Die Erinnerungen - Franz Josef Strauß - E-Book

Die Erinnerungen E-Book

Franz Josef Strauß

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Beschreibung

Als Franz Josef Strauß am 3. Oktober 1988 starb, lagen über tausend Manuskriptseiten seiner Erinnerungen vor. Sie beginnen mit dem Hitler-Putsch von 1923, die letzten Eintragungen berichten vom Besuch bei Michail Gorbatschow im Dezember 1987. Dazwischen liegen Triumphe und Niederlagen nicht nur eines der bedeutendsten Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte, sondern eines herausragenden Denkers und Stichwortgebers zu den Fragen und Gesellschaftsdebatten der damaligen Zeit. Ein einmaliges Dokument von zeithistorischem Wert.

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Seitenzahl: 1032

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FRANZ JOSEF

STRAUSS

Die Erinnerungen

Pantheon

Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbHErste AuflagePantheon-Ausgabe Mai 2015Copyright © 1989 by Wolf Jobst Siedler Verlag GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Jorge Schmidt, MünchenLektorat: Thomas KarlaufSatz: Ditta Ahmadi, BerlinISBN 978-3-641-16424-9www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Vorwort zur Pantheon-Ausgabe

Der Sohn meines Vaters …

Katholisch, monarchistisch, antipreußisch

Aufrecht durch die Jahre des Studiums

Soldat vom ersten bis zum letzten Tag

Landrat in Schongau

Im Frankfurter Wirtschaftsrat

Die Rhöndorfer Konferenz

Konrad Adenauer

Anfänge in Bonn

Der 7. Februar 1952 oder von der Kunst der politischen Rede

Russisches Verwirrspiel – von der Stalin-Note zur Genfer Konferenz

1953 – Jahr der Ohnmacht, Jahr des Durchbruchs

Bundesminister für selbstgestellte Aufgaben

Auf dem Weg zu einem deutschen Verteidigungsbeitrag

»Wären Sie bereit, dieses Amt zu übernehmen?«

Außenpolitische Verwicklungen – innenpolitische Auseinandersetzungen

Deutschland und Israel – Freundschaft der mutigen Tat

Strategie im Wandel

Berlinkrisen und Mauerbau

Die Regierungsbildung von 1961

Das Ende der Ära Adenauer

Aus den Jahren der Bonner Opposition

Der Milliardenkredit und die Begegnungen mit Honecker

Die Wende

Bayern und die CSU

Begegnung mit Gorbatschow

Zu diesem Werk

Franz Josef Strauß bleibt aktuell: Nachwort zur Pantheon-Ausgabe

ANHANG

Personenregister

Vorwort zur Pantheon-Ausgabe

Gerade als einer, der als Sozialdemokrat wahrlich nicht zu seinen Parteigängern gehörte, begrüße ich es, dass die »Erinnerungen« von Franz Josef Strauß in dem Jahr, in dem er hundert Jahre alt geworden wäre, ein weiteres Mal erscheinen. Denn das Wissen über das, was in den ersten Jahrzehnten der alten Bundesrepublik geschah, ist jedenfalls in der jüngeren Generation eher blass geworden. Wer weiß denn noch Genaueres über die Entstehung unseres Grundgesetzes, das vier Jahre nach der deutschen Katastrophe des Jahres 1945 eine klare Antwort auf die verbrecherische Ideologie des NS-Gewaltregimes gab, über die von Konrad Adenauer betriebene West-Integration, über die Ostpolitik Willy Brandts oder über die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft? Wem ist der mit einer wechselseitigen atomaren Bedrohung verbundene Kalte Krieg zwischen Ost und West, der bis in die frühen achtziger Jahre andauerte, noch bewusst? Und wer erinnert sich noch an die hitzigen parlamentarischen Auseinandersetzungen, bei denen Franz Josef Strauß und Herbert Wehner oder Helmut Schmidt aufeinander trafen?

Das alles wird bei der Lektüre der Strauß’schen Aufzeichnungen wieder lebendig. Noch etwas kann die Lektüre bewirken. Nämlich die Einsicht, dass vieles, was wir heute für selbstverständlich halten – so etwa unsere Rückkehr in die Völkerfamilie, unser Grundgesetz, der Rechtsstaat, unser wirtschaftlicher Wiederaufstieg, die fortschreitende Einigung Europas und die deutsche Einheit –, nicht vom Himmel gefallen ist, sondern mühsam erkämpft wurde. Und dass es von den heute Lebenden verteidigt und fortgeführt werden muss. Dass ein demokratisches Gemeinwesen von dem Engagement seiner Bürger und einer kontinuierlichen ernsthaften Auseinandersetzung über den richtigen Weg, aber auch darüber lebt, wie frühere Fehler vermieden werden können.

Franz Josef Strauß äußert sich zu den seinerzeitigen Entwicklungen aus seiner subjektiven Sicht. Er wollte keine neutrale oder gar selbstkritische Analyse liefern. Es ging ihm verständlicherweise an manchen Stellen wohl auch darum, sein Tun und Unterlassen zu rechtfertigen und darzutun, warum er Recht behalten hat, seine Gegner geirrt oder gar schlimme Absichten verfolgt haben. Das unterscheidet seine Memoiren nicht von den meisten Selbstbiographien. Eben deshalb spricht manches dafür, der Neuauflage der Strauß’schen »Erinnerungen« Gedanken eines Mannes voranzustellen, der ihn persönlich kannte, mit ihm sogar eine Zeitlang zusammenarbeitete, aber als Sozialdemokrat die meiste Zeit doch auf der anderen Seite stand und daher vieles anders sah und noch heute sieht als er. Dazu hat mich der Verlag eingeladen und ich versuche im Folgenden dieser Aufgabe gerecht zu werden. Das mag es dem Leser erleichtern, sich ein eigenes Urteil zu bilden.

Zunächst einige Bemerkungen über unser persönliches Verhältnis. Ein Begriff war mir Franz Josef Strauß natürlich schon in den fünfziger Jahren. Da war er unter anderem als Bundesverteidigungsminister bereits ein herausgehobener Politiker, der regelmäßig in den Medien präsent war. Zum ersten Mal begegnete ich ihm, als ich ihm als neugewählter Münchner Oberbürgermeister im Mai 1960 in Bonn einen Antrittsbesuch machte. Bei dieser Gelegenheit zeigte er für die Münchner Situation viel Verständnis und war von großer Liebenswürdigkeit. Nach seinem Sturz als Verteidigungsminister – es gab damals ernsthafte Koalitionssondierungen zwischen der Union und der SPD – autorisierte er seinen Parteifreund Georg Brauchle, der als Zweiter Bürgermeister in München mein Stellvertreter war, bei mir vorzufühlen, ob die SPD etwa auf Bundesebene an politischen Gesprächen mit der CSU interessiert sei. Notfalls sei er selbst auch mit dem Postministerium zufrieden, das ja bekanntlich die Bayerische Volkspartei während der Weimarer Republik lange Zeit inne gehabt habe. Meine entsprechende Anfrage in Bonn blieb jedoch ohne Echo.

Erst im Dezember 1966 kam die erste Große Koalition zustande, in der Strauß als Bundesfinanzminister amtierte. Als solcher gewann ich ihn nach dem Erfolg der Münchner Olympia-Bewerbung im Sommer 1967 für die Funktion des Aufsichtsratsvorsitzenden der Olympia-Baugesellschaft. Die hatte er bis zum Ende der großen Koalition im Herbst 1969 inne. In dieser Zeit ergab sich zwischen uns – ich war neben dem damaligen bayerischen Finanzminister Konrad Pöhner einer der beiden stellvertretenden Vorsitzenden – eine durchaus kooperative Zusammenarbeit. Wichtige Entscheidungen, die unter anderem den Bau des Olympia-Stadions erleichterten, kamen dabei auf finanziellem und personellem Gebiet dank seines Engagements zustande.

In der Folgezeit standen wir uns in unseren verschiedenen aufeinanderfolgenden Funktionen als Gegner gegenüber und blieben uns auch in der Polemik nichts schuldig. So warf er mir unter anderem vor, ich sei mittelmäßig, bestenfalls ein weisungsgebundener Funktionär einer nachgeordneten Parteigliederung und in Wahrheit doch ein linker Sozialdemokrat. Ich meinerseits sagte in einer Bundestagsdebatte im Jahre 1973, in der ich auf eine Rede von ihm antwortete, er verhalte sich wie ein Feuerwehrmann, der zündelt, um dann zu zeigen, was für ein famoser Feuerwehrmann er ist. Das hinderte mich aber nicht, ihm am Tage seines Todes als SPD-Vorsitzender in einer Presseerklärung den Respekt zu bekunden, »der seinem Engagement in unserem und für unser Gemeinwesen gebührt«.

Und in der Tat hat er Substantielles geleistet. Auf der Bundesebene nenne ich insoweit seinen Beitrag zum Aufbau der Bundeswehr als einer Parlamentsarmee von Bürgern in Uniform. Dabei ergab sich eine engere Kooperation mit Fritz Erler und anderen Sozialdemokraten, die die entsprechende Grundgesetzänderung auf den Weg brachten. Dann die Finanz- und Wirtschaftsreform, die er in der Großen Koalition zusammen mit Karl Schiller bewirkte. Und auch die Förderung moderner Technik, insbesondere durch seinen Einsatz für das Airbus-Projekt. In Bayern hat sich die CSU nicht zuletzt dank seiner Bemühungen gegen den Widerstand Alois Hundhammers und anderer in den fünfziger Jahren zu einer überkonfessionellen Volkspartei entwickelt und als solche bis heute ihren besonderen Einfluss auf der Bundesebene behauptet. Auch hat er in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre den Übergang zur akademischen Lehrerbildung und von der Bekenntnis- zur Gemeinschaftsschule in seiner Partei durchgesetzt und damit ermöglicht. Wie in anderen Fällen machte er sich damit allerdings Positionen zu eigen, die SPD und FDP schon geraume Zeit vorher verfolgten. Ebenso hat er die Modernisierung der bayerischen Wirtschaft spürbar vorangebracht.

