Die Einfälle der heiligen Klara - Pavel Kohout - E-Book

Die Einfälle der heiligen Klara E-Book

Pavel Kohout

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Beschreibung

Kann die fünfzehnjährige Klara hellsehen? Kann sie vielleicht sogar die Lottozahlen voraussagen? Eine ganze Kleinstadt gerät vorübergehend in Aufruhr. Schritt für Schritt entwickelt sich eine ebenso vergnügliche wie turbulente Geschichte von ganz und gar normalen Leuten, die unverhofft mit ganz und gar abnormalen Ereignissen konfrontiert werden. Pavel Kohout erzählt diese Geschichte mit leichter Hand, aber doch auf eindringliche Weise, unterhaltsam, aber doch mit Hintersinn.-

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Pavel Kohout

Die Einfälle der heiligen Klara

Roman

Deutsch von Alexandra Baumrucker

Mit Illustrationenvon Karel Havlíček

Saga

Für Jelena,die mir erlaubte, nach Motiven ihres Drehbuchs, mit dem sie einst die Prager Filmhochschule absolvierte, diesen Roman zu schreiben, in welchem ich, allen Grenzwächtern zum Trotz, schon jetzt nach Böhmen zurückkehre.

PK

I

Der Unterschied zwischen Geschichten, die sich zugetragen haben, und solchen, die sich nicht zugetragen haben. – Besitz von Phantasie und Gedächtnis verboten! – Was ist besser: halbe Wahrheit oder halbe Lüge? – Die Lawine gerät ins Rollen: Pythagoras kommt mit dem Sheriff. – Was würde geschehen, falls die Klasse unisono »Setzen!« riefe? – Ausnahmslos hervorragend ... – Ein epochaler Erfolg oder ein globaler Betrug? – Ein Glück, daß Folterung an Schulen gesetzlich verboten ist.

Wie soll eine Geschichte erzählt werden, die sich nie zugetragen hat?

Zu diesem Zweck hat die Natur Wesen erschaffen, die von ihr mit Papier und Phantasie bedacht wurden: die Schriftsteller. Mittels Phantasie und Papier sind sie imstande, eine beliebige Geschichte, die sich nie zugetragen hat, so fesselnd darzustellen, daß sie oft überzeugender klingt als Geschichten, die sich tatsächlich zugetragen haben.

Aber wie soll dann eine Geschichte erzählt werden, die sich tatsächlich zugetragen hat?

Für diesen Zweck hat die Natur Geschöpfe hervorgebracht, die von ihr mit Papier und Gedächtnis ausgestattet wurden: die Chronisten. Mittels Gedächtnis und Papier sind sie fähig, eine Geschichte, die sich zugetragen hat, so eingehend zu schildern, daß sie mitunter ebenso überzeugend klingt wie Geschichten, die sich nicht zugetragen haben.

Doch wie soll mit einer Geschichte verfahren werden, die sich zugetragen hat, obwohl sie sich nie hätte zutragen dürfen?

Dieses Zwecks eingedenk hat die Natur Exemplare erzeugt, die von ihr mit Macht ausgerüstet wurden: die Zensoren. Kraft ihrer Macht können sie jede Geschichte verbieten, sowohl eine, die sich zugetragen hat, als auch eine, die sich nicht zugetragen hat; diese als Ausgeburt einer blühenden Phantasie, jene als Produkt eines trügerischen Gedächtnisses.

Wehe der Phantasie, die vom Gedächtnis beschnitten wird! Wehe dem Gedächtnis, das von der Phantasie verbrämt wird! Aber dreimal wehe dem guten Gedächtnis und der regen Phantasie, wenn beide von der Macht geknebelt werden! Es gibt Zeiten, in denen der Besitz von Phantasie und Gedächtnis ebenso strafbar ist wie der Besitz von Waffen.

Wie soll in solchen Zeiten mit einer Geschichte verfahren werden, über die sich Schriftsteller, Chronist und Zensor in die Haare geraten, einer Geschichte, so wahr, als hätte sie sich niemals zugetragen, so aufregend, weil sie sich tatsächlich zugetragen hat, und so gefährlich, weil sie im Interesse der Macht sich nie hätte zutragen dürfen?

Soll man sie durch Phantasie verharmlosen und ihr so Biß und Stachel nehmen? Sie mit Gedächtnis befrachten und so der eitlen Macht zu nahe treten? Oder sie lieber gar nicht erzählen?

Wie wäre es denn damit: Ein bißchen das Auge des Gedächtnisses zudrücken, ein bißchen die Zügel der Phantasie schleifen lassen, einfach so, damit das Gewissen des Autors nicht zu nagen beginnt und die Wölfe der Macht zu nagen aufhören – und die fabelhafte Geschichte ganz bleibt?

Wird Wahrheit etwa zu Lüge, wenn eine Karla zur Klára wird? Möge die Wahrheit nie eine größere Einbuße erleiden als die Verschiebung dreier Laute! Tut es ihr Abbruch, wenn vom Namen der Stadt nur der Buchstabe S übrigbleibt? Besser eine halbe Wahrheit als eine halbe Lüge!

Und darum, liebe kleine Klára aus der Stadt S., steh auf und wandle, du Kind des Vaters Traum und der Mutter Wirklichkeit; falls jemand dich erkennt, wird er es durch nichts beweisen können.

Zum Schluß dieser Geschichte wird der Untergang einer Stadt vorausgesagt. Doch selbst die vernichtendste Lawine beginnt mit der unmerklichen Bewegung eines lächerlichen Eiskristalls.

Häuptling Tikal, der, von Brož abgesichert, nach dem Klingeln noch blitzschnell auf den leeren Korridor hinausgeschlüpft war, um eigenhändig mit dem Dietrich die Mädchentoilette zuzusperren, riß die Augen auf, schnellte wie ein Hase herum und stürzte in die Klasse mit dem Ausruf:

– Alarmstufe eins! Der Pythagoras kommt mit dem Sheriff!

Soweit das Gedächtnis der neunjährigen Grundschule in S. zurückreichte, war dergleichen erst ein einziges Mal vorgekommen: als vor Jahren fast die gesamte 9. Klasse bei einer Schulaufgabe eine Fünf geschrieben hatte und derselbe Mathematiklehrer, schon damals mit Bürstenhaarschnitt, denselben Direktor, schon damals mit Glatze, mitgebracht hatte, um seiner Warnung Nachdruck zu verleihen.

Sämtliche zweiundvierzig Mädchen und Jungen der Klasse 8 a saßen im Nu auf ihren Plätzen, es herrschte eine Stille, so unverhofft und erregend, wie wenn im Fernsehen der Ton ausfällt. Einundvierzig Blicke, gespannt wie Flitzbogen, durchquerten den Raum. Sie trafen an der dritten Bank am Fenster zusammen. Dort saß ein graziles Mädchen mit langem Haar von der Farbe reifer Kastanien und leicht schrägstehenden Augen von der Form und Farbe ungeschälter Mandeln.

