Die dunklen Seiten der Jugendbewegung - Christian Niemeyer - E-Book

Die dunklen Seiten der Jugendbewegung E-Book

Christian Niemeyer

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Beschreibung

Das Buch versucht erstmals seit fünfzig Jahren eine kritische Gesamtdarstellung der deutschen Jugendbewegung, bewusst nicht endend 1933, sondern 1945. Die zentralen Ergebnisse dieser detektivisch angelegten Arbeit werden mittels der provokanten Leitfrage nach einer Erziehung vor Auschwitz organisiert und sind aufrüttelnd, teils schockierend. Zerstört wird endgültig der Mythos, den NS-belastete Jugendbewegungsveteranen - wie die Historiker Günther Franz und Theodor Schieder - mittels williger Helfer über Jahrzehnte hinweg und wider besseres Wissen um den Wandervogel und das Meißnerfest vom Oktober 1913 verbreitet haben. 2. Auflage mit einem Vorwort von Micha Brumlik.

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A. Paul Weber, „Reformer“ (aus: Der Zeitgenosse, 1922)

Christian Niemeyer

Die dunklen Seiten der Jugendbewegung

Vom Wandervogel zur Hitlerjugend

2., durchgesehene Auflage

UVK Verlag · München

Umschlagabbildungen:

Archiv der deutschen Jugendbewegung, F 1, Nr. 71/12 und WikiCommons.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

DOI: https://doi.org/10.24053/9783739882178

2., durchgesehene Auflage 2022

1. Auflage © 2013 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

UVK Verlag 2022 – ein Unternehmen der

Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

Internet: www.narr.de

eMail: [email protected]

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

ISBN 978-3-7398-3217-3 (Print)

ISBN 978-3-7398-8217-8 (ePDF)

Meinen Kindern,

durchaus in pädagogischer Absicht.

Meinem Vater,

als Nachruf:

Es ist das,

was ich Dir noch hätte sagen wollen.

Das Motto dazu stammt von Nietzsche:

„Verschwiegene Wahrheiten werden giftig.“

Fidus, „Lichtgebet“ (um 1910)

Inhalt

Micha Brumlik Vorwort zur zweiten Auflage

Einleitung Warum man der DFG dankbar sein sollte

1. Kapitel Die Jugendbewegung: Ihre Mythen, ihre Historiographen – und die ersten bitteren Wahrheiten

2. Kapitel Die Kindt-Edition – ihre Ursprungsgeschichte, ihre Intention und die zentralen Akteure hinter den Kulissen

1. Walter Laqueur und Harry Pross – ein Nestbeschmutzer wird ignoriert und ein anderer bekämpft

2. Theodor Wilhelm – ein Vorzeigepädagoge im Kampf mit seinem Schatten Friedrich Oetinger

3. Theodor Schieder und Günther Franz – zwei Historiker mit brauner Weste im Kontext der Kindt-Edition

4. Werner Kindt – ein Dr. h. c. und seine ehrenrührigen Umtriebe

5. Just zum Gruseln: Die Artamanenbewegung und einige ihrer Führungsfiguren in der Kindt-Edition

3. Kapitel Warum einen schon der flüchtige Blick auf die Anfänge des Wandervogel ins Trudeln bringen kann

1. Hermann Hoffmann[-Fölkersamb] – nur ein harmloser Stenograph auf den Spuren Goethes?

2. Hans Blüher – ein Hans Dampf in allen (auch völkischen und antisemitischen) Gassen

3. Karl Fischer – der Oberbachant mit dem Ehrensold der Hitlerjugend und sein ‚Großbachant‘ Heinrich Sohnrey mit dem Adlerschild Hitlers

4. Ludwig Gurlitt – ein Oberlehrer mit dem Hang zu „hochgebauten, goldblonden, blitzäugigen Germanen“ (à la Wilhelm Schwaner)

5. Hans Breuer – ein schwer rückwärtsgewandter ‚Zupfgeigenhansl‘als Idol des Mainstream

6. Fidus – ein Ikonograph vom Typ Filou

4. Kapitel Über die angeblichen Ziehväter der Jugendbewegung

1. Friedrich Nietzsche: Ein Prophet ohne Jünger? Oder: Warum dieser Gottesleugner an allem schuld sein mag – nicht aber an der Jugendbewegung

2. Julius Langbehn und seine Freunde Heinrich Pudor & Max Bewer. Oder: Warum man bei Fällen wie diesen besser erst die Psychiatrie und dann die Jugendbewegungshistoriographie rufen sollte

3. Paul de Lagarde: Ein „Vorläufer des Nationalsozialismus“, der schließlich doch noch seine Rekruten fand

5. Kapitel Ein Kessel Braunes? Über einige ausgewählte Ideologeme auch schon des Steglitzer Wandervogel

1. Über den Antislawismus. Oder: Warum sich Herr Luntowski eines Morgens seines Namens schämte

2. Über den Antiurbanismus. Oder: Warum nicht überall, wo Eden draufsteht, auch das Paradies drin ist

3. Über den Antiintellektualismus. Oder: Warum Dr. Langbehn nicht einfach nur dumm war

Intermezzo: Der Fall Hjalmar Kutzleb im Kontext

Schlussakkord: Antiintellektualismus nach 1933

4. Über den Antisemitismus. Oder: Warum selbst Paul Natorp kaum etwas mitbekam vom Fisch, der längst schon vom Kopf her stank

5. Über Nationalismus, Irredentismus und Bellizismus. Oder: Warum man Langemarck als Urkatastrophe dem 19. Jahrhundert in Rechnung stellen darf

6. Kapitel Meißnerfest und Meißnerformel: Leuchttürme, auf Sand gebaut. Oder: Warum und wie man einen Mythos kreiert und am Leben hält

7. Kapitel Vom Wandervogel zur Hitlerjugend – ein falsch gestelltes Thema?

Epilog

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Literatur

Personenregister

Vorwort

2018 erschien ein von Eckart Conze und Susanne Rappe-Weber herausgegebener Sammelband zur deutschen Jugendbewegung1 mit dem Untertitel „Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945“. Im ersten, von Conze verfassten Kapitel findet sich unter Fußnote 5 ein Hinweis auf die von dem Bildungshistoriker und Nietzscheforscher Christian Niemeyer verfassten Bücher Mythos Jugendbewegung. Ein Aufklärungsversuch sowie auf das hier, nunmehr in zweiter Auflage erscheinende Buch Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend. Mehr noch: In der von Conze verfassten Einleitung wird Niemeyer nicht nur ob seiner „kriminalistischen Geschichtsforschung“, sondern auch ob der kaum noch zu überblickenden, jeweils neuen Beiträge dieses Autors zum Thema gewürdigt. Fußnote 6 des Vorworts mit seinen Verweisen auf Christian Niemeyer umfasst 19 (!) Zeilen2. Und das mit Blick auf ein Thema, das sowohl zur Gesellschaftsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert als auch zur Disziplingeschichte der Erziehungswissenschaft gehört.

Es war kein geringerer als der Philosoph Ernst Bloch, der in seinem monumentalen Prinzip Hoffnung u. a. über die deutsche Jugendbewegung schrieb:

„Die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, wie sie unter Erwachsenen nicht vorhanden, hörte schliesslich auf Hitler; denn gab es gegen die Alten keine neuen Inhalte, so gab es doch neue brennend-blasende-verblasene Worte, und es gab gegen die Alten, die noch nicht von Blutdurst glühten, Macht.“3

Ein Blutdurst, der sich nicht zuletzt von Anfang an in einem glühenden Judenhass äußerte: spätestens seit der „Wandervogel“ in Zittau im Jahr 1913 ein jüdisches Mädchen wegen angeblich zu großen Interesses an Knaben ausschloss. Damit begann eine Phase jugendbewegten Antisemitismus, die Christian Niemeyer in vielen Aufsätzen, vor allem aber in diesem Buch gründlichst belegt hat – ohne doch die Grundidee der Jugendbewegung auf dem Hohen Meissner, die Meissnerformel, rundweg abzulehnen, wie er in der Einleitung deutlich macht.

Daher: Christian Niemeyer gebührt das Verdienst, penibel nachgewiesen zu haben, dass die (deutsche) Jugendbewegung mit all ihren Widersprüchen auch in die Geschichte des – nicht nur deutschen – Antisemitismus gehört: Ein Umstand, der noch immer nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat. Schlägt man etwa Band 3 des von Wolfgang Benz herausgegebenen, anerkannten und renommierten Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart – Begriffe, Theorien, Ideologien4 auf, so fehlt dort zwischen den Einträgen „Jüdischer Selbsthass“ und „Kammerknechtschaft“ der Eintrag „Jugendbewegung“; mehr noch: In den eigentlich einschlägigen Stichworten „Völkische Weltanschauung“ sowie „Völkischer Antisemitismus“ fehlt jeder Hinweis zur deutschen Jugendbewegung – allenfalls wird dort die Lebensreformbewegung erwähnt.

