Die Gabe als drittes Prinzip zwischen Markt und Staat? - Marc Frick - kostenlos E-Book

Die Gabe als drittes Prinzip zwischen Markt und Staat? E-Book

Marc Frick

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Beschreibung

Marcel Mauss schrieb 1923 in seinem Essay Die Gabe, er habe in den Motiven des Gabentauschs »einen der Felsen gefunden, auf denen unsere Gesellschaften ruhen«. Bis heute wirft diese These Fragen auf: Wie stiftet die Gabe Solidarität, Anerkennung und Vertrauen in vormodernen Gesellschaften? Gelingt ihr das auch in modernen Gesellschaften? Aufbauend auf einer pointierten Rezeptionsgeschichte von Mauss' Essay und im Dialog mit Denkern aus Philosophie, Politik- und Wirtschaftswissenschaften kommt dieses Buch zu dem Ergebnis, dass die Gabe neben Markt und Staat eine zentrale Funktion in unserer Gesellschaft hat. Darüber hinaus wird gezeigt, welche politischen Konsequenzen daraus resultieren und wie Gabeninteraktionen zur Sicherung des sozialen Gefüges genutzt werden können.

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Seitenzahl: 324

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Marc Frick, geb. 1990, ist Referent im Forschungsbereich Umwelt- und Ressourcenökonomik, Umweltmanagement am ZEW-Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Er hat Philosophie und Ökonomie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg studiert, wo er 2020 in Politischer Theorie promoviert wurde. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen ökonomische und politische Ideengeschichte sowie die philosophischen Grundlagen von Umwelt- und Sozialpolitik.

Marc Frick

Die Gabe als drittes Prinzip zwischen Markt und Staat?

Perspektiven von Marcel Mauss bis zur Gegenwart

Dieses Buch ist meinen Großmüttern Paula und Sonja gewidmet.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext:

https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

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Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld© Marc Frick

Dieses Buch basiert auf meiner Dissertation, die ich im März 2020 an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg eingereicht habe (ursprünglicher Titel: »Die Gabe als drittes Prinzip zwischen Markt und Staat?«). Das Promotionsverfahren endete am 21.10.2020 mit der erfolgreichen Disputation. Der Dekan der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften war Prof. Dr. Aurel Croissant. Erstgutachter der Dissertation war Prof. Dr. Michael Haus. Zweitgutachter war PD. Dr. Reiner Manstetten.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-5661-9

PDF-ISBN 978-3-8394-5661-3

EPUB-ISBN 978-3-7328-5661-9

https://doi.org/10.14361/9783839456613

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

1Einleitung

Teil I: Das Prinzip der Gabe bei Marcel Mauss

2Marcel Mauss: Leben und Wirken in Politik und Wissenschaft

2.1Mauss’ akademischer Werdegang

2.2Mauss’ politische Prägung

2.2.1Politische Freundschaften und das Verständnis des Sozialismus

2.2.2Genossenschaften und Sozialismus

3Untersuchung des Gabentausches in archaischen Gesellschaften

3.1Potlatsch

3.2Kula

3.3Nexum und Wadium

3.4Mauss’ ethnologische Interpretation der Gabe

3.5Der Geist der Gabe

3.6Die Hybridität der Gabe

3.7Soziale Interaktionen in der Gabe: Maß, Zeit und Ungewissheit

3.7.1Maß- und Wertbegriff im Gabentausch

3.7.2Der Zeithorizont der Gabe

3.7.3Ungewissheit und Risiko im Gabentausch

3.8Gabe als Beziehungsstifter und Symbol

3.8.1Mauss über Symbole und soziale Tatsachen

3.8.2Die Etablierung von Vertrauen

4Die Vorstellung eines guten Zusammenlebens in Die Gabe

4.1Das Menschenbild der Gabe

4.2Mauss’gesellschaftstheoretische Utopie

Teil II: Interpretationen und Potentiale der Gabe – von Marcel Mauss bis zur Gegenwart

5 Strukturalistisch-symbolische Interpretation der Gabe

5.1Symbolische Güter, symbolisches Kapital und Macht

5.2Kapitalbegriff und Gabentausch

5.3Praxis als Ringen um symbolische Güter

6Die Interpretation der M.A.U.S.S.-Bewegung

6.1Das Paradigma der Gabe

6.1.1Schwierigkeiten etablierter Paradigmen mit der Gabe

6.1.2Die Gabe als Lösung?

6.2Normative Aspekte der Gabe

7Die Gabe als politische Kategorie

7.1Zusammenleben, Konflikt und die Rolle der Gabe

7.2Die Gabe als Ausdruck der Vernunft

8Gabe und Anerkennung

8.1Marcel Hénaff: Anerkennung in der Gabe

8.1.1Ein neuer Dreischritt

8.1.2Die Gabe als Symbol der Anerkennung

8.1.3Die politische Bedeutung der Gabe

8.2Paul Ricoeur: Gabe und Friedenszustände

8.2.1Hegels Idee des Kampfes um Anerkennung

8.2.2Die Rolle der Gabe im Kampf um Anerkennung

8.2.3Die Idee vom Friedenzustand Agape

8.2.4Von der gegenseitigen zur wechselseitigen Gabe

8.2.5Gaben und wechselseitige Anerkennung

9Homo Donator und die Politik der Gabe

9.1Das Menschenbild des Homo Donator

9.2Eine politische Utopie der Gabe

9.3Politik der Gabe und Konvivialismus

10Struktur und Potentiale der Gabe

Teil III: Von »archaischen« zu »modernen« Gesellschaften – die Gabe zwischen Markt und Staat

11Die Ablösung der Gabengesellschaft

11.1Die Grenzen der Gabe

11.2Moderne zwischen Funktionalität und Intentionalität

12Die Entwicklung des Marktes nach Karl Polanyi

12.1Der Markt im System des 19. Jahrhunderts

12.2Die eingebettete Wirtschaft in vormodernen Gesellschaften

12.3Die maschinelle Produktion und der Markt

12.4Selbstregulierende Märkte – eine gefährliche Utopie?

12.5Performative Durchsetzung der Idee eines selbstregulierenden Marktes

13Richard M. Titmuss – Gaben und die Grenzen des Marktes

13.1The Gift Relationship – Blut und andere Gaben

13.1.1Blut: »Saft des Lebens« oder gewöhnliches Gut?