Indes, was wiegt Mädchenschönheit, wenn wir vierzehn sind und unser mannhaftes Herz vor Unmut bebt?

Na warte! dachte Tikal stellvertretend für alle, du kannst was erleben! Diese Gemeinheit wirst du bitter büßen!! Er nahm sich vor, ihr gleich nach dem Pausenklingeln einen Prager Fenstersturz zu bereiten, wobei der Inhalt der Schultasche nicht in den Gang zwischen den Bänken gekippt wird, sondern aus dem Klassenfenster in die Nesseln.

Die Tür. Alle Köpfe fuhren herum, und zweiundvierzig junge Körper schnellten zur Begrüßung hoch. Der kleine dicke Direktor Plavec und der große magere Professor Brunát kamen ins Klassenzimmer hereinmarschiert wie ein Komikerpaar aus dem Stummfilm.

Aber kann man sich kaputtlachen, wenn die Schulaufgaben mitgebracht werden?

Der Mathematiklehrer trat vors Katheder. Der Direktor blieb an der Tür, stieg aufs Podium. Der Größenunterschied zwischen den beiden verringerte sich nur um weniges. Die Klasse hielt Ausschau, wer von ihnen das Zeichen zum Setzen geben würde. Erstaunlicherweise gab es keiner. Beide betrachteten die Klasse schweigend.

Tikal wurde das Gefühl nicht los, daß im Gegenteil die beiden der Aufforderung harrten. Er stellte sich vor, was geschähe, wenn die Klasse unisono »Setzen!« riefe. Würden sie in Lachen ausbrechen? Oder zur Polizei laufen? Oder vor Schreck gehorchen?

Aber die Klasse stand, stumm und starr, wie gefügige Tiger unter der Peitsche von Dompteuren. Und dann wandte der Direktor sich an den Mathematiklehrer.

– Bitte, Herr Kollege!

Alle blieben stehen, und das war noch unheimlicher. Brunát stieg aufs Podium; er wurde um noch einen Kopf größer und hielt mit einer Hand den Stoß Hefte hoch, während er mit der anderen auf sie zeigte.

Tikal konnte sich des Gefühls nicht erwehren, er werde sie nach der Klasse schleudern. Er stellte sich vor, wie die blauen Hefte raketengleich die wehrlosen Schüler niedermähen, während der Lehrer irre lacht. Was dann? Zum Fenster hinaus in die Nesseln springen, oder sich auf ihn stürzen und ihn unschädlich machen? Darf ein Schüler mit einem Lehrer kämpfen, selbst mit einem der Sinne beraubten?

Aber der Mathematiklehrer sprach mit einer Stimme, die vor feierlicher Erregung zitterte.

– Meine lieben Schüler ... Es ist etwas Außergewöhnliches geschehen ... Zum erstenmal in der Geschichte unserer Schule, vielleicht sogar in der Geschichte des Schulwesens, ist eine Mathematikarbeit ausgefallen wie folgt: Ausnahmslos –

er schüttelte den Stoß Hefte, der wie ein Lebewesen reagierte, indem er das Gebiß weißer Heftseiten bleckte

– hervorragend!

Ein eigenartiger Laut wurde vernehmbar. Die Klasse hatte vor Verblüffung nach Luft geschnappt.

– In den zweiundvierzig Arbeiten findet sich in keinem der fünf Beispiele auch nur ein einziger Fehler. Alle –

seine Stimme versagte vor Empörung, er mußte schlucken und Atem holen, um weitersprechen zu können

– sind richtig. Man könnte sagen, sie seien alle gleich richtig. Bitte, Genosse Direktor ...

Er verbeugte sich hölzern, legte den Stoß Hefte aufs Katheder und stieg vom Podium. Der Direktor trat vor die Tafel. Er war so auf seine Mitteilung konzentriert, daß er sich ebenfalls unbewußt verbeugte.

– Meine lieben Schüler, ich sollte euch also im Namen der gesamten Lehrerschaft gratulieren und ein derart glänzendes Ergebnis dem Unterrichtsministerium mitteilen. Ja, vielleicht sollte ich es auch euren Eltern und der Öffentlichkeit bekanntgeben und in der Aula eine Feier veranstalten, um euch sämtlichen Jahrgängen als Beispiel vorzuhalten!

Ein anderer Laut wurde vernehmbar. Die Klasse begann vor Begeisterung zu raunen.

– Doch zuvor müssen wir uns eine Frage stellen!

Seine Stimme veränderte sich bis zur Unkenntlichkeit. Er und der Mathematiklehrer bekamen plötzlich eiskalte Augen wie Detektive.

– Wurde hier nicht –

sein Zeigefinger zitterte über dem Stoß Hefte wie über einer Zeitbombe

– ein unglaublich dreister, geradezu globaler Betrug verübt?

In der Klasse breitete sich Grabesstille aus, während in sämtlichen Gemütern eine Höllenmaschine tickte.

– Meine lieben Schüler! Ich will dem Schuldigen Gelegenheit geben, freiwillig ein Geständnis abzulegen. In diesem Fall wären Kollege Brunát und ich bereit, das Ganze als dummen Scherz aufzufassen, als einen Bubenstreich, der unter uns bleibt. Nun? So ein Angebot werdet ihr doch nicht ausschlagen, hab ich recht?

Tikal überzeugte sich durch einen Seitenblick, wie die Situation in der dritten Bank am Fenster aussah. Das mandeläugige, kastanienhaarige Mädchen schaute den Direktor gelassen interessiert an. Dafür verriet ihre pummelige Nachbarin höchste Beunruhigung; ihr Kinn zitterte, als hielte sie nur mühsam die Tränen zurück.

Das krampfhaft freundliche Lächeln auf dem Gesicht des obersten Pädagogen der Schule erlosch jäh. Er schlug mit der Faust auf den Stoß Hefte, und seine Stimme knatterte los wie ein Colt; sie bestätigte die Richtigkeit seines Spitznamens.

– Na schön! Dann versuchen wir’s anders. Genosse Brunát, rufen Sie den Schulwart! Einer nach dem anderen zu mir!

Tikal stellte sich ein feuchtes Kellergewölbe vor, von züngelnden Fackeln geschwärzt. Auf schräger Leiter festgeschnallt ein Jüngling in Fetzen: Tikal. Der Direktor befragt ihn, der Schulwart dreht die Winde, der Mathematiklehrer brennt ihn mit glühenden Eisen.

Tikal verspürte tiefe Erleichterung darüber, daß er in einem Jahrhundert lebte, in dem Folterung an Schulen gesetzlich verboten ist.

II

Woran man einen anständigen Bürger erkennt. – Denunziation als Unterrichtsfach. – Vierzig Verhöre und ... – Hilft eine lebhafte Phantasie beim Rechnen? – Die Tochter eines Polizeibeamten muß den anderen ein Vorbild sein. – ... und ein Verrat! – Ist es möglich, daß Mandelaugen abgebrüht lügen können? – Nicht nur Betrug, sondern auch Einbruch! – Jeder hat andere Einfälle.

