Die dunklen Wasser von Aberdeen - Stuart MacBride - E-Book
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Die dunklen Wasser von Aberdeen E-Book

Stuart MacBride

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Beschreibung

Detective Sergeant Logan McRae hat nach neun Monaten im Krankenstand seinen ersten Einsatz, und der könnte nicht schockierender sein: In einem Wassergraben hat man die Leiche des vierjährigen David Reid gefunden. Der Junge wurde erwürgt, seine Leiche grausam verstümmelt. Doch bei diesem Mord bleibt es nicht. Ein Serienkiller, der es auf Kinder abgesehen hat, macht das schottische Aberdeen unsicher. Und Logan weiß, das ihm nicht viel Zeit bleibt, bevor in der Bevölkerung eine Hexenjagd ausbricht …

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Buch

Vor neun Monaten wurde Detective Sergeant Logan McRae von einem Mordverdächtigen niedergestochen und schwer verletzt. Nun nimmt er den Dienst wieder auf, aber schon sein erster Einsatz wird zur Bewährungsprobe: Ein Spaziergänger hat in einem Wassergraben die Leiche eines als vermisst gemeldeten dreijährigen Jungen gefunden. Der kleine David Reid wurde erwürgt und wahrscheinlich sexuell missbraucht, seine Leiche grausam verstümmelt. Zum Entsetzen der Ermittler deuten sowohl Details am Fundort als auch die Autopsie auf einen sadistischen Serienkiller. McRaes Befürchtungen werden bestätigt, als wenig später erneut ein Kind verschwindet. Aber die fieberhaften Ermittlungen von McRae und seinem Team bei der Grampian Police werden nicht nur durch den Druck der Öffentlichkeit erschwert: Es scheint eine undichte Stelle im Polizeiapparat zu geben, da interne Informationen sofort ihren Weg in die Lokalpresse finden. Logan versucht mit allen Mitteln, den Mörder, aber auch den Informanten in den eigenen Reihen zu finden, während in der Bevölkerung bereits eine Hexenjagd droht …

Autor

Stuart MacBride hat bereits in einigen Berufen gearbeitet, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. »Die dunklen Wasser von Aberdeen« ist sein erster Roman, der in England sofort für Furore sorgte und ihm bereits Vergleiche mit Ian Rankin einbrachte. Mittlerweile hat Stuart MacBride bereits den zweiten Fall mit Detective Sergeant Logan McRae vorgelegt, der ebenfalls bei Goldmann erscheinen wird. Der Autor lebt mit seiner Frau im Nordosten Schottlands.

Stuart MacBride

Die

dunklen Wasser

von Aberdeen

Roman

Aus dem Englischen

von Andreas Jäger

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Cold Granite« bei HarperCollins Publishers, London
Copyright © der Originalausgabe 2005 by Stuart MacBride Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München. Covergestaltung: Design Team München Coverfoto: buchcover.com/H. Schädlich Redaktion: Claudia Alt AB · Herstellung: Str. Satz: omnisatz GmbH, Berlin ISBN: 978-3-641-12238-6V002
www.goldmann-verlag.de

Für Fiona

1

Tote Geschöpfe hatten ihn schon immer ganz besonders fasziniert. Ihre zarte Kühle. Die Art, wie ihre Haut sich anfühlte. Der durchdringende, süßliche Geruch der Verwesung, wenn sie nach und nach zu Gott zurückkehrten.

Das Geschöpf in seiner Hand war noch nicht lange tot.

Noch vor wenigen Stunden war es voller Leben gewesen.

Hatte sich seines Daseins gefreut.

Schmutzig und unordentlich und eklig.

Aber jetzt war es rein.

Behutsam legte er es zu den anderen auf den großen Haufen. Alles hier hatte einmal gelebt, war rastlos, laut und schmutzig gewesen, unordentlich und eklig. Aber jetzt waren sie alle bei Gott. Jetzt hatten sie ihren Frieden.

Er schloss die Augen und atmete tief ein, badete in den Gerüchen. Manche frisch, manche satt und voll. Alle wunderbar. So musste es riechen, wenn man Gott war, dachte er und betrachtete lächelnd seine Sammlung. So musste es riechen, wenn man im Himmel war. Von lauter Toten umgeben.

Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus; wie Flammen in einem brennenden Haus. Er sollte allmählich seine Medikamente nehmen, aber nicht jetzt. Noch nicht.

Nicht, wenn es so viele tote Geschöpfe gab, an denen er sich erfreuen konnte.

2

Draußen goss es in Strömen. Der Regen trommelte auf Dach und Wände des blauen Plastikzelts der Spurensicherung, füllte den engen Raum mit seinem Getöse aus, wetteiferte mit dem konstanten Brummen der tragbaren Generatoren und machte jede Unterhaltung unmöglich. Nicht, dass irgendwem nach einem lockeren Plausch zumute gewesen wäre, um Viertel nach zwölf in der Nacht von Sonntag auf Montag.

Nicht, solange David Reid da vor ihnen lag, auf der feuchtkalten Erde.

Am einen Ende des windschiefen Zelts war der Straßengraben auf einer Länge von etwa anderthalb Meter mit blauem Polizeiband abgesperrt. Dunkles, öliges Wasser glitzerte im Scheinwerferlicht. Der Rest des Zeltes deckte ein Stück Flussufer ab, bewachsen mit wintergelbem Gras, das von vielen Sohlen zertrampelt und in die matschige Erde gedrückt war.

Es herrschte drangvolle Enge. Allein vier Beamte von der Aberdeener Spurensicherung wuselten umher, gehüllt in weiße Schutzanzüge. Zwei stellten mit Pulver und Klebeband Fingerabdrücke sicher, während ein dritter Fotos schoss und der vierte alles für die Nachwelt auf Video bannte. Dazu kamen ein Streifenbeamter mit grünlich verfärbtem Gesicht, der Bereitschaftsarzt, ein Detective Sergeant, der schon bessere Zeiten gesehen hatte – und schließlich der Ehrengast: der kleine David Brookline Reid. In drei Monaten hätte er seinen vierten Geburtstag feiern sollen.

Sie hatten ihn aus dem kalten Wasser des Grabens ziehen müssen, ehe sie ihn offiziell für tot erklären konnten. Nicht, dass es daran irgendeinen Zweifel gegeben hätte. Der arme kleine Kerl weilte schon ziemlich lange nicht mehr unter den Lebenden. Er lag auf dem Rücken auf einer quadratischen blauen Plastikplane, allen Blicken schutzlos ausgesetzt. Außer einem X-Men-T-Shirt, das bis zu den Schultern hochgezogen war, hatte er keinen Faden am Leib.

Wieder blitzte die Kamera auf. Das gleißende Licht verschluckte Details und Farben, brannte ein Nachbild in die Netzhaut ein, das nicht mehr verschwinden wollte.

Detective Sergeant Logan McRae stand in der Ecke, kniff die Augen zusammen und überlegte krampfhaft, was er der Mutter des kleinen David Reid erzählen sollte. Ihr Sohn war seit drei Monaten vermisst worden. Drei Monate der Ungewissheit. Drei Monate, in denen sie immer gehofft hatte, dass ihr Kind gesund und wohlbehalten wieder auftauchen würde. Und dabei hatte es die ganze Zeit tot in einem Graben gelegen.

Logan rieb sich das müde Gesicht und spürte die kratzigen Stoppeln unter seinen Fingern. O Mann, er hätte morden können für eine Zigarette. Dabei sollte er eigentlich gar nicht hier sein!

Er zog seine Uhr aus der Tasche, und sein Atem bildete ein weißes Nebelwölkchen, als er verzweifelt aufstöhnte. Vierzehn Stunden, seit er sich am Sonntagmorgen zum Dienst gemeldet hatte. Genau so hatte er sich das vorgestellt mit dem »allmählichen Wiedereingewöhnen«.

Ein eisiger Windstoß peitschte durch das Zelt. Logan blickte auf und sah eine klatschnasse Gestalt aus dem strömenden Regen hereinschlüpfen. Die Pathologin war gekommen.

Dr. Isobel MacAlister: dreiunddreißig, kurz geschnittenes braunes Haar, eins dreiundsechzig. Macht leise miauende Geräusche, wenn man sie in die Innenseite der Oberschenkel beißt. Sie war tadellos gekleidet – maßgeschneiderter grauer Hosenanzug und schwarzer Mantel. Nur die riesigen, weiten Gummistiefel, die ihr um die Knie schlackerten, verdarben den Gesamteindruck ein wenig.

Mit der kühlen Distanz des Profis sah sie sich in dem überfüllten Zelt um und erstarrte, als ihr Blick an Logan hängen blieb. Ein unsicheres Lächeln blitzte auf und verschwand gleich wieder. Kein Wunder bei dem Bild, das er abgeben musste. Unrasiert, dunkle Ringe unter den verquollenen Augen, das dunkelbraune Haar wirr und zerzaust, vom Regen gekräuselt.

Isobel machte den Mund auf und wieder zu.

Der Regen hämmerte auf das Zeltdach, die Kamera klackte und sirrte, wenn der Blitz sich wieder auflud, die Generatoren brummten. Aber das Schweigen war ohrenbetäubend.

Der Bereitschaftsarzt brach schließlich den Bann. »Pfui Teufel!« Er balancierte auf einem Bein, während er das Wasser aus seinem Schuh kippte.

Isobel setzte wieder ihre professionelle Miene auf.

»Ist der Tod bereits festgestellt worden?«, fragte sie. Sie musste schreien, um sich bei dem Lärm verständlich zu machen.

Logan seufzte. Der Moment war vorüber.