Positiv beurteile ich auch die Vermittlung des Milliardenkredits für die DDR im Jahre 1983, für den er als Gegenleistung gewisse Milderungen des Grenzregimes erreichte, und seinen Besuch bei Gorbatschow im Jahre 1987. Allerdings tat er damit jeweils etwas, was der Ost- und der Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition entsprach und was er zuvor erbittert bekämpft hatte. Dass er dazu fähig war und sich dabei über Positionen seiner eigenen Partei hinwegsetzte, ehrt ihn in meinen Augen. Es hätte ihn aber noch mehr geehrt, wenn er diesen Wechsel offen angesprochen hätte.

Die Vorbereitung des Kredits war übrigens damit verbunden, dass er mit dem DDR-Unterhändler Schalck-Golodkowski mehr als ein Dutzend Mal – und zwar auch in seiner Privatwohnung – zusammentraf und sich mit ihm auch über Bonner Interna und politisch sensible Themen austauschte. Der auch von ihm erhobene Vorwurf, nicht wenige Sozialdemokraten hätten damals einen »kumpelhaften Umgang« mit DDR-Funktionären gepflogen, erscheint auf diesem Hintergrund etwas sonderbar.

Eine besondere Erwähnung verdient die von Strauß 1973 veranlasste Verfassungsklage Bayerns gegen den Grundlagenvertrag mit der DDR. Sie wurde zwar vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen. Das Urteil verpflichtete aber in seiner Begründung alle Verfassungsorgane auf das im Grundgesetz normierte Ziel der Wiedervereinigung. Das hat im Ergebnis Tendenzen zur Verwässerung oder gar Aufhebung dieses Ziels einen Riegel vorgeschoben. Man muss aber wissen, dass Strauß lange Positionen vertreten hat, die eher als Absage an die deutsche Einheit zu verstehen sind. So schrieb er beispielsweise noch 1966, dass er sich die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats unter den vorausschaubaren Umständen nicht vorstellen könne. Das Motiv für die Klage war daher wohl weniger das Festhalten an dem Einheitsziel, sondern die Absicht, der damaligen Koalition Schwierigkeiten zu bereiten.

Den positiven Leistungen und Erfolgen stehen jedoch auch schwerwiegende Fehlentscheidungen und Irrtümer gegenüber. Auch Strauß war eben nicht unfehlbar. Gravierend sind für mich vor allem sein Nein zum sogenannten Nichtverbreitungs-Vertrag für Atomwaffen und sein Nein zur Ratifizierung der Schlussakte von Helsinki im Jahr 1975. Das erste Nein begründete er mit der Behauptung, dass der Vertrag »ein Versailles in kosmischen Ausmaßen« darstellte. Das lässt die Erinnerung daran wach werden, dass er als Bundesverteidigungsminister eine Zeitlang mit Konrad Adenauer für die Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen unter NATO-Kontrolle eintrat.

In beiden Fällen bewirkte sein Nein, dass die Union, so lange sie den Bundeskanzler stellte, die Unterzeichnung des Nichtverbreitungs-Vertrages verweigerte und in der Opposition gegen die Ratifizierung der Schlussakte stimmte. Heute ist unstreitig, dass die in der Schlussakte festgehaltenen Ergebnisse des Prozesses von Helsinki, die Strauß dahin bewertete, dass sie ein Instrument »zur Durchsetzung langfristiger sowjetischer Interessen, insbesondere in Deutschland zu werden« drohten und dass sie »elementaren Interessen des Westens in Europa zuwiderlaufen« würden, eine wesentliche Ursache für die Implosion der Sowjetunion und des Warschauer Paktes und auch für das Aufbegehren der Bürgerrechtler in der DDR waren. In diesem Zusammenhang ist auch seine scharfe Ablehnung der Brandt’schen Ostpolitik zu erwähnen, die er inner- und außerhalb des Parlaments besonders in der Phase aufs Entschiedenste bekämpfte, in der es um den Abschluss des Moskauers und Warschauer Vertrages ging.

Nicht minder fehlsam war, dass er in den achtziger Jahren sowohl dem Pinochet-Regime in Chile als auch dem Apartheid-System in Südafrika seine Sympathie bekundete und zu diesem Zweck sogar einer Einladung des damaligen südafrikanischen Ministerpräsident Botha Folge leistete.

Auf einem anderen Gebiet, dem der Kernkraftnutzung, hat er nicht allein geirrt. Auch die Sozialdemokratie hat sie lange befürwortet und erst 1986 nach der Katastrophe von Tschernobyl den Ausstieg gefordert. Aber Strauß hielt noch bis zu seinem Tode an dem Projekt einer Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf fest, das dann infolge des wachsenden öffentlichen Widerstandes im April 1989 von der Unternehmerseite her aufgegeben wurde.

Zu einem politischen Leben gehören auch Niederlagen. Die empfindlichsten, die Strauß erlitten hat und verarbeiten musste, sind in meinen Augen der von Konrad Adenauer im Zug der sogenannten »Spiegel-Affäre« herbeigeführte Rücktritt vom Amt des Bundesverteidigungsministers am 31. November 1962 und das Scheitern seiner Kanzlerkandidatur im Jahre 1980.

Die »Spiegel-Affäre«, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, hatte von heute her gesehen für unser Gemeinwesen insgesamt eine positive Auswirkung, nämlich die Festigung der Pressefreiheit, die damals von einer breiten Öffentlichkeit verteidigt wurde, und die Erkenntnis, dass die Justiz ihrer Aufgabe letzten Endes auch in einem solchen Fall gewachsen war. Kam es doch zu keiner einzigen Verurteilung. Strauß’ Rücktritt war wegen seines Verhaltens gegenüber dem Bundestag zwingend. Trotz einer erheblichen Beschädigung seines öffentlichen Ansehens überwand er diese Niederlage rascher als erwartet. Schon vier Jahre später gehörte er als Chef des Finanzressorts erneut einer Bundesregierung an.

Das Scheitern als Kanzlerkandidat traf ihn härter. Hatte er dieses Amt doch schon verhältnismäßig früh als krönenden Abschluss seiner politischen Laufbahn ins Auge gefasst und dann in den siebziger Jahren auch angestrebt. An seiner Qualifikation hatte er ohnehin keinen Zweifel. Umso mehr musste es ihn schmerzen, dass er mit den 44,5 Prozent, die er 1980 als Spitzenkandidat der Union erzielte, deutlich hinter dem Ergebnis von Kohl zurückblieb, der es 1976 auf 48,6 Prozent gebracht hatte. Das Ringen zwischen ihm und Kohl um die politische Führung des konservativen Lagers, das seit den siebziger Jahren von ihm in unterschiedlichen Formen betrieben wurde, war damit endgültig entschieden.

Schon vorher hatte Strauß in diesem Ringen nach der Bundestagswahl 1976 eine bemerkenswerte Niederlage einstecken müssen. Mit der Begründung, ein getrenntes Auftreten beider Unionsparteien außerhalb Bayerns könne das Wählerpotential besser ausschöpfen, als das bei den letzten drei Bundestagswahlen gelungen sei, hatte er am 19. November 1976 in Wildbad Kreuth einen Beschluss des CSU-Vorstands herbeigeführt, der die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU, die im Bundestag seit 1949 immer wieder erneuert worden war, beendete. Die CSU solle künftig im Bundestag als eigene Fraktion auftreten. Diesen Beschluss, der großes Aufsehen erregte, musste Strauß wegen des für ihn ganz ungewohnten innerparteilichen Widerstandes, der insbesondere nach der Ankündigung Kohls, die CDU werde in Bayern einen eigenen Landesverband gründen, stark anwuchs, alsbald fallen lassen. Es kam daher auch in der 8. Legislaturperiode wieder zu einer Fraktionsgemeinschaft der CDU und der CSU.

Ein anderes permanentes Spannungsverhältnis, das Strauß Jahrzehnte lang begleitete, endete nicht mit einer Niederlage, sondern in meinen Augen mit einem Unentschieden. Das war die Dauer-Feindschaft, die Rudolf Augstein und er miteinander pflegten. Der setzte ihm zwar im »Spiegel« mit seiner permanenten Kritik immer wieder zu und trug auch dazu bei, dass Strauß sein Amt als Bundesverteidigungsminister verlor. Zugleich entstand so aber auch das Bild von dem Bayern, der von einem Preußen gnadenlos verfolgt wird. Manche meinen, dass dies zu den Wahlerfolgen von Strauß gerade in Bayern nicht unerheblich beigetragen habe. Immerhin war er ja 27 Jahre lang Vorsitzender seiner Partei und von 1978 an zehn Jahre lang bayerischer Ministerpräsident. Übrigens hat auch Augstein Strauß anlässlich seines Todes als Persönlichkeit von außergewöhnlichem Rang bezeichnet.

Es bleibt die Frage: Welchen Eindruck hat Franz Josef Strauß als Persönlichkeit auf mich gemacht? Wie habe ich ihn als Mensch in Erinnerung?

Zunächst einmal: Er war auch für mich eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Was seine öffentliche Präsenz, sein politisches Engagement und seine Durchsetzungsfähigkeit angeht, kann er durchaus in einem Atemzug mit Helmut Schmidt genannt werden. Es ist ja auch kein Zufall, dass beide bei aller Meinungsverschiedenheit einen durchaus persönlichen Umgang miteinander pflegten. Beide strebten nach der Macht. Aber auch für Strauß gilt, dass er die Macht nicht nur um seiner Selbstbestätigung willen, sondern als Mittel zur Durchsetzung seiner politischen Ziele innehaben wollte. Und die leitete er wie Helmut Schmidt nicht zuletzt aus der Katastrophe des NS-Gewaltregimes und des Zweiten Weltkriegs ab, die er ja selbst miterlebt hatte.