Es gibt Länder, deren Regierung behauptet, jeder anständige Bürger müsse wenigstens einmal im Leben im Knast gesessen haben. Diese Behauptung ist berechtigt, sofern die Zahl der Bürger, die nicht im Knast gesessen haben, nicht einmal zur Bildung der Regierung ausreicht, in der dann eben auch Knastbrüder sitzen müssen.

Unbedingt gilt jedoch für fast alle Länder, daß gegen jeden anständigen Bürger zumindest einmal im Leben ermittelt wird. Auch darauf werden die künftigen Bürger von der Schule vorbereitet. Will sagen, daß den praktischen Übungen in diesem Fach viel mehr Zeit gewidmet wird als etwa dem Unterricht in Empfängnisverhütung.

In den Ermittlungsstunden, ob nun vom Verlust des Klassenbuchs oder vom Rauch in der Knabentoilette veranlaßt, wird alles eingeübt und abgefragt, womit der Schüler in Berührung kommen und was man von ihm im praktischen Leben erwarten wird: geschicktes Herauswinden und hartnäckiges Abstreiten, väterlicher Zuspruch, der in existentiellen Druck mündet, Denunziation als mildernder Umstand und Geständigkeit als Hauptbeweis für die eigene Schuld.

Die Ermittlung in Sachen des epochalen Erfolgs der Klasse 8 a fand im Direktorzimmer statt. Der Mathematiklehrer rief einen nach dem anderen in alphabetischer Reihenfolge und ohne Ansehen des Geschlechts herein. Schulwart Coufal gab auf dem Korridor acht, daß keine Absprachen stattfanden. Seine Lunge gierte unentwegt nach Nikotin, so daß er immer wieder Patrouillengänge um die Ecke des Korridors vortäuschte, um an der Zigarre ziehen zu können, die hinter der Büste eines Volkstumsbarden versteckt war.

Absprachen erübrigten sich. Alle wußten, daß die Gefahr erst ganz am Ende des Alphabets lauerte. Um Bašus bis Tikal bangte keiner.

– Bašus,

sagte Direktor Plavec, hinterm Schreibtisch sitzend, genau unter dem Bild des Präsidenten der Republik, der bedeutungsvoll irgendwohin ins Abseits schaute, als wollte er damit Plavecens Autorität unterstreichen,

– du hast es doch nicht nötig, zu schwindeln, du ganz gewiß nicht, hab ich recht?

Er duzte die Schüler grundsätzlich, damit sie um so eher begriffen, daß er ihr zweiter Vater war.

Bašus nickte bescheiden. Er war ein ernster Knabe mit starker Brille, und in seiner Freizeit verifizierte er daheim die Richtigkeit der Formeln, die Einstein zur Relativitätstheorie geführt hatten. Mathematiklehrer Brunát nahm ihn seit einiger Zeit lieber nicht mehr dran.

– Ich würde fast glauben,

fuhr der Direktor geradezu freundschaftlich fort und neigte den scharfgespitzten Bleistift, der bis dahin auf Bašusens Brust gezielt hatte,

– daß du ihnen das ausgerechnet hast, wenn’s nicht einhundertzwanzig Beispiele wären. Einhundertzwanzig Spickzettel schreiben, das zahlt sich für niemanden aus, was meinst du?

Bašus zuckte höflich die Achseln.

– Also, weißt du was davon oder nicht?

Bašus schüttelte bedauernd den Kopf.

Der Direktor hatte keinen Grund, ihm nicht zu glauben, aber ebensowenig, ihm zu glauben. Beides gab er ihm zu verstehen.

– Nun, ich danke dir. Du kannst gehen, einstweilen.

– Batková!

rief der Mathematiklehrer auf den Korridor hinaus.

Bašus nahm auf der Schwelle die Brille ab, um seiner Mitschülerin aufmunternd zublinzeln zu können.

Das zweite bis vierzigste Verhör lief, von Abweichungen abgesehen, in denselben Bahnen.

– Batková,

sagte Direktor Plavec, den Bleistift auf sie gerichtet, den er jedoch sofort senkte, als er bemerkte, daß der Mädchenbrust neuerdings ein weiblicher Busen entsprossen war,

– gib zu, ich kenne dich lange genug, um über dich Bescheid zu wissen. Die Beispiele muß dir jemand gegeben haben!

– Wirklich nicht ...

behauptete die Batková.

– Tikal,

sprach Direktor Plavec, nach einer Stunde schon heiser geworden,

– ich weiß, du hast eine lebhafte Phantasie, aber beim Rechnen hat sie dir nie viel genützt. Du mußt das abgeschrieben haben!

– Ehrlich nicht ...

beteuerte Tikal.

Dabei kippte ihm so merkwürdig die Stimme um, daß es ihn kalt überrieselte. Er hatte immer gedacht, radfahren und lügen verlerne man nicht.

Aber die Direktor deutete nur zum vierzigstenmal resigniert mit dem Bleistift auf die Tür.

– Urbanová!

rief der Mathematiklehrer auf der Schwelle.

Tikal beeilte sich. Als er an der Urbanová vorbeikam, war er weit genug von Brunát entfernt, um drohend flüstern zu können:

– Daß du bloß keinen Pieps machst!!

Da dies auch die anderen flüsterten, ergab sich ein menschenunähnliches Gezisch, von dem Grauen ausging.

Das pummelige Mädchen aus der dritten Bank stolperte in das Direktorzimmer. Die Klasse schaute ihr voll banger Vorahnung nach. Man kannte sie gut, sie und ihren Vater.

Ebensogut kannten sie der Direktor und der Mathematiklehrer. Sie blickten einander an und wußten: jetzt oder nie.

– Urbanová!

hub der Direktor streng an, und die scharfe Spitze des Bleistifts zielte ohne Scheu auf ihre Brust, die stufenlos in ein rundliches Bäuchlein überging,

– du als Tochter deines Vaters kannst doch nicht so eine Lumperei decken! Also heraus damit! Wer hat da alles seine Hand im Spiel? Wir wissen’s ohnehin schon!

Der klassische Trick aller Ermittler verfing jedoch erstaunlicherweise nicht. Die Urbanová entsann sich der einundvierzig Gesichter, die ihrer auf dem Korridor harrten. Sie raffte sich zu verzweifeltem Widerstand auf.

– Ich weiß nicht ... Ich hab’s ausgerechnet ...

– Behaupte von mir aus, du hättest Amerika entdeckt. Jedenfalls glaube ich dir das eher, als daß du diese Beispiele allein ausgerechnet hast!

– Vorgestern hab ich den ganzen Abend dran herumgerechnet!

Der Mathematiklehrer verließ seinen Platz an der Tür und sprang auf sie zu, mit der Energie des erfolgreichen Jägers. Aus seiner ganzen Höhe dröhnte er auf sie herab.