Daher ist es höchste Zeit, die Geschichte der deutschen Jugendbewegung aus dem engeren Kontext der historischen Jugendsoziologie sowie der Geschichte der Pädagogik zu lösen und sie in eine deutsche Gesellschaftsgeschichte sowie in eine Geschichte des Antisemitismus einzupassen. Was die deutsche Gesellschaftsgeschichte betrifft, so hat Michael Stürmer dabei schon 1983 einen Anfang gemacht5, wenn auch Hans-Ulrich Wehler in Band 4 seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte 1914–1949 diese noch immer zu skizzenhaften Darstellungen sozialstrukturell erweitert hat.6 Immerhin: In Peter Longerichs 2012 erschienener, monumentaler Studie Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte – Von der Aufklärung bis heute werden Wandervogel und Lebensreformbewegung erwähnt, wenn auch kurz.7

Doch damit zurück zu Niemeyers bahnbrechender Studie: Tatsächlich bezieht sich der Autor des vorliegenden Buches immer wieder auf den jüdischen Historiker Walter Laqueur (1921 – 2018), der wie nur wenige selbst vom Phänomen der (deutschen) Jugendbewegung fasziniert und geprägt war, ohne doch in seinen frühen Arbeiten – und diese Paradoxie ist bemerkenswert – seinen eigenen Erfahrungen Rechnung getragen zu haben. Der 1921 in Breslau als Sohn einer jüdischen Familie geborene, 1938 emigrierte, stupend fleißige und kreative Historiker trat erstmals 1962 mit einem Buch über Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie hervor, um sich nach einer Fülle von Studien und Forschungen zu Fragen des Nahen Ostens, der Sowjetunion, zur Kultur von Weimar, zum Zionismus und zur Haltung linker Intellektueller im zwanzigsten Jahrhundert, zum Holocaust und zum Terrorismus schließlich noch zweimal, genauer gesagt dreimal mit Fragen der Jugend und der Jugendbewegung zu befassen.8

Seine allemal auch das eigene Schicksal berührende Studie Geboren in Deutschland. Der Exodus der jüdischen Jugend nach 1933 erschien erstmals 2000; auch seine politische Lebensbilanz Mein 20. Jahrhundert, erschienen im Jahre 2009, thematisierte die Jugendbewegung. Laqueurs Interesse für die Jugendbewegung war allemal von persönlichen Erlebnissen und wohl auch Enttäuschungen im nationalsozialistischen Deutschland geprägt:

„Jugendliche“ so Laqueur in seiner politischen Lebensbilanz über die Stadt Breslau am Ende der Weimarer Republik „erkundeten wie zu allen Zeiten die Viertel der Stadt, amüsierten sich auf Geburtstagspartys, spielten Fußball oder sammelten Briefmarken … Meine Freunde waren überwiegend Nichtjuden. Das änderte sich im Jahr 1933, aber es folgte keineswegs ein radikaler Bruch. Meine Freunde traten in die Hitlerjugend oder das Jungvolk ein, die Unterorganisation der Hitlerjugend für Zehn- bis Vierzehnjährige, die wenigsten allerdings aus innerer Überzeugung – ich kannte keinen einzigen Fanatiker.“

„Sie fügten sich“, so erklärt Laqueur diese konformistische Handlungsweise „weil man es von ihnen erwartete. Nur einige Katholiken, die kirchlichen Organisationen angehörten, traten nicht in die NS-Bünde ein“.9 In seinen Erinnerungen gibt Walter Laqueur zudem einen Abriss seiner eigenen theoretischen Befassung mit der deutschen Jugendbewegung. Sie war seiner Überzeugung nach weitgehend unpolitisch und sei der NS-Bewegung ohne „sonderlichen Enthusiasmus“ beigetreten, habe zwar mit den Nationalsozialisten die Sehnsucht nach starken Führern geteilt, sich allerdings in der Masse nie für Hitler begeistert. Laqueur bezeichnet die Jugendbewegung als eine „relativ kleine Elite, mit kaum mehr als 100 000 Mitgliedern in unzähligen Gruppen“10, die zwar militaristisch, aber doch kaum nationalistisch gewesen sei, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass man sich anderen Nationen überlegen gefühlt habe.

Spätestens hier ist freilich Laqueur zu widersprechen – nämlich mit Hinweis auf Niemeyers Forschungen, der präzise – und das ist im hier vorliegenden Buch nachzulesen – nachgewiesen hat, dass der – jedenfalls weit überwiegende – völkische Teil der Jugendbewegung sehr wohl einem deutschen Überlegenheitsgefühl, einem starken Nationalismus und auch einem entschiedenen Antisemitismus huldigte.

Wer daher an einer tiefgreifenden Geschichte der jugendbewegten Wurzeln des nationalsozialistischen Antisemitismus interessiert ist, wird um die Lektüre von Christian Niemeyers Die dunklen Seiten der Jugendbewegung nicht umhinkommen – dies Buch wird noch auf Jahre hinweg das maßgebende Standardwerk zum Thema bleiben.

Micha Brumlik

Mai 2022

EinleitungWarum man der DFG dankbar sein sollte

„Dem Staat ist es nie an der Wahrheit gelegen, sondern immer nur an der ihm nützlichen Wahrheit.“

(Friedrich Nietzsche)

Das Hohe Lied auf das Meißnerfest und die Meißnerformel vom Oktober 1913 wird in Tagen wie diesen und sicherlich auch später immer mal wieder gern angestimmt werden. Derlei Jubel scheint der Sache nach gerechtfertigt zu sein, die Meißnerformel selbst ist über jeden Verdacht erhaben:

Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.1

Dies war damals fortschrittlich, mutig, wenn nicht geradezu verwegen, wie das von Peter Dudek2 in Erinnerung gerufene Beispiel des Hamburger Lehrers Max Tepp lehrt. Er nämlich verweigerte nach 1918 mit erstaunlicher Verbissenheit, unter Berufung auf die für ihn verpflichtende Meißnerformel, den Amtseid selbst auf die Weimarer Reichsverfassung. So betrachtet scheint es folgerichtig, dass das Tepp-Vorbild Gustav Wyneken (1875–1964) im Mai 1947 seiner Meinung Ausdruck gab, die Nazis hätten wohl kaum die Macht erobern können, „wäre dieses Bekenntnis der Glaube des ganzen deutschen Volkes gewesen.“3

Im Wörtchen ‚wäre‘ verbirgt sich indes schon das ganze Problem, deutlicher: In den vielen völkisch orientierten Jugendbewegten, die die Meißnerformel von Beginn an als ‚kosmopolitisch‘ bekämpften (s.S. 186 ff.).4 Terminologisch geredet und auf das hinter diesem Dissens verborgene Problem bezogen: Wenn soziale Bewegungen „kollektive Aktivitäten von einer gewissen Dauer [sind], die auf eine mehr oder weniger tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft oder deren Verhinderung abzielen,“5 ist die um 1900 anhebende und angeblich 1933 infolge von Verbot oder freiwilliger Gleichschaltung endende bürgerliche Jugendbewegung sicherlich eine soziale Bewegung gewesen. Sie kann, etwa in der Linie einer Bemerkung Wynekens, als „Glied in einer Kette neuzeitlicher Emanzipationsbestrebungen“6 lesbar gemacht werden. Dies würde es erlauben, den 1896 noch für die Arbeiterbewegung reservierten Begriff der sozialen Bewegung um das Attribut „neu“ zu erweitern.7 Freilich, und um vorerst noch einmal die Prämisse in Augenschein zu nehmen: Wollte die Jugendbewegung eigentlich eine Veränderung im Positiven, also im Sinne der Meißnerformel? Oder war sie doch eher negierend tätig, also gegenaufklärerisch in Richtung einer bereits für überwunden geglaubten Gesellschaftsverfasstheit oder in Richtung eines als verblasst deklarierten spezifisch deutschen Mythos?

Die in (pädagogischen) Lexika dargebotenen Antworten weisen in der Regel in die erstgenannte Richtung. Die Jugendbewegung gilt hier oftmals als „Erneuerungsbewegung.“8 Dem folgt im gegebenen Fall, dass erst spät („spätestens 1933“) „sichtbar [wird], dass Teile der J. die Nähe zu rechtsextremen und nationalsozialistischen Organisationen nicht vermieden, z. T. sogar aktiv gesucht haben.“9 In der Hauptsache dominiert in Darstellungen dieser Gattung also das Bild einer Bewegung, „in der sich die (bürgerliche) Jugend von den starren Lebensformen der Erwachsenen (Familie, Schule, Betrieb, Armee, Kirche) zu befreien und den Prozess ihrer Sozialisation selbst mitzubestimmen suchte.“10

Ein weit weniger günstiges Urteil ergibt sich in der Linie einer Erwägung von Theodor W. Adorno, der in den 1950er Jahren den Einwand zu Papier brachte:

Man weiß, wohin es die Jugendbewegung gebracht hat; wie ohnmächtig und unwahr sich der Versuch erwies, die Ferienmaskerade zum Sinn des Daseins zu erheben.11

In der Folge konkretisierte sich diese Kritik, zumeist (weiterhin) im Widerspruch zum (deutschen) Mainstream,12 auf den offenbar auch Justus H. Ulbricht 1989 zielte bei seinem Argument (unter Berufung auf Emigranten wie Walter Laqueur und George L. Mosse13):

Es wäre […] falsch, die problematische Entwicklung der Jugendbewegung […] auf den Zeitraum nach 1918 zu begrenzen. Schon der Jugendbegriff der Vorkriegsbewegung war politisch nicht mehr unschuldig, spielten in ihm doch Kategorien wie ‚Heimat‘, ‚Volk‘ und ‚ Vaterland‘ eine eminente Rolle.14

Wohl wahr und mit einem zwanzig Jahre jüngeren Zitat aus der Feder Winfried Mogges, dem langjährigen Leiter des Burgarchivs, geredet:

Einige Blicke schon in die frühesten Bundeszeitschriften zeigen, dass die sozusagen offizielle Wandervogelbewegung längst vor dem ersten Krieg im völkischen Lager stand. Genauer: Man findet fast keine anderslautenden Texte.15

Äußerungen wie diese waren fördernd für ein Projekt wie das auf den nächsten Seiten zu besichtigende. Es basiert auf langjährigen Studien, auch im Archiv der deutschen Jugendbewegung (im Folgenden: AdJb16) auf Burg Ludwigstein, und es soll auch dem Einsteiger den Stand der Jugendbewegungsforschung anschaulich machen.

Eine Warnung ist dabei vorab vonnöten, ausgehend vom hier als Motto vorangestellten Zitat Nietzsches,17 das schon Harry Pross (s. S. 28 ff.) beflügelte.18 Pross war es denn auch, der die Erfahrung machen musste, dass Forschungen zur Jugendbewegung durchaus en vogue und beliebt sind – allerdings, mit Nietzsche gedacht, nicht allzu kritisch, also ‚nützlich‘ sein sollten. Diesen Rückschluss erlaubt der Umstand, dass die DFG 2012 einen Forschungsantrag19 ablehnte, der in Weiterführung einschlägiger Vorstudien20 darauf zielte, „Motive für Auslassungen“ in Werner Kindts Dokumentation der Jugendbewegung im „NS-apologetischen Bereich“ zu erkunden. Die denkwürdige Begründung lautete, die „kritische Revision“, die durch das Projekt in Aussicht gestellt werde, sei „in der neueren Forschung zur Jugendbewegung […] längst angekommen.“21 Dies erinnert ein wenig an Arno Klönnes Argument von 2009, die auf den hier thematischen Bereich bezügliche „gezielte Vergesslichkeit“ bzw. „Gedächtnisschwäche“ sei „inzwischen weitgehend korrigiert.“22 Ist dem aber wirklich so?

