hatte ihren Computer zweimal neu gestartet, und sie hatte sogar Nadal in Neu Delhi angerufen und ihn die Sensoren im Keller seines Gebäudes manuell überprüfen lassen, aber sie bekam immer wieder die gleichen Resultate: Etwas erschütterte Neu-Delhi mit einer verwirrenden Gleichmäßigkeit. Was immer es war, dachte Dr. Basu, ein Erdbeben war es nicht. Zumindest benahm es sich nicht wie ein Erdbeben.

»Faiz«, rief sie, »können Sie das bitte für mich überprüfen?«

Faiz hatte es nicht besonders eilig mit seiner Reaktion. Er war im vergangenen Monat zu einer Tagung nach Deutschland geflogen und hatte anscheinend den größten Teil seiner Zeit in Düsseldorf im Hotelzimmer einer italienischen Seismologin verbracht. Seit er wieder hier war, konzentrierte ihr Kollege sich darauf, mit seiner neuen Freundin per E-Mail schmutzige Bilder auszutauschen und einen Job in Italien zu suchen.

Dr. Basu seufzte. Sie war dieses Benehmen von Faiz nicht gewohnt. Er war lustig und charmant, aber auch schlampig und ungezogen, in vieler Hinsicht ein grässlicher Mann. Er hatte ihr ein paar der Fotos gezeigt, die ihm die Italienerin schickte, Fotos, die ganz sicher nicht dazu gedacht waren, herumgezeigt zu werden, dachte Dr. Basu – aber er war auch gut in seinem Beruf.

»Faiz«, sagte sie, »da ist etwas im Gange.«

Er hämmerte schwungvoll auf seiner Tastatur herum, stieß sich dann mit den Absätzen ab und rollte mit seinem Drehstuhl quer über den Betonboden. »Jawohl, Boss.« Er wusste, sie konnte es nicht ausstehen, wenn er sie so nannte. Er schaute auf ihren Bildschirm und zog die Linien darauf mit dem Finger nach. Auch das konnte sie nicht ausstehen. »Yeah«, sagte er. »Sieht komisch aus. Zu gleichmäßig. Versuchen Sie mal einen Neustart.«

»Hab ich schon«, sagte Dr. Basu. »Die Daten stimmen. Aber sie ergeben keinen Sinn.«

Faiz nahm ein Toffee aus der Schale mit Süßigkeiten, die sie neben ihrem Computer stehen hatte, und fing an, das Zellophan abzuwickeln. »Ines sagt, sie könnte vielleicht in der letzten Maiwoche zu Besuch kommen. Für die Woche brauchte ich dann Urlaub, okay, Boss?«

»Faiz«, ermahnte sie, »konzentrieren Sie sich.«

»Es ist schwer, mich zu konzentrieren, wenn ich weiß, dass Ines nächsten Monat hier sein könnte. Da werden wir meine Wohnung überhaupt nicht verlassen. Sie ist Italienerin, und das bedeutet, sie ist besonders sinnlich, wissen Sie?«

»Ja, Faiz, das weiß ich. Und warum weiß ich es? Weil Sie mir andauernd erzählen, wie ›sinnlich‹ sie im Einzelnen ist. Sind Sie je auf den Gedanken gekommen, dass ich meine Zeit lieber damit verbringe, mich auf die Daten zu konzentrieren statt auf Ihre Freundin und darauf, wie sie gern …?«

»Sie war noch nie in Indien«, unterbrach Faiz. »Aber wir werden nichts Touristisches unternehmen. Eine Woche im Schlafzimmer, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Es ist unmöglich, nicht zu wissen, was Sie meinen, Faiz. Sie sind ein Mann, der dem Wort ›Zurückhaltung‹ noch nie begegnet ist, und wenn Sie nicht ein so wunderbarer und verständnisvoller Mensch wären, würde ich Sie rausschmeißen und möglicherweise ins Gefängnis sperren lassen. Jetzt konzentrieren Sie sich bitte.«

Er wandte sich wieder den Zahlen zu. »Es ist tief und kräftig, aber was immer es ist, ein Erdbeben ist es nicht. Zu gleichmäßig.«

»Ich weiß, dass es kein Erdbeben ist«, sagte Dr. Basu. Sie bemühte sich, nicht aus der Haut zu fahren. Sie wusste, da war etwas, das sie übersah, und auch wenn Faiz sich hier benahm wie ein liebeskranker Idiot, war er doch wirklich ein bemerkenswerter Wissenschaftler. »Konzentrieren wir uns auf das, was ist, nicht auf das, was nicht ist.«

»Was immer es ist, es wird stärker«, sagte Faiz.