13.1.2Ökonomische Evaluation von Blutspendesystemen

13.1.3Ethische Evaluation von Blutspendesystemen

13.2Leistung und Wirkung von The Gift Relationship

13.3Robert M. Solow – Blood and Thunder

13.3.1Die angemessenen Bereiche für ökonomisches Denken

13.3.2Moralisch fragwürdige Folgen der Bepreisung von Blut

13.4Kenneth Arrow – Gifts and Exchanges

13.4.1Das Zusammenspiel von Gaben, tugendhaftem Verhalten und dem Markt

13.4.2Gabe und Effizienz

13.5Die Gabe und der Markt – eine Zusammenfassung

14Institutionalisierung der Gabe?

15Gaben im Wohlfahrtsstaat

15.1Risiken der Gabe im Wohlfahrtsstaat

15.2Vom freien Spiel der Gabe zu Organisationen und Rechten

15.3Die Entwicklung des Sozialstaats

15.4Stärkung der Gabe im Wohlfahrtsstaat?

Teil IV: Abschließende Betrachtungen

16Die Gabe und das gute Zusammenleben

17Die Gabe im Spannungsfeld zwischen Markt und Staat

Literatur

Vorwort

In vielerlei Hinsicht verdanke ich die Fertigstellung dieses Buches, das sich auf die Suche nach der Bedeutung von Gaben für das menschliche Zusammenleben begibt, selbst einer Vielzahl von großzügigen Gaben ganz unterschiedlicher Menschen. Sie alle haben den Entstehungsprozess begleitet, unterstützt und das Buch dadurch ermöglicht. Georg Simmel betont, dass Gaben ganz entgegen der eingeübten Gewohnheiten in modernen Gesellschaften Asymmetrien in zwischenmenschlichen Beziehungen verursachen, die nicht mithilfe der Paragraphen des Rechts oder der Vergütung in Form von Geld ausgeglichen werden können. Es bleibt allein, ein aufrichtiges Gefühl der Dankbarkeit zu empfinden und die asymmetrische Beziehung durch ein nachhaltiges Bewusstsein für die empfangenen Hilfeleistungen zu stabilisieren (vgl. Simmel, 2005 und Adloff, 2018).

Ganz im Sinne Simmels sollen die ersten Zeilen des Buches dann auch dazu dienen, meine Dankbarkeit gegenüber all jenen auszudrücken, die mir in den Jahren der Beschäftigung mit dem Prinzip der Gabe zur Seite gestanden haben.

An erster Stelle bedanke ich mich bei Prof. Dr. Michael Haus für seine Bereitschaft, meine Untersuchungen zur Gabe am Lehrstuhl für Moderne Politische Theorie der Universität Heidelberg als Doktorvater zu betreuen. Seine Geduld bei der Überführung der ersten vagen Idee in eine konkrete Fragestellung, seine nachdrücklichen Hinweise auf begriffliche Unschärfen und sein beeindruckender Fundus an hilfreicher Literatur ermöglichten es mir, in einer sehr konstruktiven Atmosphäre an meinem Thema zu arbeiten. Dass er dabei stets ein offenes Ohr für Fragen und Bitten um Feedback hatte, half mir, mit Blick auf mein Vorgehen Sicherheit und Überzeugung zu entwickeln.

Mein zweiter Betreuer, PD. Dr. Reiner Manstetten, war es, der meine Faszination für die Gabe überhaupt erst weckte und meine Beschäftigung damit seit 2015 begleitete. Für seine Unterstützung als Zweitbetreuer und Mentor, sein richtungsweisendes Feedback zu meinen Entwürfen und Ideen bedanke ich mich ebenso wie für die Möglichkeit, mich in seinen Seminaren als Dozent auszuprobieren, meine Themen einzubringen und universitäre Lehre mitzugestalten. Die vergangenen Jahre der Zusammenarbeit am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg werden mir nicht zuletzt aufgrund der langen und ordnenden Gespräche über »Gott und die Welt« als sehr wertvoll und prägend in Erinnerung bleiben.

Ich bedanke mich bei Prof. em. Dr. Malte Faber, der meinen Weg seit 2011 begleitet und mir das »Einmaleins« der akademischen Welt in ebenso fröhlicher wie kleinschrittiger Arbeit beibrachte. Die unzähligen gemeinsamen Projekte, Gespräche und entwickelten Gedanken bereicherten mich auf meinem Weg und die zeitweise Gewährung eines »Asyls« in seinem Büro, seine vielseitige intellektuelle, freundschaftliche und auch finanzielle Unterstützung machten viele der gegangenen Schritte überhaupt erst möglich. Vielen Dank für das Vertrauen in meine Arbeit und meine Ideen, die unerschöpfliche akademische Neugier und die daraus resultierenden Nachfragen, die zur Präzisierung von Gedanken und nicht selten zu einem völligen Perspektivenwechsel führten.

Francisco Yocca gilt mein Dank für seine stete freundschaftliche Ermutigung, seine unnachahmliche Fähigkeit, philosophisches Denken mit Problemen der »echten Welt« zu verknüpfen, sowie für die zahlreichen abendfüllenden Gespräche bei Rotwein und argentinischer Hausmannskost.

Ein weiterer Dank gilt den Teilnehmenden des Kolloquiums von Prof. Dr. Michael Haus für die ebenso ernsthafte wie freundschaftliche Atmosphäre, das ehrliche und engagierte Interesse an den präsentierten Ideen und die Bereitschaft, Schwierigkeiten durch gemeinsames Nachdenken, ausführliche Diskussionen und zahlreiche Literaturhinweise zu überwinden. Die dienstäglichen Sitzungen haben mich aufgrund dieser besonderen Atmosphäre jede Woche aufs Neue positiv herausgefordert und weitergebracht. Dr. Marlon Barbehön danke ich für seine klugen Anmerkungen zu den Überlegungen zum Wohlfahrtsstaat und die ausführlichen Gespräche im Café am Römerkreis.

Dass dieses Buch mehr oder weniger innerhalb des zu ihrem Beginn festgelegten Zeitplans fertiggestellt werden konnte, ermöglichte neben den bereits genannten Menschen ein Promotionsstipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung, das die Finanzierung des Vorhabens sicherstellte und damit für ausreichend Zeit sorgte, um unbeschwert zu forschen und nachzudenken. Darüber hinaus bin ich der FES dankbar für das informelle Netzwerk aus Mitstipendiat*innen, mit denen ich mich in gemeinsamen Kolloquien und vielen angeregten Diskussionen austauschen durfte.

Meinem guten Freund Lukas Merz gilt mein Dank für seine hilfreichen Tipps zum Layout und die geduldige Hilfe im Umgang mit den Stärken und Schwächen der unterschiedlichen Textverarbeitungsprogramme.