Ein Beispiel kann hier vielleicht weiterhelfen: Sven Reiß verwies 2010 im Jahrbuch des AdJb darauf, dass in der Kurzbiographie der Kindt-Edition über den durch die Nazizeit als ‚Fachredner für Rassepolitik‘ (1937) – außerdem SA, NS-Lehrerbund, HJ (1933), NSDAP (1937) – schwer belasteten und von seinem (vormaligen) Kameraden Karl Thums (auch deswegen) hoch geschätzten (s. S. 46) Pfadfinderführer Heinrich Banniza von Bazan (1904–1950) nur mitgeteilt werde, „dass er Oberstudienrat wurde und sich seit 1924 als Familienforscher betätigte.“23 So weit, so skandalös, nur: In der Linie des DFG-Fachkollegiums gedacht, hätte Reiß noch hinzusetzen müssen, dass derartige Auslassungen bei Kindt eher die Regel denn die Ausnahme seien.

Fälle dieser Art führen direkt hinein in den Ende 2012 erschienenen Band jenes Periodikums. Geboten wird hier eine Bilanz zu neunzig Jahren Archivtätigkeit. Sicherlich: Günther Franz (s. S. 37) wird zumindest in einer Fußnote zum Beitrag der aktuellen Archivleiterin „als nachweislich überzeugter Nationalsozialist“24 gelistet. Warum aber bleibt die Frage ungestellt, welche Folgen dieser Umstand für seine Amtsführung hatte? Ein weiteres Beispiel: Über Hans Wolf (1896–1977), seines Zeichens Mitbegründer dieses Jahrbuchs sowie von 1954 bis 1976 Leiter des Archivs, heißt es in jenem Beitrag lediglich, dass „über dessen Tätigkeit im Nationalsozialismus und im Krieg die Unterlagen auffällig schweigen“25 – nicht aber, was den Unterlagen im AdJb problemlos zu entnehmen gewesen wäre und seit 2010 auch in publizierter Form vorliegt:26 Wolf war Mitglied der SS.

Derlei Versäumnisse sind auffällig und finden sich auch bei Barbara Stambolis, aktuell Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat jenes Archivs, die im Übrigen die Kindt-Edition unverdrossen als „Mammut-Werk“27 lobt und auch in Sachen zweier weiterer Hauptverantwortlicher für dieses Projekt – Theodor Schieder und Hans Raupach – nur mitzuteilen weiß, dass sie in ihren jeweiligen Funktionen stets „engagiert tätig“28 waren, nicht aber warum. Deutlicher und im Vorgriff auf Kommendes geredet (s. S. 36 ff.): Schieder ging es nicht lediglich, wie Stambolis noch 2013, ihn zitierend, schreibt, um „Wiederherstellung des historischen Gedächtnisses“29, wenngleich er wohl nicht ganz so stark wie Günther Franz von der Absicht umgetrieben war, die NS-Vergangenheit vergessen zu machen.

Dieses Thema freilich scheint kaum auf der Agenda des AdJb zu stehen. Gewiss: Ein von Barbara Stambolis edierter Band von 2013 mit 61 Essays zu autobiographischen Texten bekannter Persönlichkeiten mit jugendbewegter Prägung schreckt zwar vor den dunklen Seiten der Jugendbewegung nicht gänzlich zurück: Die Herausgeberin30 kümmerte sich sehr instruktiv um Helmuth Kittel (s. S. 207) und Karl Rauch (s. S. 207), Maria Daldrup31 um Hans Harmsen (s.S. 126 f.) und Eckart Conze32 um Otto Abetz (s.S. 42 f.). Aber im Vergleich ist dies doch unproportional und, wie das Folgende zeigen wird, erkennbar konzentriert auf die weniger schlimmen Fälle. Anders gesagt: Karl Thums (s.S. 49 f.), Edwin Erich Dwinger (s.S. 121) und Kleo Pleyer (s.S. 36 f.) scheinen, ausweislich des ausführlichen Personenregisters des Stambolis-Readers, unbekannt zu sein. Und Hjalmar Kutzleb – auch ein sehr dunkles Kapitel (s. S. 143 ff.) – wird ausweislich des zu ihm von Jürgen Reulecke in jenem Band Gesagten33 offenbar zu den ganz leichten Fällen gerechnet, besser: zu gar keinem Fall (im Sinne der Thematik dieses Buches).

Kann es also sein, dass derlei, was das AdJb angeht, nicht nur eine eigene Geschichte, sondern auch Methode hat? Jürgen Reulecke beispielsweise, seit Jahren Mitglied im Editionsbeirat des Jahrbuchs des AdJb, plädierte ausgerechnet in seiner Rede zum Schlusskonvent des Freideutschen Kreises (2000), also in einem Kreis hochbetagter – und was die NS-Zeit angeht: teils hoch belasteter – Veteranen der Jugendbewegung pro „Nachsicht“ und contra „Nachgericht.“ Mehr als dies: Reulecke verwahrte sich bei dieser Gelegenheit, erkennbar34 im zornigen Rückblick auf den 42. Historikertag (1998) und den hier ausgetragene Streit über die NS-Vergangenheit einiger führender Zunftvertreter, gegen (ungenannte) „jüngere Historiker.“ Sie hätten „einige hochgeachtete und maßgebliche geistige Köpfe der 1960er/70er Jahre, die eng mit dem Freideutschen Kreis verbunden waren“ (genannt werden auch Theodor Schieder, Hans Raupach und Günther Franz), „als akademische Handlanger und willfährige Zulieferer nationalsozialistischer Unterdrückungspolitik“35 vorführen wollen. Kurz gesagt: Im von Reulecke ausgemachten und von ihm 2005 noch einmal auf den Punkt gebrachten Generationenkonflikt zwischen dieser ‚älteren‘ und jenen ‚jüngeren‘ Historikern (denken könnte man etwa an Götz Aly) schlägt Reuleckes Herz eindeutig auf Seiten der Ersteren – und auf Seiten Nietzsches. Ihm nämlich stattete er in den letzten Jahren immer mal wieder und durchaus mit Ansteckungswirkung auf Autoren wie Roland Eckert, Helmut König, Fritz Schmidt und Horst Zeller36 Dank ab für den Satz: „Ihr seid nicht klüger, ihr kommt nur später!“37

Freilich, und dies nur zur Klarstellung für Außenstehende: Dieser Satz, mit dem sich die schon von Thomas Nipperdey im einschlägigen Kontext vorgetragene Verwahrung „gegenüber der besserwisserischen Kritik der Nachgeborenen“38 rechtfertigen ließe, stammt gar nicht von Nietzsche, sondern ist Extrakt dessen, was dieser, Reuleckes Kollegin Ute Daniel39 zufolge, angeblich in seiner Historienschrift von 1874 gesagt haben soll. Wer indes etwas genauer hinschaut, stellt fest, dass Nietzsche in jener Schrift eher das Gegenteil forderte, nämlich eine „kritische Historie“, die die Vergangenheit erbarmungslos vor Gericht zieht.40 Kann es also sein, dass Reulecke Nietzsche mit Helmut Kohl und dessen 1985 an Bitburger SS-Gräbern zur Wirkung gebrachte Botschaft von der „Gnade der späten Geburt“ verwechselt hat? Diese Frage mag ketzerisch sein eingedenk des Umstandes, dass sich Reulecke einst41 von jener Botschaft Kohls distanzierte. Fakt bleibt, dass Reulecke bei Urteilen über die NS-Zeit allererst „Empathie“42 verordnet, in Fortschreibung der noch 2000 geforderten „Rücksicht und Nachsicht“43 (damals übrigens noch unter Berufung auf Bertolt Brecht statt Nietzsche). Sicherlich: Nimmt man Hannah Arendts Prozessbericht Eichmann in Jerusalem (1964) zum Maßstab, etwa das hier nachlesbare Urteil über den ausgerechnet von Werner Kindt kritisierten44, knapp das KZ überlebenden Judenretter Heinrich Grüber (1891–1975)45, dessen Aussagen Arendt als unpräzise und „peinlich“ rügt und dem sie die Vokabel „mutiger Mann“ nur in ironischer Geste zubilligt,46 wird man der Forderung nach Empathie einiges abgewinnen können. Aus diesem Beispiel folgt insoweit nichts gegen die Empathieforderung Reuleckes und zugleich alles für die – von ihm bezeichnenderweise erst gar nicht erhobene – Forderung, dem je Urteilenden alles an verfügbarem Wissen über eine Person abzuverlangen und ihm erst dann einen (hypothetischen) Befund zu gestatten.

Damit sind wir unversehens wieder bei jenem von der DFG abgelehnten Forschungsantrag. Denn alle in ihm zusammengetragenen Indizien sowie die auf den folgenden Seiten nachgereichten weiteren Fakten sprechen für die These, dass Kindt „als Teil eines in der Adenauerära wirkmächtigen, erinnerungspolitisch aktiven Kartells zur ‚Reflexionsabwehr‘“47 begriffen werden kann. In der Umkehr geredet: Die Hitlerjugend lässt sich sehr wohl in der Linie des vermeintlich harmlosen Steglitzer Wandervogel lesen, und zwar dies fast schon im Nachgang zu Adorno. Denn er hat uns ja, recht verstanden, nicht nur aufgetragen, für Erziehung, sondern auch für Forschung nach Auschwitz Sorge zu tragen. Dass dies – wie das Bisherige deutlich gemacht haben dürfte – mittels einer kritischen Personen- und Dogmengeschichte geschehen soll, erklärt sich aus den Voraussetzungen und Interessen des Verfassers: Eine Sozialgeschichte der Jugendbewegung schien ihm zu weit weg von jenen und auch zu unergiebig, eine Vereins- und Verbandsgeschichte desgleichen (so dass man in diesem Buch vergleichsweise wenig erfährt über die einzelnen Gruppen und ihr jeweiliges Programm). Ideengeschichte indes, zumal eine ideologiekritische, die auch den als Wissenschaft verkauften Tricks hinter den Kulissen nachspürt, entsprach schon eher dem, was auch auf einem anderen Felde, dem der – um einmal etwas Nettes zu sagen: von der DFG seinerzeit (2001 bis 2005) geförderten – Nietzscheforschung, benötigt wird und gefordert war. Zu hoffen bleibt, dass der Leser bei all dem – und zumal bei den vielen Namen – nicht den Überblick verliert. Vorkehrungen dafür – etwa durch ein Personenregister oder durch Rückweise auf das einschlägige Auftreten einer (dann dort auch immer zumindest mit Lebensdaten versehenen) Figur – wurden getroffen. Ob sie ausreichen, muss der Leser entscheiden. Ihm sei bei dieser Gelegenheit das gewünscht, was eigentlich jeder Autor erträumt: eine fesselnde Lektüre.