»Was?« Dr. Basu schaute auf den Monitor, aber sie sah nichts Auffälliges. Das Rumoren war leise. Es hätte ihr eigentlich keine Sorgen gemacht, wenn es nur einmal vorgekommen wäre. Erst die Regelmäßigkeit, das Muster, gab ihr das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte.

»Hier.« Faiz berührte den Monitor und hinterließ einen Schmierfleck. »Und hier. Und hier. Sehen Sie, da ist ein Rhythmus, aber jeder zehnte ist ein bisschen größer.«

Dr. Basu scrollte zum Anfang des Musters und zählte. Stirnrunzelnd notierte sie ein paar Zahlen und nagte dann an ihrem Stift. Das war eine Angewohnheit, die sie im Graduiertenstudium entwickelt hatte. Obwohl ihr schon mehrere Bleistifte im Mund abgebrochen waren, konnte sie es nicht lassen. »Sie bleiben größer.«

»Nein, es ist nur beim zehnten Rumpeln, dass es zunimmt.«

»Nein, Faiz, schauen Sie doch.« Dr. Basu reichte ihm ihren Notizblock und zeigte dann auf den Computermonitor. »Sehen Sie?«

Faiz schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Deshalb habe ich hier was zu sagen, und Sie müssen Kaffee holen.«

Faiz’ leises Lachen war wohltuend.

Sie klickte mit der Maus auf die Punkte und isolierte sie, und dann zog sie eine Linie, um die Veränderungen graphisch darzustellen. »Hier. Jedes zehnte Ereignis nimmt zu, und auch wenn die folgenden neun den Grad der Zunahme nicht wieder erreichen, sind sie doch ein bisschen stärker als der vorige Satz – wiederum bis zum zehnten Ereignis.«

Faiz lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Stimmt. Das hab ich übersehen. Aber wenn das so weiterwächst, werden wir Klagen aus Neu Delhi zu hören bekommen. Noch ist vermutlich nichts zu spüren, aber früher oder später ruft uns jemand an und will wissen, was los ist.« Faiz schob seine Brille über die Stirn hinauf. Er fand, dass er damit intelligent aussah. Aus dem gleichen Grund strich er sich über den Bart, während er nachdenklich brummte: »Hmmm, jedes Zehnte.«

Dr. Basu nahm den Bleistift aus dem Mund. »Aber was hat es zu bedeuten?« Sie klopfte mit dem Stift auf den Schreibtisch und rollte ihn dann von sich weg. »Bohrungsarbeiten?«

»Nein. Falsches Muster.«

»Ich weiß, aber manchmal ist es einfach gut, mir bestätigen zu lassen, dass ich so clever bin, wie ich glaube.«

Faiz nahm den Bleistift und fing an, ihn auf dem Tisch kreiseln zu lassen. Eine Drehung. Zwei Drehungen. Drei Drehungen. Bei der vierten vermasselte er es und musste unter seinem Stuhl nach dem Stift angeln. Seine Stimme kam ein bisschen gedämpft herauf. »Vielleicht das Militär?«

»Vielleicht«, sagte Dr. Basu, aber beiden war klar, dass sie es eigentlich auch nicht glaubte. »Noch irgendwelche Ideen?«, fragte sie Faiz, denn sie selbst hatte keine.

American University, Washington, D.C.

»Spinnen«, sagte Professor Melanie Guyer und klatschte in die Hände. Sie hoffte, das Geräusch würde bis in die oberen Ränge des Hörsaals tragen, wo zumindest ein Student offenbar schlief. »Kommt, Leute. Die Antwort in diesem Seminar lautet immer ›Spinnen‹. Und jawohl, sie häuten sich tatsächlich.« Sie deutete auf die junge Frau, die die ursprüngliche Frage gestellt hatte. »Und nein, sie haben eigentlich nicht viel Ähnlichkeiten mit Zikaden. Zum einen halten Spinnen keinen Winterschlaf. Na ja, Zikaden tun es eigentlich auch nicht richtig.«