Der Bereitschaftsarzt unterdrückte ein Gähnen und deutete auf den kleinen, aufgedunsenen Körper in der Mitte des Zeltes. »Kann man wohl sagen, dass der tot ist.« Er vergrub die Hände tief in den Hosentaschen und zog geräuschvoll die Nase hoch. »Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Der ist schon ein ganzes Weilchen tot. Mindestens zwei Monate.«

Isobel nickte und stellte ihre Tasche auf der Plane neben der Leiche ab. »Wahrscheinlich haben Sie Recht«, sagte sie, während sie in die Hocke ging und das tote Kind in Augenschein nahm.

Der Arzt stand noch eine Weile da und wippte auf den Fußballen auf und ab, während Isobel sich Latexhandschuhe überstreifte und ihre Instrumente auspackte. Seine Sohlen machten quatschende Geräusche im Morast. »Na denn«, sagte er, »geben Sie einfach Laut, wenn Sie irgendwas brauchen, okay?«

Isobel versprach, dass sie das tun würde, worauf sich der Bereitschaftsarzt mit einer leichten Verbeugung verabschiedete, sich an Logan vorbeidrängte und in die regengetränkte Nacht hinaustrat.

Logan blickte auf Isobels Kopf hinunter und dachte an all das, was er ihr hatte sagen wollen, wenn sie sich wieder begegneten. Um die Dinge wieder geradezubiegen. Um zu kitten, was zerbrochen war an jenem Tag, als Angus Robertson zu dreißig Jahren bis lebenslänglich verknackt worden war. Das hatte der ganzen Sache irgendwie einen Dämpfer aufgesetzt.

Und so fragte er stattdessen: »Kannst du schon was zur Todeszeit sagen?«

Sie blickte von dem verwesenden Körper auf und errötete ein wenig. »Doc Wilson hat nicht allzu weit danebengelegen«, sagte sie, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Zwei Monate, vielleicht auch drei. Nach der Autopsie kann ich mehr sagen. Ist er schon identifiziert?«

»David Reid. Drei Jahre alt, fast vier.« Logan seufzte. »Seit August auf der Vermisstenliste.«

»Armes Kerlchen.« Isabel zog ein leichtes Headset aus der Tasche, streifte es über ihre Haare und testete das Mikrofon. Dann legte sie eine neue Kassette in ihr Diktiergerät und machte sich an die Untersuchung des kleinen David Reid.

Halb zwei Uhr nachts, und immer noch machte der Regen keine Anstalten nachzulassen. DS Logan McRae stand im Windschatten einer verkrümmten Eiche, um sich vor den Böen zu schützen, und sah zu, wie das Blitzlicht des Fotografen das Zelt der Spurensicherung stakkatoartig erhellte. Jedes Mal, wenn er auf den Auslöser drückte, wurden die flackernden Silhouetten der darin Versammelten wie bei einem makabren Schattenspiel an die blaue Plastikplane geworfen.

Vier starke Scheinwerfer glühten im wolkenbruchartigen Regen vor sich hin und tauchten den Bereich um das Zelt in gleißendes weißes Licht, während von den tuckernden Generatoren bläulicher Dieselqualm aufstieg. Kalter Regen fiel zischend auf heißes Metall. Außerhalb dieses Lichtkegels war es stockfinster.

Zwei der Scheinwerfer waren auf die Stelle gerichtet, wo der Graben unter dem Zelt der Spurensicherung hervorkam. Durch die Regenfälle der letzten Novembertage war er bis zum Überlaufen gefüllt, und Polizeitaucher in dunkelblauen Neopren-Trockenanzügen wateten mit grimmigen Mienen in dem hüfthohen Wasser herum. Zwei der Spurensicherer mühten sich derweil unter kräftigen Flüchen, ein zweites Zelt über den Tauchern zu errichten, um im hoffnungslosen Wettlauf gegen Wind und Regen eventuell noch vorhandenes Beweismaterial vor den Elementen zu schützen.

Kaum zweieinhalb Meter von der Stelle entfernt floss der Don vorbei; scheinbar lautlos schossen die dunklen Fluten des angeschwollenen Flusses vorüber. Kleine Lichtpunkte tanzten auf der Oberfläche – die Scheinwerfer spiegelten sich in den schwarzen Wassermassen, zitternde Gebilde, die sich im prasselnden Regen unentwegt auflösten und neu formten. Man mochte über Aberdeen sagen, was man wollte – was Regen betraf, machte der Stadt so schnell keiner was vor.

Weiter flussaufwärts war der Don schon an einem Dutzend Stellen über die Ufer getreten, hatte ganze Landstriche überflutet und Felder in Seen verwandelt. Von hier waren es nur noch rund anderthalb Kilometer bis zur Nordsee, und das Wasser floss rasend schnell.

Auf der anderen Seite des Flusses erhob sich hinter einer Reihe kahler Bäume die Hochhaussiedlung Hayton. Fünf gesichtslose Quader, gesprenkelt mit kalten gelben Lichtpunkten, die immer wieder hinter einem dichten Regenschleier verschwanden. Es war eine fürchterliche Nacht.

Ein hastig zusammengestellter Suchtrupp, aufgeteilt in zwei Gruppen, arbeitete sich mit Taschenlampen bewaffnet in beide Richtungen am Ufer entlang vor. In der Finsternis konnten sie kaum hoffen, etwas zu finden, aber in den morgendlichen Fernsehnachrichten würde es einen guten Eindruck machen.

Schniefend vergrub Logan die Hände noch tiefer in den Taschen. Er drehte sich um und blickte den Hang hinauf, wo die Fernsehteams mit ihren gleißenden Scheinwerfern standen. Sie waren bald nach Logans Eintreffen am Tatort aufgetaucht, gierig auf Schnappschüsse von totem Fleisch. Anfangs war es nur die Lokalpresse gewesen, die jeden, der eine Polizeiuniform trug, mit ihren Fragen bombardiert hatte; dann waren die Schwergewichte eingetrudelt: BBC und ITV mit ihren Kameras und ihren ernst dreinblickenden Reportern.

Die Grampian Police hatte die übliche hinhaltende Pressemitteilung herausgegeben, vollkommen frei von jeglichen konkreten Einzelheiten. Der Himmel allein wusste, was die da oben auf dem Hügel ihren Zuschauern zu erzählen hatten.

Logan kehrte ihnen wieder den Rücken zu und sah den auf und ab hüpfenden Lichtkegeln der Taschenlampen nach, mit denen der Suchtrupp mühsam durch die Dunkelheit stapfte.

Normalerweise wäre dieser Fall gar nicht auf seinem Tisch gelandet. Nicht am ersten Tag nach seiner Auszeit. Aber der Rest der Aberdeener Kripo war entweder auf einer Fortbildung oder ließ sich bei der Party eines Kollegen voll laufen, der seinen Ausstand feierte. Es war noch nicht einmal ein Detective Inspector am Tatort! DI McPherson, der Logan eigentlich helfen sollte, sich wieder in den Dienstalltag hineinzufinden, musste sich erst mal den Kopf wieder zusammennähen lassen, den ihm jemand mit einem Küchenmesser abzusäbeln versucht hatte. Und so durfte Detective Sergeant Logan McRae nun die Ermittlungen in einem Mordfall leiten, und er konnte nur beten, dass er nicht allzu viel Mist baute, ehe er ihn wieder abgeben durfte. Willkommen zurück im Dienst.

Der Streifenpolizist mit dem grünlichen Teint kam aus dem Zelt der Spurensicherung gewankt und tapste mit quatschenden Schritten auf den Baum zu, unter dem Logan stand. Er sah so aus, wie Logan sich fühlte – nur schlimmer.

»O Mann.« Der Constable schüttelte sich und steckte sich gierig eine Zigarette zwischen die Lippen, als fürchtete er, dass ihm sonst der Kopf platzen könnte. Nach einer Weile fiel ihm ein, dass er dem neben ihm stehenden Detective Sergeant auch eine anbieten könnte, doch Logan lehnte dankend ab.

Der Polizist zuckte mit den Achseln und fischte ein Feuerzeug aus der Brusttasche seiner Uniformjacke. Er zündete die Zigarette an, die in der Dunkelheit glomm wie ein Stück Kohle. »Ganz schön üble Geschichte, und das an Ihrem ersten Tag zurück im Dienst, was, Sir?«

Eine weiße Wolke breitete sich in der Dunkelheit aus, und Logan atmete tief ein, sog den Rauch in seine vernarbten Lungen, ehe der Wind ihn fortwehen konnte.

»Was sagt Iso …« Er korrigierte sich. »Was sagt Dr. MacAlister?«

Wieder erhellte ein Blitz das Zelt und ließ die in der Bewegung erstarrten Schattenfiguren sehen.

»Auch nicht viel mehr als der Bereitschaftsarzt, Sir. Der arme kleine Knirps ist mit irgendwas erdrosselt worden. Das andere ist wahrscheinlich später passiert.«

Logan schloss die Augen und versuchte das Bild der aufgequollenen Kinderleiche zu verdrängen.

»Tja.« Der Constable nickte wissend, und das glimmende Ende seiner Zigarette wippte in der Dunkelheit auf und ab. »Wenigstens war er schon tot, als es passierte. Dafür müssen wir wohl dankbar sein.«

Concraig Circle war eine Straße in einem der Neubaugebiete von Kingswells, einem Vorort nur fünf Minuten außerhalb von Aberdeen, der Jahr um Jahr noch näher an die Stadt heranrückte. Die Häuser hier wurden als »individuell gestaltete Villen für den gehobenen Anspruch« beworben, sahen aber aus, als wären sie von jemandem entworfen worden, der ganze Wagenladungen gelber Backsteine, aber keinen Funken Fantasie besessen hatte.