Abschließend gilt ein besonderer Dank meiner Familie und Anna – für die verlässliche Unterstützung in euphorischen und in zermürbenden Phasen.

1Einleitung

Spätestens seit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008 häufen sich Proteste, Demonstrationen und Debatten, in denen Kritik am herrschenden Wirtschaftssystem, dessen Krisenhaftigkeit und der sozialen Kälte des Kapitalismus artikuliert wird. In diesen Protesten drückt sich Unzufriedenheit angesichts einer wahrgenommenen Gier zentraler Wirtschaftsakteure wie Banken, Hedgefonds und multinational agierender Konzerne aus. Die Demonstranten der unterschiedlichen Protestbewegungen und die Autoren zahlreicher kapitalismuskritischer Bücher1 vereint ein Gefühl, das die Heidelberger Autoren Thomas Petersen und Malte Faber in Anlehnung an Karl Marx und Fernand Braudel »Unbehagen am Kapitalismus« genannt haben (Petersen und Faber, 2018).

Verschiedene Autoren, die sich im Anschluss an die Finanzkrise mit alternativen Modellen des Zusammenlebens beschäftigen und versuchen, einen Ausweg aus dem als krisenhaft wahrgenommenen System aufzuzeigen, verweisen in ihren Arbeiten auf den französischen Soziologen Marcel Mauss (1872-1950).2 Mauss trieb ein vergleichbares Unbehagen bereits Anfang der 1920er Jahre um. Er definiert es konkreter als Unbehagen gegenüber einer scheinbar alles dominierenden ökonomischen Nutzen- und Berechnungslogik. Die Vehemenz, mit der das »kalte Nützlichkeitsrechnen« (Mauss, 1990, 173) in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen an Bedeutung gewann und die Verdrängung von sozialen Werten wie Solidarität und Großzügigkeit durch ein um sich greifendes ökonomisches Effizienzdenken bereiten Marcel Mauss, der sich selbst als Vertreter eines aufgeklärten Sozialismus versteht (vgl. Moebius, 2006, 17), große Sorgen.

Auf der Suche nach der Möglichkeit zur Etablierung eines, wie er es nennt, neuen Humanismus, stößt er auf die ethnologische Beschreibung von Gabenpraktiken in archaischen Gesellschaften.3 Nach einer intensiven Beschäftigung mit verschiedenen Ausprägungen dieses Phänomens zeigt er sich in den Schlussfolgerungen seines 1923-19244 erschienenen Essays Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (im Folgenden zitiert als Mauss 1990) überzeugt vom Potential der Gabe als Gegenpol gegen die um sich greifende Logik der Berechnung. Mauss stellt fest, dass durch die untersuchten Riten, die den Austausch von Gaben innerhalb und zwischen Clans, Stämmen und Völkern vorsehen, eine Form des Austausches die untersuchten Gesellschaften prägt, in dem die Kategorien des Interesses und des Nutzens nicht die treibenden Kräfte sind. Diese Erkenntnis macht er zum Ausgangspunkt seiner Kritik an der Prominenz des Interesses und des Nutzens im Denken seiner Zeit. Den Ritus des Gabentausches positioniert er als ein Gegenmodell zur individualisierten und berechnenden Welt des Marktes und verspricht sich davon einen Weg, auch in modernen Kontexten ein Verständnis für jene Grundlagen der sozialen Integration zu schaffen, die »jenseits der ausdifferenzierten Sphären der Ökonomie, der Politik und des Rechts liegen« (Quadflieg, 2010, 63f.).

Die Verknüpfung der Ergebnisse ethnologischer Feldforschung in unterschiedlichen Ländern und Kulturen mit dem normativen Anliegen, die genannten Tugenden im Frankreich der 1920er Jahre wieder zu etablieren, stieß eine »Gabendebatte« an, die mit Unterbrechungen bis heute anhält (vgl. Moebius, 2010).

Vorhaben und Aufbau des Buches

Das Mauss’sche Unbehagen gegenüber einer expansiven utilitaristischen Marktlogik und das Phänomen der Gabe, das er zu einem Gegenpol aufbaut, sind die Ausgangspunkte und Leitmotive der vorliegenden Untersuchung. Beide tauchen im Anschluss an Mauss zu verschiedenen Zeitpunkten wieder auf und eröffnen den begrifflichen Rahmen, in dem Vor- und Nachteile, nicht selten sogar Gefahren des Marktes diskutiert und solidarischen, großzügigen oder altruistischen Gabenpraktiken gegenübergestellt werden, mit denen die Hoffnung auf eine Verbesserung des Zusammenlebens verbunden wird.

Um besser zu verstehen, was mit dem Unbehagen gegenüber der utilitaristischen Marktlogik gemeint ist, worin ihre Gefahren liegen und inwiefern die Gabe tatsächlich als Gegenpol dienen kann, nähert sich die vorliegende Untersuchung beiden Phänomenen in vier Teilen an.

Teil I erarbeitet ein Verständnis des Menschen Marcel Mauss, des historischen Kontexts seines Wirkens und der ethnologischen Phänomene, auf deren Grundlage er nach einem neuen Ordnungsprinzip und nach einer neuen Handlungslogik für moderne Gesellschaften sucht. Dazu ist es sinnvoll, Mauss’ Werk als eine Einheit von wissenschaftlichem und politischem Schreiben zu verstehen. Beide Sphären prägen ihn und finden im Gabenessay zueinander, dessen deskriptiver ethnologischer Kern von einem normativen Rahmen eingefasst wird. Während sich die meisten Kommentatoren entweder auf die normativen oder auf die deskriptiven Inhalte konzentrieren, werden beide Teile hier in ihrer Verknüpfung gelesen, um zu verstehen, wie die ethnologischen Beobachtungen in Mauss’ Menschenbild und seine darauf aufbauenden, konkreten politischen Vorstellungen einfließen.

Im Anschluss an diese ausführliche Beschäftigung mit Mauss und seiner Skizze eines Prinzips der Gabe ist es mit Blick auf die sich an sein Essay anschließende Debatte sinnvoll, im zweiten Teil einige prominente Autoren der Rezeptionsgeschichte und ihre Ideen vorzustellen. Sie alle liefern Erkenntnisse zu unterschiedlichen Aspekten der Gabe, die gemeinsam das Prinzip der Gabe ausmachen. Gleichzeitig wird anhand der Vielzahl der Interpretationen deutlich, wie viele verschiedene Potentiale sich hinter dem allgemeinen Begriff der Gabe verbergen und wie schwer das Phänomen mitunter greifbar ist.