– Ah! Jetzt haben Sie sich verplappert! Wie konnten Sie vorgestern abend wissen, welche Beispiele ich Ihnen gestern morgen aufgeben würde?

Er siezte die Schüler grundsätzlich, damit sie merkten, daß sie es nicht mit ihrem Onkel zu tun hatten.

Die Urbanová verlor vor Schreck die Sprache und bewegte lautlos die Lippen.

– Also, paß auf,

ließ der Direktor sich vernehmen und stand auf, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen,

– fassen wir zusammen. Zweiundvierzig fehlerlose Arbeiten, und vierzig Mitschüler haben hier vor dir behauptet, es ist ein Zufall. Wenn du als einzige jetzt einen Betrug zugibst – und den hast du zugegeben! –, dann bist du auch als einzige dafür verantwortlich, hab ich recht? Ich rufe jetzt deinen Vater an, der soll die Befragung selbst weiterführen.

Die Urbanová ächzte.

– Nein! Nein, bitte nicht ...

Polizeihauptmann Urban war allgemein als Mann und Vater bekannt, der strengstens auf die Einhaltung der Gesetze achtete und noch strenger auf die Erziehung seiner Tochter. Dies entsprang der Überzeugung, die Tochter eines Polizeibeamten müsse allen anderen ein Vorbild sein. Die Striemen, welche die Hinterbacken der Urbanová nach jedem Vergehen, nach jedem Zeugnis zierten, waren das einzige, was ihr in der Klasse eine kurzlebige Sympathie verschaffte. Ansonsten stand sie im Ruf einer Heulsuse und Petzerin.

– Andernfalls,

ging der Direktor zum Angriff über,

– sagst du uns nun klipp und klar, wie’s gewesen ist! Also??

Er stand jetzt unmittelbar neben dem Präsidenten. Der Urbanová flimmerte es vor den Augen. Der Präsident schaute zwar ins Abseits, aber er hörte alles. Sie begriff, ihm durfte man nicht ins Gesicht lügen. Aber sie dachte auch an die draußen und jammerte los.

– Die werden nicht mehr mit mir reden ...

– Warum werden sie nicht mehr mit dir reden?

– Wir haben geschworen ...

Die beiden Pädagogen tauschten vielsagende Blicke. Die Jagd neigte sich dem Halali entgegen. Der Direktor tönte wieder väterlich.

– Aber Urbanová! Ein erzwungener Schwur zählt doch nicht. Und wenn du Angst hast, dann schwören wir dir beide, der Genosse Brunát und ich, daß niemand es von uns erfährt. Schau, wir verhören jetzt noch die Zimová, und dann geben wir einfach bekannt, wir hätten’s von Anfang an gewußt! Na also, Urbanová, wer hat euch die Beispiele verraten?

Auf dem nahen Staatsgut fingen die Hähne an zu krähen. Die Urbanová schniefte kurz und ward zur Verräterin.

– Die Zimová ...

Das war der letzte Name, den sie erwartet hatten.

– Die Zimová?

wiederholte der Direktor ungläubig.

– Aber die Zimová konnte doch nicht ...

hielt der Mathematiklehrer mitten im Satz inne.

Die Freude über den Blattschuß wechselte mit Enttäuschung. Statt einer wilden Bestie hatte man ein Kaninchen erlegt. Der Direktor faßte sich.

– Dann fragen wir sie eben!

Eingedenk seines Schwurs nickte er der unglücklichen Urbanová huldvoll zu.

– Schon gut. Warte draußen.

– Zimová!

rief an der Tür der Mathematiklehrer. Er konnte nicht verhindern, daß es feierlich klang.

Zum Direktorzimmer schritt das grazile Mädchen mit dem kastanienfarbenen Haar und den mandelförmigen Augen, verfolgt von den vierzig Paar anderen.

Daß diese Stecken sie tragen! wunderte sich Tikal wie immer. Gleich darauf wunderte er sich abermals, nämlich daß er ihr nicht mal in Gedanken ein Bein gestellt hatte, wie bei jeder Gelegenheit seit der ersten Grundschulklasse, sondern ihr Schreiten mit einer nebulosen Beklommenheit verfolgte.

Wie schade, daß die strahlendsten Sekunden unseres Daseins im Dunkel der Unwissenheit verdämmern! Binnen einiger Minuten war Tikals Kindheit zu Ende gegangen. Ohne Warnung hatte das Mannestum gleich zwei seiner Organe befallen, die Stimme und das Gefühl. Jene vermittels Bruch, dieses vermittels Liebe.

Aller Blicke verlagerten sich auf die Urbanová, die sich um ein Lächeln bemühte. Es fiel kläglich aus.

– Du, hör mal,

fragte Brož, als Häuptling Tikal es seltsamerweise unterließ,

– wieso warst du so lange da drin?

Von der Ecke des Korridors her näherte sich eilig der Schulwart und rief:

– Während der Ermittlungen wird nicht geredet!

Brož erwiderte hinter Tikals Rücken:

– Während der Ermittlungen wird nicht geraucht.

Coufal hielt inne. Sein Haupt umschwebte ein Wölkchen von Zigarrenrauch. Er sah aus wie ein gekränkter Heiliger.

– Wer hat das gesagt?

Hinter Bašusens Rücken sagte Tikal, der schon wieder zu sich gekommen war:

– Niemand.

– Drum eben!

– Setz dich,

sagte der Direktor zur Zimová; er war entschlossen, sie einfach zu überrumpeln.

– Denk mal an, wir wissen schon alles. Leugnen ist zwecklos.

Das Mädchen hatte nichts dergleichen vor. Sie sah ihn mit ihren leicht schrägstehenden Augen an, in denen kein Schatten von Angst oder Nervosität zu erkennen war.

Ist es möglich, wunderte sich der Direktor, daß solche Augen so abgebrüht lügen können? Herrgott, seufzte er im Geiste, als Pädagoge kommt man sein Leben lang nicht aus dem Staunen heraus. Aber halt, mein Mädchen, dir erteile ich eine Lektion! Er zielte mit dem Bleistift auf ihre eher küken- als mädchenhafte Brust.

– Die Beispiele hast du ihnen gegeben, jawohl, du, meine liebe Zimová, und ausgeplaudert hat es dein Mitschüler –

fügte er tückisch hinzu

– fällt dir vielleicht ein, welcher?

– Bitte, die Urbanová,

sagte das Mädchen, als antwortete sie an der Tafel auf die leichteste aller Fragen.

Die beiden Männer stutzten. Der Mathematiklehrer hatte das Gefühl, der Vorteil der Überraschung schwinde dahin, und unternahm rasch einen neuen Ausfall.

– Und wollen Sie hier vielleicht behaupten, sie hat sich das ausgedacht?

Die Zimová schwenkte ihren Unschuldsblick zu ihm hinüber.

– Bitte, das will ich nicht.