Die Nummer 15 lag nahe der Einmündung einer gewundenen Sackgasse. Die Gärten waren alle noch so neu, dass sie kaum mehr als kahle Rasenrechtecke waren, gesäumt von stummeligen Sträuchern. An vielen Pflanzen prangten noch die Etiketten des Gartencenters. Obwohl es schon fast zwei Uhr früh war, brannte im Erdgeschoss von Nummer 15 noch Licht.

Detective Sergeant Logan McRae saß auf dem Beifahrersitz eines zivilen Einsatzwagens und seufzte. Ob es ihm nun gefiel oder nicht, er war der leitende Ermittlungsbeamte in diesem Fall, und das bedeutete, dass er die Pflicht hatte, David Reids Mutter den Tod ihres Sohnes mitzuteilen. Allerdings hatte er eine Vertrauensbeamtin und eine uniformierte Polizistin als Verstärkung mitgenommen, die diese Last mit ihm teilen würden.

»Also, dann wollen wir mal«, sagte er schließlich. »Hat ja keinen Sinn, es noch länger vor uns her zu schieben.«

Ein kräftiger Mann von Mitte fünfzig öffnete ihnen die Tür. Sein Gesicht war ziegelrot, er hatte einen Schnauzbart, und seine blutunterlaufenen Augen musterten die Polizisten feindselig. Er warf einen flüchtigen Blick auf Constable Watsons Uniform und sagte: »Wird aber auch höchste Zeit, dass ihr Typen hier aufkreuzt.« Die Arme vor der Brust verschränkt, wich er nicht von der Stelle.

Damit hatte Logan nicht gerechnet. »Ich muss mit Miss Reid sprechen«, sagte er schließlich.

»Ach ja? Da kommt ihr verdammt noch mal zu spät! Diese Scheiß-Zeitungsfritzen haben schon vor ’ner Viertelstunde hier angerufen und wollten ’n verdammtes Interview!« Mit jedem Wort wurde er lauter, bis er Logan regelrecht ins Gesicht brüllte. »Sie hätten uns zuerst informieren müssen!« Er schlug sich mit der Faust an die Brust. »Wir sind seine Familie, verdammt noch mal!«

Logan zuckte zusammen. Wie zum Teufel hatte die Presse Wind davon bekommen, dass sie David Reids Leiche gefunden hatten? Als ob die Familie nicht schon genug Kummer hätte.

»Es tut mir Leid, Mr. …?«

»Reid. Charles Reid.« Der Mann verschränkte erneut die Arme und blies sich noch mehr auf. »Ihr Vater.«

»Mr. Reid, ich weiß nicht, wie die Presse davon erfahren hat. Aber eines verspreche ich Ihnen: Wer immer dafür verantwortlich ist, kriegt von mir einen Tritt in den Hintern, dass er von hier bis Stonehaven fliegt.« Logan hielt inne. »Und ich weiß, dass das die Sache auch nicht wieder in Ordnung bringt, aber jetzt muss ich trotzdem mit Davids Mutter sprechen.«

Von der obersten Treppenstufe blickte der Vater finster auf Logan herab. Endlich trat er zur Seite, und Logan konnte durch eine Glastür in ein kleines, in lebhaftem Gelb gestrichenes Wohnzimmer sehen. Auf einem knallroten Sofa saßen zwei Frauen. Die eine sah aus wie ein Schlachtschiff im geblümten Kleid, die andere wie ein Zombie.

Die jüngere Frau blickte nicht auf, als die Polizisten das Wohnzimmer betraten. Sie saß nur da und starrte mit leeren Augen auf den Fernsehbildschirm, wo Dumbo gerade von den Clowns malträtiert wurde. Logan sah die Vertrauensbeamtin erwartungsvoll an, doch sie gab sich größte Mühe, jeglichen Blickkontakt mit ihm zu vermeiden.

Logan holte tief Luft. »Miss Reid?«

Keine Reaktion.

Logan ging vor dem Sofa in die Hocke und versperrte ihr die Sicht auf den Fernseher, doch sie schaute einfach durch ihn hindurch, als wäre er nicht da.

»Miss Reid? Alice?«

Sie rührte sich nicht. Doch die ältere Frau funkelte ihn böse an. Ihre Augen waren rot und verquollen, auf ihren runden Wangen und der schlaffen Haut unter ihrem Kinn glitzerten Tränen. »Wie können Sie es wagen!«, knurrte sie. »Sie unfähiger Haufen von Idi…«

»Sheila!« Der ältere Mann trat auf sie zu, und sie verstummte.

Logan wandte sich wieder der apathischen Gestalt auf dem Sofa zu. »Alice«, sagte er, »wir haben David gefunden.«

Bei dem Namen ihres Sohnes trat ein Funken Leben in ihre Augen. »David?« Ihre Lippen bewegten sich kaum, und ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

»Es tut mir Leid, Alice. Er ist tot.«

»David …«

»Er wurde ermordet.«

Es war einen Moment lang still, und dann explodierte der Vater. »Dieses dreckige Schwein! Dieses verdammte, dreckige Schwein! Er war erst drei!«

»Es tut mir Leid.« Mehr wollte Logan einfach nicht einfallen.

»Es tut Ihnen Leid? Es tut Ihnen Leid?«, fuhr Mr. Reid ihn an. Sein Gesicht war feuerrot. »Wenn ihr elenden Versager den Hintern aus dem Sessel gekriegt und ihn gleich gesucht hättet, als er verschwunden ist, dann wäre er jetzt nicht tot! Drei Monate!«

Die Vertrauensbeamtin gestikulierte beschwichtigend mit den Händen, doch Mr. Reid ignorierte sie. Er bebte vor Wut, und in seinen Augen funkelten Tränen. »Drei – verdammte – Monate!«

Logan hob die Hände.

»Bitte, Mr. Reid, beruhigen Sie sich doch, okay? Ich weiß, Sie sind sehr verärgert …«

Der Boxhieb hätte Logan nicht so unvorbereitet treffen dürfen. Doch die Faust krachte wie ein Ziegelstein in seine Magengrube, riss an dem Narbengewebe, schickte einen glühenden Feuerstrahl durch seine Eingeweide. Er klappte den Mund auf, um zu schreien, doch es war keine Luft mehr in seinen Lungen.

Logans Knie knickten ein. Eine Hand packte ihn grob am Revers und hielt ihn auf den Beinen, während eine zweite Faust ausholte, um sein Gesicht zu blutigem Brei zu schlagen.

Constable Watson rief irgendetwas, aber Logan hörte nicht hin. Ein lautes Krachen, und die Hand, die ihn hielt, ließ plötzlich los. Logan klappte auf dem Teppich zusammen, krümmte sich und hielt sich den brennenden Bauch. Ein wütender Schrei, und dann Constable Watsons scharfe Stimme. Sie drohte, ihm den Arm zu brechen, wenn er sich nicht beruhigte.

Mr. Reid stieß einen Schmerzensschrei aus.

Das geblümte Schlachtschiff kreischte: »Charlie! Um Himmels willen, hör auf damit!«

Constable Watson ließ noch eine höchst unprofessionelle Bemerkung fallen, und dann waren alle still.

Der Streifenwagen brauste mit Blaulicht und heulender Sirene über den Anderson Drive. Logan saß auf dem Beifahrersitz. Sein Gesicht war grau und mit kaltem Schweiß bedeckt. Er hielt sich mit beiden Händen den Bauch, und bei jeder Unebenheit und jedem Schlagloch knirschte er mit den Zähnen.

Mr. Charles Reid war auf dem Rücksitz festgeschnallt. Der Gurt war über seine mit Handschellen gefesselten Hände gespannt. Er sah verängstigt aus.

»O Gott, es tut mir Leid! O Gott, es tut mir ja so Leid!«

Vor dem Eingang der Notaufnahme brachte Constable Watson den Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen – auf einem Parkplatz mit der Aufschrift Nur für Rettungswagen. Sie half Logan aus dem Wagen, als wäre er aus Glas, wobei sie nur ein Mal kurz innehielt, um Mr. Reid anzufauchen: »Bleiben Sie bloß sitzen, bis ich zurückkomme, sonst mache ich mir Strumpfbänder aus Ihren Eingeweiden!« Um ganz sicher zu gehen, aktivierte sie die Alarmanlage und sperrte ihn im Wagen ein.

Sie hatten es schon bis zum Empfang geschafft, als Logan ohnmächtig wurde.

3

Das Präsidium der Grampian Police war in einem Gebäude aus grauem Beton und Glas untergebracht, einem siebenstöckigen Hochhaus, dessen Dach Notfall-Sendeanlagen und Funkantennen zierten. Es stand ganz am Ende der Queen Street, direkt neben dem Bezirksgericht. Gegenüber erhob sich das Marischal College, eine Art Hochzeitstorte aus grauem Granit, und gleich um die Ecke war das Arts Centre, ein Gebäude im Stil eines römischen Tempels und Zeugnis des viktorianischen Geschmacks. Das Polizeipräsidium dagegen zeugte lediglich von der Vorliebe der Bauherren für hässliche Architektur. Aber dafür war es nur einen Steinwurf vom historischen Town House, dem Rathaus und ungefähr einem Dutzend Pubs entfernt.

Pubs, Kirchen und Regen. Drei Dinge, die Aberdeen in Hülle und Fülle hatte.

Der Himmel über der Stadt war tief und düster, und das gelbliche Licht der Straßenlaternen verbreitete in den frühen Morgenstunden eine angekränkelte Atmosphäre – selbst die Straßen sahen aus, als ob ihnen schlecht wäre. Die sintflutartigen Regenfälle hatten auch über Nacht nicht nachgelassen, und immer noch klatschten schwere Tropfen auf das glänzende Pflaster. Die Gullys liefen schon über.