1. KapitelDie Jugendbewegung: Ihre Mythen, ihre Historiographen – und die ersten bitteren Wahrheiten

Die Jugendbewegung hat schon zahlreiche Darsteller und Darstellungen gefunden – aber auch viel Skepsis und Skeptiker, nach dem Muster von Hans Thiersch (1963):

Für den, der die Jugendbewegung selbst nicht erlebt hat, sind Erzählungen und Texte aus ihr fremd. Die verzettelte Vielfalt immer neuer Gruppierungen scheint ihm ermüdend, die Intention oft nicht einleuchtend und das Pathos aufreizend. Vor allem aber kann er nach den Ereignissen der jüngsten Geschichte vieles nicht mehr unbefangen hören.1

Thiersch hatte und hat Recht – und auch wieder nicht. Denn nichts zwingt, zumal heutzutage, dazu, den Erzählungen von Veteranen „unbefangen“ zuzuhören. Neue Rechte und neue Zugänge liegen vor für eine kritische Historie. Entsprechend hat die Jugendbewegungsforschung hier und dort in den letzten Jahren – genannt sei nur das DFG-Projekt von Stefan Breuer und Ina Schmidt zu der bündischen Zeitschrift Die Kommenden2 – deutlich an Brisanz gewonnen, auch aus biologischen Gründen. Denn die Zeit beginnt abzulaufen für eine – um den Terminus Nietzsches aufzunehmen – „antiquarische“, eine gleichermaßen bewahrende und verehrende Geschichtsschreibung, die allein aus Betroffenenperspektive betrieben wird oder sich ihr beugt. Neue Chancen bestehen für eine auf Zeitzeugenbefragungen weitgehend verzichtende, konsequent auf die gedruckten und ungedruckten Quellen zurückgehende „kritische“ Historie. Entsprechend geraten zahlreiche bisher geheiligte Annahmen ins Wanken, bis hin zu dem Befund, dass ‚die‘ Jugendbewegung selbst ein Konstrukt ist und vieles an ihr und um sie herum für nicht zureichend geprüfte Annahmen steht.

Begonnen hat derlei Geschichtsklitterung um die Jugendbewegung wohl mit Else Frobenius‘ Gesamtdarstellung „Mit uns zieht die neue Zeit…“ (1927). Nach 1933 machte die Autorin als Hitler-Bewunderin und – auch im HJ-Führerorgan Wille und Macht – ‚Gaurednerin‘ Furore.3 Ihre 2005 veröffentlichte Autobiografie kann als Antwort auf die Frage gelten, „warum für viele damalige Zeitgenossen der Übergang ins ‚Dritte Reich‘ 1933 […] einfach folgerichtig im positiven Sinn erschien.“4 Diesen Eindruck vermittelt indes auch schon Frobenius‘ 1927er Geschichte der deutschen Jugendbewegung (Untertitel). Schon in den ersten Zeilen des mit einem Nietzsche-Zitat („Aller Dinge Wert werde neu von euch gesetzt“) unterlegten Vorworts begegnet einem das Wort „Mythos“, erläutert durch die Fortführung, dass eine spätere Generation sich im Rückblick auf die deutsche Jugendbewegung tiefsinnige Sagen erzählen würde „von deutschen Jünglingen, die singend in die Wälder zogen und Feuer auf den Höhen entflammten, um die bösen Geister zu bannen, die ihr Vaterland bedrohten. Von heldenhaftem Sterben, dem sie sich jauchzend weihten, als dann noch schweres Unheil hereinbrach. Von tiefer Not und Zerrissenheit, die unüberwindlich schien, weil die Deutschen ihren Gott verloren hatten.“5 Die Darstellung im Text folgt dann dem hiermit angestimmten schwülstigen Grundakkord voller Fragwürdigkeit, was schon für das von Frobenius ausgewählte Motto aus Schillers Die Räuber gilt:

Ein freies Leben führen wir

Ein Leben voller Wonne

Der Wald ist unser Nachtquartier

Der Mond ist unsere Sonne.6

Verklärt werden so die angeblich romantischen, gänzlich asexuellen Beweggründe des Steglitzer Wandervogel um die Jahrhundertwende. In den Hintergrund treten, gleichfalls wohl nicht ohne Absicht, die völkischen Beweggründe schon der Vorkriegsjugendbewegung. Kurz: Die zeitgenössische Satire hatte leichtes Spiel. Dies wurde zwei Jahre später deutlich: Werner Finck und Hans Deppe brachten am 16. Oktober 1929 anlässlich der Eröffnung des Berliner Kabaretts Katakombe die Wandervogelparodie Tandaradei zu Gehör, darunter, in verteilten Rollen gesprochen, die folgenden Zeilen:

Wir lesen mühsam von Gedicht zu Gedicht.

Nur Erich Mühsam lesen wir nicht.

Wir bleiben tumb.

Wir nähren uns kärglich von Rohkostnahrung.

Und hegen die Seele. Und pflegen die Paarung.7

Vergleicht man diese beiden Versgruppen, steht fest: Irgendetwas stimmt mit der Jugendbewegungshistoriographie des Mainstream vom Grundsätzlichen her nicht. Worum es sich dabei handeln könnte, offenbart am ehesten ein über vierzig Jahre alter Hinweis von Willibald Karl. Er sah in Sachen Jugendbewegung eine Mythenbildung im Gange, „die der legitimen Korrektur durch den Historiker bedarf“8, und zwar dies umso mehr, als „der größte Teil dessen, was über die Jugendbewegung bekannt ist, […] von den ihr Angehörigen direkt vermittelt und berichtet [wurde], aber eben retrospektiv.“9 Wie zum Beleg erschien im nämlichen Jahr die Dissertation Die deutsche Jugendbewegung in ihren pädagogischen Formen und Wirkungen (1973) von Heinz S. Rosenbusch. Er war sich gleich einleitend sicher: „Ohne Zweifel zählt die deutsche Jugendbewegung zu den faszinierendsten pädagogischen Ereignissen dieses Jahrhunderts.“10 Ohne Zweifel darf man bei diesem Satz auf Assistenz Karl Seidelmanns (s.S. 52 f.) rechnen. Denn Seidelmann hatte exakt dieses Themenfeld und das damit verbundene Forschungsdesiderat im Sinn, als er zehn Jahre (1963) zuvor, erkennbar als Nebelkerze in Sachen des damals virulenten Debatte um den Präfaschismus der Jugendbewegung, prognostiziert hatte: „Es steht also noch manches aus am eigentlichen Aufschluss über die Jugendbewegung, möglicherweise sogar das Wichtigste.“11 Auch ansonsten erwies sich Rosenbusch als höflich und zurückhaltend im Blick auf die Veteranen, indem er den folgenden, der Jugendbewegung entstammenden Professoren Dank sagte für „mancherlei neue Aufschlüsse über Schwerpunkte, Zusammenhänge und individuelle Wirkungen der Jugendbewegung“12, gegeben in längeren Interviews oder qua Briefwechsel: Hans Bohnenkamp, Karl Seidelmann, Otto Friedrich Bollnow, Fritz Borinski, Hanns Eyferth, Wilhelm Flitner, Heinrich Roth sowie Theodor Wilhelm. Diese Namen stehen nicht nur für eine Art Who‘s who der deutschen Nachkriegspädagogik. Sie legen vielmehr Zeugnis ab für ein grundlegendes Hemmnis, von dem jede Art biographisch belasteten Erinnerns heimgesucht werden kann: der Gefahr nämlich, teilzuhaben an interessengeleiteter und mithin hochselektiver Erinnerungsarbeit bzw. Erinnerungspolitik.

Mit Skepsis zu betrachten ist, von diesem Einwand ausgehend, auch die in der Jugendbewegungshistoriographie der 1960er und 1970er Jahre bevorzugt zum Einsatz gebrachte Technik der Oral History. Ihre Schwächen sind der Sozialpsychologie nicht unbekannt und haben vor allem damit zu tun, dass die namentlich in der Attributionstheorie seit vielen Jahren diskutierten Actor-/Observer-Differenzen – in Gestalt der Bevorzugung entlastender, situationaler Attributionen durch den ‚Actor‘ sowie der besonderen Gewichtung belastender, dispositionaler Attributionen durch den ‚Observer‘13 – hier mit besonderem Gewicht zum Tragen kommen können. Denn entsprechend der in diesem Kontext gleichfalls nachgewiesenen, beispielsweise im sozialpädagogischen Alltag zu beobachtenden Tendenz zu selbstwertdienlichen Kognitionen14 dürfte die Erinnerung eines Zeitzeugen oder Autobiographen (= Actor) im Vergleich zu der nachträglichen Sichtung der Daten seitens eines Historikers oder Biographen (= Observer) zwar in Einzelfällen genauer, aber nicht notwendig zuverlässiger sein. Zusätzlich raten kognitionspsychologische sowie psychophysiologische Befunde zur Vorsicht hinsichtlich eines übergroßen Vertrauens in Sachen des Erinnerungsvermögens von Zeitzeugen.15 Ganz abgesehen davon ist die Methode der Oral History selbstredend nur verantwortbar bei ausgeprägter Quellenskepsis sowie zusätzlichen Techniken zur nachträglichen kritischen Durchleuchtung der ermittelten verbalen Daten. Unverzichtbar ist dabei eine ausdifferenzierte Kenntnis des Forschungsfeldes und der in ihm verborgenen zahlreichen Fallstricke.