Jesus, an wen erinnert mich das, kramte der Direktor im Gedächtnis, und schon wußte er’s. Er entsann sich, mit welch überzeugender Entrüstung seine junge, vergötterte Frau voriges Jahr bestritten hatte, einen Eduard Hakl zu kennen, dessen Liebesbrief sich doch in seiner Tasche befand. Aus ihren Augen war die gekränkte Unschuld auch nicht gewichen, als er ihr den Brief gezeigt hatte, so daß er bis heute nicht sicher war. Und so fängt alles an! Er verhärtete sich.

– Was du willst oder nicht willst, meine liebe Zimová, ist uns herzlich egal. Du wirst uns erklären müssen, wie du dir die Beispiele verschafft hast. Denn –

und er fuhr sein schwerstes Geschütz auf

– der Genosse Brunát hatte sie im Lehrbuch angekreuzt, und das hatte er bis gestern früh in seinem Tisch im Lehrerzimmer!

Der Mathematiklehrer klingelte unheilverkündend mit dem Schlüsselbund vor ihrem Gesicht, obwohl er selbst nicht wußte, was er damit erreichen wollte.

– Hier sind die Schlüssel!

– Was du also getan hast,

der Direktor erhob sich abermals und nahm die Hilfe des Präsidenten in Anspruch,

– ist nicht nur Betrug, sondern es läuft auf Einbruch hinaus!

Beide Pädagogen waren überzeugt, jetzt müsse sie aber endlich losheulen und mit der Wahrheit herausrücken. Sie indes heulte mitnichten los und sagte, quasi entschuldigend, als wollte sie ihnen die Freude nicht verderben:

– Aber ich hab nirgendwo eingebrochen.

– Nein??

ereiferte sich Brunát und rasselte mit den Schlüsseln.

– Bitte, nein.

Der Direktor hatte von sämtlichen Weibern die Nase voll, angefangen bei der Zimová, bis zu seiner Gattin.

– Zimová! Ich kenne dich seit acht Jahren, aber ich hätte nie geglaubt, daß du so lügen kannst!

– Bitte, ich lüge nicht.

Der Direktor brüllte los.

– Hast du ihnen die Beispiele nun gegeben oder nicht??

– Bitte, ja.

– Könntest du uns also erklären, wie du an sie herangekommen bist?

– Bitte, ja.

– Dann erklär’s uns!!

– Bitte, mir ist das eingefallen.

– Was ist dir eingefallen?

– Mir ist eingefallen, welche Beispiele wir aufbekommen.

Soviel Frechheit verschlug ihnen den Atem. Der Direktor meinte bissig:

– Also, das wäre mir nie eingefallen. Aber dafür fällt mir etwas anderes ein. Habt ihr zu Hause Telefon?

III

Stadt S. versus Fluß S. – Ein Fluß, töpfchenweise aufgefüllt. – Die Schlüssel zur Stadt mitsamt dem Tor gefällig? – Revolutionärer Mönch und imperialistischer Teufel. – S/S. – Eine Katze als Bote. – Zwei Paar Kuhaugen. – Unser Mädel hat eine Eins bekommen? Da muß etwas faul sein. – Dieser Schoß ist jungfräulich. – Sollte dir wieder etwas einfallen, dann sag’s ruhig weiter! – Die Polizei weint nicht, darf aber staunen.

Die Stadt S. liegt am Fluß S. Seit uralten Zeiten ereiferten sich die Bürger der Stadt und die Anwohner des Flusses über die Streitfrage, ob der Fluß nach der Stadt benannt war oder umgekehrt. Es erinnerte an die mittelalterliche Polemik, was zuerst da war: die Henne oder das Ei.

Die Bürger der Stadt behaupteten, es sei der wegen seiner unerschrockenen Krieger, geschickten Glasbläser und aufgeklärten Geistlichkeit berühmte Ort S. gewesen, der dem unbedeutenden, unschiffbaren und daher namenlosen Wasserlauf seinen Sinn und folglich auch seine Benennung verliehen hatte; erst danach und lediglich dadurch sei das Rinnsal zur Kenntnis genommen, in Landkarten verzeichnet, mit Gehöften und Ferienhäusern gesäumt, befischt und schließlich reguliert worden, nach Ansicht der Bürger der Stadt völlig überflüssigerweise, da jeder Anwohner des Flusses verpflichtet gewesen sei, täglich ein Töpfchen Wasser hineinzuschütten, damit er überhaupt floß.

Die Anwohner des Flusses behaupteten, es sei der wegen seiner kühnen Flößer, fleißigen Fischer und aufgeklärten Geistlichkeit berühmte Fluß S. gewesen, der dem bedeutungslosen, weltabgeschiedenen und daher völlig unbekannten Nest seine Daseinsberechtigung und folglich auch seinen Namen verliehen hatte; erst danach und nur deswegen sei es entdeckt, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, bewohnt, in den Territorialplan aufgenommen und mit Wällen umgeben worden, laut Meinung der Anwohner des Flusses ganz entbehrlicherweise, denn kaum wurde das neuerliche Eindringen fremder Heere in Böhmen kundgetan, hätten sich die Bürger der Stadt in den Feldern postiert und den Eroberern mitsamt den Schlüsseln vor lauter Eifer auch das ausgehängte Stadttor überreicht.

Als aufgeklärte Geistlichkeit galt sowohl der einen als auch der anderen Seite der Mönch Clarinus, welcher der Sage nach den Teufel aus einer Höhle am (!) Ufer vertrieben und im (!) Fluß ertränkt hatte, so daß beide Seiten zu Recht Anspruch auf ihn erhoben. In der Zeit knapp vor Klára Zimovás Geburt wurde die Erwähnung der Geistlichkeit vorübergehend unterlassen, und zwar im Zusammenhang mit der revolutionären Umwandlung der Gesellschaft. Der Kreisausschuß erstellte später für die Schulen der Stadt und des Flußgebietes einen einheitlichen Text, in welchem statt des Mönchs die fortschrittliche Intelligenz gefeiert und statt des Teufels der Imperialismus verurteilt wurde. Da Großmütter und Mütter den Kindern die Legende jedoch weiterhin im Originalwortlaut erzählten, wurde gleichzeitig der völkischen Tradition und dem Prestige des Regimes Achtung gezollt.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß sich in der Stadt und im Flußgebiet ortsüblicherweise die Abkürzung S. an der S., weiterverkürzt zu S. a. d. S. und schließlich zu S/S, eingebürgert hatte. Eine ganze Reihe von Briefen und Ansichtskarten S/S-Gebürtiger, die als Touristen, Sportler, Geheimdienstler oder Emigranten nach einer der zahlreichen Okkupationen die Welt durchstreiften, war – mit dieser Anschrift versehen, wiewohl versehentlich ohne Angabe des Landes nach Hause gesandt – in den Archiven der britischen Admiralität geendet, denn dort bezeichnet man mit der Abkürzung S/S jedwedes steam ship, also Dampfschiff.