Busse rumpelten durch die Straßen und verpassten jedem, der so dumm war, sich an einem Tag wie diesem vor die Tür zu wagen, eine kostenlose Dusche.

Logan hielt sich krampfhaft mit einer Hand den Mantelkragen zu, während er das ganze Busfahrerpack mit deftigen Flüchen zur Hölle wünschte. Er hatte eine wahrhaft beschissene Nacht hinter sich: Ein Schlag in die Magengrube, gefolgt von drei Stunden in der Notaufnahme, wo die Ärzte an ihm herumgefummelt und ihn auf Herz und Nieren durchgecheckt hatten. Endlich, um Viertel nach fünf in der Früh, hatten sie ihn mit einer Packung Schmerztabletten und einem elastischen Verband nach Hause geschickt.

Immerhin hatte er eine ganze Stunde geschlafen.

Logan patschte in die Eingangshalle des Gebäudes in der Queen Street und blieb triefend vor der geschwungenen Empfangstheke stehen. Von seiner Wohnung waren es zu Fuß keine zwei Minuten bis hierher, aber er war trotzdem klatschnass.

»Guten Morgen, Sir«, begrüßte ihn ein spitzgesichtiger Sergeant, den Logan nicht kannte, von seinem Platz hinter der gläsernen Trennwand. »Was kann ich für Sie tun?« Er setzte ein höfliches Lächeln auf, und Logan seufzte.

»Morgen, Sergeant«, sagte er. »Ich sollte eigentlich DI McPherson zugeordnet werden …«

Das höfliche Lächeln verschwand, als der Wachhabende merkte, dass Logan gar kein Zivilist war.

»Das dürfte schwierig werden. Messer im Kopf.« Er demonstrierte die Bewegung des Zustechens mit der Hand, und Logan versuchte, nicht zusammenzuzucken. »Sind Sie …« Der Sergeant schlug in einem Heft nach, das vor ihm auf dem Tisch lag, und blätterte mehrmals hin und her, bis er gefunden hatte, was er suchte. »Detective Sergeant McRae?«

Logan gab zu, auf diesen Namen zu hören, und zeigte zum Beweis seinen Dienstausweis vor.

»Okay«, meinte der Sergeant, ohne eine Miene zu verziehen. »Sehr schön. Sie sollen sich bei DI Insch melden. Seine Einsatzbesprechung beginnt …« – er warf einen Blick auf die Uhr – »… vor fünf Minuten.« Das Lächeln war wieder da. »Er mag es gar nicht, wenn man unpünktlich ist.«

Logan kam zwölf Minuten zu spät zu der für halb acht angesetzten Einsatzbesprechung. Der Raum war voll mit ernst dreinschauenden Polizisten und Polizistinnen, und alle Köpfe fuhren synchron herum, als er sich hineinstahl und die Tür leise hinter sich schloss. Vorn stand Detective Inspector Insch, ein Mann von beeindruckender Leibesfülle mit Glatze und einem nagelneuen Anzug. Er brach mitten im Satz ab und wartete mit finsterer Miene, bis Logan sich zu einem freien Platz in der ersten Reihe geschleppt hatte.

»Wie ich bereits sagte« – der Inspector warf Logan einen vernichtenden Blick zu –, »kommt der vorläufige Bericht der Gerichtsmedizin zu dem Schluss, dass der Zeitpunkt des Todes vor rund drei Monaten anzusetzen ist. Drei Monate sind eine lange Zeit, wenn es um Beweismaterial geht, das an einem Tatort herumliegt, besonders bei diesem Pisswetter. Aber das heißt nicht, dass wir nicht danach suchen werden. Das ganze Gelände wird durchkämmt, und zwar in einem Radius von knapp einem Kilometer um den Fundort der Leiche.«

Das Publikum des Inspectors reagierte mit Stöhnen. Das war eine verdammt große Fläche, die sie da abdecken sollten, und finden würden sie dabei ganz bestimmt nichts. Nicht nach drei Monaten. Und draußen goss es immer noch wie aus Kübeln. Das würde eine lange, mühsame und feuchte Angelegenheit werden – kurz: ein Scheißjob.

»Ich kann verstehen, wenn Sie nicht gerade vor Begeisterung in lauten Jubel ausbrechen«, sagte DI Insch und angelte in seiner Hosentasche nach einem Gummibärchen. Er betrachtete es kritisch, blies die Fusseln herunter und steckte es in den Mund. »Aber das ist mir egal. Wir reden hier von einem dreijährigen Jungen. Wir werden das Schwein finden, das ihn auf dem Gewissen hat. Keine Pannen. Verstanden?«

Er machte eine Pause und blickte sich herausfordernd im Raum um.

»Gut. Apropos Pannen: Irgendjemand hat gestern Nacht der Press and Journal gesteckt, dass wir David Reids Leiche gefunden haben.« Er hielt eine Ausgabe der Morgenzeitung hoch. Die fette Schlagzeile lautete: »Vermisster Junge ermordet aufgefunden!« Zwei Fotos prangten auf der Titelseite; das eine zeigte den lächelnden David Reid, das andere das Zelt der Spurensicherung, von innen erleuchtet vom Blitzlicht des Polizeifotografen. Die Silhouetten der im Zelt Versammelten zeichneten sich an den Plastikwänden ab.

»Sie haben die Mutter angerufen, um eine Stellungnahme zu bekommen« – er hob die Stimme, und seine Miene verfinsterte sich –, »noch bevor wir der armen Frau sagen konnten, dass ihr Sohn tot ist!«

Insch knallte die Zeitung auf den Tisch. Im Saal erhob sich zorniges Gemurmel.

»Sie dürfen sich alle in den nächsten Tagen auf einen Besuch der Dienstaufsicht gefasst machen. Aber glauben Sie mir«, fuhr Insch langsam und betont fort, »die Hexenjagd dieser Jungs wird Ihnen wie ein Teddybären-Picknick vorkommen, verglichen mit dem, was Sie von mir erwartet. Wenn ich rauskriege, wer dahintersteckt, werde ich den Kerl persönlich an die Wand nageln – und zwar an den Eiern!«

Er nahm sich einen Moment Zeit, um grimmige Blicke in die Runde zu werfen.

»Gut, jetzt zur Einteilung für heute.« Der Inspector ließ sich mit einer Pobacke auf der Tischkante nieder und verlas die Namen: Wer Klinken putzen musste, wer das Flussufer abzusuchen hatte, wer im Präsidium bleiben und Telefondienst machen durfte. Der einzige Name, den er nicht vorlas, war der von Detective Sergeant Logan McRae.

»Und bevor Sie gehen«, sagte Insch und hob die Arme, wie um seine Gemeinde zu segnen, »möchte ich Sie noch daran erinnern, dass die Karten für das diesjährige Märchenspiel ab sofort am Empfang erhältlich sind. Vergessen Sie nicht, sich eine zu besorgen!«

Die Polizisten verließen schlurfend den Saal, wobei die Glücklichen, die den Telefondienst abbekommen hatten, triumphierend auf die armen Schweine herabsahen, die den Rest des Tages im strömenden Regen durch den Matsch waten würden. Logan stand unschlüssig am Ende der Schlange herum und hoffte, irgendein bekanntes Gesicht zu entdecken. Ein Jahr krankgeschrieben, und schon konnte er keinem mehr einen Namen zuordnen.

Der Inspector sah ihn unschlüssig herumstehen und rief ihn zu sich.

»Was war da letzte Nacht los?«, fragte er, als der letzte Constable draußen war und sie den Besprechungsraum für sich hatten.

Logan zückte sein Notizbuch und begann abzulesen: »Die Leiche wurde um zweiundzwanzig Uhr fünfzehn von einem gewissen Duncan Nicholson entdeckt …«

»Das habe ich nicht gemeint.« DI Insch machte es sich wieder auf der Tischkante bequem und verschränkte die Arme. Mit seiner beachtlichen Leibesfülle, dem kahlen Schädel und dem neuen Anzug erinnerte er an einen elegant gekleideten Buddha. Nur nicht ganz so freundlich. »Constable Watson hat Sie nach zwei Uhr heute früh in die Notaufnahme gebracht. Noch keine vierundzwanzig Stunden im Dienst, und schon verbringen Sie die Nacht im Krankenhaus. David Reids Großvater sitzt wegen eines tätlichen Angriffs auf einen Polizeibeamten in einer Arrestzelle. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, kommen Sie auch noch zu spät in meine Einsatzbesprechung gehumpelt.«

Logan trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Nun ja, Sir, Mr. Reid war sehr erregt. Er konnte im Grunde nichts dafür. Wenn die Presse nicht bei ihm angerufen hätte, dann wäre er …«

DI Insch fiel ihm ins Wort. »Sie sind eigentlich DI McPherson zugeteilt.«

»Äh … ja.«

Insch nickte wissend, fischte ein weiteres Gummibärchen aus der Tasche, steckte es sich mitsamt Fusseln und Krümeln in den Mund und redete kauend weiter. »Jetzt nicht mehr. Bis sie McPherson den Kopf wieder zusammengeflickt haben, gehören Sie mir.«

Logan versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. McPherson war zwei Jahre lang sein Chef gewesen, bis Angus Robertson ein Jagdmesser mit fünfzehn Zentimeter langer Klinge dazu missbraucht hatte, Logans Bauch in ein Sieb zu verwandeln. Logan mochte McPherson. Jeder, den er kannte, arbeitete für McPherson.

Von DI Insch wusste er nur, dass er auf Idioten allergisch reagierte. Und für den Inspector war jeder ein Idiot.