Lehrreich ist in dieser Frage die von Jürgen Reulecke betreute Dissertation von Sabiene Autsch.16 Sie interviewte 64 Vertreter der jugendbewegten Generation überwiegend der Jahrgänge 1907 bis 1915, die dem Freideutschen Kreis um Bohnenkamp, Elisabeth Siegel und Seidelmann zuzurechnen sind.17 Dieser Kreis verschrieb sich anlässlich seiner Gründung im Jahre 1947 vor allem dem Ziel, „einer persönlichen Aussprache und Selbstreflexion hinsichtlich der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit“18 näherzukommen. Umso überraschender mag es sein, dass es in den Interviews gerade mit Vertretern dieser Gruppe „nur vereinzelte selbstkritische Stellungnahmen hinsichtlich des Umgangs mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit [gab].“19 War es aber möglicherweise Autsch selbst, die mittels ihrer Methode diese Tendenz begünstigte? Geradezu aufwühlend liest sich in diesem Zusammenhang die Lektion, die Autsch dem Leser darbietet im Blick auf ein Foto aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, das die Interviewte als „blondes Mädchen“ zeigt, umgeben und eingerahmt „von ihren jüdischen, meist dunkelhaarigen Mitschülerinnen.“20 Denn anstatt die Zeitzeugin in diesem Kontext mit Fragen nach dem gerade damals in der Jugendbewegung grassierenden Antisemitismus zu konfrontieren, beschränkt sich Autsch darauf, kommentarlos in indirekter Rede folgenden Satz der Zeitzeugin zu referieren: „Von den auf der Fotografie abgebildeten neun jüdischen Mädchen sei ihres Wissens keines mehr am Leben.“21 Es mag schon sein, dass es Autsch für den Sinn ihrer Methode hielt, das Inquisitorische einer ‚kritischen‘ Geschichtsschreibung zu vermeiden und die Dinge in ihrer unheilvollen Logik allein dadurch zu entlarven, dass man sie zum Sprechen bringt. Dies aber würde voraussetzen, dass auf Leserseite ein hinreichendes Vorwissen zur Entschlüsselung des Subtextes gegeben ist. Leider ist es aber exakt diese Voraussetzung, an deren Inkraftsetzung die bisherige, mehrheitlich verehrende‘ Geschichtsschreibung der Jugendbewegungshistoriographen kaum Interesse nahm.

Das bisher Berichtete gibt Anlass zu den folgenden Leitmotiven, die teils als Zusammenfassung gelten dürfen, teils als Wegmarken zwecks Orientierung des weiteren Vorgehens:

Die Geschichtsschreibung der Jugendbewegung wurde über Jahrzehnte hinweg bis auf den heutigen Tag wesentlich dominiert von Betroffenen, also von der Generation der Jugendbewegten selbst bzw. der ihr nachfolgenden Generationen, zumal auf Hochschullehrerseite.

Dieser Umstand konnte kaum eine Erzählweise begünstigen, die auch all den dunklen, den verborgenen und verachtenswerten Zügen dieser Bewegung hinreichend Raum gegeben hätte.

Wenn dies im Folgenden nachgeholt werden soll, dann mit der Absicht der Vervollständigung dessen, was in der Wissenschaft gemeinhin unter Aufklärung verstanden wird. Am Ende wird die bittere Einsicht stehen, dass es sich bei der deutschen Jugendbewegung im Wesentlichen um einen Mythos handelt, geschaffen in der Absicht, davon abzulenken, dass es in einzelnen Gruppen und Gemeinschaften auch eine politische Sozialisation

vor

Auschwitz gab, eine Sozialisation also, die Auschwitz überhaupt erst ermöglichte.

Damit sei nicht in Abrede gestellt – und auch dies wird im Folgenden deutlicher werden (s. S. 68 ff.) –, dass die Anfänge in Steglitz für ein ursprünglich harmloses Nachdenken über den Sinn und die Schönheit des Wanderns stehen. Allerdings wurde das Ganze dann schon sehr bald von politisch entsprechend interessierten Kreisen in ein zunehmend völkisch geordnetes Reflektieren über so etwas wie eine neue deutsche Leitkultur überführt. Diese Entwicklung – so soll weiter gezeigt werden – eskalierte im und nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem aber im Dritten Reich in Gestalt der Hitlerjugend. Nicht zu vergessen: Im Zuge einer nach 1945 anhebenden und auf Austilgung dieser Schuld zielenden Rezeptions- und Deutungswelle wurde, vornehmlich von betroffenen Veteranen und gegen einigen – allerdings hart und zielgerichtet bekämpften – Widerstand, ein wieder entpolitisierter Mythos namens Jugendbewegung‘ kreiert und für Zwecke der geisteswissenschaftlich-pädagogischen Aufrüstung funktionalisiert. Wichtige Dienste erfüllten dabei Fälschungen in Quelleneditionen, vor allem in der in der Einleitung angesprochenen Kindt-Edition, die bis auf den heutigen Tag trotz der inzwischen stattgehabten Einsichtnahme in „Lücken und Auslassungen“22 als unverzichtbar gilt für jeden, der sich über die Jugendbewegung auf vergleichsweise bequeme Weise anhand der Quellen informieren will.

2. KapitelDie Kindt-Edition – ihre Ursprungsgeschichte, ihre Intention und die zentralen Akteure hinter den Kulissen

Die Geburtsstunde der Kindt-Edition, also der dreibändigen, von Werner Kindt herausgegebenen Dokumentation der Jugendbewegung [1963/1968/1974]) schlug im September 1960. In einem „Aufruf des Gemeinschaftswerkes Dokumentation der Jugendbewegung“ wurde um Spenden und Dokumente gebeten. Zugleich wurde darüber in Kenntnis gesetzt, dass eine von Theodor Schieder „geleitete wissenschaftliche Kommission für die Geschichte der Jugendbewegung, die zugleich auch den wissenschaftlichen Beirat des Archivs der Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein bildet, […] an dem Quellenwerk mitwirken [wird].“1 Unterzeichnet worden war dieser Aufruf auch von Günther Franz, neben Schieder das zweite Gründungsmitglied in jener Kommission. Vorausgegangen war eine intensive, im Juli 1956 gestartete einschlägige werbliche Aktivität Kindts, damals in kritischer Abgrenzung gegenüber einem analogen Vorhaben Gustav Wynekens und schon mit dem Anspruch, Material bereitzustellen gegen „verfälschende Darstellungen“2 der Wandervogel- bzw. Jugendbewegung in Sachen des Themenkomplexes ‚Nationalsozialismus und Jugendbewegung‘. Ein kritischer, aber nicht weiter erläuterter Seitenblick fällt in diesem Zusammenhang auf Arno Klönnes Buch Hitlerjugend (1955).3 Vermutlich dürfte Kindt Klönnes Feststellung geärgert haben, dass „die in der Bündischen Jugend – im Gegensatz zu Wandervogel und Freideutschtum – durchweg vorherrschende ‚völkische‘ Einstellung im Grunde den NS-Anschauungen nichts entgegenzusetzen hatte und ihnen teils völlig, teils mit nur geringen Einwänden zustimmte.“4 Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auch Howard Beckers Gesamtdarstellung Vom Barette schwankt die Feder (1949), zumal Jürgen Reulecke noch 2013 meinte, Beckers These, „dass es eine eindeutige Linie vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend gegeben habe“5, sei schon 1950 durch Werner Conze umsichtig widerlegt worden – ein, mit Verlaub gesagt, wenig vertrauenserweckendes Lob angesichts der NS-Belastung Conzes (s. S. 127).

Wie auch immer: Dass auch Kindt, angesichts von derlei Herausforderungen, die Sache gut und jedenfalls zur Zufriedenheit der Veteranen gelungen war, zeigt das Lob eines Beteiligten, Felix Messerschmid (1904–1981), gleichfalls Mitglied der Kommission: „[E]ine editorische Leistung von hohem Rang“6 bescheinigte er Kindt 1975 in dem von ihm mitherausgegebenen Organ des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands, dessen Vorsitzender er von 1955–1967 gewesen war. Nicht überliefert ist, ob Messerschmid dieses Kompliment auch auf den Umstand bezog, dass in den Kurzbiographien der Kindt-Edition nicht nur die NS-Vergangenheit von Günther Franz und Theodor Schieder unterschlagen wurde, sondern auch jene der einfachen Kommissionsmitglieder Hans Bohnenkamp (S. 187) (1893–1977)7, Hermann Mitgau (1895–1980)8 und, vor allem, Kurt Oberdorffer (1900–1980), der durch sein Agieren in der NS-Zeit als schwer belastet gelten muss.9 Vor dem Hintergrund von derlei Auslassungen überrascht, dass Jürgen Reulecke noch 1993 in dem von Messerschmid gelobten Band einen „Ansatz zur Überwindung der Polarisierung“ sichtete, im Vergleich etwa zur „im Zuge der studentischen Protestwelle und Linksorientierung mit ihrer […] Stoßrichtung gegen die NS-Vergangenheit der Elterngeneration“10 eskalierenden Debatte. Nicht minder erstaunlich: Reulecke hielt selbst jetzt noch, 1993, einen tadelnden Seitenblick auf die dreißig Jahre zuvor vorgetragenen „[b]es. scharfen Vorwürfe“11 von Harry Pross für angebracht, unterließ aber jeden kritischen Hinweis auf die NS-Bagatellisierung in der Kindt-Edition, und zwar nicht nur in den dort dargebotenen Kurzbiographien.

Dabei hätte es Gründe genug gegeben, dieser Frage Aufmerksamkeit zu schenken. Dies zeigt exemplarisch die zu diesem Zeitpunkt schon seit dreißig Jahren vorliegende kritische Rezension von Band I der Kindt-Edition durch Hans Thiersch (Jg. 1935) in der Neuen Sammlung (1964). Thiersch, aus heutiger Sicht einer der (modernen) Klassiker der Sozialpädagogik,12 damals hingegen, mit Sam Hawkens (aus Winnetou I) geredet, ein Greenhorn, hatte es gewagt, einen von Kindt präsentierten Text von Wilhelm Stählin13 scharf zu kritisieren. Insbesondere störte Thiersch Stählins Plädoyer für „eine gleichsam unzergrübelte kräftige Ehrlichkeit“, von dem ausgehend der Mensch „in jenes Dämmern von Evidenz, Ganzheit und Sinn geraten [kann], in das die irrationalen Suggestionen so leicht einströmen.“14 Mehr als dies und einem Sakrileg gleichkommend im Blick auf seinen (geistigen) ‚Vater‘ resp. ‚Großvater‘ (= Herman Nohl):15 Thiersch schreckte nicht davor zurück, im Blick auf einen von Kindt erneut präsentierten Text von Erich Weniger16 die „bisweilen bis in die Blut- und Bodenmystik hinunterreichenden Umkehrungen“ zu kritisieren, „in denen die der Zivilisation doch unentrinnbar verhaftete Jugendbewegung […] sich selbst verleugnete zugunsten einer nur erträumten Ursprünglichkeit.“17 Thiersch‘ Resümee war eindeutig:

Mit dem Glauben an Gefühl, Unmittelbarkeit und a-rationale Evidenz, an charismatische Autorität und ein einfaches volkhaftes Leben gehört die Jugendbewegung gewiß in den Zusammenhang jenes Denkens, das sich […] einig wußte in seiner Skepsis, ja Aversion gegen die Demokratie.18