So interpretiert Pierre Bourdieu die Gabe als Mechanismus zur Akkumulation von symbolischem Kapital, das in Macht übersetzt werden kann. Die Autoren der M.A.U.S.S.-Bewegung (»Mouvement anti-utilitariste en sciences sociales«) um Alain Caillé betonen hingegen das antiutilitaristische Potential und die Gleichzeitigkeit von Verpflichtung, Freiwilligkeit, Interesse und Uneigennützigkeit, die die Gabe ebenso wie die meisten menschlichen Handlungen ausmache.

Marshall Sahlins sieht in ihr die Möglichkeit, den Hobbes’schen Naturzustand zu überwinden, ohne dabei notwendigerweise eine äußere Macht schaffen zu müssen.

Marcel Hénaff und Paul Ricoeur interpretieren die Gabe schließlich als Praxis zur Etablierung von Vertrauen und Anerkennung.

Eine umfassende Interpretation, die Mauss und zahlreiche Autoren der Rezeptionsgeschichte miteinbezieht, legt Frank Adloff vor. Er ergänzt diese Autoren um Erkenntnisse zum Menschen als kooperativem Wesen, die er aus Kognitionswissenschaften, Evolutionsbiologie und radikaler Demokratietheorie bezieht und zu einem Menschenbild des homo donator zusammenfügt. Auf diesem erweiterten Mauss’schen Menschenbild aufbauend denkt er dann über alternative soziale und politische Ansätze für die Gegenwart nach.

Die Gabe hat einerseits das Potential, eine positive Wirkung in den sie praktizierenden Gesellschaften zu entfalten. Andererseits kann sie dazu führen, dass je nach Rahmenbedingungen Strukturen von Abhängigkeit und Macht, Korruption und Unterdrückung etabliert werden. Die Frage, welche Faktoren dazu führen, dass die Gabe eine spezifische positive oder negative Wirkung entfaltet, stellt ein wichtiges Analysekriterium für die Überlegungen zur Gabe in modernen Gesellschaften dar.

Während mithilfe der hier angedeuteten Interpretationen im zweiten Teil das Prinzip der Gabe konkretisiert wird, bleibt bis dahin offen, worin genau das Mauss’sche Unbehagen gegenüber dem Markt und der ihn prägenden utilitaristischen Logik besteht, wie dieses Unbehagen begründet werden kann und inwiefern sich die Gabe als wirksames Gegenmittel eignet. Diesen Fragen widmet sich der dritte Teil.

In seinen ethnologischen Ausführungen beschreibt Mauss »archaische« Gesellschaften, in denen das Prinzip der Gabe dominant ist und das Zusammenleben gewissermaßen ordnend durchdringt. Ohne in diese Gesellschaften zurück zu wollen, stellt Mauss die These auf, dass moderne Gesellschaften, die durch eine Vorherrschaft von Markt und staatlichen Hierarchien geprägt werden, von jenen archaischen Kontexten etwas Wichtiges lernen können: Die Bedeutung von regelmäßigen solidarischen, großzügigen oder gar altruistischen Gabenpraktiken für den sozialen Zusammenhalt und die Stabilität von Gesellschaften. Diese Praktiken werden, so seine Befürchtung, in modernen Gesellschaften deshalb bedroht, weil eine expansive Marktlogik sie ebenso verdrängt, wie es die rigiden Regeln von Organisationen und Bürokratien tun, die das Zusammenleben in modernen Gesellschaften prägen und die Begegnungen der Menschen strukturieren. Um dieses Argument nachvollziehen zu können, wird mit Karl Polanyi zunächst auf einen Autor Bezug genommen, der Mauss’ Bedenken gegenüber dem Markt kannte und teilte. In seinem Werk The Great Transformation versucht er die Bedrohung anhand einer Interpretation der Entwicklungen am Übergang von vormodernen und archaischen Gesellschaften in Marktgesellschaften im Zuge der Industriellen Revolution zu konkretisieren.

Zentral für Polanyis Denken und eine der vielen Parallelen zu Mauss ist die Ablehnung der umfassenden Kommodifzierung menschlicher und natürlicher Güter und Leistungen, in deren Folge ein großer Teil des menschlichen Lebens und der Natur dem Zugriff des Marktes ausgesetzt wird. Indem mit diesem Begriff ein Teil des Mauss’schen Unbehagens konkretisiert wird, eröffnet sich die Möglichkeit, nach der Gabe als Alternativkonzept zu fragen.

Diese Frage wurde prominent in einer Debatte gestellt, die in der Veröffentlichung des Buches The Gift Relationship. From Human Blood to Social Policy von Richard M. Titmuss im Jahr 1970 ihren Ausgang nahm. Titmuss vergleicht darin die Blutspendesysteme der USA und Großbritanniens bis 1970. Während Großbritannien auf ein System der freiwilligen, unbezahlten Spende von Blut setzte, glaubte man in den USA, mithilfe eines Marktsystems und einer entsprechend konsequenten Kommodifizierung des knappen Gutes Blut die Versorgung der Bevölkerung mit ausreichend Blutkonserven sicherstellen zu können. Titmuss argumentiert, dass ein Vergleich der Systeme eine Überlegenheit des Gabensystems in Großbritannien ebenso zeige, wie negative Auswirkungen des Marktsystems auf das soziale Gefüge der Gesellschaft in den USA. Im Anschluss an die Veröffentlichung seines Buches entwickelte sich eine Diskussion über die Grenzen des Marktes und die Leistungen von Gabensystemen in modernen Gesellschaften, in die sich mit Robert M. Solow und Kenneth Arrow zwei prominente Vertreter der Wirtschaftswissenschaften einschalteten. Unter Berücksichtigung der erarbeiteten Argumente lässt sich zeigen, wo Gabenansätze erfolgsversprechend sind und unter welchen Bedingungen wiederum Marktmechanismen ihre Berechtigung haben. Den Schlusspunkt dieser Debatte setzt die Perspektive des Soziologen Kieran Healy, der die Bedeutung des institutionellen Settings für die erfolgreiche Etablierung von altruistischen, solidarischen oder großzügigen Handlungen, konkret im Bereich der Blut- und Organspende, aufzeigt.

Ausgehend von Titmuss wird mit Michael Walzer im Anschluss die Frage auf die Stellung der Gabe im und gegenüber dem Wohlfahrtsstaat erweitert. Walzer macht deutlich, dass die Herausforderung der Daseinsvorsorge nur teilweise durch verrechtlichte, institutionalisierte und professionalisierte Sozialpolitik abgedeckt werden könne. Es wird herausgearbeitet, in welchen Bereichen Gabenpraktiken staatliche Leistungen ergänzen können und inwiefern sich argumentieren lässt, dass diesen Praktiken eine sozialintegrative Bedeutung zukommt, die wiederum als Fundament für die funktionalen Arrangements des Marktes und des Staates dient.