Insch lehnte sich zurück und musterte Logan von Kopf bis Fuß. »Sie werden mir doch hoffentlich nicht irgendwann im Dienst tot umkippen, Sergeant?«

»Nicht, wenn ich es vermeiden kann, Sir.«

Insch nickte, sein breites Gesicht verschlossen und distanziert. Ein unbehagliches Schweigen machte sich zwischen ihnen breit. Das war eines von DI Inschs Markenzeichen. Man musste beim Verhör nur eine längere Pause entstehen lassen, und irgendwann würde der Verdächtige schon den Mund aufmachen, würde einfach irgendetwas sagen, nur um die Lücke zu füllen. Es war schon verblüffend, was die Leute in einem unbedachten Moment so alles von sich gaben. Sachen, die sie eigentlich gar nicht sagen wollten. Sachen, von denen sie ganz bestimmt nicht wollten, dass DI Insch sie erfuhr.

Diesmal hielt Logan einfach den Mund.

Schließlich nickte der Inspector. »Ich habe Ihre Akte gelesen. McPherson meint, dass Sie kein Idiot sind, deswegen will ich mal das Beste annehmen. Aber wenn Sie es noch mal fertig bringen, in der Notaufnahme zu landen, dann sind Sie draußen. Verstanden?«

»Ja, Sir. Danke, Sir.«

»Gut. Ihre Eingewöhnungszeit ist hiermit gestrichen. Dieses ganze Samthandschuh-Gedöns ist mir sowieso zuwider. Entweder sind Sie fit genug für den Job, oder Sie sind es nicht. Die Obduktion beginnt in fünfzehn Minuten. Sie werden dabei sein.«

Er hievte sich vom Tisch hoch und klopfte seine Taschen nach weiteren Gummibärchen ab.

»Ich bin von acht Uhr fünfzehn bis elf Uhr dreißig in einer Stabsbesprechung; Sie werden mir also berichten müssen, wenn ich zurück bin.«

Logan blickte zur Tür und sah dann wieder Insch an.

»Haben Sie noch etwas auf dem Herzen, Sergeant?«

Logan verneinte, was glatt gelogen war.

»Gut. In Anbetracht Ihrer kleinen Spritztour zur Notaufnahme letzte Nacht ernenne ich Constable Watson zu Ihrem Schutzengel. Sie ist um zehn wieder im Haus. Lassen Sie sich ja nicht ohne sie erwischen. In dem Punkt lasse ich nicht mit mir reden, verstanden?«

»Ja, Sir.« Na toll, jetzt bekam er auch noch eine Babysitterin.

»Und jetzt ab mit Ihnen.«

Logan war schon fast zur Tür hinaus, als Insch noch hinzufügte: »Und sehen Sie zu, dass Sie es sich mit Constable Watson nicht verderben. Man nennt sie nicht umsonst die ›eiserne Jungfrau‹.«

Das Präsidium der Grampian Police war groß genug, um mit einem eigenen Leichenschauhaus aufwarten zu können. Dieses befand sich im Kellergeschoss, in sicherer Entfernung von der Kantine, um den Kollegen nicht den Appetit auf ihr Mittagssüppchen zu verderben. Eine Wand des großen, weißen, blitzsauberen Raumes wurde von Kühlfächern für die Leichen eingenommen. Die blank gewienerten Bodenfliesen quietschten unter Logans Sohlen, als er durch die Schwingtür eintrat. Ein durchdringender, antiseptischer Geruch erfüllte den kühlen Raum und überdeckte fast die Ausdünstungen des Todes. Es war eine merkwürdige Mischung von Gerüchen. Eine Mischung, die Logan immer mit der Frau in Verbindung bringen würde, die dort allein an einem der Autopsietische stand.

Dr. Isobel MacAlister trug ihre übliche Arbeitskleidung: pastellgrüner OP-Anzug, darüber eine rote Gummischürze, das kurze Haar von einer OP-Haube bedeckt. Und im Gesicht keinen Krümel Make-up, um Verunreinigungen der Leiche oder des Beweismaterials zu vermeiden. Als sie den Kopf hob, um zu sehen, wer da auf quietschenden Sohlen in ihren schönen keimfreien Autopsiesaal gelatscht kam, sah Logan, wie ihre Augen sich weiteten.

Er blieb stehen und riskierte ein Lächeln. »Hallo.«

Sie hob die Hand und hätte beinahe gewinkt. »Hallo …« Rasch senkte sie den Blick wieder auf den kleinen nackten Körper, der ausgestreckt auf dem Autopsietisch lag. Den dreijährigen David Reid. »Wir haben noch nicht angefangen. Wirst du zuschauen?«

Logan nickte und räusperte sich. »Ich wollte dich eigentlich letzte Nacht schon fragen«, sagte er. »Wie geht’s dir denn so?«

Sie wich seinem Blick aus und tat so, als richtete sie die Reihe glänzender Instrumente auf dem Tablett neu aus. Der Edelstahl blitzte im Schein der OP-Leuchten. »Ach …«, seufzte sie und zuckte mit den Achseln. »Wie’s halt so geht.« Ihre Hand blieb auf einem Skalpell liegen. Das glänzende Metall hob sich auffällig vom matten Weiß ihrer Latexhandschuhe ab. »Und bei dir?«

Auch Logan hob nur die Schultern. »Eigentlich wie immer.«

Die Stille war quälend.

»Isobel, ich …«

Die Doppeltür wurde erneut aufgestoßen, und Isobels Assistent Brian stürmte herein, mit dem stellvertretenden Gerichtsmediziner und dem Staatsanwalt im Schlepptau. »Entschuldige bitte die Verspätung. Wir mussten noch diesen tödlichen Unfall fertig machen – du kennst das ja, ein elender Papierkram ist das immer!«, sagte Brian und strich sich eine Strähne seiner wallenden Haarpracht aus dem Gesicht. Er ließ Logan ein zuckersüßes Lächeln zukommen. »Hallo, Sergeant, schön, Sie wiederzusehen!« Er blieb stehen, um Logan die Hand zu schütteln, und eilte dann weiter, um sich ebenfalls eine rote Gummischürze umzubinden. Der stellvertretende Gerichtsmediziner und der Staatsanwalt begrüßten Logan mit einem Nicken, entschuldigten sich ebenfalls bei Isobel und nahmen am Seziertisch Aufstellung, um ihr bei der Arbeit zuzusehen. Isobel würde allein das Skalpell schwingen; der andere Pathologe, ein übergewichtiger Mann von Anfang fünfzig mit Glatze und Haaren in den Ohren, war nur zugegen, um sich zu vergewissern, dass Isobels Ergebnisse korrekt waren. So schrieb es das schottische Recht nun einmal vor. Nicht, dass er es gewagt hätte, sie offen zu kritisieren. Und außerdem hatte sie sowieso immer Recht.

»Also«, sagte Isobel, »dann sollten wir vielleicht mal anfangen.« Sie setzte ihr Headset auf, machte einen Mikrofontest und ratterte die einleitenden Angaben herunter.

Logan sah zu, wie sie David Reids sterbliche Überreste langsam und sorgfältig nach Spuren absuchte. Drei Monate in einem Graben, bedeckt mit einer alten Spanplatte, hatten die Haut fast schwarz werden lassen. Sein ganzer Körper war durch das wundersame Wirken der Verwesung aufgeblasen wie ein Ballon. Die aufgeschwemmte Haut war mit kleinen weißen Flecken gesprenkelt, wie Sommersprossen; hier hatten sich Pilze angesiedelt. Der Gestank war jetzt schon übel, aber Logan wusste, dass er noch viel schlimmer werden würde.

Neben dem kleinen Leichnam stand eine Edelstahlschüssel, in der Isobel nun alles sammelte, was sie fand. Grashalme, Moosstücke, Papierfetzen. Alles, was seit dem Zeitpunkt des Todes an der Leiche hängen geblieben war. Vielleicht war ja etwas dabei, was ihnen helfen würde, David Reids Mörder zu identifizieren.

»Oho …«, rief Isobel, als sie in den Mund des toten Kindes spähte, der in einem stummen Schrei erstarrt war. »Da haben wir offenbar einen kleinen Besucher.« Vorsichtig stocherte sie mit einer Pinzette zwischen Davids Zähnen, und einen schrecklichen Augenblick lang dachte Logan, sie würde einen Totenkopfschwärmer hervorziehen. Doch als die Pinzette wieder zum Vorschein kam, wand sich nur eine Assel in ihrem Klammergriff.

Isobel hielt das schiefergraue Insekt ans Licht und sah zu, wie die kleinen Beinchen in der Luft zappelten.

»Ist wahrscheinlich auf der Suche nach einem Happen zu essen da reingekrabbelt«, sagte sie. »Ich glaube zwar kaum, dass das Tierchen uns irgendwas verraten wird, aber sicher ist sicher.« Sie ließ das Insekt in ein kleines Fläschchen mit Konservierungsflüssigkeit fallen.

Logan stand schweigend da und sah zu, wie die Assel langsam ertrank.

Anderthalb Stunden später standen sie vor dem Kaffeeautomaten im Erdgeschoss, während Isobels langhaariger Assistent David Reid wieder zusammennähte.

Logan fühlte sich ganz und gar nicht gut. Einer Exfreundin dabei zuzusehen, wie sie ein dreijähriges Kind auf einem Autopsietisch auseinander nahm, war eine neue Erfahrung für ihn. Der Gedanke an diese Hände, so ruhig und so geschickt, wie sie die Haut aufschlitzten, Proben entnahmen, maßen und wogen … Wie sie Brian kleine Plastikbehälter mit Stücken und Scheiben von Organen zum Verpacken und Etikettieren reichten … Er schüttelte sich, und Isobel unterbrach ihre Rede, um ihn zu fragen, ob ihm nicht gut sei.