Dass Thiersch den Herausgeber Kindt nicht freisprach von Verantwortung, belegt sein Monitum, „die Endphase der Jugendbewegung mit dem Übergang in die Nazizeit“ sei nur „blaß belegt.“19 Dies war eloquent vorgetragen und in der Sache mutig, zeugt allerdings eher für eine Art Betriebsunfall, der denn auch sogleich so gut es geht behoben wurde. Nur so jedenfalls wird man den durchaus auffälligen Umstand erklären können, dass die Redaktion der damals von Hellmut Becker, Elisabeth Blochmann, Otto Friedrich Bollnow, Elisabeth Heimpel, Hartmut von Hentig und Martin Wagenschein herausgegebenen Zeitschrift vorab den entschuldigenden Hinweis für notwendig hielt, man habe Thiersch als „Vertreter der jungen Generation“ um eine Stellungnahme gebeten, die in ihrem kritischen Gestus gleichsam aufgewogen werde durch den Umstand, dass man im Jahr zuvor (1963) „zwei Vertreter der einst zur Jugendbewegung gehörigen Generation“ – nämlich Hans Bohnenkamp und Wolfgang Kroug – habe zu Wort kommen lassen; im Übrigen folge dem Beitrag von Thiersch ein weiterer von Diethart Kerbs, der zeige, „daß dieselbe Generation [jene, der Thiersch zugehört; d. Verf.] auch ein unmittelbares und positives Verhältnis zur Jugendbewegung haben kann.“20 Unterhalb von derlei Versicherungen, so darf man vielleicht kommentieren, war damals Kritik an der Jugendbewegung in einem auf den Impuls Herman Nohls zurückgehenden Organ nicht zu platzieren.

Etwas schärfer und zugleich verallgemeinernd geredet: Lobreden auf die Kindt-Edition gehörten lange Jahre zur vom Mainstream insbesondere in der Pädagogik erwarteten Prämisse des Berufs- resp. Berufungserfolgs. Anlass bildend hierfür war nicht zuletzt das noch von Jürgen Reulecke 199321 gelobte Schlusswort des dritten Bandes. Es wartete mit der Versicherung auf, die Kindt-Edition brächte „ohne wertendes Urteil und Gewichtung ausgewählte Selbstzeugnisse einer jungen Generation.“22 So der Dritte im Bunde jener Wissenschaftlichen Kommission, der gleichfalls der Jugendbewegung23 entstammende Historiker Hans Raupach (1903–1977), der seine höchst eigenen Gründe hatte (s. S. 44 ff.), keine (ihn) belastenden Dokumente aus der bündischen und beginnenden NS-Zeit zu präsentieren. In der Linie dieses fast schon verschwörerischen Einvernehmens, die Editionsarbeit Kindts gleichsam unter allen Umständen, und dies meint auch: unter Beisetzung der 1977 von Michael H. Kater erhobenen Vorwürfe gutzuheißen, war es fast folgerichtig, dass die Universität Hamburg Kindt auf Antrag des geisteswissenschaftlichen Pädagogen Wilhelm Flitner (1889–1990)24 die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät verlieh.25 Ebenso wenig überrascht, dass Sabiene Autsch noch 2000 davon sprach, Kindt habe „Originaltexte aus der Jugendbewegung“26 verfügbar gemacht. Dem freilich ist, wie in der Einleitung angedeutet, nicht so: Kindts Versicherung aus dem Jahre 1968, „keine sinnentstellenden Kürzungen vorgenommen“ und „Fortlassungen in den Quellentexten“ nur dann veranlasst zu haben, wenn „Abschweifungen vom Thema oder zu breite Darlegungen“27 vorlagen, war schon damals das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben stand. Dies zeigt exemplarisch ein zu dieser Zeit sechs Jahre alter Brief Karl Sonntags an Kindt vom 14. August 1962 mit dem Vermerk, dass er dem Wiederabdruck seines 1922er Textes gegen Hans Blüher (s. S. 70 ff.) in Band I der Kindt-Edition nur zustimme unter der Maßgabe der Fortlassung einiger dem Grundsatz de mortuis nihil nisi bene28 widersprechender „Spitzen“ aus dem Original.29 Dass gerade dieser Text trotz derlei Vorsichtsmaßnahmen bei Rezensenten von Band I – etwa Hans-Joachim Schoeps (1909–1980) in der Zeit vom 22. November 196330 – für (berechtigte) Empörung sorgte, ändert nichts am Befund in der Hauptsache: Kindt und seine zahlreichen Zuarbeiter kürzten zielgerichtet und, wie im Folgenden deutlich werden wird, zumeist gedeckt durch die Wissenschaftliche Kommission. Einvernehmliche Absicht war dabei, mittels Quellenaufbereitung den Verdacht abzuweisen, die Jugendbewegung müsse der Vorgeschichte des Nationalsozialismus zugerechnet werden – eine These vor allem von Harry Pross, aber auch von Walter Laqueur.

1. Walter Laqueur und Harry Pross – ein Nestbeschmutzer wird ignoriert und ein anderer bekämpft

Fragt man Experten nach dem „profiliertesten Historiker der Jugendbewegung“31 und dem besten Buch zur Thematik, erhält man, auch heute noch – wie das eben angeführte Zitat Micha Brumliks belegt – zumeist zur Antwort: Walter Laqueur (Jg. 1921) und sein Buch Die deutsche Jugendbewegung (1962). Dieses Einvernehmen muss durchaus überraschen angesichts des Umstandes, dass dieses Buch aus der Feder eines in Breslau geborenen jüdischen Emigranten anfangs beim Mainstream für großes Unbehagen sorgte. Ein spätes Zeugnis gibt Otto Neulohs Rezension von Band III der Kindt-Edition aus dem Jahr 1976, wo es in Sachen der „vielumstrittenen Frage der Jugendbewegung in ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus“ heißt:

Die (Jugend-)Bewegung war in ihrer ersten Phase bis 1920 alles andere als völkisch oder nationalistisch eingestellt. Sie stand im Gegensatz zu dem Hurrapatriotismus der Monarchie und bekannte sich in der Meißnerformel zu antibürgerlichen Prinzipien des Lebens und Denkens.32

Gewiss: Explizit ging dies nicht gegen Laqueur, implizit aber schon. Denn immerhin war er es gewesen, der 1962 schon für die Zeit vor 1914 „Anfänge einer rückschrittlichen Entwicklung“ feststellte, die „weite Verbreitung völkischer Ideen“ konstatierte33 und die letztlich auch von Neuloh vorgetragene Position mit den Worten ad acta legte: „All das ist nur zu wahr, aber es geht den Dingen kaum auf den Grund.“34 Damit freilich machte sich Laqueur – Neuloh ist hier nur eine Stimme unter vielen – bei Veteranen im Umfeld des Burgarchivs äußerst unbeliebt. Werner Kindt etwa, in einem Brief an Wilhelm Flitner vom 24. 11. 1967 die Darstellung Laqueurs als eine tadelnd, die von der Politik ausgehe, verstieg sich im nämlichen Brief zu der Forderung an Flitner, in seinem Beitrag für den II. Band der Kindt-Edition „den Hinweis auf [Laqueur; d. Verf.] ganz wegzulassen.“35 Dass Flitner Kindt, diesen Wunsch erfüllte, zeigt die Druckfassung: Hier ist – statt von Laqueur – nur noch von „ausländische[n] Autoren“ die Rede, die geneigt seien, in Sachen der Frage, „ob und wie die Jugendbewegung zur Entstehung der nationalsozialistischen Ideologie […] beigetragen“ habe, Kontinuität herzustellen, wohingegen „ehemalige ‚Bündische‘ die Diskontinuität hervorgehoben [haben].“ Flitner meinte zwar im unmittelbaren Folgesatz, „daß beide Aspekte mindestens als heuristische Motive zugelassen werden müssen,“36 zeigte dann aber durch seine weitere Argumentation, dass seine Sympathie eindeutig der Diskontinuitätsthese galt.

Neu war diese Sicht der Dinge in den Flitner nahestehenden Kreisen nicht, wie eine Rückbesinnung auf ein in diese Richtung weisendes Argument von Eduard Spranger37 zeigt. Und sie war auch nicht folgenlos, wie das Beispiel Ulrich Herrmann38 lehrt. Flitner argumentierte ähnlich, nämlich so, dass die Jugendbewegung der ‚freideutschen‘ Zeit (1913–1919) viel über „Sozialismus, Marxismus, soziale Frage, Rechts- und Staatsphilosophie“ diskutiert habe, obgleich seit dem ‚Hohen Meißner‘ 1913 klar war, dass „die Bewegung keine politische Theorie eigener Art, keine Aktivität eigener Richtung sich zum Ziel setzen [konnte]“, sondern als „Selbsterziehungsbewegung“ zu begreifen sei. Dieses richtige und triftige Ideal – so hat man Flitner zu verstehen – sei erst im Verlauf von Inflation (1919–1924) wie Deflation (1930–1933) endgültig brüchig geworden und habe „in den späteren Zwanziger Jahren“ Bemühungen zum Zusammenschluss der Wandervogelbünde ebenso begünstigt wie Versuche, die vorhandenen „Ideen in ein politisches Programm zu gießen“, mit der Folge, dass nun, „in dieser zweiten Phase der Jugendbewegung“, Tendenzen zur „nationalen Einigkeit“ ebenso Widerhall fanden wie solche zum „Anschluß an den Kommunismus“, ganz zu schweigen davon, dass nun auch „Alldeutschtum und Antisemitismus […] Anhänger wie heftige Gegnerschaft [fanden].“ Flitner las diesen „ungeklärten Irrationalismus‘ des politischen Denkens“ als eine Art Begleiteffekt der Mängel, „die dem deutschen Staatsbürgertum überhaupt anhafteten“ (und dessen Pointe fatal war):

Die brutalen und tief inhumanen Methoden der totalitären Gruppen, besonders der Faschisten und Nationalsozialisten, wurden anfangs nur unzureichend wahrgenommen; als sie erkannt wurden, war es für eine Aktion zu spät.39

Flitner setzte noch hinzu, dass ein Scheitern einer Aktion mehr als wahrscheinlich gewesen wäre – ein Zusatz, der ihn ehrt. Die andernorts40 näher erläuterte These allerdings bleibt, dass Flitner die Politisierung von ‚rechts‘, die eben nicht erst in der Inflationszeit einsetzte, sondern schon die Debatte um die Meißnerformel begleitete, um dann in der Kriegszeit zu eskalieren, systematisch, auch qua Editionspolitik, kleinarbeitete, in der Absicht, der Jugendbewegung der Kaiserzeit – ebenso natürlich wie der Reformpädagogik dieser Ära allgemein – ihren Nimbus als Hoffnungsträger pädagogischen Sehnens zu erhalten.