Er verfügte über ein umfassendes Wissen, eine nicht alltägliche Intelligenz und eine nahezu unerschöpfliche Lebens- und Arbeitskraft. Zugute kam ihm aber auch seine bayerische Herkunft, der er nicht wenige spezielle Eigenschaften – etwa seinen Pragmatismus oder seine Trinkfreudigkeit – verdankte. Außerdem war er ein begnadeter Redner, der seine Zuhörer im Parlament ebenso erreichte wie im Bierzelt. Dabei halfen ihm seine Schlagfertigkeit, seine Fähigkeit, Dinge zuzuspitzen und auf den Punkt zu bringen, und vor allem sein Temperament.

Das war aber auch sein Problem. Denn es war so stark, dass er nicht selten die Selbstbeherrschung verlor und sich schlimme Entgleisungen leistete. So verunglimpfte er Willy Brandt im Wahlkampf 1961 mit der Frage »Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.« Damit wollte er ihn, den unerschütterlichen Gegner des NS-Gewaltregimes, als eine Art Landesverräter brandmarken. Eine Entgleisung war auch die sogenannte Wienerwald-Rede vom November 1976, in der er Helmut Kohl als »total unfähig« charakterisierte. Mir gaben sie Anlass, ihn des öfteren mit einem Kraftwerk zu vergleichen, dessen Turbinen 100 Megawatt zu leisten vermögen, das aber nur mit Sicherungen für drei Stalllaternen ausgestattet ist.

Ja – ein Kraftwerk war Franz Josef Strauß. Und in der Geschichte der alten Bundesrepublik hat er seinen festen Platz. Aber er war eben auch nur ein Mensch – »nehmt alles nur in allem!«.

Dr. Hans-Jochen Vogel

Frühjahr 2015

Der Sohn meines Vaters …

Meine politischen Kindheitserinnerungen gehen zurück zum 9. November 1923, dem Tag des Hitlerputsches in München, an dem ich als kleiner Bub an der Absperrkette stand, die von der Bayerischen Landespolizei, den »Grünen«, gebildet wurde, ohne zu wissen, worum es ging. Aber es war bezeichnend, daß meine Klasse in der Amalienschule in zwei Gruppen gespalten war, die Hitlergegner und die Hitleranhänger, zwischen denen noch tagelang Raufereien stattfanden. Unser Lehrer nahm mir zu meiner Betrübnis eine »Waffe« ab, einen mit Bindfaden selbstgefertigten Knüppel.

Ich erlebte die zunehmende Radikalisierung auch unter dem Druck der wachsenden wirtschaftlichen Not und der ansteigenden Arbeitslosigkeit. Mein Vater war Mitglied und aktiver Mitarbeiter der Bayerischen Volkspartei, bis sie sich unter dem Druck der Nazis 1933 auflöste. Ein Satz aus jener Zeit hat sich mir ein Leben lang eingeprägt. Als ich am 31. Januar 1933 nach Hause kam – wir hatten das »Neue Münchener Tagblatt«, das Blatt der Bayerischen Volkspartei für die einfachen Leute, der »Bayerische Kurier« war das Blatt für die anspruchsvolleren, für die gehobenen Leser –, stand mein Vater unter der Türe seiner Metzgerei und sagte mir mit einer Miene aus tiefster Not und Verzweiflung: »Bub, jetzt ist der Hitler Kanzler. Das bedeutet Krieg, und dieser Krieg bedeutet das Ende Deutschlands.«

Es war der 31. Januar 1933 – da wir kein Radio hatten, hatten wir die Vorgänge erst der Morgenpresse entnommen! Ich kannte die Meinung meines Vaters über Hitler, den er für eine Ausgeburt des Teufels gehalten hat, was er de facto auch war. Wenn der Name Hitler fiel, schlug er das Kreuz, um den Dämon zu bannen.

45 Jahre später, am 6. Mai 1978, bin ich auf diesen mir unvergessenen Satz meines Vaters zurückgekommen – in einem Gespräch, zu dem ich mit Leonid Breschnew auf Schloß Gymnich bei Bonn zusammentraf. Die Begegnung erfolgte aufgrund des neuen Protokolls der Bonner Regierung unter Kanzler Schmidt. Zu dem Ritual der damaligen Breschnew-Visite gehörten, wie bei anderen Staatsbesuchen in Bonn, Gespräche mit allen Fraktions- und Parteivorsitzenden, unabhängig von den amtlichen Unterredungen mit Bundespräsident, Bundeskanzler, Außenminister oder anderen Regierungsmitgliedern. Bei der Begrüßung Gedränge, Photographen, Blitzlichtgewitter. Breschnew: »Nehmen Sie Platz, Herr Strauß!« Als wir nebeneinander auf dem Sofa saßen, zog Breschnew ein Papier heraus, das er Satz für Satz vorlas und das von seinem Dolmetscher Satz für Satz übersetzt wurde. Der Vortrag dauerte etwa zwanzig Minuten und geriet in weiten Teilen zu einer Anklagerede gegen die Politik der CSU und damit gegen mich.

Die CSU sei eine einflußreiche Partei in der deutschen Innenpolitik, besonders bei der Gestaltung der politischen Linie der Union. Insgesamt sei, so rügte Breschnew, die Politik der Opposition im Deutschen Bundestag nicht konstruktiv; vor allem in der CSU gebe es Elemente, von denen die Einstellung der Opposition besonders kompromißlos vertreten werde. »Warum will man die nationalistischen Leidenschaften vermehren?« fragte Breschnew an die Adresse der CSU, um drohend hinzuzufügen, daß der gute Wille der Sowjets dort seine Grenze finde, »wo versucht wird, die Ergebnisse des vergangenen Krieges zu revidieren«. Breschnew weiter: »Es ist bekannt, daß die Vertreter der CSU mit allen Mitteln die Angst anheizen. Manchmal gibt es Äußerungen, als ob die UdSSR bereit wäre, sofort ganz Westeuropa zu besetzen.« Nichts liege aber der Wahrheit ferner; Moskau sei bereit, die notwendigen Maßnahmen auf dem Gebiet der Abrüstung einzuleiten – wie könne man also von einer militärischen Bedrohung durch die Sowjetunion sprechen? Dann steigerte sich Breschnew in seinen monoton vorgelesenen Vorwürfen: »Es besteht kein Zweifel, daß dies manchmal erklärt wird, um politische Kriege zu erreichen. Ich möchte diese Stimmen nicht aufzählen. Es ist unannehmbar, mit diesem Klischee als gute Nachbarn zu leben.« Die Sowjetunion bestehe darauf, ein guter Partner zu sein. Ich sollte überlegen, ob man nicht zusammenarbeiten könne.

Es zeigte sich, daß Breschnew auf dieses Gespräch mit mir gut vorbereitet war, denn er sagte: »Vor 40 Jahren haben Sie die militärische Uniform getragen, bei Stalingrad waren Sie auch dabei, Millionen Landsleute haben ihr Leben geopfert wegen des verbrecherischen Amoklaufs Hitlers. Aber alle Opfer und das ganze Elend des Zweiten Weltkrieges können nicht verglichen werden mit den ersten Minuten eines nuklearen Konflikts, wenn er erfolgen würde.« Jetzt hatte ich das Wort.

In meiner Erwiderung bedankte ich mich für die Offenheit seiner Erklärung und bat um Verständnis dafür, daß ich kein Papier vorbereitet hätte wie er; dies sei vielleicht auch besser so, weil ich auf das eingehen müsse, was er gesagt habe. Erstens bäte ich ihn, sich nicht zum Gefangenen der offiziellen sowjetischen Propaganda zu machen. Das Bild, das er hier von Strauß und der CSU zeichne, entstamme einem Klischee, das durch die Wirklichkeit nicht gerechtfertigt sei. Ich sei es gewohnt, daß es Franz Josef Strauß zweimal gebe: jenen der sowjetischen Propaganda und ihrer deutschen Ableger und jenen, der ich wirklich sei und der ihm gegenübersitze. Die beiden stimmten nicht überein. Ich sei ein leidenschaftlicher Gegner des Krieges, sei als Soldat in Rußland gewesen, bei der 6. Armee, hätte die ganze Tragödie miterlebt. In Europa dürfe es keine Kriege mehr geben, das sei seit Jahren meine feststehende Überzeugung, dieses Zeitalter müsse endgültig zu Ende sein. Die moderne Waffentechnik, insbesondere die Atombombe, habe die Möglichkeit des Einsatzes militärischer Mittel ad absurdum geführt, ein Krieg sei nicht mehr führbar, nicht mehr denkbar, nicht mehr kalkulierbar, nicht mehr gewinnbar. Ein Krieg würde die Zerstörung eines großen Teiles Europas, Amerikas und eines großen Teiles der Sowjetunion bedeuten. Breschnew unterbrach mich: »Nein, die Zerstörung der ganzen Sowjetunion!«

Dann wurde ich persönlich und deutlich zugleich: »Ich möchte Ihnen jetzt etwas sagen, was ich Sie in Ruhe anzuhören bitte. Ich komme aus einer überzeugt katholischen Familie, aus einer Familie, die in leidenschaftlichem Gegensatz zum Nationalsozialismus stand. Ich erzähle Ihnen, was ich am 31. Januar 1933 erlebt habe und was mein Vater mir sagte, als ich von der Schule nach Hause kam – »Bub, jetzt ist der Hitler Kanzler. Das bedeutet Krieg, und dieser Krieg bedeutet das Ende Deutschlands!« Von da an lebte ich als junger Mensch in der Hoffnung, daß kein Krieg kommt, und in der Furcht, daß er kommt. Sechs Jahre war ich hin und her gerissen. Wissen Sie, Herr Generalsekretär, wann bei mir Klarheit bestand, ob Hoffnung oder Furcht siegen würde? Am 23. August 1939. An diesem Tag hat die Nazi-Presse in großer Aufmachung vom möglicherweise bevorstehenden Abschluß eines deutschsowjetischen Vertrages berichtet. Noch in der gleichen Nacht wurde der Nichtangriffspakt unterzeichnet. Jetzt wußte ich, daß das Tor zum Tempel des Krieges aufgestoßen war, daß es auf dem Marsch in das Unheil nun kein Halten mehr gab. Ohne diesen Hitler-Stalin-Pakt hätte der Zweite Weltkrieg, bei entsprechender Reaktion auch der Westmächte, vermieden werden können.«