Als das Telefon klingelte, hatte Mutter Zimová alle Hände voll zu tun. Auf dem Tisch ruhte umgekehrt ein Stuhl, an jedem seiner Beine war der Zipfel einer Serviette befestigt, und unter der Serviette stand ein Topf; Mutter Zimová passierte die ersten Himbeeren dieses Jahres und filterte den Saft durch die Serviette. Ihre Hände waren bis zu den Ellbogen so rot, als steckten sie in Handschuhen.

Sie blickte sich nach der Großmutter um. Oma Zimová saß in ihrem Sessel, auf der einen Seite weiße Wolle, auf der anderen Seite braune Wolle. Die braune Wolle verstrickte sie. Den grauen Kopf schräg gehalten, betrachtete sie den dunklen Fernsehschirm und lächelte. Mutter Zimová erriet, daß sie an den Opa dachte. Oma Zimová dachte ausschließlich an den Opa. Seit er voriges Jahr gestorben war, wiederholte sie sich im Geiste ihr ganzes mit ihm verbrachtes Leben, Minute um Minute. Eben tanzte sie Mazurka auf dem Slawenball.

Mutter Zimová bereitete es ziemliche Mühe, den Hörer so zu ergreifen, daß sie ihn möglichst wenig verschmierte. Dann fragte sie altväterlich:

– Hallo? Wer dort?

– Hier Direktor Plavec,

krächzte es aus dem Hörer,

– ich hätte gern mit Herrn Zima gesprochen.

– Ich passiere gerade Himbeeren,

antwortete Frau Zimová.

Den Direktor verblüffte diese Antwort. Es dauerte einen Augenblick, bis er, leicht aus dem Konzept gebracht, abermals anhub.

– Aber ich hätte gern den Genossen Zima ...

– Der ist in der Werkstatt. Aber Sie können vorbeikommen, er macht’s Ihnen gleich.

In dem Moment erinnerte sich der Direktor glücklicherweise, daß Zima eine kleine Autoreparaturwerkstatt leitete. Er kannte sich wieder aus.

– Hier Plavec, der Schuldirektor. Es wäre nötig, daß er sofort in die Schule kommt, es geht um Ihre Klára. Richten Sie’s ihm aus?

Mutter Zimová sagte entschuldigend:

– Aber wo ich gerade die Himbeeren passiere ...

Sie fragte nicht einmal, worum es ging. Plavec kam zu Bewußtsein, daß er in all den Jahren weder sie noch ihren Gatten in der Schule gesehen hatte. Zugegeben, das Mädel hatte gute Noten, und auch ihr Betragen hatte bis heute nichts zu wünschen übriggelassen, aber trotzdem: Eltern sollten sich nach ihren Kindern erkundigen kommen, schon aus Achtung vor den Pädagogen. Gereizt sprach er weiter.

– Könnten Sie nicht wen zu ihm schicken? Es ist wirklich sehr dringend!

– Also, dann schick ich die Líza hinüber.

– Seien Sie so freundlich!

schloß der Direktor scharf und legte auf; irgend etwas ging ihm nicht aus dem Kopf, und deshalb wandte er sich an die Zimová.

– Du hast eine Schwester?

– Bitte, nein.

– Und wer ist Líza?

– Bitte, unsere Katze.

Der Direktor sperrte den Mund auf, aber da bemerkte er den Blick des Mathematiklehrers und klappte ihn wieder zu. Er wollte keine dummen, läppischen Fragen stellen.

– Tsch, tsch, tsch!

machte Mutter Zimová; das weiße Wolleknäuel neben der Großmutter stand auf und dehnte sich.

– Kschtz! Sag dem Papa, er soll herkommen.

Die weiße Katze schrumpfte ein, als hätte man die Luft aus ihr herausgelassen. Dann stieß sie sich ab, streckte sich und sprang in einem langsamen, fließenden Bogen aus dem Fenster. Sie schritt, sich im Schatten der Rosen haltend, würdevoll am Haus entlang. Das schwere Tor der Werkstatt stand nur einen Spaltbreit offen; um hindurchzugelangen, mußte sie sich fast so dünn machen wie ein Blatt Papier. In der Werkstatt war keine Menschenseele zu sehen, nur ein halbes Dutzend auseinandergenommener Autos. Die weiße Katze ging zu einem uralten Praga, setzte sich neben die Hinterachse und miaute zweimal.

– Gleich, Líza,

ertönte es unter dem Wagen hervor,

– bin schon unterwegs!

Der Direktor wollte überhaupt keine Fragen mehr stellen, um die Klinge seiner Mission nicht von kindischem Geschwätz abstumpfen zu lassen. Die Uhr auf der Pfarrkirche schlug fünf. Er forderte Brunát auf:

– Schicken Sie die anderen nach Hause. Bis auf die Urbanová.

Der Mathematiklehrer öffnete die Tür, und der Tonfall seiner Stimme verriet alles.

– Die ganze Klasse kann nach Hause gehen. Nur die Urbanová bleibt.

Er verschwand. Vierzig Kehlen gaben einen Laut von sich, als knurrte ein riesiges Tier. Vierzig Paar Augen stellten die Urbanová an den Pranger.

– Du blöde Ziege,

sagte Tikal halblaut,

– wenn sich herausstellt, daß du gepetzt hast ...

Das pummelige Mädchen brach in Tränen aus und setzte sich mit einer unerwarteten Gewandtheit, wie sie die Angst gebiert, treppab in Bewegung. Die anderen rannten trampelnd hinterdrein.

– Urbanová!

schrie Schulwart Coufal; damit hatte er seiner Pflicht Genüge getan und ging zum Volkstumsbarden, um seine Zigarre zu holen.

Wie ist die Zeit zu überbrücken, die uns vom Höhepunkt der Jagd trennt, wenn die Beute enthäutet ist und der Kopf als Trophäe feierlich über der Tafel der Sieger aufgerichtet wird?

Der Direktor zog gewaltsam die Spannung hinaus. Er setzte sich an seinen Tisch, machte ein äußerst strenges Gesicht, warf gelegentlich einen Blick auf die Uhr, trommelte gelegentlich mit den Fingern. Der Mathematiklehrer ließ sich im Sessel für hohe Besucher und Pädagogen nieder. Er machte ein finsteres Gesicht, warf gelegentlich einen Blick auf die Uhr, rasselte gelegentlich mit den Schlüsseln. Klára Zimová saß auf dem Stuhl für Eltern und Schüler, genauso ruhig, als wäre sie im Kino.

Schließlich ertönte ein Klopfen.

– Herein!

Als niemand eintrat, sprang der Direktor hinter dem Schreibtisch hervor und riß die Tür auf. Wut wurde von Schrecken abgelöst. Auf der Schwelle stand ein Mann, noch größer als Brunát. Doch Brunát war spindeldürr, Zima hingegen muskelbepackt. Er hatte seinen ölverschmierten Overall an und hielt die riesigen Hände auf dem Rücken versteckt.