Melanie schaute aus dem Fenster. Sie würde vor dem Seminar nicht zugeben, dass ihr vor Zikaden gruselte. Das ging nicht. Einmal hatte sich eine Fledermaus in ihren Haaren verfangen, als sie in einer Höhle in Tansania nach einem seltenen Käfer jagte, und in Ghana war sie mal aus Versehen in ein Nest von Buschvipern getreten. In Südostasien war sie von einer Tarantulafalken-Wespe gestochen worden, und das hatte sie für den schmerzhaftesten Stich gehalten, bis sie in Costa Rica von einer Tropischen Riesenameise gebissen wurde: Das hatte sich angefühlt, als schieße man ihr mit einer Nagelpistole in den Ellenbogen und tauche den Arm dann in Säure. Aber eigentlich graute ihr vor all dem nicht so sehr wie vor Zikaden. Das klickende Geräusch von ihren Trommelorganen, die roten Augen bei manchen, und wie sie schwärmten und von den Bäumen fielen und den Gehweg übersäten. Und dann dieses Knirschen. O Gott. Dieses Knirschen. Die Lebendigen unter den Schuhsohlen, die abgestreiften Exoskelette. Und noch schlimmer waren diese Unmengen. Raubtierübersättigung war ein brillantes Konzept unter dem Aspekt der Arterhaltung: Die Zikaden mussten sich nur so massenhaft vermehren, dass alles, was sich von ihnen ernährte, irgendwann satt war. Die Überlebenden machten dann einfach weiter. Nach ein paar Wochen starben sie dann ab, und was blieb, war ein Hülsenfriedhof, der ebenfalls total unheimlich war. Der Himmel sei gepriesen, dass sie noch zehn Jahre Zeit hatten, bis der nächste große Zikadenschwarm über Washington herabkäme. Sie würde beizeiten einen Urlaub planen müssen. Eine Biologin, die auf die Verwendung von Spinnengiften zu medizinischen Zwecken spezialisiert war, konnte kaum zugeben, dass sie große Angst vor Zikaden hatte und nicht aus dem Haus gehen konnte, wenn sie schwärmten.

»Aber wir reden hier nicht über Zikaden«, sagte Melanie, als sie merkte, dass sie abschweifte. »Wir reden hier über Spinnen. Obwohl Spinnen den Menschen offenbar eine Heidenangst einjagen, gibt es dafür eigentlich so gut wie keinen Grund. Zumindest hier nicht. In Australien sieht die Sache anders aus. In Australien ist alles gefährlich, nicht nur die Krokodile.« Dafür bekam sie ein gedämpftes Lachen von den Studenten. In Melanies Auge galt ein gedämpftes Lachen am Ende einer zweistündigen Vormittagsvorlesung knapp zwei Wochen vor Semesterende als Sieg.

Sie schaute auf die Uhr. »Okay, für Mittwoch dann die Seiten zweihundertzwölf bis zweihundertfünfundvierzig. Nehmen Sie bitte wiederum zur Kenntnis, dass dies eine Abweichung vom Lehrplan ist. Und damit entlasse ich Sie mit einem …« Melanie hob die Arme und dirigierte, als die Studenten im Chor mit ihr den Abschiedsgruß anstimmten: »Lasst euch nicht von Wanzen beißen.«

Sie sah zu, wie sie alle aus dem Hörsaal schlurften. Ein paar sahen ein bisschen benommen aus, und Melanie wusste nicht, ob es an der frühen Anfangszeit lag oder daran, dass sie selbst wieder monoton geleiert hatte. Sie war eine Forscherin von Weltklasse, auf ihrem Gebiet vielleicht eine der besten, aber obwohl sie sich Mühe gab, war das Vortragen nicht ihre Stärke. Sie hatte versucht, ihren Unterricht dynamischer zu gestalten und hier und da einen Witz wie den über Australien einzustreuen, aber in einer Vorlesung für Studenten im dritten Studienjahr waren ihre Möglichkeiten begrenzt. Die meiste Zeit verzog sie sich daher in ihr Labor und arbeitete mit Postgraduierten, aber ein Teil ihrer Vereinbarung mit der American University bestand darin, dass sie alle zwei Jahre auch eine Vorlesung für Examensstudenten anbot. Sie riss sich nur ungern von der Forschungsarbeit los, aber wenn der Preis für ein komplettes Labor mit Forschungsassistenten und einem Team von drittmittelfinanzierten Promotionsstudenten unter ihrer Leitung darin bestand, dass sie alle zwei Jahre einem Kurs von neunzehn- und zwanzigjährigen Studenten erzählte, die in einem Bananencontainer versteckten Spinnen seien nur selten gefährlich, konnte sie damit leben.