Im vierten Teil werden schließlich, ausgehend von den bis dahin erarbeiteten Perspektiven und konkreten Beispielen, einige grundsätzliche Erkenntnisse der Gabe festgehalten.

1Siehe z.B. Nida-Rümelin, 2011, Streeck, 2013, Herzog, 2014 und Schlaudt, 2018.

2Vgl. bspw. Graeber, 2011, Graeber, 2012 und Huke, 2017.

3Besonders angesprochen wurde Mauss von Bronislaw Malinowskis Buch The Argonauts of the Western Pacific (Malinowski, 1922). Malinowski präsentiert hier eine Form des Gabentausches, den sogenannten kula-Ring auf den Trobriand-Inseln als Allegorie der Weltwirtschaft, wie sie auch funktionieren könnte: ohne den homo oeconomicus und geprägt von einer Ethik der Großzügigkeit. Mauss wurde von dieser Idee einerseits zu seinen eigenen Arbeiten inspiriert und zitiert Malinowski vielfältig, hält die Allegorie jedoch für zu weit gegriffen (vgl. Hart, 2014).

4Das Buch wurde erstmals über mehrere Ausgaben verteilt in der Zeitschrift Année Sociologique veröffentlicht.

Teil I: Das Prinzip der Gabe bei Marcel Mauss

Marcel Mauss’ Essay Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften ist ein methodisch außergewöhnlich strukturiertes Werk. Im Kern besteht es aus deskriptiven ethnologischen Studien zu einer spezifischen Form der Interaktion: dem Geben, Empfangen und Erwidern von Geschenken. Mauss bezieht sein ethnographisches Wissen von Feldforschern wie Bronislaw Malinowski und Franz Boas. Diese untersuchten das Phänomen des Gabentausches in verschiedenen indigenen, »archaischen« Gesellschaften wissenschaftlich und diskutierten es in ihren Publikationen.1 Im Essay Die Gabe werden diese Feldstudien referiert und durch die Untersuchung historischer Quellen zum alten römischen Recht, zum germanischen Recht und zu hinduistischen Lehren ergänzt. Die verschiedenen Praktiken werden ungeachtet ihrer vollkommen unterschiedlichen kulturellen und geographischen Entstehungskontexte einheitlich präsentiert, zusammengehalten von der Kategorie des Gabentausches. Mauss macht damit darauf aufmerksam, dass die strukturelle Konstante der Phänomene, die in Nord- und Südamerika ebenso beobachtet wurden wie auf kleinen Inseln im Südpazifik sowie in Europa und Indien, in dem Motiv des Dreischritts Geben – Nehmen – Erwidern besteht. Er beschreibt mithilfe der Studien der Feldforscher, wie der zeremoniellen Übergabe von Geschenken eine fundamentale Bedeutung für die Regelung zentraler Aspekte des menschlichen Zusammenlebens zukommt: Geschenke besiegeln Verträge, ermöglichen Verhandlungen, regeln die soziale Ordnung, sichern diese ab, garantieren den Frieden und schaffen ein stabiles, die Menschen verbindendes soziales Band. Der Austausch von Geschenken wird dabei, sozusagen als vertrauensbildende und versichernde Maßnahme, mit festlichen Anlässen wie Hochzeiten zwischen Mitgliedern verschiedener Clans und Stämme, Geburten von Kindern und Besuchen bei anderen Stämmen verknüpft. Und auch profanere, alltägliche Aktivitäten bedürfen dieser Art der Vertrauensbildung: dem Tauschen von Gütern auf einem Markt geht eine Zeremonie der Gabe ebenso voraus wie der Verpflichtung eines Handwerkers für den Bau eines Hauses.

Mauss’ Nachdenken über die Rolle der Gabe in diesen Gesellschaften endet mit einer bemerkenswerten Schlussfolgerung:

»Die vorgeschlagene Untersuchung könnte also zu Folgerungen dieser Art führen. Die Gesellschaften haben in dem Maße Fortschritte gemacht, wie sie selbst, ihre Untergruppen und schließlich ihre Individuen fähig wurden, ihre Beziehungen zu festigen, zu geben, zu nehmen und zu erwidern. Zuerst mußten die Menschen es fertigbringen, die Speere niederzulegen. Dann konnte es ihnen gelingen, Güter und Personen auszutauschen, und zwar nicht nur zwischen Clans, sondern zwischen Stämmen und Nationen und vor allem zwischen Individuen. Und erst dann konnten sich die Leute Interessen schaffen, sie gegenseitig befriedigen und sie verteidigen, ohne zu den Waffen zu greifen. Auf diese Weise haben es die Clans, Stämme und Völker gelernt – so wie es in der Zukunft in unserer sogenannten zivilisierten Welt die Klassen, Nationen und Individuen lernen werden – einander gegenüberzutreten, ohne sich gegenseitig umzubringen, und zu geben, ohne sich anderen zu opfern. Dies ist eines der Geheimnisse ihrer Weisheit und ihrer Solidarität« (Mauss, 1990, 181f.).

Diese Schlussfolgerung ist gleich in mehrfacher Hinsicht überraschend. Ihr Stil unterscheidet sich deutlich von dem des restlichen Essays. Genau genommen scheint das gesamte letzte Kapitel (Mauss, 1990, Kapitel IV), in dem sich der Autor den »moralischen, sozial- und nationalökonomischen« und den »allgemeinen soziologischen Schlussfolgerungen« zuwendet, in seiner Ausrichtung aus dem Rahmen zu fallen. Im Hauptteil des Essays werden ethnologische Studien in nüchternem, präzisem und zurückhaltendem Stil dargestellt, eingeordnet und interpretiert. Die finalen Seiten hingegen scheinen mit Blick auf Mauss’ Lebenswelt geschrieben zu sein: das Nachkriegsfrankreich der 1920er Jahre, das ihn als politischen Menschen sehr beschäftigte.

Ein Hinweis auf eine angestrebte Übertragung von Erkenntnissen aus sogenannten »archaischen« Gesellschaften in die »zivilisierte« Gesellschaft Europas findet sich bei genauem Lesen bereits an einer früheren Stelle. In seiner Einführung schreibt Mauss, gewissermaßen den hoffnungsvollen Schlussfolgerungen vorgreifend, folgenden Satz:

»Und da wir feststellen werden, daß diese Moral und diese Ökonomie sozusagen unterschwellig auch noch in unseren eigenen Gesellschaften wirken, und da wir glauben, hier einen der Felsen gefunden zu haben, auf denen unsere Gesellschaften ruhen, können wir durchaus einige moralische Schlußfolgerungen bezüglich einiger der Probleme ziehen, vor die uns die Krise unseres Rechts und unserer Wirtschaft stellt, und dabei wollen wir es bewenden lassen« (Mauss, 1990, 19).