– Ich bin einfach gleich so gekommen ...

Der Direktor schilderte ihm den Fall viel zurückhaltender, als er beabsichtigt hatte. Nicht aus Feigheit; die Kleine begann ihm leid zu tun. Wenn diese Pranken einmal zuschlugen ...

– Vielleicht hatte sie Angst vor uns,

schloß er versöhnlich,

– vielleicht sagt sie Ihnen eher die Wahrheit. Na, Klára, wie war das also?

Sie schaute vertrauensvoll ihren Vater an und begann in der Kindersprache, deren Sätze keinen Anfang und kein Ende kennen:

– Der Genosse Professor hat gesagt, es werden Beispiele aus dem Rechenbuch sein, und da hab ich es nach dem Unterricht aufgeschlagen, um nachzusehen, und da ist mir eingefallen, das werden diese fünf sein, und die Urbanová hat mich gefragt, was ich glaube, daß wir aufbekommen, und da hab ich’s ihr gesagt, und die Urbanová hat gefragt, wieso ich das weiß, und da hab ich ihr gesagt, es ist mir so eingefallen, und dann ist der Tikal dazugekommen, und die Urbanová hat ihm dasselbe gesagt, was ich ihr gesagt hab, und der Tikal hat mich gefragt, ob ich das hundertprozentig weiß, und da hab ich gesagt, ja, und er hat’s dem Brož gesagt, und der Brož dem ...

Als erster verlor der Mathematiklehrer die Nerven.

– Zimová! Im Rechenbuch stehen einhundertzwanzig Beispiele! Bitte, überzeugen Sie sich selbst!

Das galt dem Vater, dem er das aufgeschlagene Lehrbuch hinhielt. Zima zog verschämt die Hände zurück.

– Ich hab mich nicht richtig gewaschen ...

Der Direktor sagte eindringlich:

– Zimová! Du wirst doch deinen eigenen Vater nicht anlügen!

– Aber ich lüge nie,

sagte das Mädchen, als wäre ihre Geduld unerschöpflich.

Der Direktor appellierte an die letzte Instanz.

– Genosse Zima! Sie sollten ihr ins Gewissen reden!

– Aber sie lügt nie,

sagte der Vater, als wollte er ein eigensinniges Kind beschwichtigen.

Er tauschte mit der Tochter einen liebevollen Blick, und der Direktor stellte bestürzt fest, daß der Riese die gleichen schrägen Mandelaugen hatte wie sie. In dieser Größe strahlten sie so etwas wie wehrlose Unbeholfenheit aus. Woran erinnerten sie ihn ganz stark? Eine Kuh! dachte er. Der Ochse und sein Kalb! Er verlor jeglichen Respekt vor ihm.

– Zimová, geh mal kurz hinaus!

Sie stand auf, machte eine Verbeugung und ging auf den Korridor. Der Direktor deutete gebieterisch auf den freien Stuhl, und nachdem Vater Zima sich bedrückt gesetzt hatte, richtete er an ihn – auch im Namen des Präsidenten – streng das Wort.

– Es ist schön, Genosse Zima, wenn die Eltern ihren Kindern glauben, aber was zuviel ist, ist zuviel! Aufgrund unserer gesamten pädagogischen Praxis können ich und mein Kollege –

er meinte allerdings Brunát, aber es wirkte, als meinte er den Präsidenten.

– behaupten: So ein Zufall ist total ausgeschlossen. Wenn wir’s recht bedenken, dann ergibt sich: a) Die ganze Klasse hat nur jene fünf Beispiele ausgerechnet, die Genosse Brunát in seinem Buch angekreuzt hatte, und b) Ihre Tochter gibt zu, daß sie es war, die den Mitschülern diese Beispiele angegeben hat. Ergo: Wie hat sie das herausbekommen? Es ist doch im Interesse ihrer gesamten Weiterentwicklung, daß sie uns das sagt. Das meinen Sie doch auch, hab ich recht?

Zima hatte die ganze Zeit über schüchtern genickt.

– Es bleibt also nichts anderes übrig, als daß Sie selbst sie fragen, und zwar mit allem Nachdruck!

Zima hörte auf zu nicken und sagte verlegen:

– Aber sie hat’s doch schon gesagt ...

– Was?

– Na, daß es ihr eingefallen ist.

Direktor Plavec brüllte gar nicht pädagogenhaft:

– Aber das ist doch absoluter Blödsinn!!

Die Zimová wartete unterdessen auf dem Korridor: Die tiefstehende Sonne drängte sich an die Quadrate der Fensterscheiben; auf dem Fußboden des Korridors zeichneten sich jedoch merkwürdigerweise Rauten ab. Sie versuchte, über sie hinwegzuhüpfen, ließ es aber plötzlich bleiben und trat neugierig ans Geländer. Gleich darauf schlug im Erdgeschoß eine Tür zu, und Schritte wurden laut. Dann erschien in der Treppenbiegung ein schlanker Mann in der Uniform eines Polizeibeamten. Klára lächelte zufrieden und grüßte artig.

– Guten Tag.

– Grüß dich, Klárka,

sagte der Polizeibeamte,

– ich bitte dich, was geht hier ...

In Kláras Augen flackerte Angst auf. Sie rief:

– Vorsicht!

Er blieb stehen.

– Wieso?

– Damit Sie nicht ausrutschen ...

– Ich? Warum sollte ich ausrutschen?

Sie zuckte verwirrt die Achseln.

Welche Verantwortung, wenn man Vater ist! Welche Sorge, wenn man Vater einer Tochter ist! Welche Plage, wenn man Vater einer Tochter ist, an der die Pubertät rüttelt! Der Polizeibeamte hatte auch so eine daheim, und er hätte über ihre Hirngespinste wissenschaftliche Werke verfassen können, wenn er Zeit gehabt hätte. Seiner Věra hätte er schlicht eine gelangt. Klára lächelte er nur mitleidig zu und ging wortlos weiter. Er griff in dem Moment nach der Klinke des Direktorzimmers, als die Tür aufflog und der Mathematiklehrer kläffte:

– Urbanová!

Beide erschraken.

– Puh!

machte der Polizeibeamte.

– Pardon ...

stotterte Brunát,

– ich rufe eben Ihre ...

– Mein Mädel,

erklärte der Polizeibeamte und schloß die Tür hinter sich,

– kommt verheult angerannt, angeblich ist ein Malheur passiert, da hab ich ihr gleich eine gelangt, als Vorschuß, und nun möchte ich fragen, wie viele ich ihr nachliefern soll. Hat sie ein Ungenügend geschrieben?

– Nein, im Gegenteil, aber es geht gar nicht um sie,

sagte der Direktor Plavec und reichte ihm die Hand,

– sei mir gegrüßt, Karel, das hier ist Herr Zima, Genosse Zima, das ist Hauptmann Urban, falls Sie ihn nicht ...

– Ich kenne ihn ...