Dann kam der entscheidende Satz zu Breschnew: »Ich bin der Sohn meines Vaters, Sie sind einer der Amtsnachfolger Stalins.« Der sowjetische Dolmetscher hat sich geweigert, das zu übersetzen. Den Stenographen wäre bald der Stift aus der Hand gefallen. Dann habe ich zu dem Dolmetscher gesagt: »Sie übersetzen jetzt, sonst übersetzt mein Dolmetscher. Der Generalsekretär hat einen Anspruch darauf, jeden Satz, den ich hier sage, zu hören, ob er angenehm oder nicht angenehm ist.« Der Satz wurde übersetzt, ich rechnete mit einer heftigen Reaktion. Doch Breschnew hörte mit unbewegtem Gesicht zu, verzog keine Miene, ließ keinerlei Zeichen von Mißmut erkennen. Nur alle Begleiter, die er dabei hatte, zitterten. Nach Mitteilungen, die ich vom Bundesnachrichtendienst bekommen habe, hat ihm Andrej Gromyko später schwere Vorwürfe gemacht, daß er mich überhaupt empfangen, sich in dieser Weise mit mir unterhalten, mich so höflich behandelt habe.

Abschließend fügte ich hinzu: »Ich bin, Sie wissen es, ein Gegner des Kommunismus, aber ich bin kein Feind der Russen. Ich bewundere sie, denn sie sind die einzige Großmacht, die trotz ihrer wirtschaftlichen Probleme eine geschlossene Strategie hat. Im Zimmer Ihres KGB-Chefs Andropow steht ein Globus, und Andropow zeigt daran jedem Besucher, daß die Sowjetunion alle weltpolitischen Ereignisse und ihre Auswirkungen, alle eigenen Aktionen und ihre Folgen rund um den Erdball verfolgt. Die Russen haben eine zielorientierte globale Strategie, die Amerikaner haben leider keine.« Darauf Breschnew: »Gut, Herr Strauß!« Ich fuhr fort: »Natürlich leiden Sie unter einer Gefahr. Ein guter Boxer, der einen schlechten Sparringpartner hat, verliert an Kondition. Dadurch, daß Sie niemanden mehr als Gegenüber haben in der Weltpolitik, das sehen Sie ja an Afrika, Angola und so weiter, laufen Sie Gefahr, Ihre Kondition zu verlieren, weil Sie keiner Herausforderung mehr ausgesetzt sind.« Damit war das Gespräch zu Ende.

Wir stehen auf, ich gebe ihm die Hand, er nimmt sie. Ich gehe zur Tür, er geht mit, rechts hinter mir. Ich reiche ihm an der Tür noch einmal die Hand, er schüttelt sie wieder, ich gehe weiter, er geht mit. Ich gehe bis zur Haustür, gebe ihm wieder die Hand, er ergreift sie wieder; ich öffne die Haustür, gehe die Treppe hinunter, er geht mit mir die Treppe hinunter. Unten schütteln wir uns noch einmal die Hand. Dann muß ich ihn beinahe daran hindern, mir den Wagenschlag aufzumachen. Das war damals eine Sensation, wie Breschnew mich behandelt hat.

Katholisch, monarchistisch, antipreußisch

Mein Elternhaus war in gewisser Weise noch geprägt vom Lebensstil der kleinen Leute im München der Prinzregentenzeit. Wir wohnten in der Schellingstraße 49, in einem Hinterhof in einfachsten Verhältnissen. Die Wohnung bestand aus einer Wohnküche, einem Schlafzimmer für die Eltern und den jüngeren Sproß, also mich, und einer kleinen Kammer für meine Schwester. Die Toilette lag außerhalb der Wohnung auf dem Gang, dort gab es auch fließendes Wasser. Einen Garten hatte das Haus nicht, im Hof war eine Schlosserei.

Auch wenn mein Vater eine Metzgerei besaß, führten wir ein sehr einfaches Leben. Meine Mutter war eine ausgezeichnete Köchin – vor ihrer Ehe hatte sie als Köchin gearbeitet –, und sie verstand es, aus wenig viel zu machen. Meist bereitete sie eine Suppe und ein einfaches, aber wohlschmeckendes Hauptgericht. Die verkochte Brotsuppe, die es immer wieder gab, ist mir in angenehmster Erinnerung. Die Auswahl war nicht groß; auf den Tisch kam in aller Regel Fleisch wie der Halsstich, das zwar nicht verdorben, aber schwerer abzusetzen war. Nachtisch oder Obst waren bei uns zu Hause unbekannt.

Im Winter hat mein Vater vielleicht 1000 bis 1500 Mark zurückgelegt, im Sommer, wenn es heiß war und das Geschäft schlechter ging, hat er dieses Geld wieder zugesetzt. Die Ersparnisse waren praktisch null. Es gab keine Lebensversicherung, keine Sozialversicherung, nichts. Für das Alter rechnete man selbstverständlich damit, daß die Kinder für die Eltern sorgen würden. So hatten wir, als 1923 die Inflation kam, zwar nichts zu verlieren, aber dennoch wurden wir hart getroffen. Wenn mein Vater in der Frühe ein Kalb verkaufte, hat er abends nur noch ein Huhn dafür bekommen. Es war unvorstellbar, wie auf dem Höhepunkt der Inflation 1923 die Währung von Tag zu Tag verfiel.

Trotz aller Einschränkung und Sparsamkeit, zu der meine Eltern gezwungen waren, haben sie sich rührend um uns Kinder bemüht und uns eine gute Ausbildung zukommen lassen. Meine fleißige, tüchtige und besorgte Schwester wurde schon bald eine wichtige Stütze der Familie. Nach der Volksschule hatte sie drei Jahre die hochangesehene Riemerschmid-Handelsschule besucht. Sie bekam so hervorragende Zeugnisse, daß sie sich auch in der Zeit der größten Arbeitslosigkeit nie Sorgen um einen Arbeitsplatz zu machen brauchte; bei ihrer ersten Stelle war sie unter 102 Bewerberinnen ausgewählt worden. In den ersten Jahren nach Verlassen der Schule hat sie ihr Gehalt den Eltern zur Verfügung gestellt, nur so konnte der Vater seinen kleinen Familienbetrieb überhaupt weiterführen.

Wir hatten weder ein Fuhrwerk noch sonst irgendein Fahrzeug, geschweige denn ein Auto. Mit einem Metzgerkarren marschierte mein Vater frühmorgens zum Schlachthof, lud sein Fleisch ein und zog den Karren nach Hause. Es war ein Weg von einer guten Stunde, auf dem ich meinen Vater oft begleitet und ihm beim Ziehen des Karrens geholfen habe. In den Ferien fuhr ich manchmal mit der Bahn zu den Verwandten nach Niederbayern, sonst kam ich fast nie aus München heraus.

Die Lektüre meiner frühen Kindheit bestand aus christlichen Kalendern, aus den frommen und erbaulichen Erzählungen Christoph von Schmids, aus dicken Heiligenlegenden – wenig Lesestoff also, das wenige aber las ich um so intensiver. Ausgesprochen lesehungrig war ich dann als Gymnasiast der oberen Klassen. Als Student begann ich, mir über die Lehrbücher und das eigentlich Notwendige hinaus eine kleine Bibliothek anzulegen: Helmut Berves »Griechische Geschichte« in zwei Bänden, Gustav Droysens »Geschichte Alexanders des Großen«, später auch den einen und anderen Roman, so »Der wunderbare Fischzug« von Guy de Pourtales, die Werke des spanisch-amerikanischen Philosophen und Dichters George Santayana, Lessings »Minna von Barnhelm«, Schillers »Don Carlos« und »Wallenstein«, Goethes »Werther« und »Egmont«, aber auch »Dichtung und Wahrheit« und den »Faust«. Gespräche zu Hause über diese Lektüre gab es nicht. Geredet wurde nur über die Bücher der Kindheit, über die Märchen von Grimm und Bechstein, von Hauff und über »Tausend und eine Nacht«.

Vater und Sohn

© Archiv für Christlich-Soziale Politik, Nachlass Strauß

Gespräche über Politik dagegen gehörten bei uns zum Familienalltag. Als ich 14, 15 Jahre alt war, bestand mein Part durchaus auch darin, kritische Fragen zu stellen. Über die Bayerische Volkspartei entbrannten dabei ebenso Diskussionen wie natürlich über Hitler und seine NSDAP. Das Stichwort Versailles, das ich auch mit meinen Schulfreunden heftig erörterte, stand oft im Mittelpunkt.