Sie schaute auf ihr Tablet, das die Bilder auf der Hörsaalwand spiegelte. Sie hatte eine Schwäche für Heteropoda venatoria, die Riesenkrabbenspinne. Das lag zum Teil daran, dass ihr der erste große Durchbruch in der Forschung – der sie zu dem gemacht hatte, was auf ihrem Gebiet als berühmt gelten konnte, und ihr diese Stelle sowie die nachfolgenden Stipendien und Forschungsmittel verschafft hatte – mit einer Arbeit über Heteropoda venatoria gelungen war. Aber wenn sie ehrlich war, gab es noch einen Grund: Als sie im ersten Jahr auf dem College zum ersten Mal einer Krabbenspinne begegnet war, hatte ihr Professor mit seinem starken Akzent die Spinne beschrieben und gesagt, sie habe einen »Schnauze-Bart«. Es gefiel ihr, dass es auf der Welt Spinnen mit Schnauzbart gab. Im Graduiertenstudium hatte sie sich zu Halloween als Heteropoda venatoria verkleidet, und das war bei ihren Freunden, die ebenfalls an ihren Dissertationen arbeiteten, gut angekommen. Aber niemand sonst hatte den Witz verstanden. Die meisten dachten, sie wollte als Tarantel oder so etwas gehen, und konnten deshalb mit dem Schnurrbart nichts anfangen. Auf einer Halloweenparty vor zwei Jahren hatte sie dann ihr letztes Spinnenkostüm getragen, nachdem sie zufällig gehört hatte, wie jemand sie als »Schwarze Witwe« bezeichnete. Der Scherz, wenn es ein Scherz sein sollte, hatte einen wunden Punkt getroffen, denn tatsächlich war sie es gewesen, die für Manny, ihren Mann – ihren Exmann –, nie da gewesen war. Nicht wegen seines Jobs, sondern weil sie so viel Zeit im Labor verbracht hatte, war ihre Ehe gescheitert.

Sie schaltete den Beamer ab, schob das Tablet in ihre Handtasche und ging zum Ausgang. Als sie den Hörsaal verließ, beschloss sie, sich auf dem Weg ins Labor noch einen Salat zu holen, irgendetwas, das frischer war als die Sandwiches, die sie im Kellergeschoss ihres Gebäudes aus dem Automaten ziehen konnte. Da schmeckte man die Konservierungsstoffe bei jedem Bissen. Aber eigentlich, dachte Melanie, war es wahrscheinlich gut, dass die Sandwiches mit Konservierungsstoffen vollgestopft waren, denn sie war nicht sicher, ob sie von jemandem außer ihr gegessen wurden. Sie mussten sich im Automaten eine Weile halten. Selbst ihre zähesten Postgraduierten brachten sich ihr Essen entweder von zu Hause mit oder nahmen die zusätzlichen fünf Minuten auf sich, um den Campus zu überqueren und sich etwas zu kaufen, das man nicht mit einer Handvoll Vierteldollarmünzen bezahlen musste. Apropos zähe Postgraduierte … Sie blieb stehen, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

Die drei standen vor dem Seminarraum und warteten auf sie.

»Professor Guyer?«

Melanie zog die Brauen hoch und versuchte anzudeuten, dass sie ein bisschen verärgert über Bark war. In Wirklichkeit hatte er einen komplizierten ukrainischen Namen, und deshalb nannten alle, auch Melanie, ihn nur Bark. Trotz seiner unübersehbaren Brillanz trieb er Melanie in den Wahnsinn. Es war ein seltsames Talent, das die anderen Doktoranden offenbar nicht besaßen. Fast, als verbringe er seine gesamte Freizeit damit, sich auszudenken, wie er sie ärgern könnte. Zum Beispiel dieses »Professor Guyer?«. Dass er sie Professor Guyer nannte, während alle anderen im Labor sie mit »Melanie« anredeten, war schon ein Grund für sie, ihn ohrfeigen zu wollen. Sie hatte ihn gebeten, ihn aufgefordert, ihm befohlen, sie Melanie zu nennen, aber er sagte nicht nur weiterhin »Professor Guyer« zu ihr, sondern er tat es auch so, dass es immer klang wie eine Frage, er hob am Ende die Stimme, als wäre er nicht ganz sicher, dass sie wirklich so hieß, als wäre sie vielleicht doch jemand anders als Melanie, obwohl er jetzt seit drei Jahren in ihrem Labor arbeitete.