»Bloß ’ne kleine Erkältung.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Was hast du gerade gesagt?«

»Todesursache ist Erdrosseln, und zwar mit etwas Dünnem, Glattem, wie einem Elektrokabel. Der Rücken weist umfangreiche Blutergüsse auf, besonders zwischen den Schultern, und es finden sich Schnitt- und Schürfwunden an Stirn, Nase und Wangen. Ich vermute, dass der Täter das Kind auf den Boden gedrückt und auf seinem Rücken gekniet hat, während er es würgte.« Ihre Stimme war sachlich und nüchtern, als sei das Sezieren von kleinen Kindern etwas, was sie jeden Tag machte. Zum ersten Mal wurde Logan bewusst, dass dies wohl tatsächlich der Fall war. »Spermarückstände waren nicht zu finden, aber nach so langer Zeit …« Sie zuckte die Achseln. »Die Risse im Analbereich deuten allerdings auf eine erfolgte Penetration hin.«

Logan verzog das Gesicht und kippte die heiße braune Flüssigkeit aus seinem Plastikbecher in den Abfalleimer.

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Diese Verletzungen sind postmortal, falls das irgendein Trost ist. Das Kind war schon tot, als es passierte.«

»Irgendeine Chance, DNS zu bekommen?«

»Eher unwahrscheinlich. Die inneren Verletzungen passen nicht zu einem biegsamen Objekt. Ich würde sagen, dass es eher ein Fremdkörper als der Penis des Täters war. Vielleicht ein Besenstiel?«

Logan schloss die Augen und fluchte halblaut. Isobel zuckte nur die Achseln.

»Tut mir Leid«, sagte sie. »Davids Genitalien wurden dem Anschein nach einige Zeit nach Eintritt des Todes mit einer Schere mit gebogenen Klingen abgetrennt, einer Gartenschere vermutlich. Das Blut war schon geronnen. Wahrscheinlich hatte auch die Leichenstarre bereits eingesetzt.«

Sie standen eine Zeit lang schweigend da, ohne einander anzusehen.

Isobel drehte ihren Plastikbecher zwischen den Fingern. »Ich … Es tut mir Leid …« Sie brach ab und drehte den Becher in die andere Richtung.

Logan nickte. »Mir auch«, sagte er und ging.

4

Constable Watson wartete am Empfangstresen auf ihn. Sie war bis zu den Ohren in eine dicke schwarze Polizeijacke eingemummt, auf deren wasserdichter Außenhaut Regentropfen glitzerten. Ihr Haar hatte sie unter der Schirmmütze zu einem festen Knoten zusammengesteckt, und ihre Nase war rot wie ein Radieschen.

Sie lächelte, als er mit den Händen in den Hosentaschen auf sie zukam, in Gedanken immer noch bei der Autopsie.

»Morgen, Sir. Wie geht’s Ihrem Magen?«

Logan lächelte gequält; der Geruch nach totem Kind hing ihm immer noch in der Nase. »Geht. Und selbst?«

Sie zuckte die Achseln. »Bin froh, dass ich wieder Tagdienst habe.« Sie blickte sich in der leeren Eingangshalle um. »Also, was steht an?«

Logan sah auf seine Uhr. Es ging auf zehn zu. Noch anderthalb Stunden totzuschlagen, ehe Insch aus seiner Besprechung kam.

»Wie wär’s mit ’ner kleinen Spritztour?«

Sie unterschrieben für einen Wagen aus dem Kripo-Fuhrpark. Constable Watson fuhr den rostigen blauen Vauxhall, während Logan auf dem Beifahrersitz saß und in den Dauerregen hinausschaute. Es blieb ihnen gerade noch genug Zeit, um quer durch die Stadt nach Bridge of Don zu fahren, wo die Suchtrupps vermutlich immer noch durch den Regen und den Matsch stapften, auf der Suche nach höchstwahrscheinlich nicht vorhandenem Beweismaterial.

Vor ihnen rumpelte ein Gelenkbus die Straße entlang und spritzte Fontänen von Regenwasser durch die Gegend. Er war über und über mit Weihnachtsreklame von Geschäften in der Innenstadt bepflastert.

Watson hatte die Scheibenwischer auf die höchste Stufe gestellt, und das rhythmische Quietsch-Klack des Gummis auf der Windschutzscheibe übertönte sogar das Rauschen der Lüftung. Keiner der beiden hatte ein Wort gesprochen, seit sie das Präsidium verlassen hatten.

»Ich habe dem Wachhabenden gesagt, er soll Charles Reid eine Verwarnung geben und ihn laufen lassen«, sagte Logan schließlich.

Constable Watson nickte. »Dachte ich mir schon.« Sie fuhr hinter einem teuer aussehenden Geländewagen auf die Kreuzung.

»Er konnte wirklich nichts dafür.«

»Darüber steht mir kein Urteil zu, Sir. Sie sind derjenige, den er fast umgebracht hätte.«

Der Fahrer des Geländewagens mit Vierradantrieb – wahrscheinlich war das schwierigste Gelände, das er je zu bewältigen hatte, die Holburn Street mit ihren Schlaglöchern – kam plötzlich auf die Idee, rechts abbiegen zu wollen, und blieb mitten auf der Kreuzung stehen. Watson fluchte und versuchte, eine Lücke im Verkehr abzupassen, der jetzt links an ihnen vorbeiströmte.

»Typisch Mann am Steuer!«, murmelte sie, dann fiel ihr ein, dass Logan neben ihr saß. »’tschuldigung, Sir.«

»Ist schon in Ordnung …« Er verfiel wieder in Schweigen und dachte an Charles Reid und ihre Fahrt zur Notaufnahme der Aberdeen Royal Infirmary vergangene Nacht. Charles Reid konnte man wirklich keinen Vorwurf machen. Da ruft irgendein Typ deine Tochter an und fragt sie, was sie davon hält, dass die Leiche ihres ermordeten dreijährigen Sohnes in einem Straßengraben gefunden wurde. Kein Wunder, dass er dem Erstbesten, der ihm in die Quere gekommen war, eine verpasst hatte. Der wahre Schuldige war derjenige, der die Geschichte der P & J verkauft hatte, wer immer es gewesen war.

»Neuer Plan«, sagte er. »Wollen doch mal sehen, ob wir uns nicht einen von diesen schmierigen Journalisten vornehmen können.«

»The Press and Journal. Lokalnachrichten seit 1748.« So prangte es im Kopf jeder Ausgabe. Aber das Gebäude, das die Zeitung mit ihrem Schwesterblatt, dem Evening Express, teilte, wollte so gar nicht zu dieser ehrwürdigen Tradition passen. Es war ein potthässlicher zweistöckiger Betonklotz in einer Seitenstraße der Lang Stracht, der hinter einem hohen Maschendrahtzaun hockte wie ein schlecht gelaunter Rottweiler. Da es von der Hauptstraße aus keine Zufahrt gab, kutschierte Constable Watson sie durch ein schäbig aussehendes Gewerbegebiet mit überfüllten Ausstellungsräumen von Autohäusern und zugeparkten Straßen. Der Wachmann warf nur einen Blick auf Watsons Uniform und fuhr sofort die Schranke hoch, um sie mit einem Lächeln, das sein lückenhaftes Gebiss sehen ließ, durchzuwinken.

»Aberdeen Journals Ltd.« stand in goldenen Lettern auf der Wand aus poliertem Granit neben der Drehtür, durch die man in den Empfangsbereich gelangte. Darunter eine Messingtafel mit der Geschichte der Zeitung. »Gegründet von James Chalmers im Jahre 1748 …« Bla, bla, bla. Logan sparte sich den Rest.

Die zartlila gestrichenen Wände des Empfangsbereichs waren kahl. Nur eine geschnitzte Holztafel, auf der die Namen der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Mitarbeiter der Zeitung verewigt waren, durchbrach die Monotonie. Logan hatte eine etwas mehr zeitungsgemäße Einrichtung erwartet: gerahmte Titelseiten, Preise, Fotos der Journalisten. Stattdessen sah es so aus, als wäre der Verlag gerade erst hier eingezogen und noch nicht dazu gekommen, die Bilder aufzuhängen.

Kümmerliche Topfpflanzen standen auf dem grellbunten Fußboden herum – leuchtend blaue Linoleumquadrate in Marmor-Optik in einem Gitter aus Gold und Pink.

Die Dame am Empfang sah auch nicht viel besser aus: rosa Augen, strähnige blonde Haare. Sie roch streng nach Hustenbonbons mit Menthol. Nachdem sie die Besucher mit triefäugigem Blick gemustert hatte, trompetete sie zuerst einmal in ein nicht allzu frisch aussehendes Taschentuch.

»Willkommen bei Aberdeen Journals«, sagte sie mit einem auffallenden Mangel an Begeisterung. »Was kann ich für Sie tun?«

Logan zerrte seinen Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn der Frau unter die laufende Nase. »Detective Sergeant McRae. Ich möchte mit der Person sprechen, die letzte Nacht bei Alice Reid angerufen hat.«

Die Empfangsdame starrte seinen Ausweis an, dann Logan und schließlich Constable Watson. Sie seufzte. »Keine Ahnung.« Nach einer Pause, in der sie kräftig die Nase hochzog, erklärte sie: »Ich bin nur montags und mittwochs hier.«

»Und wer könnte das wissen?«

Die Empfangsdame zuckte nur die Achseln und schniefte erneut.