Mein beruflicher Weg schien durch meine Herkunft aus einer einfachen Handwerkerfamilie vorgegeben zu sein: Volksschule, Lehrzeit, Handwerksberuf. Daß ich von dieser vorgezeichneten Bahn abweichen würde, war schon in der Volksschule abzusehen. Mein Vater, der trotz seiner großen Beanspruchung stets am Wohlergehen und am Weiterkommen seiner Kinder interessiert war, hat regelmäßig meine Lehrer aufgesucht, um sich nach meinen Leistungen zu erkundigen. Auch der Gang zum Pfarrer, dem Religionslehrer, war ihm feste Gewohnheit. Immer häufiger erhielt er in der Schule die Auskunft, sein Sohn spiele nur noch, gebe nicht mehr Obacht, passe nicht mehr in die Volksschule. Deshalb der Rat der Lehrer an meinen Vater: »Den müssen Sie in die höhere Schule schicken!«

Das war nun ganz und gar nicht die Absicht meines Vaters. Auch die früher weitverbreitete katholische Tradition, daß der begabte Bub vom Pfarrer und vom Lehrer in der Schule ausgesucht wird, um Priester zu werden, bestimmte nicht das Denken in unserer Familie. Zu diesem Thema gibt es in Bayern viele Anekdoten. Eine handelt von Alois Schlögl, dem späteren bayerischen Landwirtschaftsminister. Zu Schlögls Vater, einem niederbayerischen Dickkopf, kam einst der Pfarrer, lobte die Begabung des kleinen Alois und forderte den Vater auf, ihn »auf Pfarrer« studieren zu lassen. Die Reaktion ist negativ: »Nix da, Pfarrer, der werd Bauer!« Ein paar Wochen später wiederholt der Pfarrer den Besuch, wird wieder abgewiesen: »Schlag dir’s aus dem Kopf, Pfarrer, i folg’ sonst am Pfarrer immer, aber der Alois braucht net Latein und Griechisch, der soll den Hof übernehmen!« Der Pfarrer kommt ein drittes Mal und sagt: »Bauer, hast recht g’habt, dei Sohn ist vui z’dumm zum Studieren, hob i festgstellt!« Schlögl senior braust auf: »Wos host gsagt, der Alois z’dumm? Jetzt werd studiert!«

Erstkommunion, um 1924

© Archiv für Christlich-Soziale Politik, Nachlass Strauß

Mein Wechsel von der Volks- zur Realschule hängt auch mit meiner Tätigkeit als Ministrant zusammen. Schon früh konnte ich die lateinischen Texte aufsagen, ohne allerdings ihren Inhalt zu begreifen. Ich konnte die Gebete fehlerlos rezitieren, was mir gut gefallen hat. Mein Vater hatte eine kleine regelmäßige Fleischlieferung an das Ottilien-Kolleg in der Königinstraße in München, eine Benediktiner-Niederlassung. So kam gelegentlich ein Benediktinerpater zu uns, und der hat dann festgestellt, daß mich die lateinische Sprache interessiert. Er gab mir ein lateinisches Lehrbuch, und damit habe ich im Alter von neun Jahren versucht, als Autodidakt Latein zu lernen, was ein mühsames Unterfangen war.

Als die Entscheidung, daß ich eine weiterführende Schule besuchen sollte, gefallen war, wurde nach dem richtigen Bildungsweg für mich gesucht. Zunächst war nach sechs Klassen Volksschule der Besuch einer vierklassigen Handelsschule vorgesehen. Dieser Plan ist auf Empfehlung der Lehrer abgeändert worden, die dafür plädierten, daß ich nach vier Klassen Volksschule sechs Jahre die Realschule besuchen sollte. So wanderte ich in die Gisela-Realschule, die damals noch nicht Oberrealschule war. Das Lateinische habe ich weiterhin gepflegt, und ich habe auch weiterhin ministriert, im Max-Joseph-Stift. Der Priester, der dort täglich die Messe las, war Professor Dr. Johannes Zellinger von der Universität München, später Ordinarius für kirchliche Kunstgeschichte und Patristik, der nach der Auflösung der Fakultät Professor in Würzburg wurde. Zellinger stellte fest, daß ich schon etwas mehr vom Lateinischen verstand, als nur die Gebete nachzuplappern. Mich zogen an der Sprache Latein ihr geometrischer Aufbau und ihr voller Klang an, lateinische Gedichte las ich immer viel lieber als deutsche. Als der Professor seinen Ministranten dann auch noch beim Lernen aus dem Lateinbuch antraf, festigte sich Zellingers Meinung endgültig, daß ich in der falschen Schule sei. Mein zaghafter Einwand, ich sei nun in der Realschule und könnte nicht ohne weiteres auf ein Gymnasium wechseln, führte zu Zellingers Angebot, mir Nachhilfeunterricht in Latein zu geben, was dann auch geschah. So trat ich ohne Aufnahmeprüfung von der ersten Klasse Realschule mit Englisch in die zweite Klasse Gymnasium mit Latein über. Professor Zellinger hatte mit dem Leiter des Max-Gymnasiums, Oberstudiendirektor Dr. Ernst Bodensteiner, gesprochen und mir diesen Weg geebnet. Als ich die ersten zwei Arbeiten in Latein, die nicht gezählt, aber probeweise bewertet wurden, mit »zwei« absolvierte, war die Sache entschieden.

Mein Vater, der ein gütiger Mann war, hat diesem Wechsel zugestimmt, auch wenn er nicht unbedingt seiner Vorstellung von der Zukunft seines Buben entsprach. Daß der Sohn einmal das Geschäft übernehmen werde, war wohl sein ursprünglicher Gedanke, aber als er merkte, daß ich mich dafür weder interessierte noch eignete, hat er meinen anderen schulischen Weg akzeptiert und unterstützt.

Am Gymnasium kam dann zum Lateinischen, das mir in seinen Anfangsgründen vertraut war, das Griechische, das mich nicht weniger faszinierte. Obwohl ich unmusikalisch bin, rührte mich die Melodie der griechischen Sprache an, es war ein Verstehen, zu dem man keine Tonleitern beherrschen muß.

Neben Latein und Griechisch war Geschichte ein mich stark interessierendes und prägendes Fach, wobei es hier in besonderer Weise vom jeweiligen Lehrer abhing, welchen politischen Akzent er setzte. Es gab eine liberale, deutschnationale Komponente, es gab, erkennbar seit dem Jahre 1931, eine sehr starke nationalsozialistische Komponente, und es gab eine schwarze, klerikal-bayerische Komponente, die in der Einstellung zur Kirche und auch zum Hause Wittelsbach zum Ausdruck kam. Die Weimarer Republik wurde unterschiedlich beurteilt, meist aber negativ.

Unsere Lehrer waren insgesamt sehr solide und verstanden ihr Handwerk. Einige haben großen Eindruck auf mich gemacht, weshalb ich mich besonders an sie erinnere, ungeachtet ihrer politischen Einstellung. Studienprofessor Hans Poeschel – er hatte, glaube ich, einen Lehrauftrag an der Universität München und galt als politisch links – war ein großartiger Pädagoge; wir hatten ihn in Latein, Griechisch und Deutsch. Oberstudiendirektor Bodensteiner, Schopenhauerianer und Atheist, ging freiwillig bei der Fronleichnamsprozession mit, weil sich das für einen bayerischen Beamten so gehörte. Ein herausragender Lehrer war für mich der vor kurzem erst verstorbene spätere Universitätsprofessor Dr. Kurt Vogel, der Geschichte und Mathematik unterrichtete. Alles in allem galt das Max-Gymnasium in München als liberal, beispielsweise im Vergleich zum Ludwigs-Gymnasium, das als klerikal angesehen wurde.

Das Verhältnis zu meiner Mutter und zu meinem Vater blieb auch nach dem Wechsel auf das Gymnasium stets gut, und es gab keinerlei Entfremdung. Sicher spürten die Eltern, daß der Bub sich jetzt mit Gedanken beschäftigte und in Kreise kam, mit denen sie nicht vertraut waren und mit denen sie wenig anfangen konnten. Aber ihr Stolz überwog. Hervorragende Noten, die ich nach Hause brachte, beschleunigten die Versöhnung mit der neuen Entwicklung. Das persönliche wie das politische Vertrauensverhältnis zum Elternhaus hat unter meinem Eintritt in eine für meine Familie neue Welt niemals gelitten.

Erster Weltkrieg, Revolution, Sturz der Monarchie – diese Erfahrungen haben die politische Atmosphäre in meinem Elternhaus während der zwanziger und dreißiger Jahre geprägt. Mein Elternhaus war durch und durch politisch und insofern gewiß nicht typisch für das Leben in einem kleinen Handwerkerhaus. 1919 war mein Vater Gründungsmitglied der Bayerischen Volkspartei gewesen, der er bis zu der von den Nazis erzwungenen Auflösung treu blieb. Auch meine sieben Jahre ältere Schwester Maria war politisch engagiert und vertrat lupenrein die gleiche Gesinnung wie die ganze Familie, ohne einen Millimeter von der Bahn abzuweichen.

Zum anderen herrschte bei uns eine starke katholische Religiosität, die heute in dieser Form nicht mehr verständlich wäre. Sie ist gewachsen aus dem Denken in der fränkischen Diaspora, die in einer dauernden Konfrontation mit den geistigen Nachfahren Martin Luthers und Gustav Adolfs stand und die meinen Vater prägte. Der Name Martin Luther durfte bei uns zu Hause nicht fallen. Daß ich aus einer militant katholischen Familie stamme, schlug bei mir immer wieder durch.

Zum dritten waren meine Eltern Verehrer des bayerischen Königshauses. Über den »Verrat« der Wittelsbacher zugunsten von Bismarcks Reichsgründung waren sie innerlich voller Ressentiments. Der Großvater mütterlicherseits war als Berufssoldat königlich-bayerischer Schwerer Reiter gewesen. Als solcher kämpfte er 1866 in der Schlacht von Bad Kissingen gegen die Preußen, und noch mehr als fünfzig Jahre später hat er seinem Enkel mit Verbitterung erzählt, daß es in der bayerischen Armee Verräter gegeben habe. 1870/71 stand er wieder im Feld, und auch hierüber erzählte er mir, als ich ihn 1922 auf seinem kleinen Bauernhof in Niederbayern besuchte: »Woaßt, Bua, d’Franzosen san schlimm, aber no schlimmer san d’Preißen.« Auch meine Eltern haben ähnlich gedacht.