Nach der Gewohnheit von Männern, die eine militärische Grundausbildung als einfacher Soldat genossen haben, nahm Zima respektvoll Haltung an, ein ganz klein wenig geduckt, damit er den um so viel Ranghöheren nicht um so viel überragte.

Hauptmann Urban reichte ihm erfreut die Hand.

– Ah! Da bin ich aber froh! Unser Mädel und Ihr Mädel sind doch Banknachbarinnen! Also, um was geht’s denn?

Direktor Plavec setzte es ihm in allen Einzelheiten auseinander. Der Polizeibeamte machte lange eine skeptische Miene. Plötzlich merkte er auf:

– Unser Mädel hat eine Eins bekommen? Da muß also wirklich etwas faul sein. Wo ist der Schlüssel, und wo ist der Tisch?

Er hockte sich davor, schweigend eingekreist von den Vorigen sowie von einigen anderen Pädagogen, die sich im Lehrerzimmer noch auf den morgigen Unterricht vorbereiteten. Mit Kláras Hilfe war auch Schulwart Coufal gefunden worden; sie war, ohne zu überlegen, in den Turnsaal gelaufen, wo er auf dem Stapel aufgehäufter Matten dann und wann ein Schläfchen zu machen pflegte. Der Hauptmann untersuchte eingehend das Schloß. Dann fragte er Brunát:

– Haben Sie noch einen Schlüssel?

– Nein.

– Sie auch nicht?

Das galt Coufal, der eben schlaftrunken überlegte, wo er seine Zigarre vergessen hatte. Man mußte die Frage wiederholen.

– Nein ...

– Dann ist alles klar.

– Was ist klar, Karel?

fragte der Direktor ungeduldig.

– Dieser Schoß ist jungfräulich.

– Wie bitte?

– Verzeihung,

entschuldigte sich der Hauptmann,

– dieses Schloß hat niemand gewaltsam geöffnet.

– Ja, aber wie ist sie dann an die Beispiele gekommen?

fragte der Mathematiklehrer zerquält.

Da aller Blicke auf ihm ruhten, sagte Vater Zima seelenruhig:

– Es ist ihr eingefallen ...

Stille. Dann sprach das älteste Mitglied des Lehrerkollegiums, der Naturkundelehrer Látal, dem es die Treue zu den altmodischen Idealen einer überholten Demokratie verwehrt hatte, Direktor zu werden, dessen Meinung hier jedoch seit jeher mehr galt als diejenige Plavecens.

– Ich finde, man sollte keine Affäre daraus machen. Hier der Kollege Brunát sucht zu Hause neue Beispiele heraus, die Kinder schreiben das morgen einfach noch mal, und wer gestern geschummelt hat, kann baden gehen.

Damit war der Fall für ihn erledigt. Unterwegs zum Kleiderständer, wo als letztes Banner der alten Zeiten ein dunkelblauer, breitkrempiger Hut hing, wie ihn der erste Präsident der Republik getragen hatte, sagte er streng zum Schulwart:

– Coufal, bringen Sie mir endlich das Naphthalin ins Kabinett, sonst muß ich demnächst statt der Vögel die Motten drannehmen!

Er setzte den Hut auf, öffnete die Tür und nahm ihn galant wieder ab. Auf der Schwelle stand eine junge Dame, die Brust wie ein antiker Harnisch, das Haar wie ein goldener Helm.

– Ergebenster Diener, Madame!

sprach Látal und dienerte tatsächlich, ließ sie passieren, erwiderte freundlich den artigen Gruß der wartenden Klára und strebte zur Treppe.

Pallas Athene blickte den Direktor fragend an. Woher kenne ich die nur, überlegte der fieberhaft. Da öffnete sie den Mund:

– Albert, wo bleibst du? Wir kommen schon wieder zu spät.

Er erkannte seine Gattin, die sich das Haar hatte färben lassen. Er war momentan außerstande, sich darüber Gedanken zu machen. Er spürte, daß zum Fall Zimová noch etwas gesagt werden mußte, und zwar von ihm selbst. Frau Plavcová entschuldigte sich bei den anderen durch ein Lächeln.

– Ich möchte wenigstens einmal den Anfang eines Films sehen!

Der Direktor erblickte das Mädchen auf dem Gang, und plötzlich sah er auch das Ende der Sache vor sich. Er ging hinaus, die anderen folgten in seinem Sog.

– Klára ... Ich kann’s noch immer nicht glauben, aber es ist nun mal so, daß ich keine Beweise habe. Morgen meldest du der Klasse, daß die Turnstunde ausfällt, weil ihr eine neue Arbeit schreibt.

Dann gewann der Zweifel die Oberhand, und er fügte ironisch hinzu:

– Und sollte dir wieder etwas einfallen, dann sag’s ruhig weiter. Wenn sie dich dann ums Schulhaus jagen, werde ich mit Vergnügen zuschauen!

– Unserer Věra sagst du aber nichts,

sagte Hauptmann Urban, schon im Gehen salutierend,

– ich werde dafür sorgen, daß sie’s büf ...

Er sprach nicht zu Ende. Den Blick auf die anderen gerichtet, hatte er unachtsam die erste Stufe betreten, glitt aus und rutschte krachend bis zum Treppenabsatz.

Die Männer eilten ihm trampelnd nach. Der Direktor rief:

– Karel! Ist dir etwas ...

– Nein ...

Immer noch platt auf allen vieren wie ein Frosch, starrte der Polizeibeamte das Mädchen an, das oben stehen geblieben war. In seinen Augen spiegelte sich nicht Schmerz, sondern Staunen.

IV

Was sich tut, wenn sich nichts tut. – Die Ähnlichkeit zwischen einer Geschichte und Quark. – Warum man ausgerechnet die eigene Frau geheiratet hat. – Haben sie ihn schon erwischt? – Ablehnung von Hellseherei hemmt die Entfaltung des Denkens. – Kann man vor Wut sein Englisch vergessen? – Dieser Mensch kommt mir nicht ins Haus! – Der Einfluß eines schamlosen Nachthemds auf eine Mathematikarbeit. – Schlimmstenfalls fragst du die Klára ...

Es ist Mode geworden, den Helden einer Geschichte nur dann Aufmerksamkeit zu widmen, wenn sich in der Geschichte gerade etwas tut. Zumal die dramatischen Künste frönen dieser Unart, der dann auch die Prosa verfällt; weder auf der Bühne noch auf der Leinwand geschieht es jemals, daß die Helden stundenlang auf dem Klo Zeitung lesen, ganze Abende stumpfsinnig auf den Fernsehschirm starren oder einfach im Bett liegen, ohne wer weiß was zu tun. Auch in der Prosa gibt es kaum noch einen Autor, der sich zu schreiben traut, daß sich sogar auf dem Höhepunkt einer Krise mitunter nichts Erwähnenswertes tut: Da denkt er sich lieber aus, daß irgend jemand sich irgend etwas Bedeutungsvolles denkt.