Constable Watson schnappte sich ein Exemplar der Morgenzeitung von einem Ständer und knallte es auf den Empfangstresen. »Vermisster Junge tot aufgefunden!« Sie tippte mit dem Finger auf die Zeile, wo es hieß: »Von Colin Miller.«

»Wir wär’s mit ihm hier?«, fragte sie.

Die Empfangsdame nahm die Zeitung und schielte mit ihren verquollenen Augen auf die Verfasserzeile. Ihre Mundwinkel bogen sich plötzlich nach unten. »Ach … der.«

Mit finsterer Miene hackte sie auf die Tasten ihrer Telefonanlage ein. Eine kräftige weibliche Stimme tönte aus dem Lautsprecher: »Ja?« Sie riss den Hörer von der Gabel, und ihr Akzent wechselte unvermittelt von verschnupft, aber kultiviert zu verschnupftem Aberdonian der breitesten Sorte.

»Lesley? Aye, ich bin’s, Sharon … Du, Lesley, is’ unser Gottesgeschenk zufällig da?« Pause. »Aye, es is’ die Polizei … Weiß nich’, wart mal ’n Moment.«

Sie deckte die Sprechmuschel mit der Hand ab und blickte hoffnungsvoll zu Logan auf. »Werden Sie ihn verhaften?«, fragte sie, jetzt wieder mit ihrem feinen Akzent.

Logan sah sie verdutzt an. »Wir wollen ihm nur ein paar Fragen stellen«, sagte er schließlich.

»Oh.« Sharon wirkte enttäuscht. »Nee«, sagte sie wieder in den Hörer. »Der kleine Kotzbrocken wird nich’ eingebuchtet.« Sie nickte ein paar Mal und grinste dann über beide Ohren. »Ich frag mal.« Sie klimperte mit den Wimpern, machte einen Schmollmund und blickte so verführerisch, wie es ihr mit ihrer geröteten und schuppigen Nase eben möglich war, zu Logan auf. »Wenn Sie ihn schon nicht verhaften, wäre dann vielleicht wenigstens ein bisschen übermäßige Härte drin?«

Constable Watson zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Wir sehen mal, was sich machen lässt. Wo ist er?«

Die Empfangsdame deutete auf eine Sicherheitstür zu ihrer Linken. »Scheuen Sie sich nicht, ihm Arme und Beine zu brechen.« Sie grinste und drückte auf den Knopf, um sie durchzulassen.

Die Redaktion erinnerte an eine Lagerhalle mit Teppichboden – ein weitläufiges Großraumbüro mit eingezogenen Deckenplatten. Sie blickten auf ein ganzes Meer von Schreibtischen, die sich in kleinen Grüppchen zusammendrängten: Aktuelles, Feuilleton, Editorial, Layout … Die Wände waren im gleichen Blasslila gehalten wie im Eingangsbereich, und sie waren ebenso kahl. Es gab keine Trennwände, und die Schreibtischflächen gingen praktisch ineinander über. Papierstapel, gelbe Haftzettel, hingekritzelte Notizen, alles wälzte sich in langsam vorrückenden Lawinen von einem Tisch zum anderen.

Computerbildschirme flackerten im Schein der Deckenbeleuchtung, und davor saßen die Redakteure über ihre Tastaturen gebeugt und produzierten die Nachrichten von morgen. Bis auf das allgegenwärtige Brummen der Computer und das Surren des Kopierers war es auffallend still.

Logan schnappte sich den Ersten, dessen er habhaft werden konnte, einen älteren Mann mit ausgebeulter brauner Cordhose und fleckigem cremefarbenem Hemd. An seiner Krawatte konnte man mindestens drei der Speisen und Getränke ablesen, aus denen sein Frühstück bestanden hatte. Sein Schädel hatte sich schon vor langer Zeit vom Großteil seiner Behaarung verabschiedet, lediglich eine Blendfassade dünner Strähnen zog sich über die glänzende Fläche. Der Einzige, den er damit täuschen konnte, war er selbst.

»Wir möchten zu Colin Miller«, sagte Logan und zückte seinen Dienstausweis.

Der Mann zog eine Augenbraue hoch. »Ach ja?«, sagte er. »Werden Sie ihn verhaften?«

Logan steckte seinen Ausweis wieder ein. »Das hatten wir eigentlich nicht vor, aber ich fange allmählich an, drüber nachzudenken. Wieso fragen Sie?«

Der alte Reporter zog seine Hose stramm und strahlte Logan mit Unschuldsmiene an. »Einfach nur so.«

Pause. Zwo, drei, vier …

»Okay«, sagte Logan. »Und wo steckt er nun?«

Der alte Mann zwinkerte ihm zu und machte eine Kopfbewegung in Richtung Toiletten. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo er steckt, Officer«, sagte er ganz langsam, jedes einzelne Wort eine schlecht versteckte Andeutung. Zur Sicherheit packte er noch ein paar viel sagende Blicke in Richtung Herrentoilette drauf und grinste breit.

Logan nickte. »Danke, Sie waren uns eine große Hilfe.«

»Nein, das war ich nicht«, sagte der Reporter. »Ich habe nur ›unzusammenhängendes Zeug gefaselt‹, wie es sich für einen ›senilen alten Sack‹ wie mich gehört.«

Während er zu seinem Schreibtisch zurückschlurfte, steuerten Logan und Constable Watson schnurstracks die Toiletten an. Zu Logans Überraschung stürmte Watson ohne Zögern das Herrenklo. Kopfschüttelnd folgte er ihr in den schwarz-weiß gefliesten Raum.

»Colin Miller?«, rief sie laut und vernehmlich, worauf ein vielstimmiger Schreckensruf aus Journalistenkehlen ertönte. Mehrere erwachsene Männer fingerten panisch an ihren Reißverschlüssen und verließen fluchtartig die Toilette. Schließlich blieb nur noch ein Mann zurück. Er war klein und kräftig gebaut und trug einen teuer aussehenden dunkelgrauen Anzug. Breitschultrig, mit frisch frisiertem Haupthaar, stand er an einem der Urinale, pfiff unmelodisch vor sich hin und wippte auf den Fußballen.

Watson musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Colin Miller?«, fragte sie.

Er sah sie über die Schulter an, ein lässiges Lächeln auf den Lippen. »Wollen Sie mir vielleicht helfen, den Burschen da zu schütteln?«, fragte er augenzwinkernd in einem breiten und selbstbewussten Glasgower Akzent. »Mein Arzt sagt, ich darf nich’ so schwer heben …«

Sie funkelte ihn wütend an und erklärte ihm ganz genau, wohin er sich sein Angebot stecken könne.

Logan trat dazwischen, bevor Watson demonstrieren konnte, wie sie sich den Namen »eiserne Jungfrau« erworben hatte.

Der Reporter zwinkerte, wackelte ein wenig hin und her und drehte sich dann zu ihnen um, während er seinen Reißverschluss hochzog. An beinahe jedem Finger funkelte ein goldener Siegelring. Um den Hals trug er eine Goldkette, über das Seidenhemd und die Krawatte drapiert.

»Mr. Miller?«, fragte Logan.

»Ja? Wollen Sie vielleicht ein Autogramm?« Er stolzierte breitbeinig zum Waschbecken und schob dabei die Hemdsärmel ein Stück hoch, sodass ein klobiges goldenes Armband am rechten Handgelenk und eine Uhr von den Ausmaßen eines Kleinwagens am linken sichtbar wurden. Kein Wunder, dass der Mann so muskulös war, er musste schließlich den ganzen schweren Schmuck durch die Gegend schleppen.

»Wir möchten mit Ihnen über David Reid sprechen, den Dreijährigen, der …«

»Ich weiß, wer das ist«, sagte Miller, während er den Wasserhahn aufdrehte. »Hab ja schließlich ’ne ganze Titelseite über den armen kleinen Scheißer gemacht.« Er grinste und pumpte sich einen Klacks Seife in die Hand. »Dreitausend Wörter Journalismus vom Feinsten. Ich sag’s Ihnen – diese Kindermorde sind pures Gold für uns, ehrlich. So ’n krankes Arschloch bringt irgendein armes Balg um, und schon giert die ganze Stadt danach, morgens beim Frühstück alles über die kleine Leiche zu lesen. Echt unglaublich, ich sag’s Ihnen.«

Logan unterdrückte den heftigen Wunsch, Miller am Kragen zu packen und ihn mit dem Gesicht in eines der Urinale zu drücken. »Sie haben letzte Nacht die Familie angerufen«, sagte er stattdessen, die Fäuste in den Jackentaschen geballt. »Wer hat Ihnen gesagt, dass wir ihn gefunden haben?«

Miller lächelte Logan im Spiegel über dem Waschbecken an. »War keine große Kunst, das rauszukriegen, Inspector …?«

»Sergeant«, sagte Logan. »Detective Sergeant McRae.«

Der Journalist rieb sich die Hände unter dem Trockner. »’n einfacher DS, wie?« Er musste die Stimme heben, um das Brausen des heißen Luftstroms zu übertönen. »Aber macht nichts. Sie helfen mir, dieses kranke Arschloch zu schnappen, und ich sorg dafür, dass Sie zum DI befördert werden.«

»Wir sollen Ihnen helfen …« Logan kniff die Augen zusammen und wurde sofort von Visionen heimgesucht, in denen das Blut aus Millers gebrochener Nase auf die Duftsteine im Urinal tropfte. »Wer hat Ihnen gesagt, dass wir David Reid gefunden haben?«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Klick. Der Händetrockner verstummte.