Väterlicherseits sind die Mitglieder der Familie, soweit sie nicht den Hof übernahmen, zum Militär oder zur Polizei gegangen. Bayerisches Legitimitätsdenken bestimmte die Grundhaltung der Familie. Ich weiß noch, wie nach der Niederschlagung der Räterepublik 1919 zwei Verwandte – der eine war bei der neuen Reichswehr, der andere bei der Polizei – bei uns Haussuchung halten sollten. Damals wurden sämtliche Wohnungen in München nach Waffen durchsucht. Natürlich war das bei uns nur Formsache, mein Vater war schließlich bei der Einwohnerwehr. Als die beiden Verwandten in Uniform bei uns in der Wohnung erschienen, entspann sich ein Dialog, in dem meine Mutter sagte: »Wir haben keine Waffen, aber wenn wir Waffen hätten, dann täten wir auf die Preißen schießen.«

Gewiß liegt darin eine gehörige Portion Ironie. Aber das bayerische Urgefühl, mit dem ich aufgewachsen bin und das ich in mir habe, läßt mich – und wohl die Bayern überhaupt – mit der Vergangenheit leichter fertig werden als vielleicht manche andere. Ich bringe zum Beispiel beim besten Willen keinen generellen Schuldkomplex zustande, obwohl ich die falschen Weichenstellungen, die furchtbaren Untaten und Verbrechen des Dritten Reiches klar sehe. Wohl war ich entsetzt und betroffen über die Irrwege der deutschen Geschichte und ihre schrecklichen Folgen, gipfelnd in Auschwitz. Aber die Vorstellung einer Kollektivschuld kann ich nicht übernehmen.

Diese Sicht der Dinge war es auch, die mich vor der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag lange vor meiner Zeit als Ministerpräsident einen Satz sagen ließ, der berühmt wurde und jahrelang die Runde gemacht hat. Die übrigen Sätze dieser zweistündigen Rede sind in der Versenkung verschwunden. Es ging damals um die Auseinandersetzung über die Ostpolitik, um das Festhalten an der Einheit Deutschlands, und ich prägte den Satz: »Wir Bayern müssen bereit sein, wenn die Geschichte es erfordert, notfalls die letzten Preußen zu werden!«

Mein Vater nahm die Weimarer Republik innerlich als Ergebnis einer unvermeidlichen Entwicklung, aus der man das Beste machen müsse. Bezeichnend für ihn waren die beiden Hauptreden auf dem Katholikentag von 1922 in München, an dem er teilgenommen hatte und von dem er mir später immer wieder berichtete. Kardinal Michael Faulhaber, der Erzbischof von München und Freising, hatte am 27. August, dem Eröffnungstag, in seiner Predigt auf dem Königsplatz davon gesprochen, daß dieser Staat, die Weimarer Republik also, durch Meineid und Hochverrat zustande gekommen sei. Am Schlußtag, drei Tage später, sprach der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer als Präsident des Katholikentages. Er brachte Korrekturen an Faulhabers Sicht der Dinge an: Nicht Meineid und Hochverrat hätten diesen Staat geschaffen, sondern der alte Staat habe sich überlebt. Es sei gewesen wie in der Natur, wenn der Herbst komme und der Sturm in die Bäume fahre, dann fielen die Blätter. Faulhaber sitzt unten, blickt voller Zorn, packt seinen Kardinalshut und will gehen. Der Eklat scheint unvermeidbar. Was macht Adenauer? Er hört mitten in der Rede auf und sagt ohne jeden Zusammenhang, daß man nun Eminenz um den oberhirtlichen Segen bitte. Daraufhin hat der Kardinal seinen Hut hingeworfen und voller Wut seinen Segen heruntergedonnert. Mit schneller List hatte Adenauer den Eklat am letzten Tag vermieden. Damals hörte ich zum ersten Mal den Namen Konrad Adenauer, der mir als Kind natürlich nichts sagte, während Kardinal Faulhaber selbstverständlich ein ehrfurchtgebietender Begriff war.

Die häusliche Atmosphäre also war katholisch und monarchistisch und antipreußisch. Hinzu kam von Anfang an der Abscheu gegen die Nationalsozialisten. Bereits nach der Niederschlagung des Hitlerputsches vom 9. November 1923 wurde Hitler zum Inbegriff des politischen Hasses meiner Eltern. Die Abneigung gegen Erich Ludendorff, der seit dem Ersten Weltkrieg als Verkörperung eines negativen Militarismus und als Soldatenschlächter galt, war bei meinen Eltern, die von ihm als dem »Wotansanbeter« sprachen, kaum geringer. Ludendorff war für uns in Bayern der Prototyp des unsympathischen preußischen Generals. In unserer Familie wurde immer wieder über den Prozeß gegen Hitler und seine Mitmarschierer gesprochen, mein Vater war empört darüber, daß so milde Urteile gefällt wurden.

Lebhaft ist meine Erinnerung an einen Bericht meines Vaters über eine Versammlung der Bayerischen Volkspartei. Das muß 1925 gewesen sein. Der damalige Bayerische Ministerpräsident, Heinrich Held, berichtete seinen Parteifreunden, daß Hitler ihn besucht und ihm gesagt habe, er würde seine Fehler einsehen und versprechen, in Zukunft nur noch legal zu arbeiten. Es ging Hitler um die Wiederzulassung der NSDAP in Bayern, und Held wollte seiner Partei erklären, warum das bayerische Kabinett dem zugestimmt habe. Mein Vater geriet in hellen Zorn. Er, ein obrigkeitsgläubiger und geradezu ängstlich die Gesetze beachtender Mann, für den, wie für die meisten kleinen Leute damals, schon beim Ministerialrat die höhere Welt begann und für den Staatsräte und Staatssekretäre, Minister oder gar Ministerpräsidenten ferne Olympier waren, schimpfte im Kreis seiner Familie über die Torheit dieser Entscheidung.

Begeisterter Radsportler: die siegreiche Mannschaft des RC Amor 07 München mit Franz Josef Stauß (rechts), 1934

© Archiv für Christlich-Soziale Politik, Nachlass Strauß

In der Schellingstraße lebten wir gewissermaßen in politischer Nachbarschaft mit der Führung der NSDAP. Gegenüber unserem Haus, in der Schellingstraße 50, lag das Atelier des Fotografen Heinrich Hoffmann, das erste Hauptquartier Hitlers. Hoffmanns Sohn hat später als Leibfotograf des »Führers« sehr viel Geld verdient, seine Tochter Henriette wurde die Frau des Reichsjugendführers Baldur von Schirach. Die gesamte Naziprominenz verkehrte in der Schellingstraße. Ich erinnere mich an Heinrich Himmler, der seinen Wagen immer vor unserem Haus parkte und auch oft zu meinem Vater in den Laden kam. Immer wieder hat er meinen Vater bedrängt, doch in die NSDAP einzutreten. Mein Vater habe als kleiner Metzgermeister schwer um seine Existenz zu ringen, und wenn die Nazis an die Macht kämen, wovon Himmler felsenfest überzeugt war, könne mein Vater mit Wehrmachtlieferungen rechnen. Im übrigen brauche er nur pro forma der Partei beizutreten, schon dies würde ihm auf jeden Fall zu einer besseren materiellen Grundlage verhelfen. Mein Vater hat konsequent abgelehnt, am Abend berichtete er dann: »Heute war er wieder da, der Heinrich Himmler, hat gesagt, ich soll in die Partei eintreten. Eher freß‘ ich Hundsfutter, als daß ich in die Partei eintrete.« Diese konsequente Haltung hätte meinen Vater nach 1943 beinahe ins KZ gebracht. Mit Rücksicht darauf, daß ich Offizier war, wurde der Haftbefehl nicht vollstreckt. Er lag bei der Ortsgruppe der NSDAP, von dort haben wir auch erfahren, was meinem Vater drohte.

Auch Adolf Hitler habe ich in der Schellingstraße 1921/22 zum ersten Mal gesehen. Er fuhr damals noch mit einem Opel-Laubfrosch. Die Naziprominenz unterschied sich später unter anderem durch die jeweilige Automarke. Die Staats- und Wirtschaftsführung der obersten Etage fuhr Maybach, die in der nächsten Klasse darunter fuhren den Mercedes 7,7 Liter SSK, auf der Stufe darunter fuhr man Horch, dann BMW, Audi und Opel. Zuletzt kam das gemeine Volk. Das war eine geradezu beamtenmäßige Abstufung.

Im übrigen hätte ich – ironisch gesprochen – Anspruch auf den »Blutorden« der Partei gehabt, das Ehrenzeichen für verdiente und »verwundete« Kämpfer aus den Anfangsjahren der »Bewegung«. Als kleiner Bub, der noch nicht lesen konnte, dem aber wie allen Kindern bunte Bilder gut gefielen, bin ich an einem Samstagnachmittag im Hausgang des Ateliers Hoffmann gestanden, habe willig ein Paket Nazi-Flugschriften unter den Arm genommen, bin damit die Schellingstraße entlangmarschiert und habe die Propagandazettel verteilt. Eine alte Kundin unserer Metzgerei rannte aufgeregt zu meinem Vater und berichtete ihm von dem Treiben seines Sprößlings. Meine Schwester Maria wurde ausgeschickt, mich zu holen. Zu Hause setzte es dann eine gewaltige Maulschelle.

Fast täglich haben wir über die Nazis gesprochen. Hitler, meinte mein Vater, habe recht eigenartige Ideen. Er sei gegen den Versailler Vertrag, für eine bessere Behandlung der Deutschen – vielleicht sei doch etwas an ihm dran. Diese Möglichkeit wurde bei uns zu Hause jedoch nur kurze Zeit erörtert, dann kam die nächste Phase, in der mein Vater endgültig den Stab über Hitler brach. »Was der über die Juden sagt, darf kein Katholik mitmachen. Der ist Judenfeind, und der ist Kirchenfeind.« Von da an war Hitler für meinen Vater nur noch der Verderber und Zerstörer, der Dämon. 1933 hatten meine Eltern vorübergehend die, wie sich bald herausstellen sollte, völlig unbegründete Hoffnung, daß das Reich auseinanderbrechen und Bayern unter Führung von Kronprinz Rupprecht aus dem braunen Reichsverband ausscheiden würde. Mit dieser Hoffnung standen sie nicht allein.