Kein kleines Vorhaben, sind doch die Gesellschaften und Praktiken, die Mauss beschreibt, sehr weit von dem entfernt, was das Leben in einem nationalstaatlich organisierten und von der Marktwirtschaft geprägten Land wie Frankreich ausmacht. Mauss untersucht im Gabenessay explizit »archaische« Kontexte. Diese verfügen in ihrer Mehrzahl nicht über erkennbare Staatlichkeit und sind geprägt von Traditionen, Regeln und Riten der familiären Gemeinschaft, des Clans oder Stammes.

Wie lassen sich Phänomene einer solchen Form des Zusammenlebens auf das Frankreich der 1920er Jahre übertragen?

Diese Fragestellung führt dazu, dass der Essay Die Gabe nach Ansicht vieler Interpreten gewissermaßen gespalten ist: Auf der einen Seite stehen die wissenschaftlichen Studien, auf der anderen die normativen Konklusionen (vgl. Dzimira, 2007, 27; zitiert nach Mallard, 2011, 225), die gewissermaßen eine Art politisches Reformprogramm skizzieren. Dementsprechend werden in der Rezeption seine normativen und politischen Aussagen nicht selten von den deskriptiven, streng wissenschaftlich geführten Argumenten getrennt, und man geht entweder auf das eine oder das andere ein (Adloff, 2016, 145). Auch Mauss selbst plädiert dafür, dass Politik nicht in den Hörsaal gehöre (Moebius, 2006, 119) und man Gesellschaft, Politik und Soziologie trotz des gemeinsamen Gegenstandes nicht miteinander verwechseln dürfe (Mauss, 1969b 234, zitiert nach Moebius, 2006 119f.). Während er sich in der Regel an diese Trennung im Stile einer »chinesischen Mauer« (Hart, 2014, 35) hält, die er zwischen akademischen Arbeiten und seinen politischen Interessen zieht, weicht er im normativen Rahmen (Einleitung und Schlussfolgerungen) des Gabenessays davon ab und stellt nachfolgende Interpreten vor die Frage, wie damit umzugehen ist.

Die vorliegende Untersuchung geht von der Hypothese aus, dass der Essay durch die Trennung des deskriptiven und wissenschaftlichen Hauptteils vom normativen und politisch ausgerichteten Rahmen an argumentativer Kraft, analytischer Schärfe und Aktualität verlieren würde. Wenn also im Folgenden Schritt für Schritt erarbeitet wird, was gegenwärtige Gesellschaften aus Mauss’ Arbeit zur Gabe lernen können, gilt es dabei, den Autor explizit auch als politischen Intellektuellen und Vertreter eines aufgeklärten Sozialismus zu begreifen. Nicht zufällig fällt die Veröffentlichung des Essai sur le don in eine Schaffensphase, die auch für Mauss als politischen Journalisten und öffentlich engagierten Intellektuellen die produktivste seines Lebens darstellt. Zwei Drittel der über 800 Seiten fassenden Gesamtausgabe seiner politischen Schriften (Mauss, 1997) entstanden in den Jahren 1920 bis 1925 (vgl. Hart, 2007, 473). In diesen Schriften plädiert er dafür, der für ihn spürbar zunehmenden Dominanz des Effizienzdenkens und der damit einhergehenden Tendenz zur überhandnehmenden Anwendung einer Berechnungslogik in allen Gesellschaftsbereichen etwas entgegenzusetzen.2 Konkret stellt Mauss sich dabei eine Gesellschaft vor, die Solidarität praktisch lebt und sich nach dem Vorbild bestimmter Berufsgruppen, die bereits ein solidarisches Sicherungssystem praktizierten, gegenseitig absichert und die Gabe zelebriert:

»Diese neue Moral wird eine glückliche Mischung von Wirklichkeit und Ideal sein. So kann und soll man zu archaischen und elementaren Prinzipien zurückkehren; man wird dann Handlungsmotive entdecken, die zahlreiche Gesellschaften und Klassen noch kennen: die Freude am öffentlichen Geben; das Gefallen an ästhetischem Luxus; das Vergnügen der Gastfreundschaft und des privaten oder öffentlichen Festes. Die Sozialversicherung, die gemeinsame oder gegenseitige Fürsorge der Berufsgruppen und all jener moralischen Personen, denen das englische Recht den Namen ‚Friendly Societies’ verleiht, sind mehr wert als die bloße persönliche Sicherheit, die der Adlige seinem Lehnsmann gibt, mehr als das karge Leben, das der vom Arbeitgeber ausgehändigte tägliche Lohn gewährt, mehr sogar als kapitalistische Ersparnisse, die nur auf einem schwankenden Kredit gründen. Wir können uns eine Gesellschaft denken, in der solche Prinzipien herrschen. In den freien Berufen funktionierten bereits in gewissem Grad eine Moral und Ökonomie dieser Art. Denn Ehre, Selbstlosigkeit und korporative Solidarität sind weder leere Wörter, noch laufen sie der Notwendigkeit zur Arbeit zuwider. Humanisieren wir auch die anderen professionellen Gruppen […]« (Mauss, 1990, 163).

Der Solidaritätsbegriff, den Mauss verwendet, ist dabei nicht als Kampfbegriff zu verstehen, der eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe in der Auseinandersetzung mit einer anderen zusammenhält. Vielmehr meint Solidarität hier im Sinne Durkheims eine »objektiv bestehende Relation zwischen dem Ganzen und seinen Teilen« (Imbusch und Rucht, 2005, 24) und ein Bewusstsein für dieses Verhältnis.

Mauss erarbeitet seinen Gabenessay also nicht ausschließlich mit einer ethnologischen oder soziologischen Perspektive. Vielmehr spielen seine politischen Anliegen auch innerhalb des Essays selbst schon eine Rolle. Er nimmt mithilfe des Phänomens der Gabe eine Perspektive ein, von der er sich Erkenntnisse auf drei unterschiedlichen Gebieten verspricht (vgl. Adloff, 2014, 18):

1.Die Organisation der vormodernen Gesellschaften, die sich zu seiner Zeit noch in vielen Gegenden der Welt finden lassen,

2.die Beschreibung der Gesellschaftsformen, aus der die Gesellschaft hervorging, in der Mauss selbst lebte, und

3.die Erbringung des soziologischen Nachweises der These, dass die im Gabentausch wirksame Moral und Ökonomie »sozusagen unterschwellig auch noch in unseren eigenen Gesellschaften wirken« (Mauss, 1990, 19).