»Hab ich doch schon gesagt – das war keine große Kunst. Sie haben ’n totes Kind gefunden. Wer hätte das denn sonst sein sollen?«

»Wir haben niemandem gesagt, dass es sich bei der Leiche um ein Kind handelte!«

»Nicht? Ach, dann muss es wohl purer Zufall gewesen sein.«

Logans Miene verdüsterte sich. »Wer hat es Ihnen gesagt?«

Miller lächelte und straffte mit einer geübten Bewegung die Schultern, sodass an beiden Jackenärmeln genau die vorschriftsmäßigen drei Zentimeter gestärkte weiße Manschette hervorlugten.

»Noch nie was von journalistischer Immunität gehört? Ich bin nicht verpflichtet, meine Quellen offen zu legen. Und Sie können mich nicht dazu zwingen!« Er machte eine Pause. »Allerdings, wenn Ihre leckere kleine Assistentin die Mata Hari spielen will, würde ich mich vielleicht erweichen lassen … Wer kann schon einer Frau in Uniform widerstehen?«

Watson knurrte gereizt und zückte ihren zusammenlegbaren Schlagstock.

Plötzlich flog die Tür der Herrentoilette auf, und die aufgestaute Spannung zerplatzte wie ein Luftballon. Eine füllige Frau mit wild wuchernden braunen Locken stürmte herein. Sie stemmte die Hände in die Hüften, und ihre Augen sprühten Funken. »Was zum Teufel geht hier vor?«, rief sie und schoss Logan und Watson finstere Blicke zu. »Die halbe Redaktion läuft da draußen mit voll gepinkeltem Hosenlatz rum.« Sie knöpfte sich Miller vor, ehe irgendjemand etwas erwidern konnte. »Und was zum Teufel machen Sie eigentlich noch hier? In einer halben Stunde gibt es eine Pressekonferenz zu dem toten Kind! Die Revolverblätter werden sich wie die Geier auf die Sache stürzen. Das ist unsere Story, verdammt noch mal, und ich will, dass das auch so bleibt!«

»Wir haben ein paar Fragen an Mr. Miller im Zusammenhang mit dem Fall«, sagte Logan. »Ich möchte wissen, wer ihm gesagt hat, dass wir die Leiche …«

»Werden Sie ihn verhaften?«

Logan zögerte nur eine Sekunde, aber das genügte.

»Hätte mich auch gewundert.« Sie fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Millers Gesicht herum. »Sie! Sehen Sie zu, dass Sie in die Gänge kommen! Ich bezahle Sie nicht dafür, dass Sie Polizistinnen auf dem Klo anbaggern!«

Er machte einen Schritt in Richtung Tür, doch Constable Watson versperrte ihm den Weg. »Sir?« Sie befingerte ihren Schlagstock, ganz wild auf einen Anlass, ihn an Millers Kopf auszuprobieren.

Logans Blick ging von dem blasierten Journalisten zu Watson und wieder zurück. »Lassen Sie ihn laufen«, sagte er schließlich. »Wir unterhalten uns noch, Mr. Miller.«

Der Journalist grinste. »Worauf Sie einen lassen können.« Er formte die rechte Hand zu einer Pistole und feuerte sie auf Watson ab. »See you later, Investigator.«

Glücklicherweise gab sie keine Antwort.

Draußen auf dem Parkplatz stapfte Watson durch den Regen auf ihren Vauxhall zu, riss die Tür auf, feuerte ihre Mütze auf den Rücksitz, ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen, knallte die Tür zu und fluchte.

Logan musste zugeben, dass sie nicht ganz Unrecht hatte. Miller würde niemals freiwillig seine Quelle verraten. Und seine Chefredakteurin, dieser braun gelockte Drachen, hatte in einer zehnminütigen Tirade mehr als deutlich gemacht, dass sie ihn ganz bestimmt nicht dazu auffordern würde, sie zu verraten. Das war ungefähr so unwahrscheinlich wie ein schottischer Meistertitel für den FC Aberdeen.

Ein Klopfen am Beifahrerfenster ließ Logan zusammenfahren. Ein breites, lächelndes Gesicht strahlte ihn aus dem Regen an. Der Mann hielt sich den Evening Express über den Kopf, damit die dünnen Alibisträhnen auf seiner Glatze nicht nass wurden. Es war der Reporter, der ihnen »nicht« verraten hatte, dass der widerwärtige Mr. Miller sich auf dem Herrenklo versteckt hielt.

»Sie sind Logan McRae!«, sagte der Mann. »Seh’n Sie? Ich wusste doch, dass ich Sie irgendwoher kenne!«

»Ach ja?« Logan drückte sich in seinen Sitz.

Der Mann mit der ausgebeulten braunen Cordhose nickte begeistert. »Ich hab da mal ’ne Story geschrieben, wie lang ist das jetzt her – ein Jahr? ›Mutiger Polizeiheld bei dramatischem Duell von Mastrick-Monster niedergestochen!‹« Er grinste. »Mann, das war ’ne verdammt gute Story. Nur schade, dass ›Mutiger Polizeiheld‹ keinen Stabreim ergibt …« Ein bedauerndes Achselzucken. Dann streckte er die Hand durch das offene Fenster. »Martin Leslie, Nachrichtenredaktion.«

Logan schüttelte die dargebotene Hand. Mit jeder Sekunde wurde ihm die Situation unangenehmer.

»Mein Gott, Logan McRae …«, sagte der Reporter. »Hat man Sie schon zum DI befördert?«

Logan verneinte; er sei immer noch DS. Der alte Mann schien entrüstet. »Sie machen Witze! Diese Schweine! Sie haben es verdient! Dieser Angus Robertson war ein richtig krankes Arschloch … Haben Sie schon gehört, dass sie ihm in Peterhead eine kleine Do-it-yourself-Blinddarmoperation verpasst haben?« Er senkte die Stimme. »Angespitzter Schraubenzieher, voll in den Magen. Jetzt muss er in einen Beutel scheißen …«

Logan schwieg. Leslie lehnte sich auf die Tür und steckte den Kopf durch das Fenster ins trockene Wageninnere.

»Und, woran arbeiten Sie im Moment?«, fragte er.

Logan starrte stur geradeaus, durch die Windschutzscheibe hinaus auf die trübe graue Lang Stracht. »Äh …«, sagte er. »Ich, ähmmmm …«

»Wenn Sie sich für Colin, den Kotzbrocken, interessieren …«, begann der Mann im Flüsterton. Plötzlich brach er ab, schlug die Hand vor den Mund und murmelte, an Constable Watson gewandt: »Verzeihung, Ma’am, nichts für ungut!«

Watson gab sich ungerührt. Schließlich hatte sie selbst Miller erst vor wenigen Minuten ganz andere Sachen an den Kopf geworfen.

Leslie lächelte sie verlegen an. »Ist doch wahr – da kommt dieser kleine Scheißkerl von der Scottish Sun zu uns reingerauscht und hält sich gleich für den Größten weit und breit … Dabei haben die ihn da gefeuert, hab ich gehört.« Seine Miene verfinsterte sich. »Ein paar von uns glauben immer noch an die alten Regeln! Man pinkelt seinen Kollegen nicht ans Bein. Man ruft nicht die Mutter von ’nem toten Kind an, solange man nicht sicher ist, dass die Polizei sie schon informiert hat. Aber dieser Arsch meint, er kann sich alles erlauben, solange nur eine Story für ihn dabei rausspringt.« Er schwieg verbittert. »Und mit der Rechtschreibung steht er auch auf Kriegsfuß.«

Logan sah ihn nachdenklich an. »Können Sie sich vorstellen, wer ihm verraten haben könnte, dass wir David Reid gefunden haben?«

Der alte Reporter schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, aber wenn ich’s rausfinde, werden Sie es als Erster erfahren! Wird mir ein Vergnügen sein, ihm zur Abwechslung auch mal ans Bein zu pinkeln.«

Logan nickte. »Gut, sehr nett von Ihnen …« Er rang sich ein Lächeln ab. »Also, jetzt müssen wir aber los …«

Constable Watson lenkte den Wagen aus der Parklücke und ließ den alten Reporter allein im Regen stehen.

»Die sollen Sie zum DI befördern!«, rief er dem davonfahrenden Wagen nach. »Zum DI!«

Als sie durch die Sicherheitsschranke fuhren, merkte Logan, wie er rot wurde.

»Genau, Sir«, sagte Constable Watson und konnte beobachten, wie sein Gesicht einen attraktiven Himbeerton annahm. »Sie sind uns allen ein leuchtendes Vorbild.«

5

Logan kam allmählich über seine Verlegenheit hinweg, während sie sich durch den dichten Verkehr zurück zum Präsidium quälten. Als Umgehungsstraße gedacht, war der Anderson Drive nach und nach von der Stadt, die mit den Jahren immer mehr Hüftspeck ansetzte, überwuchert worden, und die Baulücken hatten sich mit Gebäuden aus kaltem grauem Granit gefüllt, sodass man jetzt eher von einem Gürtel sprechen konnte, der sich um die Stadt spannte und ihren wuchernden Wildwuchs mühsam im Zaum hielt. In der Rushhour war die Strecke ein einziger Albtraum.

Der Regen prasselte unvermindert weiter, und die Einwohner von Aberdeen reagierten auf ihre gewohnte Weise. Eine Minderheit stapfte in wasserdichte Jacken gehüllt durch die Straßen, Kapuze über den Kopf gezogen, den Regenschirm fest umklammert, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen. Die Übrigen patschten einfach so durch die Pfützen und ließen sich bis auf die Haut durchnässen.

Allesamt sahen sie aus wie grenzdebile Mörder. Wenn die Sonne wieder hervorkäme, würden sie aus ihren dicken Wollklamotten schlüpfen, ihre verkniffenen Gesichter entfalten und lächeln. Aber im Winter sah die ganze Stadt aus, als hätte sie sich zu einem Casting für das Remake von Beim Sterben ist jeder der Erste versammelt.