Die Geschwister Strauß, Aufnahme um 1946

© Archiv für Christlich-Soziale Politik, Nachlass Strauß

Die Bayerische Volkspartei war eine Art Schwesterpartei der katholischen Zentrumspartei, und sowohl deren Vorsitzender, Prälat Ludwig Kaas, als auch Reichskanzler Heinrich Brüning wurden von meinen Eltern sehr verehrt. Brüning galt bei uns zu Hause als personifizierte Verbindung von christlich-sozialem Politiker und untadeligem deutschen Frontoffizier, als integrer Kanzler, zurückhaltend und bescheiden. In meinem Elternhaus war Brüning, obwohl er alles andere verkörperte als einen bayerischen Idealtypus, gleichsam eine politische Ikone.

Als Brüning Anfang der fünfziger Jahre Professor in Köln war, bin ich ihm mehrmals begegnet. Die CSU hatte damals einen außenpolitischen Arbeitskreis, der der Gründungsmannschaft der CSU noch bekannt ist, und dort wurde Brüning wiederholt eingeladen. Einmal bin ich mit ihm anschließend eine halbe Nacht in den Torggelstuben in München beisammen gesessen. Da brach es aus Brüning heraus: Hundert Meter vor dem Ziel sei er verraten worden. Prälat Kaas habe mit den Nazis Frieden geschlossen, um zum Reichskonkordat mit der Katholischen Kirche zu kommen, und auch der Vatikan habe sich mit Hitler abgefunden; die Engländer hätten ein Zahlungsmoratorium genehmigt und 1935 den Flottenvertrag geschlossen – Entwicklungen, ohne die das Dritte Reich in größte Schwierigkeiten gekommen wäre. Nachträgliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Austerity-Politik in der Weimarer Zeit mit ihren kontraproduktiven Wirkungen, dem sozialen Elend und den verheerenden politischen Folgen, hat Brüning mir gegenüber nicht erkennen lassen.

Brüning machte auf mich den Eindruck eines Mannes, der gebrochen und gescheitert war, der aber nach wie vor davon überzeugt zu sein schien, eigentlich doch recht gehabt zu haben. Ich schloß dies aus der Bitternis seiner Vorwürfe. Die meisten seiner Überlegungen kreisten um die Frage, ob er Hitler nicht doch hätte verhindern können. Daß er dazu in ganz anderer Weise autonome Politik hätte machen müssen, daß er sich nicht hätte so abhängig machen dürfen von Hindenburg, nicht hätte innerlich stramm stehen dürfen vor dem Generalfeldmarschall, darüber sprach er allerdings nicht. Über Hindenburg, der ihn rücksichtslos hatte fallen lassen, verlor Brüning kein böses Wort. Eine ironische Anmerkung: Für mich hat Hindenburgs Metamorphose begonnen, als er seine Hirsche nicht mehr bei uns in Bayern, in Dietramszell, schoß, sondern in Neudeck in Westpreußen. Solange er noch unter bayerischem Einfluß stand, nicht unter dem von ostelbischen Gutsbesitzern wie Oldenburg-Januschau, waren die Dinge noch in Ordnung.

Bei meiner nächtlichen Unterhaltung mit Brüning kam es zu einem heftigen Streit zwischen uns. Die schäbigste Rolle, so sagte ich, hätten doch wohl die Generale gespielt, diese feigen Kerle. Zuerst hat Hitler sie beschimpft, dann hat er sie umworben, dann hat er sie bestochen, und am Ende hat er die, die nicht parierten, aufgehängt. Das war meine Kurzfassung der erbärmlichen Geschichte, wie Hitler die Reichswehr und spätere Wehrmacht behandelt hat und wie sie sich von ihm behandeln ließ. Ganz konkret machte ich meinem Unmut über einen Mann wie Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt Luft, der sich von Hitler habe beliebig oft ein- und absetzen lassen. Da ist Brüning aufgebraust und hat mich angenommen, daß mir die Augen übergegangen sind: »Junger Mann, Sie haben ein völlig falsches Urteil. Das waren Ehrenmänner, auf die lasse ich nichts kommen.«

Gratulation zum 80. Geburtstag der Mutter am 6. Februar 1957

© Ullstein Bild, Berlin (N.N.)

Hier prallten zwei Welten aufeinander. Nicht nur daß Brüning alle diese Generale aus seiner Reichskanzlerzeit kannte, es sprach aus ihm vor allem der Frontoffizier des Ersten Weltkrieges, dem es der hergebrachte Begriff von Kameradschaft verbot, scharfe Kritik an Offizieren zu dulden. Ich dagegen war voller Zorn über die Generale, die es nicht vermocht hatten, Hitler das Handwerk zu legen. Auch mit dem ehemaligen Generalfeldmarschall Albert Kesselring hatte ich über dieses Thema einmal eine mehr als deutliche Aussprache. Das war Ende 1952, kurz nach seiner Entlassung aus britischer Militärhaft, in den Räumen des Wirtschaftsbeirates der Union in der Münchner Briennerstraße. Kesselring hatte während der Haft die ihm demonstrativ angetragene Präsidentschaft über den 1951 wiederbegründeten »Stahlhelm« angenommen, was ich heftig kritisierte.

Brüning war von irgendwelcher, nicht kompetenter Seite als Verfassungsrichter, wohl gar als Präsident des Bundesverfassungsgerichts vorgeschlagen worden. Da er kein Jurist war, scheiterte dies an den gesetzlichen Bestimmungen. In unserem Gespräch klagte er über das Monopoldenken der Justiz. Über die Bundesrepublik äußerte er sich dabei reserviert und ließ anklingen, daß es sich in seinen Augen nur um einen Teilstaat handle.

Der Union als Idee einer großen Sammlung der christlichen Konfessionen schien Brüning eher kühl gegenüberzustehen, die Anhänglichkeit an das alte Zentrum schien bei ihm, dem prononciert linkskatholischen Politiker, zu dominieren. Da Brüning wußte, daß ich als Führungsmitglied der CDU/CSU-Fraktion in unzähligen Wahlkampfreden schon für Adenauer gesprochen hatte, hielt er sich an diesem Abend mit Wertungen über den Bundeskanzler zurück. Seine Kritik an Adenauer, mit der er ansonsten nicht sparte, fiel vielleicht auch deshalb so scharf aus, weil er lange glaubte, eine Art Kanzler in Reserve zu sein. Adenauer und Brüning waren von ihrer Herkunft und Prägung zu unterschiedlich – Adenauer, der rheinländische Europäer, Brüning, der Preuße aus Westfalen, christlicher Gewerkschaftsführer, Adenauer, der stolz von sich sagte, er habe nicht einen Tag gedient, Brüning, der kriegsfreiwillige Frontoffizier.

Vor dem außenpolitischen Arbeitskreis der CSU hatte Brüning nüchtern und trocken über seine Erfahrungen als Reichskanzler gesprochen. Eine konkrete politische Botschaft hatte er nicht mehr. Der große politische Kontext, den ich bei Adenauer erlebte und den man von einem Staatsmann erwarten muß, fehlte bei Brüning. Für ihn löste sich Politik in Details auf, den Schwerpunkt setzte er in der Finanzpolitik. Das großartige Bild, das ich von Brüning aus meinem Elternhaus in Erinnerung hatte, paßte mit meinem persönlichen Eindruck zwanzig Jahre später nicht zusammen.

Nach der letzten, noch einigermaßen freien Reichstagswahl vom 5. März 1933 ging ich mit meinem Vater zur Versammlung – heute würde man sagen Wahlparty – der Bayerischen Volkspartei im Mathäser-Bräu. Am späten Abend meinte Fritz Schäffer, der Vorsitzende der Bayerischen Volkspartei, der die Versammlung leitete, jetzt gebe es keinen Zweifel mehr, Nationalsozialisten und Deutschnationale hätten die Mehrheit. Dann hat Schäffer einen Ausspruch getan, an den ich ihn erinnert habe, als ich ihn am 4. Dezember 1945 am Bahnhof in Weilheim mit dem Dienstwagen des Landrats abholte und zum Barbarafest nach Peißenberg fuhr. Dieser Satz von Schäffer hatte sich mir tief eingeprägt: »Meine lieben Parteifreunde, jetzt kommt eine furchtbare Zeit. Morgen beginnt die Karwoche für Deutschland. Diese Karwoche wird einen Karfreitag für Deutschland bringen. Wir sind gläubige Christen. Nach dem Karfreitag kommt die Auferstehung, der Ostersonntag.« Schäffer war mit seiner sonoren Stimme ein eindrucksvoller Redner, er wußte sehr plastisch zu formulieren und war ein Meister der deutschen Sprache. Lähmende Stille breitete sich unter den etwa drei- bis vierhundert Zuhörern aus, dann löste sich die Versammlung auf. Bedrückt, schweigend ging ich mit meinem Vater nach Hause, die Stimmung war unheimlich.

Am 9. März erfolgte der Aufmarsch von SA und SS, die Machtübernahme in München. Die bayerische Fahne wurde eingeholt, die Hakenkreuzflagge und die schwarz-weiß-rote Flagge wurden gehißt. Das habe ich selber gesehen. Ich kam von der Schule und radelte gerade durch die Leopoldstraße, als sich dort SA- und SS-Verbände formierten. Es war am späten Nachmittag, und es begann bereits zu dämmern. Ich habe den Zug dann durch die ganze Stadt begleitet, das Hauptpostamt, das Nationaltheater, das Gebäude der Regierung von Oberbayern sind mir als Stationen in Erinnerung, und überall, so weit ich es beobachten konnte, herrschte Jubel. Ich selbst schwankte zwischen Furcht und Haß.

Die Eltern meiner Klassenkameraden am Max-Gymnasium waren überwiegend nationalliberal geprägt. Gegenüber dem Schwabinger Milieu meiner Volksschule und auch im Vergleich zur Gisela-Realschule, deren Zöglinge aus einfacheren, höchstens mittleren Schichten stammten, dominierte am Max-Gymnasium das gehobene Bürgertum. Die Väter waren Ärzte, Regierungsräte, höhere Beamte. In meiner Klasse gab es einen einzigen Arbeitersohn und nur zwei Söhne von Handwerkern. Nach der Machtübernahme durch Hitler herrschte bei vielen eitel Jubel, und es wurde heftig diskutiert, was mitunter auch zu großen, politisch motivierten Raufereien führte. Nach außen wurden die politischen Divergenzen nicht getragen, Schüler und Lehrer hielten alles in allem zusammen. Ich glaube nicht, daß es zu Denunziationen kam.