Dazu kam, dass sie seit Februar mit ihm schlief.

Und das trieb sie mehr als alles andere in den Wahnsinn. Er war nicht nur nervig, er war auch ihr Liebhaber. Nein, dachte Melanie. Nicht ihr Liebhaber. Sie konnte diesen Ausdruck nicht ausstehen. Fuck Buddy gefiel ihr aber auch nicht. Sexpartner? So was vielleicht. Was immer es war, mit ihm zu schlafen gehörte nicht zu den besten Entscheidungen, die sie je getroffen hatte. Das Problem bestand für Melanie darin, dass sie zwar jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, ein Becherglas zerschlagen und ihm mit den Scherben die Kehle durchschneiden wollte. Aber wenn seine Lippen geschlossen waren – oder, besser noch, sich an ihrem Körper zu schaffen machten –, konnte sie an nichts anderes denken als an ihn. Sie hatte sich selbst nie für oberflächlich gehalten, aber nach der Scheidung hatte sie einfach ein bisschen Spaß haben wollen. Und auch wenn Bark sie durch sein Verhalten ständig ankotzte, hatte sie im Bett nicht nur ein bisschen Spaß mit ihm, sondern eine ganze Menge. Bei Manny hatte sie sich warm und geborgen gefühlt, wenn sie Sex hatten, aber nach der Auflösung ihrer Ehe war Bark mit seiner heißen, drängenden Art ein schöner Tempowechsel.

Da es also nicht die allerbeste Entscheidung gewesen war, mit ihm ins Bett zu gehen, konnte sie zu ihrer Verteidigung nur anführen, dass es eine Entscheidung gewesen war, die von ein paar Gläsern eines Gebräus befördert worden war, das ihre Doktoranden für die Valentinsparty angesetzt hatten, zu der Melanie sich hatte breitschlagen lassen. »Gift« hatten sie das Getränk genannt, und es hatte ordentlich geknallt. Als sie am nächsten Morgen mit Bark neben sich im Bett aufgewacht war, hatte sie zwei Minuten gebraucht, um darauf zu kommen, wer sie war, ganz zu schweigen davon, wo sie war, was sie mit Bark zusammen in seinem Bett zu suchen hatte und weshalb sie beide nichts anhatten. Sie schlich sich ins Bad, ohne ihn zu wecken. Als sie dann mit seinem Mundwasser gurgelte und sich das Haar im Spiegel glattstrich, wurde ihr klar, dass sie die praktische Entscheidung, die sich in ihrer Ehe mit Manny als so schlecht erwiesen hatte, bereits wiederholt hatte: Sie hatte einmal mit Bark geschlafen, und folglich konnte sie es jetzt auch wieder tun. Und wieder und wieder.

An die Party am Valentinstag erinnerte sie sich nur noch verschwommen, aber den Morgen danach sah sie immer noch mit atemberaubender Klarheit vor sich. Bark war brillant, aber davon abgesehen entsprach er nicht der landläufigen Vorstellung davon, wie ein Wissenschaftler auszusehen hatte. Er kleidete sich ansehnlich, aber selbst mit einem Kugelschreiber in der Brusttasche, einer Riesenbrille auf der Nase und einem Rechenschieber wäre er ein Blickfang gewesen. Er war geradewegs von Cal Tech zur American University gekommen, von der einen Küste zur anderen, und vielleicht hatte er in Kalifornien in die Landschaft gepasst, aber in Melanies Labor und im gesamten Entomologiegebäude fiel er auf wie ein bunter Hund. Er gehörte zu einer ganz anderen Spezies. Melanie war selbst fast eins achtzig, und auch wenn die Tage der Turniere als Studentin in Yale fast zwei Jahrzehnte zurücklagen, ging sie immer noch dreimal in der Woche zum Basketball und viermal morgens zum Schwimmen. Aber Bark war noch einmal einen halben Kopf größer als sie und ein Kerl wie ein Baum. Er war kein Gewichtheber, das wusste sie, und ihr war nicht bekannt, dass er je einen Fuß in ein Fitnessstudio gesetzt oder irgendeinen anderen Sport getrieben hätte, aber selbst bekleidet sah er aus wie gemeißelt. Wenn er nicht hätte promovieren wollen, wäre für ihn auch eine Zukunft als Unterwäschemodel drin gewesen.