Die Folgen dieser Erinnerungspolitik sind erheblich. Ein besonders extremes Beispiel hinterließ Eckard Holler 1984, damals wie 200641 in den Spuren Ernst Blochs wandelnd:

[D]ie Jugendbewegung war nie profaschistisch, sondern in ihrer Wendung gegen den ‚Spießer‘ und den gesellschaftlichen Konformismus stets alternativ und tendenziell links.42

Freilich: Was Holler sowie in seinem Sog Jürgen Reulecke43 unterschlugen, ist der Umstand, dass Bloch die Jugendbewegung nicht einseitig als „Beweisstück für den fragmentarischen und realutopischen Charakter der ‚noch nicht‘ zur Heimat gewordenen Welt“44 las, sondern auch als Beleg nahm für eine vom Grundanliegen her falsch angelegte Utopie, die ihr Scheitern schon in sich trug nach dem Muster:

Die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, wie sie unter Erwachsenen nicht vorhanden, hörte schließlich auf Hitler; denn gab es gegen die Alten keine Inhalte, so gab es doch neue brennend-blasend-verblasene Worte, und es gab gegen die Alten, die noch nicht vom Blutdurst glühten, Macht. Statt der Spannung Vater-Sohn und dem Aufbegehren des Sohnes gegen den drückenden Vater kam die Angst der Eltern vor dem Hitlerjungen.45

Es mag dem in der Linie Holler/Reulecke fast zwangsläufigen Beiseitesetzen von subtilen Einschätzungen wie dieser geschuldet sein, dass man noch 2010 in einem Handbuchartikel lesen konnte, die Jugendbewegung sei bis 1914 weltoffen gewesen, sie habe „Freude am tätigen, einfachen Leben“ gehabt und ihr (selbsterziehungsorientiertes) Handeln als „sozialpädagogisch“ definiert – und eigentlich könne man ihr nur eines anlasten: nämlich dass der, der nicht den richtigen ‚Stallgeruch‘ hatte, „aus der Gruppe herausgebissen“ wurde: „Mädchen, Juden, Proletarierkinder.“ Dem folgt dann noch, gleichsam als Schlusswort in Sachen dieser Phase der Jugendbewegung: „Die scheinbare Weltoffenheit der Wandervögel brach im Ersten Weltkrieg in sich zusammen.“46 Dies klingt gut und ist auch flott geschrieben, hat aber mit historischer Forschung weit weniger zu tun als mit der Konstruktion von Mythen – die in Abwehr der Bedenken Laqueurs fast unvermeidbar sind.

Eine etwas andere, zumal im deutschsprachigen Raum gravierendere Herausforderung tat sich in der Linie des Publizisten Harry Pross (1923–2010) auf, 1968 bis 1983 Ordinarius für Publizistik an der FU Berlin. Pross, über eigene leidvolle Erfahrungen in der HJ47 verfügend, wohnte schon als Pfadfinder und blutjunger Doktorand dem legendären, Pfingsten 1947 abgehaltenen Altenberger Konvent des Freideutschen Kreises bei.48 Über dessen Ergebnis instruiert ein Flugblatt aus Werner Kindts Feder. In ihm heißt es, gleichsam in programmatischer Absicht, „daß der Nationalsozialismus das Gedankengut und die Lebensformen der Jugendbewegung mißbraucht hat, um seinen brutalen Machtwillen mit dem gläubigen Idealismus der deutschen Jugend zu tarnen.“49 Wenig später legte Pross seine Heidelberger Dissertation zum Thema Nationale und soziale Prinzipien in der Bündischen Jugend (1949) vor, eine eigentlich harmlose, an politischen Orientierungen der Handlungsträger zumindest der Vorkriegsjugendbewegung eher desinteressierte Studie. Ihr zentrales Diktum ging auf Deutung der Jugendbewegung nicht als „organisierte Vereinigung zu irgendeinem ausserhalb liegenden Zweck“, sondern als „stark situationsgebundener seelischer Zustand.“50 Für die Weimarer Epoche freilich trug Pross der „Korrelation von autonomer und ‚völkischer Bewegung‘“51durchaus Rechnung. Und im achten, mit Bündische Jugend und Hitlerbewegung überschriebenen52 Kapitel bereitete Pross Material auf, das sich mit jener Altenberger Erklärung nicht vertrug und später (1955) von Arno Klönne als „außerordentlich interessant“53 gelobt wurde. Dies war also ein für Veteranen damals durchaus bedrohlicher Hinweis. Dabei gilt es zu bedenken, dass sich Klönne insbesondere wohl wegen der These, die bündische Jugend habe dem Nationalsozialismus „beträchtliche Handlangerdienste“54 geleistet, schon damals dem Tatvorwurf der ‚Brunnenvergiftung‘ ausgesetzt sah55 – nicht ganz zu Unrecht übrigens: Klönne hatte bei seinen Vorwürfen den Goebbels-Propagandisten und vormaligen Burschenschaftler Hans Fritzsche (1900–1953) mit dem namensgleichen Ringpfadfinder (1891–1942) verwechselt.

Weniger angreifbar agierte Pross, wenngleich ihm dies nicht wirklich half: Basierend auf seiner Dissertation verfasste Pross einige kritische (Funk-)Essays zur Geschichte der Jugendbewegung und damit assoziierten Themen. Separat wurden sie publiziert unter dem Titel Vor und nach Hitler (1962). Veteranen waren entsetzt und kreideten Pross „willkürliche Quellenauswahl“ an, auch unzulässige Verallgemeinerung und mangelnde Repräsentativität, vor allem aber die „Tendenz […], die Jugendbewegung, insonderheit die Bündische Jugend, für den Aufstieg des Nationalsozialismus verantwortlich zu erklären.“56 Tadel zog auch Pross‘ im Juli 1961 schon im 78. Tausend vorliegende Quellensammlung Die Zerstörung der deutschen Politik. Dokumente 1871–1933 (1959) auf sich, bis hin zu Harald Scholtz (2006).57 Kaum besser erging es Pross‘ Gesamtdarstellung (nicht etwa58 Dissertation) Jugend – Eros – Politik (1964). Der Titel war fraglos nicht glücklich gewählt und rief nach Spott vom Typ „effekthaschendes Sammelsurium.“59 Dass die Sache keineswegs so lustig ist, zeigt Pross‘ zentrale Diagnose in Sachen Bildungsgut Jugendbewegter:

Überlastung […] mit höchst obskuren nationalen und sozialen Vorstellungen, die in der deutschen Gegenrevolution von Chamberlain, Lagarde, Class, Moeller bis Rosenberg und Hitler umgingen.60

Welcher Sprengsatz hier verborgen war, sei exemplarisch für einen heutzutage eher unbekannten Namen erläutert: Heinrich Claß (1868–1953) war viele Jahre Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes und wurde im November 1933 „als ideologischer Wegbereiter des Nationalsozialismus mit einem Reichstagsmandat bedacht.“61 Berühmt wurde Claß mit seiner unter dem Pseudonym Daniel Frymann erschienenen Programmschrift Wenn ich der Kaiser wär‘ (1912), die insbesondere in der Wandervogelführerzeitung zur Lektüre empfohlen wurde.62 Großen Erfolg erreichte Claß auch mit seiner unter dem Pseudonym Einhart vorgelegten Deutschen Geschichte (bis 1940 fünfzehn Auflagen63).

Noch brisanter ist aber sicherlich der von Pross erwähnte Name Houston Stewart Chamberlain (1855–1927), dessen Hauptwerk Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts (1899) entscheidend zum Image Chamberlains als „‚Hofphilosoph‘ unter Wilhem II.“64 beitrug sowie der geistesgeschichtlichen Fundierung des Rassegedankens sowie des Antisemitismus in nationalsozialistischer Ausprägung förderlich war. Die spezifische Wirkung Chamberlains auf einen Kreis Gleichgesinnter in einer österreichische Hochschulgilde vor dem Ersten Weltkrieg dürfte auch durch Chamberlains zeitweiligen (1889 bis 1909) Wohnort Wien erklärbar sein.65 Eindeutiger und eindeutig besser belegt ist Chamberlains Wirkung auf Hitler66 sowie Artur Dinter (1876–1948)67, Mitbegründer des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes (1919) sowie Nr. 5 von dessen Nachfolgeorganisation, der NSDAP. 1928 wurde Dinter zwar von Hitler wegen seiner Gründung der Geistchristlichen Religionsgemeinschaft (1927) aus der NSDAP ausgeschlossen (nach 1933 vorgetragene Bitten um Wiederaufnahme blieben erfolglos).68 Aber dies bezeugt eher eine taktische Distanz, keine grundlegende Differenz, wie auch Dinters mit ca. 1,5 Millionen Lesern bis 193069 größter Verkaufserfolg, der ‚Zeitroman‘ Die Sünde wider das Blut (1918), belegt: Er war Chamberlain gewidmet und bezog sich sowohl im Nachwort als auch in zwei Exkursen sowie in einigen Anmerkungen auf ihn, mit dem Ziel, die zentrale Botschaft, die auch die Hitlers war, plausibel zu machen:

Rasse ist alles! […]. [D]enn Volk und Vaterland geht, wie die Geschichte lehrt, unrettbar zugrunde, wenn die Rasse durch Mischung mit artfremdem Blut verdirbt.70

Der Erfolg von derlei Indoktrination blieb nicht aus: Wilhelm Kotzde (s.S. 63 f.) von den Adler und Falken wäre hier zu nennen, der „die Gedanken und Werke Chamberlains“ in seinem Nachruf auf diesen zu den „Grundlagen der völkischen Bewegung“71 rechnete. Auch der Hitler schon in jugendlichen Jahren verfallene und in Weimar vor allem von Adolf Bartels72 indoktrinierte HJ-Chef Baldur von Schirach (1907–1974)73 kommt in Betracht mit seinem Wort von 1934:

Was er [Chamberlain; d. Verf.] über Volk und Staat, ja sogar über den ständischen Aufbau sagt, über Parlamentarismus und Einzelherrschaft sowie über Politik schlechthin, ist Satz für Satz Nationalsozialismus.74

Die Aufdeckung von Zusammenhängen dieser Art, von Walter Laqueur75 angedeutet, waren in Pross‘ Linie zu befürchten, womit sich alles andere erklären könnte: Dinter wird in der Kindt-Edition sicherheitshalber erst gar nicht erwähnt. Und Friedrich Krauss‘ (1895–1977) – Pg. wie Dinter – Nachruf auf Dinters (völkischen) Verleger Erich Matthes (1888–1970)76 kommt ohne den Hinweis auf Dinter, also seinen größten Bestsellerautor, aus. Bei dieser Gelegenheit wird gleich auch noch die NSDAP-Mitgliedschaft von Matthes verschwiegen, im besten Einvernehmen mit der Kindt-Edition77 sowie mit Matthes selbst, wie dessen Aufzeichnungen für Hinrich Jantzen78 belegen.