Es ereigneten sich merkwürdige Szenen. So wurde unter den Nazis 1933 das christliche Schulgebet wieder eingeführt, das in der Weimarer Republik abgeschafft worden war. Zunächst gab es noch keinen vorgeschriebenen Text. Unser Religionslehrer, Studienprofessor Josef Knott, ein hochachtbarer, gütiger Lehrer, sagte, wir müßten jetzt für Führer, Volk und Staat beten und solange wir keinen Text hätten, sollten wir uns etwas überlegen. Da kam ein Vorschlag von hinten, aus der letzten Bank: »Der Herr gebe ihm die ewige Ruhe!« Der gute Herr Professor wäre bald in Ohnmacht gefallen.

Ein paar Wochen später erhielten wir ein Kompendium der jüngsten Geschichte vom Ersten Weltkrieg über die Dolchstoßlegende bis zur Machtergreifung, das schnell in den regulären Lehrplan für den Geschichtsunterricht eingeschoben wurde. Unser damaliger Klassenleiter, Oberstudienrat Dr. Otto Büttner, der kein Nazi war, hat die Broschüre Seite für Seite umgeblättert und vorgelesen. Jedesmal, wenn er mit einer Seite fertig war, hat der in der Bank vor mir sitzende Franz Xaver Asböck, der Theologe werden wollte und später vor Moskau vermißt wurde, die Seite herausgetrennt und mit dem Taschenmesser sorgsam in zwei Hälften geschnitten. Büttner fragte ihn: »Was machst denn da, Asböck?« Antwort: »Das hänge ich in den Lokus, das hat genau das richtige Format.«

Unsere Lehrer, weitgehend nationalliberal eingestellt, mit Ausstrahlungen in die SPD und in die Bayerische Volkspartei hinein, waren zu distinguiert, um dem nationalsozialistischen Brimborium mit seinen Appellen, Ritualen und Gedenktagen viel Geschmack abgewinnen zu können. Ich erinnere mich lediglich an einen leicht verrückten Chemie-und Biologielehrer, einen Kriegsversehrten aus dem Ersten Weltkrieg, der in SA-Uniform in die Schule kam. Als im April 1933 das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« erlassen wurde, war er ironischerweise das einzige Opfer und wurde zwangspensioniert. Die Schulleitung hielt ihn zu Recht für völlig untauglich.

Der Jubel, den ich am 9. März beobachten konnte, gab die Einstellung der Bevölkerung nicht genau wieder. Die Menschen, die trauerten und Angst hatten, sind daheim geblieben – nur die anderen gingen auf die Straße und schrien Heil. Das Aufmarschieren und das Heil-Schreien gehörten ebenso zur Einschüchterungspraxis des Regimes wie die Übertragung vieler Reden Adolf Hitlers im Rundfunk. Wer nämlich während einer solchen Übertragung auf die Straße ging, galt automatisch als Gegner des Regimes, weil er nicht zu Hause war und dem »Führer« lauschte. Während die einen tatsächlich am Volksempfänger saßen, um Hitler zu hören, blieben die anderen nur deshalb in ihren Wohnungen, weil sie sich nicht auf die Straße wagten. Ich bin mir auf leeren Straßen vorgekommen wie in einer Totenstadt. Und aus den Fenstern dröhnte es: »Volksgenossen …« Die Übertragung von Hitler-Reden war eine merkwürdige Art von »Straßenfeger«, wie man es eine Generation später bei der Übertragung großer Fußballspiele im Fernsehen erlebte.

Sehr genau erinnere ich mich an den 30. Juni 1934, den Tag des sogenannten Röhm-Putsches. Während des Sportunterrichts am Nachmittag gab es plötzlich Alarm. Ich ging nach Hause. Die Gerüchte gaben nicht viel her, aber abends rückte die Reichswehr mit ein paar Mannschaftswagen in der Schellingstraße an und durchsuchte den Verlag des »Völkischen Beobachters« ganz in unserer Nähe. Von dem, was sich in der Nacht zwischen Bad Wiessee und München abspielte, und von den Erschießungen in Stadelheim erfuhren wir durch einen Hauptmann der Bayerischen Landespolizei, die seit dem 1. April 1933 Himmler unterstellt war und die es nur noch dem Namen nach gab. Er war der Sohn eines Soziologieprofessors an der Technischen Hochschule München. Am Morgen des 1. Juli erzählte er meinem Vater, den er seit langem kannte, im Laden, daß seine Einheit Exekutionen in Stadelheim habe durchführen müssen.

Die Vorgänge vom 30. Juni sowie Hitlers berüchtigte Rechtfertigungsrede wurden sehr unterschiedlich aufgenommen. Die einen waren der Ansicht, daß Hitler jetzt endgültig den Boden des Rechtsstaates verlassen und sein wahres Gesicht gezeigt habe, indem Mord auf Führerbefehl von nun an eine Frage der Staatsräson sei. Die anderen glaubten seinen Beteuerungen und meinten, jetzt sei die revolutionäre Phase abgeschlossen, wo gehobelt werde, fielen nun einmal Späne. Nicht zu unterschätzen dabei ist die Stimmung, die die Reichswehr gemacht hat. Die Reichswehr war die Komplizin der Morde vom 30. Juni, sie hat sie gedeckt, sie hat sie mit Champagner gefeiert. Da man sich als Sieger fühlte, hat man sogar den Mord an zwei Generalen hingenommen und wagte es nicht einmal, ihnen in Uniform das letzte Geleit zu geben, weil Hitler dies verboten hatte.

Die ambivalente Haltung der Bevölkerung war nicht verwunderlich: Wer auf die Morde an Schleicher, Bredow und anderen sah, den schauderte es; wer auf die Morde innerhalb der SA-Führung schaute, der glaubte, jetzt sei die gewalttätige Phase der Machtergreifung beendet. Bei uns zu Hause hielt man, obwohl man Hitler schon vorher das Schlimmste zugetraut hatte, von diesem Tag an in Deutschland alles für möglich. Der brutale Machtwille der Nazis hatte sich blutig offenbart. Schon im Februar 1933 war das Konzentrationslager Dachau eingerichtet worden. Dieser Name war mit Grauen verbunden, auch wenn man nichts Genaueres wußte, als daß dort Freiheit und Menschenwürde, Recht und Menschlichkeit endeten. Wenn es hieß, einer kommt nach Dachau, wurden alle blaß.

1935 machte ich mein Abitur – mein Reifezeugnis war in ganz Bayern das beste dieses Jahrgangs. In Religion, Deutsch, Latein, Griechisch, Englisch, Mathematik, Physik, Geschichte und Geographie erhielt ich ein »hervorragend«, also die Note 1, nur im Turnen mußte ich mich mit einem »lobenswert« begnügen. Als erläuternde Bemerkung war hinzugefügt: »In der schriftlichen Prüfung erzielte er in allen Fächern die gleichen vorzüglichen Ergebnisse, wie sie schon der Jahresfortgang aufweist. Die mündliche Prüfung wurde ihm erlassen. Während seines Aufenthalts an der Anstalt hat er sich durch seinen ernsten, zielbewußten Fleiß, seine lebendige Teilnahme am Unterricht und seine sittliche Führung das volle Lob und Vertrauen aller seiner Lehrer erworben. Er verläßt die Schule mit einem durchweg sehr erfreulichen Maß gediegener Kenntnisse. Er ist körperlich sehr gut entwickelt, ein gewandter Turner und Radfahrer. Besondere Erwähnung verdienen seine hervorragenden Leistungen in Kurzschrift.«

Wenn ich auf meine Mitschüler am Max-Gymnasium zurückblicke, so sind aus ihnen eine Menge tüchtiger Leute hervorgegangen, Chirurgen, Verwaltungsjuristen, Ärzte, Architekten. Die berühmtesten Schüler unseres Gymnasiums hatten zu meiner Zeit natürlich längst Abitur gemacht: Max Planck und Werner Heisenberg.

Aufrecht durch die Jahre des Studiums

Mit meinem Abitur erhielt ich nach einer zusätzlichen mündlichen Prüfung die »unbedingte Aufnahme« in die Maximilianeums-Stiftung, die, von König Max II. im vorigen Jahrhundert gegründet und bis auf den heutigen Tag lebendig, für die begabtesten Schüler Bayerns bestimmt ist. Auf kostenlose Unterkunft und Verpflegung im Maximilianeum am Hochufer der Isar verzichtete ich, da die Wohnung meiner Eltern in unmittelbarer Nähe der Universität lag. Den Einzug in das Maximilianeum, in dem heute der Bayerische Landtag Mieter ist, holte ich 1978 nach – als Abgeordneter und Bayerischer Ministerpräsident.

An das Abitur schlössen sich zunächst sechs Monate Arbeitsdienst an, von denen ich die ersten vier Wochen in Holzgünz bei Memmingen verbrachte, den Rest in München-Freimann. Ich hatte einige Ersparnisse, die ich mir als Nachhilfelehrer erworben hatte; einen Teil davon setzte ich damals ein und machte den Führerschein. Meine Schwester hielt das für völlig sinnlos, da ich mir weder jetzt noch in nächster Zukunft ein Auto kaufen könne. »Was willst du denn mit dem Führerschein anfangen?« Meine Antwort sei gewesen, so erzählt sie noch heute jedermann: »Der fängt doch einen Krieg an. Meinst du, daß ich für den Deppen zu Fuß durch Europa marschiere!« Dieser Führerschein hat dann eine wichtige Rolle gespielt und, wie ich glaube, zur Rettung meines Lebens beigetragen, weil ich damit 1939 zur motorisierten Truppe kam.