Als sie aus dem Badezimmer zurückkam, ignorierte sie ihre Kleider, die zerknüllt auf dem Boden lagen, schlüpfte wieder ins Bett und wartete einfach. Und wartete. Und wartete. Bark schlief wie ein Toter, aber als er sich endlich doch regte, als sie da weitermachten, wo sie in der vergangenen Nacht anscheinend aufgehört hatten, war es das Warten wert gewesen. Selbst noch zwei Monate später, nachdem sie sich jede Woche drei oder vier Mal mit ihm getroffen hatte, kam sie noch nicht darüber hinweg, wie er ohne Hemd aussah. Melanie konnte nicht aufhören, seine Brust anzufassen, seine Arme, die Muskeln auf seinem Rücken zwischen den Schultern. Ganz anders als bei ihrem Exmann. Manny war nicht klein, aber er war kleiner als sie, und auch wenn er unglaublich einschüchternd wirken konnte, war er nicht gerade ein Muskelpaket. Nein, Manny war innerlich hart – niederträchtig und kleinlich, wenn er glaubte, jemand wolle ihn verarschen, im Büro oder in der Politik –, was für ihn, weil er der Stabschef des Weißen Hauses war, ein und dasselbe war –, und bösartig wie eine Sydney-Trichternetzspinne, wenn er angegriffen wurde. Aber so aggressiv er im Berufsleben auch sein mochte, im Bett war er ein bisschen zu rücksichtsvoll. Und ein Pin-up-Boy war Manny schon mal gar nicht.

Der in Frage stehende Pin-up-Boy, Bark, starrte sie derweil an. Er versuchte es noch einmal. »Professor Guyer?«

»Bark.« Sie warf einen Blick auf die beiden anderen Studenten: Judy Yoo, die viel zu reich war, um ihre Zeit mit dem Studium von Spinnen zu verbringen, und Patrick Mordy, der in seinem ersten Jahr im Graduiertenprogramm war und sich als nicht annähernd so intelligent erwiesen hatte, wie sein Studienbuch und seine Bewerbungsunterlagen hatten vermuten lassen. Melanie hielt es für höchst unwahrscheinlich, dass er den Doktorgrad erwerben würde. »Was ist?«, fragte sie. »Was ist so wichtig, dass Sie nicht warten können, bis ich wieder im Labor bin?«

Bark und Patrick schauten Julie an, die auf ihre Schuhe starrte. Melanie versuchte seufzend, die Geduld nicht zu verlieren. Sie mochte Julie, sie mochte sie wirklich, aber als Mädchen, dem es an nichts fehlte, konnte sie wahrhaftig eine Dosis mehr Selbstvertrauen gebrauchen. Ihre Eltern hatten einen Haufen Geld. Geld für einen Privatjet. Ein Gebäude auf dem Campus der American University, das nach ihrem Geld benannt war. Geld, das fragte: Was zum Teufel suchte Julie in einem Labor, das Spinnen erforschte? Und Julie war hübsch – nicht nur so, wie Mädchen in den Naturwissenschaften als hübsch galten, weil die Konkurrenz nicht groß war. Julie wäre sogar unter Germanisten und Juristen hübsch, dachte Melanie. Und das war hübsch. Bei diesem Gedanken lächelte sie. Sie konnte sich einen solchen Gedanken leisten, weil sie selbst mit einem tollen Aussehen gesegnet war. Man konnte ihr das Alter ansehen, aber sie sah gut aus: eine Frau von vierzig Jahren, in deren Gegenwart Männer ihre Ehefrauen anschauten und sich fragten, warum sie keine bessere Entscheidung getroffen hatten. Sie merkte, dass Patrick sie ansah, und wollte zurücklächeln, aber dann zog sie finster die Mundwinkel herunter. Ihre Zöglinge arbeiteten im Labor nicht gewissenhaft, wenn sie nicht streng mit ihnen war.