Die Untersuchung zielt Schritt für Schritt darauf ab zu zeigen, warum Mauss glaubt, »hier einen der Felsen gefunden zu haben, auf denen unsere Gesellschaften ruhen« (Mauss, 1990, 19). Er hält die Logik der Gabe für weiterhin, wenn auch nur unterschwellig, wirkmächtig (Adloff, 2014, 19f.) und arbeitete daran, sie für Fragen seiner Gegenwart, insbesondere für eine Kritik am Utilitarismus fruchtbar zu machen (ebd.). Diese Kritik am Utilitarismus gewinnt auch in aktuellen Debatten wieder an Relevanz. So beziehen sich beispielsweise die zahlreichen Autoren und Unterzeichner des konvivalistischen Manifests (Les Convivialistes, 2014) auf Marcel Mauss. Sie erarbeiten einen alternativen Ansatz, um das Zusammenleben der Menschen angesichts der vielseitigen aktuellen Krisen neu zu denken, und aktualisieren damit die Mauss’schen Ideen (Les Convivialistes, 2014).3 In den folgenden Kapiteln des ersten Teils dieses Buches wird die Entwicklung der Mauss’schen Argumentation Schritt für Schritt nachvollzogen. Dazu ist es zunächst von Bedeutung, sich mit Marcel Mauss als Person, seiner wissenschaftlichen Arbeit und seinem politischen Denken zu beschäftigen. Im Anschluss daran wird sein berühmtestes Werk, Die Gabe, ausführlich dargestellt und in Bezug auf die verschiedenen Dimensionen der Mauss’schen Interpretation reflektiert. Abschließend wird gezeigt, wie Mauss aus diesem Werk konkrete politische Positionen für die Debatten im Frankreich der 1920er Jahre ableitete und welche gesellschaftstheoretische Utopie sich daraus entwickeln lässt. Diese wiederum ist die Grundlage für die weiterführende Argumentation dieses Buches.

1Mauss selbst ist in Bezug auf den Begriff »archaisch« und dessen negativer Konnotation sehr kritisch. Er lehnt es ab, Kulturen in »zivilisiert« und »unzivilisiert«zu unterscheiden und spricht stattdessen von »unterschiedlichen Zivilisationen« (Moebius, 2006, 11). Marcel Hénaff schlägt daher in seiner Interpretation vor, den Begriff der»archaischen« Gabe zu vermeiden. Er spricht stattdessen von der »zeremoniellen Gabe«, wenn er auf die von Mauss beschriebenen Phänomene verweist (Hénaff, 2014, 60).

2Dieses Argument findet sich auch in den Schlussfolgerungen des Gabenessays wieder: »Erst unsere westlichen Gesellschaften haben, vor relativ kurzer Zeit, den Menschen zu einem ‚ökonomischen Tier‘ gemacht. Doch sind wir noch nicht alle Wesen dieser Art. Sowohl in den unteren wie in den höheren Klassen ist die reine, irrationale Ausgabe eine geläufige Praxis; sie ist noch immer charakteristisch für die wenigen Fossile unseres Adels. Der homo oeconomicus steht nicht hinter uns, sondern vor uns – wie der moralische Mensch, der pflichtbewusste Mensch, der wissenschaftliche Mensch und der vernünftige Mensch. Lange Zeit war der Mensch etwas anderes; und es ist noch nicht sehr lange her, seit er eine Maschine geworden ist– und gar eine Rechenmaschine« (Mauss, 1990, 173).

3Unter den Unterzeichnenden finden sich so prominente Namen wie Alain Caillé, Edgar Morin oder Chantal Mouffe.

2Marcel Mauss: Leben und Wirken in Politik und Wissenschaft

Marcel Mauss wird 1872 in den französischen Vogesen in eine dem jüdischen Glauben stark verpflichtete Familie hineingeboren. Sein Vater, Gerson Mauss, ist als Unternehmer und Händler tätig, verkauft Textilien und verantwortet die familieneigene Handstickerei gemeinsam mit seiner Frau, Marcel Mauss’ Mutter, Rosine Durkheim (Moebius, 2006, 18). Die jüdische Tradition – besonders Rosine ist sehr religiös – prägt den jungen Mauss so nachhaltig, dass er sich sein Leben lang wissenschaftlich mit religiösen Riten und Formen des Gebets beschäftigt (vgl. Lindenberg, 1996 zitiert nach Moebius, 2006, 18; Mauss, 2006 352). Dazu trägt auch bei, dass die Heimat der Familie Mauss-Durkheim, die in Elsass-Lothringen gelegene Stadt Épinal, zu dieser Zeit trotz ihrer christlichen Prägung den höchsten relativen Anteil jüdischer Bewohner in Frankreich aufweist (Moebius, 2006, 18). Mauss genießt in dieser Umgebung einerseits von Kindheit an eine umfassende Ausbildung in jüdischen Traditionen und lernt die hebräische Sprache in einem Umfeld des lebendigen jüdischen Lebens, andererseits bleibt ihm in seinen Jugendjahren das Phänomen des Antisemitismus nicht unbekannt (vgl. ebd.).1 Mauss wird zudem das gesamte Leben über stark von seinem Onkel, Émile Durkheim, beeinflusst, dem innerhalb des Familiengefüges eine wichtige Rolle zukommt. Dieser wird für Mauss zur Erzieher- und Vaterfigur und bleibt trotz der bisweilen schwierigen Beziehung bis zu Durkheims Tod sein enger Begleiter, Freund und Mentor (ebd.). Durkheim ist es auch, der Mauss als Tutor während seines Studiums berät, seine ersten Schritte leitet und seinen Zugang zur Wissenschaft entscheidend bestimmt. In einem Rückblick, geschrieben anlässlich seiner Aufnahme als Professor der Soziologie im prestigeträchtigen Collège de France, reflektiert Mauss, wie stark ihn das wissenschaftliche Wirken des Onkels damals prägte:

»Als Student schwankte ich zwischen den heute so genannten quantitativen Studien (Mitarbeit mit Durkheim), Selbstmord, Geschichte der Städte, menschliche Raumordnungen, die in meiner Arbeit über die jahreszeitlichen Wechsel widerhallen, dem Rechtsstudium (3 Jahre) und den religionssoziologischen Studien. Wegen meiner Vorliebe für die Philosophie und aus bewusster Bestimmung spezialisierte ich mich, auf Anweisung von Durkheim, im Bereich der Erkenntnis religiöser Phänomene und beschäftigte mich fast ganz und gar für immer damit. Durkheim schrieb für mich und für ihn selbst seine Bordeaux-Vorlesung [Mauss studierte ab 1890 an der Philosophischen Fakultät in Bordeaux, M.F.] ‚Origines de la religion‘(1894-1895). Zusammen suchten wir danach, meine Kraft am besten Ort einzusetzen, um der entstehenden Wissenschaft [der Soziologie, M.F.] bestens zu dienen und ihre gravierenden Lücken zu schließen« (Mauss, 2006, 351).