Warum Krauss, übrigens mit Billigung des damaligen Burgarchivars Hans Wolf79, im Komplex Matthes/Dinter so zurückhaltend agierte, wird deutlicher, wenn man die zeitgleich laufende Kampagne gegen Pross bedenkt, wobei etwas weiter auszuholen ist. Die Auseinandersetzung mit Pross80 – dies die erste Feststellung – begleitete als stiller, aber gleichwohl sehr beredter Kommentar schon die ersten Schritte zur Planung der Kindt-Edition. Dies belegt ein Brief Kindts an Hans Wolf vom 26. September 1958,81 der offenbar das Startsignal gab für ein sechsseitiges, im Wesentlichen gegen Pross und eine seiner Sendungen gerichtetes Manuskript mit dem Titel Einspruch gegen Legenden über die Jugendbewegung! Kindt verfasste es am 6. Juni 196082 und teilte Wolf vier Monate später mit, Pross müsse als „hoffnungsloser Fall“83 gelten. Ähnlich sah dies auch Karl Vogt (1907–2002), neben Wolf der wohl zweitwichtigste Strippenzieher im Archiv, dem als Vorsitzender der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein (1953–1959) und Berater der Stiftung Jugendburg Ludwigstein sowie des Burgarchivs (bis 1983) sowie als Mitherausgeber des Jahrbuchs des AdJb (1975–1981) erhebliche Bedeutung zukam und der Kindt am 21. Juni 1959 wissen ließ:

Mir scheint es – und damit stimme ich mit […] Franz [= Günther Franz] wiederum überein – nicht ratsam zu sein, den akuten Anlaß, der uns zu diesem Werk [die Kindt-Edition] treibt, in der Begründung wie im Aufruf zu stark herauszustellen. Was Pross und andere Falsches geschrieben haben, sollte nicht als Grund für das Werk angegeben werden.84

Pikant dabei: Vogt war, ähnlich wie Franz und Schieder, durchaus, was die NS-Zeit angeht, kein unbeschriebenes Blatt als – so die eigene Angabe (von 1994) – „Mitarbeiter im Reichsernährungsministerium.“85 Jürgen Reulecke ergänzte 2005, Vogt sei „Fachreferent im mittleren Management des Landwirtschaftsministeriums und dort an der sog. ‚Reichsosthilfe‘, d. h. der Schaffung von ‚arischen‘ Bauernstellen in den im Osten besetzten Gebieten beteiligt“86 gewesen. Als Information half dies indes nicht wirklich weiter, zumal Vogts – von ihm 2000 weitergeführter87 – Zusatz: „[I]ch [wurde] nach der NS-Zeit den Vorwurf meines Gewissens nicht los[…], dabei mitgemacht zu haben,“88 von Reulecke nicht aufgegriffen wurde, ebensowenig wie durch den damaligen (1994) Gesprächsanreger Ulrich Herrmann.“89 Auffällig dabei: Sowohl Herrmann als auch Reulecke unterließen den Gang ins Bundesarachiv Berlin, obgleich dort Erstaunliches zu finden ist, etwa in der Linie des 1999 von Christian Gerlach90 in Erinnerung gerufenen Umstandes, dass Vogt als persönlicher Referent Herbert Backes (1896–1947)91 agierte, der von der Überzeugung ausging, der Erste Weltkrieg sei „nicht an der Front“, sondern in der Heimat verloren worden, „weil die Ernährungswirtschaft […] versagte.“92 Mit Kriegsbeginn gab Backe, ab Mai 1942 als Nachfolger Richard Walther Darrés (s. S. 57) fungierend, seinem Credo Raum, „die härtesten und die rücksichtslosesten Maßnahmen mit Würde durchzuführen.“93 Was dies hieß, konnte man in Leningrad besichtigen – die Millionenstadt wurde aus ernährungstaktischen Gründen94 eingekesselt und ausgehungert –, aber auch überall sonst an der Ostfront: Backe trug Mitverantwortung dafür, dass Millionen Kriegsgefangene sowie Juden verhungerten bzw., als ‚unnütze Esser‘, ermordet wurden.95 Backes (jämmerlicher) Tod entsprach diesem Leben: Getröstet dadurch, „im Testament des Führers […] Bestätigung als Minister erlebt zu haben“96 – so sein eigenes Testament vom 31. Januar 1946 –, erhängte sich Backe im April 1947 im Nürnberger Kriegsverbrechergefängnis aus Angst vor einer Auslieferung an die Sowjetunion.

Von diesem Abgrund zurück zu Vogt, der sich offenbar von seinem Chef in Sachen Fanatismus kaum unterschied als Mitglied von NDSAP und Lebensborn e. V. sowie SS im zuletzt (1944) Rang eines Obersturmbannführers soie Träger des Totenkopfrings und des Ehrendegens der SS, vor allem aber im Blick auf seinen Einsatz als Zuführer der Leibstandarte SS Adolf Hitler (LSSAH) in Italien 1943, zu einer Zeit also, zu der dort Massaker an Juden begangen wurden – Daten insgesamt, die Vogt als willfährigen Nazi ausweisen und den oben erwähnten Brief von ihm an Kindt vom Juni 1959 im denkbar fahlem Licht erscheinen lassen, zumal damit die Würfel in Sachen der Grundanlage der Kindt-Edition gefallen waren. Dies zeigt auch ein Brief Kindts an Wilhelm Stählin vom 14. Februar 1960, in welchem über Pross und die „Geschichtsklitterungen“ – in dessen Dokumentation von 195997 – geklagt wird, ehe dann folgt: „So fand ich Verständnis für meinen Rat, den zahlreichen Missverständnissen und Missdeutungen damit zu begegnen, daß man der Öffentlichkeit die wesentlichen Dokumente der Bewegung von 1896 bis 1933 in einem umfassenden, mehrbändigen Quellenwerk zugänglich macht.“98 Die Folgen blieben nicht aus: Das Stichwort ‚Pross‘ respektive der hiermit zusammenhängende Themenkomplex durchzog über Jahre und mit immer gleichen Tenor zahlreiche der Briefe nicht nur von Kindt, sondern auch anderer Mitarbeiter des Burgarchivs – bis hin zu dem geradezu skurrilen Höhepunkt aus dem andernorts99 erläuterten Brockhaus-Kapitel: Kindt entnahm einer ihm übersandten Liste zu erstellender Artikel irrtümlich, ausgerechnet er solle das beabsichtigte Lemma zu Pross – das in der 17. Auflage (1972) dann auch realisiert wurde – verfassen. Kindt war fassungslos, wie seine Briefe an die Brockhaus-Redaktion (vom 11. Januar und 5. April 1970100) belegen. Deren Tenor ist eindeutig und bekannt aus anderen, gedruckten Quellen: Kindt und seine willigen Helfer lasteten Pross unter der Rubrik „terrible simplificateurs“101 in immer neuen Anläufen und durchaus im Stil einer Kampagne an, als Nichtfachmann („Pross ist bekanntlich kein Historiker“102) und von außen gekommener Nestbeschmutzer der ‚goldenen‘ Legende der Jugendbewegung (aus der Feder der Betroffenen und Dabeigewesenen) eine ‚braune‘ entgegenstellen zu wollen. Diese Kritik wurde zunehmend auch auf die „willigen Nachfolger“103 von Pross ausgedehnt und von Karl Seidelmann104 in den Kontext der (für ihn) unerquicklichen Debatte um den Präfaschismus der Jugendbewegung gerückt. Als Gegenmittel wurde so etwas wie embedded science erprobt, am Beispiel Jakob Müller sei das erklärt: Ihm, der zwischen 1963 und 1969, teils mit Gattin in Archivnähe wohnend, für seine 1971 erschienene Dissertation über die Jugendbewegung recherchierte, stellte Kindt schon früh (brieflich am 17. Oktober 1964105) die Nachfolge des damals kränkelnden Archivleiters Hans Wolf in Aussicht, nebst Rat und Tat aller Beteiligten. Kaum überraschend bekam Pross dann in Müllers Dissertation eine „unzureichende bis grundlegend falsche Behandlung der fundamentalen Realitäten“106 bescheinigt. Auch wurde Müller im Jahrbuch des AdJb vom jungkonservativen Verfechter einer ‚konservativen Revolution‘, Armin Mohler (1920–2003), vorm. Waffen-SS,107 wegen seiner „immer wieder neu überraschenden geistigen Unbefangenheit“108 begeistert gefeiert. Dank wusste auch Hans Wolf, der Müller flugs zum profiliertesten Historiographen der Jugendbewegung erklärte.109

Dieses Beispiel legt es nahe, im weiteren Fortgang das bisher benannte Personal sowie einige Autoren der Kindt-Edition etwas genauer in Augenschein zu nehmen, ausgehend von der für Kriminalisten sich ja von selbst verstehenden Frage: Cui bono? Die Antwort, in den folgenden Abschnitten unterbreitet, kann kaum fraglich sein: Kindt, aber eben auch einige seiner Autoren sowie sämtliche mit seiner Kontrolle beauftragten Herren, durchgängig der Jugendbewegung resp. bündischen Jugend entstammend, hatten je ihre Gründe, die Geschichte mit dem Nationalsozialismus nicht zu hoch zu hängen und, als Teil dessen, Kindts Kampagne gegen Pross positiv zu sanktionieren.

2. Theodor Wilhelm – ein Vorzeigepädagoge im Kampf mit seinem Schatten Friedrich Oetinger

Als Erstes fällt einem in diesem Zusammenhang Theodor Wilhelm (1906–2005)110 ein, Historiker und Jurist, im Anschluss an seine Habilitation für Pädagogik (1957) Ordinarius an der Universität Kiel (bis 1972). Wilhelm zeichnet verantwortlich für den allerersten Beitrag Der geschichtliche Ort der deutschen Jugendbewegung