2.1Mauss’ akademischer Werdegang

Aus der Mentor-Schüler-Beziehung zwischen Onkel und Neffe wird nach Mauss’ Abschluss eine partnerschaftliche Zusammenarbeit, die für manche Kommentatoren ähnliche Züge annimmt wie die Zusammenarbeit von Marx und Engels (vgl. Hart, 2007, 473). Mauss, der zu Durkheims Lebzeiten weitestgehend als »Juniorpartner«2 im Hintergrund steht, muss dann nach dessen Tod 1917 die entstandene Lücke füllen und dessen Aufgaben übernehmen. So verantwortet er die Publikation zahlreicher unveröffentlichter Werke Durkheims sowie weiterer verstorbener Mitglieder der gemeinsamen Forschungsgruppe (Henri Hubert und Robert Hertz) (Mauss, 2006, 347); eine Aufgabe, die Mauss belastet und in Anspruch nimmt, aber auch einen wichtigen Teil seiner eigenen wissenschaftlichen Leistung und Bedeutung ausmacht.3 Die Tatsache, dass die Entstehung der französischen Soziologie in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs notwendigerweise von den Namen Durkheim und Mauss ausgehend gedacht werden muss (Besnard und Fournier, 1998, 1; zitiert nach Moebius, 2006, 17), nimmt Mauss aufgrund des frühen Verlustes der Freunde und Kollegen rückblickend jedoch als ein zweischneidiges Schwert wahr:

»Das große Unglück meines wissenschaftlichen Lebens ist nicht der Stillstand meiner Arbeit während viereinhalb Jahren Krieg, es ist auch nicht die einjährige Unterbrechung (1921-1922) wegen Krankheit, es hat nicht einmal etwas zu tun mit meiner Hilflosigkeit, die mich nach dem vorzeitigen Tod von Durkheim und Hubert überkam; das große Unglück ist der Verlust meiner besten Studenten und meiner besten Freunde während dieser schmerzerfüllten Jahre. Man kann sagen, dass es ein Verlust für dieses Gebiet der französischen Wissenschaft war. Für mich war es ein Zusammenbruch. Vielleicht das Beste, das ich je von mir selbst hätte weitergeben können, ist mit ihnen verloren gegangen. Der erneute Erfolg meiner Lehre nach dem Krieg, die Gründung und der Erfolg des Institut d’ethnologie, der mir mehr als nur halb zu verdanken ist, belegen noch einmal das, was ich in diese Richtung noch leisten kann. Aber sie ersetzen nicht das, was ich verlor« (Mauss, 2006, 347f.).

In den Jahren nach dem Tod Durkheims engagiert sich Mauss hauptsächlich als Vollender und Bewahrer des Erbes seiner Freunde, zuvorderst für die Konsolidierung des Werkes seines Onkels (Moebius, 2006, 17). Erst nach dem Abschluss dieser Aufgabe gelingt es ihm, sich auf sein eigenes wissenschaftliches Werk zu fokussieren. Die Zeit der größten Produktivität erlebt Mauss zwischen 1920 und 1925. In diesen Jahren entstehen zwei Drittel seiner politischen Schriften (Hart, 2007, 474), er veröffentlicht seinen Gabenessay (1923-1924), begründet die französische Ethnologie und institutionalisiert sie 1925 in Form der Gründung des Institut d’ethnologie de l’université de Paris (Moebius, 2006, 35). Diese Jahre sind es auch, in denen ihm breite öffentliche Anerkennung als Durkheims Erbe, Vordenker der Ethnologie und beliebter Professor für Soziologie4 zuteilwird (Hart, 2007, 474); eine Anerkennung, die schließlich 1930 in seiner Wahl zum Professor am renommierten Collège de France ihren Höhepunkt erreicht (Hart, 2007, 474; Moebius, 2006, 17, 35).

Mauss’ wissenschaftliches Interesse ist insgesamt sehr breit, wobei sich zunächst ein religionssoziologischer Fokus herauskristallisiert. In diesem Zusammenhang beschäftigt er sich mit der Bedeutung von Magie und ihrer Stellung zur Religion, mit dem Begriff des Sakralen, mit Riten, Mythen und Totemismus (Fournier, 2006, 32). Gemeinsam mit Durkheim rückt Mauss zu Beginn des 20. Jahrhunderts die kollektiven Repräsentationen in das Zentrum der Aufmerksamkeit der Forschungsgruppe (ebd., 32). Im Laufe seiner Forscherlaufbahn wendet er sich dann immer mehr der Ethnographie zu, die er in Frankreich vernachlässigt sieht und deren Zustand »dringend« verbessert werden müsse (ebd., 36).

Mauss’ Interesse gilt während seiner gesamten akademischen Laufbahn der Untersuchung des sozialen Lebens in allen seinen Formen. Die Frage, die ihn dabei umtreibt, ist, welche Rolle dem sozialen Leben im menschlichen Leben insgesamt zukommt (Mauss, 2006, 358f.). Dabei legt er wenig Wert auf die Einhaltung bisweilen streng gezogener Fächergrenzen. Seinen Forschungsgegenstand, das Soziale, stets im Blick behaltend,5 bedient er sich der Methoden und Erkenntnisse aus der Soziologie, der Psychologie, den Geschichtswissenschaften, der Ökonomie, den Religionswissenschaften und der Philosophie ebenso wie aus der Ethnologie (Moebius, 2006, 8). Er gestaltet seine Arbeit in enger Verknüpfung von empirischer und theoretischer Forschung. Jede Theorie bedarf nach seinem Verständnis einer empirischen Untermauerung, da es auch für jemanden wie ihn, der eine theoretische Wissenschaft betreibt, keine höhere Gewissheit gibt als die »der deskriptiven Wissenschaften im Falle von sehr komplexen Phänomenen« (Mauss, 2006, 345.).

Mauss gilt in seinem Umfeld als begeisterter Forscher und begeisternder Lehrer: