Die germanische Blutsbrüderschaft - Leopold Hellmuth - E-Book

Die germanische Blutsbrüderschaft E-Book

Leopold Hellmuth

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Beschreibung

Unter Blutsbrüderschaft wird ein in vielen Völkern verbreitetes Ritual bezeichnet bei dem durch das Vermischen von Blut ein verwandtschaftsähnliches Verhältnis zwischen den Beteiligten geschaffen wird. Leopold Hellmuth beschreibt und erklärt in diesem Buch die nordgermanische Form der Blutsbrüderschaft, die eine besondere Nähe zur Person und zum Kult Odins aufwies. Neben den verschiedenen nordischen Quellen untersucht der Autor die einzelnen Elemente dieses Rituals und die damit verbundenen sozialen Konsequenzen (Rache, Totenfolge, Frieden, Erbrecht). Zudem vergleicht er die Merkmale der nordgermanischen Blutsbrüderschaft mit denen anderer Völker, um deren Gemeinsamkeiten wie die symbolische Blutmischung, aber vor allem deren Besonderheiten herauszuarbeiten, deren spiritueller Charakter und Familienferne. Dieses Werk liefert somit nicht nur die bloße wissenschaftliche Darstellung der historischen germanischen Blutsbrüderschaft, sondern macht diese für die Moderne wieder praktisch greifbar.

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Leopold Hellmuth

DIE GERMANISCHE

BLUTSBRÜDERSCHAFT

Ein typologischer und völkerkundlicher Vergleich

Edition Roter Drache

Ohne jeglichen Zweifel besaßen auch die vorchristlichen Germanen eine Einrichtung, die in der Literatur als Blutsbrüderschaft bezeichnet wird. Dabei wird durch das Vermischen einiger Blutstropfen ein verwandtschaftsähnliches Verhältnis zwischen den Beteiligten geschaffen.

Diese Dissertation von Leopold Hellmuth aus dem Jahr 1975 untersucht diese charakteristische Kulturform des germanischen Altertums und vergleicht sie mit auffallend ähnlichen Erscheinungen anderer europäischer und außereuropäischer Völker.

Der Autor lehrt ältere deutsche Philologie am Institut für Germanistik der Universität Wien.

4. Auflage November 2017

Copyright © 2010, 2017 by Edition Roter Drache.

Edition Roter Drache, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel

email: [email protected], Internet: www.roterdrache.org

Buch & Umschlaggestaltung: Edition Roter Drache

Titelbildmotiv: Asenath Mason.

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten. Die Rechte erstrecken sich nicht auf die zugrunde liegenden Texte und Schriften in ihrer Originalform.

ISBN 978-3-964260-18-5

INHALT

Cover

Titel

Impressum

I. EINLEITUNG

Skizzierung der Belegsituation – relativ langes Fortbestehen der Blutsbrüderschaft in Skandinavien – Art und Beschaffenheit der Quellen – mögliche Ursachen für das Verschwinden der nordgermanischen Blutsbrüderschaft – keine prinzipielle Unverträglichkeit von Christentum und Blutsbrüderschaft – skandinavische Blutsbrüderschaft offenbar schon vor der Christianisierung im Schwinden begriffen – weitere Ursachen für die Seltenheit von Beschreibungen: bei etwas (noch) allgemein Bekanntem genügen Andeutungen – erst später: Darstellungen von Verbrüderungen als Legitimierung der Kenntnis der Vorzeit – unmittelbare Hauptschwierigkeit bei der Erforschung der germanischen Blutsbrüderschaft: Rekonstruktion des Rituals – Rasengang-Forschung – verschiedene Formen „künstlicher“ Brüderschaft bei den Nordgermanen – kaum voneinander abzugrenzen – Blutsbrüderschaft im Mittelpunkt – eine der beiden Hauptaufgaben: Beschreibung und Deutung der germanischen Blutsbrüderschaft – weltweite Verbreitung der Blutsbrüderschaft – Ausformung eines Elementargedankens? – Vergleichbarkeit der Blutsbrüderschaften verschiedener Kulturbereiche – zweite Hauptaufgabe: inwieweit ist die germanische Blutsbrüderschaft „typisch“? (auf die germanische Blutsbrüderschaft bezogene Typologie) – Verwendung von „typisch“ und „atypisch“ – Unsicherheitsfaktoren in den ethnologischen Beschreibungen

II. BELEGSITUATION

A) Die germanischen Belege für Blutsbrüderschaft

Lokasenna, Str. 9 – Brot af Sigurðarkviðu, Str.17 – Völsunga saga, Kap. 28 u. 32 – Snorra Edda, Skáldskaparmál, Kap. 39 – Gísla saga Súrssonar, Kap. 6 – Saxo Grammaticus, Haddingssaga – Egils saga einhenda ok Ásmundar berserkjabana, Kap. 6; Árán und Ásmundr – Þorsteins saga Víkingssonar, Kap. 21; Beli und Angantýr – Illuga saga Griðarfóstra, Kap. 1 – Die Belege germanischer Blutsbrüderschaft in Tabellenform

B) „Künstliche“ Brüderschaft im heidnischen Skandinavien

Fóstbrœðra saga, Kap. 2 – Sörla Þattr, Kap. 4 – Saxo Grammaticus, Höginus und Hithinus – Gull-Þóris saga, Kap. 2 – Þattr Orms Stórólfssonar, Kap. 6 – Sturlaugs saga Starfsama, Kap. 13 – Haralds Rímur Hringsbana – Saxo Grammaticus, Asmund und Asvit – Bjarnar saga hítdœlakappa, Kap. 29 – Þorsteins saga Víkingssonar, Kap. 7; Viking und Njörfi – Þorsteins saga Víkingssonar, Kap. 20, Þorstein und Beli – Snorri Sturluson: Magnúss saga blinda ok Haralds Gilla, Kap. 3 – die Belege „künstlicher“ Brüderschaft in Tabellenform – Blutsbrüderschaft in den Rechtsbüchern nicht erwähnt – Eidbrüderschaft nur im Gulathingsrecht – Erwähnungen von „Brüdern“ auf Runeninschriften – Begriffsbestimmung und mögliche Entwicklung der altnordischen Brüderschaftsterminologie – eiðbróðir, svarabróðir, fostbróðir – félagi – Umstrukturierung noch vor der Jahrtausendwende – Gilde und „Brüder“bünde – analoge Entwicklung bei den Kelten und Südslawen – Existenz mehrerer Brüderschaftsformen nebeneinander – als Parallele dazu: verschiedene Formen der Wahlbrüderschaft auf dem Balkan – eiðbróðir und svarabróðir als Beispiele für das Oberhandnehmen der „juristischen Perspektive“

III. TYPOLOGIE

A) VERGLEICHENDE UNTERSUCHUNGEN ZUM RITUAL DER BLUTSBRÜDERSCHAFT

a) Das germanische Ritual der Blutsbrüderschaftsschließung

Blutmischung in Verbindung mit anderen rituellen Handlungen – Blut aus der Innenfläche der Hand – „Wecken des Blutes“ – Vermischen des Blutes – Blutmischung unter dem Rasenbogen – Blutmischung in der Fußspur – Sinn des Blutmischens – Deutungsversuch des „láta renna blód í spor“ – Bluttrinken bei den Germanen offenbar unbekannt – „ganga undir jarðarmen“ – Divergenzen in den Quellen – die verschiedenen Anwendungsarten des Rasenganges und die Prioritätsfrage – Bestrafung von Schuldigen durch das „jarðarmen“ – Veranstaltung des „ganga undir jarðarmen“ – Praktische Schwierigkeiten bei der Ausführung – Deutungen des Rasengangrituals – K. Maurer – M. Pappenheim und J. De Vries – Verhältnis von Fußspurenritus und Rasengang – Alter und Entwicklung der Riten – schließen Rasengang und Fußspurenritus einander aus? – Der Eidschwur und seine Problematik

b) Das Ritual der Blutsbrüderschaft – Außergermanische Gegenstücke

unmittelbare Blutmischung durch Aufeinanderpressen der Wunden – „Trinken“ des Blutes durch wechselseitiges Aussaugen der Wunden – Blut in einem Gefäß vermischt und pur getrunken – Vermischung des Blutes mit einem anderen Stoff und nachfolgende – Blutmischung ohne jede – Vergleich mit dem germanischen Blutsbrüderschaftsritual – Schlußfolgerung: atypischer Charakter des germanischen Verbrüderungsrituals

B) BLUTSBRÜDERSCHAFT ALS SOZIALES PHÄNOMEN – TYPOLOGISCH BETRACHTET (TYPOLOGIE DER KONSEQUENZEN)

a) Rachepflicht

Erwähnungen der Rachepflicht bei den Nordgermanen – wichtigste Konsequenz der nordgermanischen Blutsbrüderschaft – „absolute“ Gültigkeit – Umwandlung der Rache – betrifft nur die Blutsbrüder selbst – Rachepflicht bei den Südslawen – keine Erwähnung bei den Kelten – völkerkundliche Gegenstücke – Schlußfolgerung

b) Totenfolge

Mitbegraben mit dem toten „Bruder“: Asmund und Asvit bzw. Ásmundr und Árán – eine altirische Parallele: CúChulainn und Ferdiad – Totenfolge nach Ausweis des völkerkundlichen Materials offenbar keine typische Konsequenz der Blutsbrüderschaft – ein vereinzeltes Beispiel symbolischen Mitbegrabens – Schlußfolgerung

c) Friedenstiftende bzw. Frieden bewahrende Funktion der Blutsbrüderschaft

„Fostbrodersituation“- Beispiele für die „Fostbrodersituation“ mit unentschiedenem Kampfausgang – die zweite Art der „Fostbrodersituation“: Verbrüderung mit dem besiegten Gegner – Fälle, in denen die Situation durch den „fóstbroðir“ eines der beiden Kämpfenden herbeigeführt wird – völkerkundliche Belege für die friedenstiftende Funktion der Blutsbrüderschaft – Blutsbrüderschaft zwischen Bluträcher und Mörder – Blutmischung vor Racheexpeditionen und Verschwörungen – friedenstiftende Funktion der Blutsbrüderschaft kann als typisch gelten

d) Gütergemeinschaft (zur Frage der Frauengemeinschaft und des Erbrechtes)

félag und fóstbrœðralag – völkerkundliche Gegenstücke zur Gütergemeinschaft von Blutsbrüdern – Frauengemeinschaft – gegenteilige Belege – zur Problematik des Erbrechts – Resümee

e) Verbindlichkeit der Blutsbrüderschaft

südslawische, keltische und außereuropäische Beispiele – Verwünschungen und Beschwörungen als Teil des Verbrüderungsrituals – „automatische“ Bestrafung im Falle eines Treuebruchs – Blutsbrüderschaft enger als die natürliche Brüderschaft – Vererbung der Blutsbrüderschaft – nicht gehaltene Blutsbrüderschaften – auch zufällig entstandene Blutsbrüderschaft ist gültig – Beispiele aus Irland, Zentralafrika und Australien – absoluter Charakter des nordgermanischen fóstbrœðralag

f) Blutsbrüderschaft und Familie

zum Verwandtschaftscharakter der Blutsbrüderschaft – Heiratsverbot zwischen den nächsten Verwandten von Blutsbrüdern – vereinzelte Ausnahmen – „brüderlicher“ Charakter des Blutbundes – Mitglieder derselben Familie können nicht Blutsbrüder werden – Heiratsverbot auch für die Kinder von Blutsbrüdern – südslawische Beispiele für den Verwandtschaftscharakter der Blutsbrüderschaft und das daraus entspringende Heiratsverbot – irische Beispiele für das Heiratsverbot und den verwandtschaftlichen Charakter der Blutsbrüderschaft – das nordgermanische fóstbrœðralag zog keine Heiratsbeschränkungen nach sich

IV. ZUR DEUTUNG DER GERMANISCHEN BLUTSBRÜDERSCHAFT

fóstbrœðralag kein Hineingeborenwerden in die Familie – Familiennähe oder Familienferne des nordgermanischen Blutsbrüderschaftsverhältnisses – Konfliktsituationen zwischen Sippe und fóstbrœðralag: Hamletsage, Njörfi und Viking, Nibelungenkreis – Ergebnis: Blutsbrüder standen einander näher als ihren Verwandten – Rachepflicht betraf nur die Blutsbrüder selbst – Fehlen des Heiratsverbotes in Skandinavien – germanische Beispiele für Ehen mit der Schwester des Blutsbruders – Blutsbrüderschaft zwischen natürlichen Brüdern und nahen Verwandten – deutliche Familienferne des fóstbrœðralag – zum Begriff der „kultischen“ Brüderschaft – Beispiele für Brüderschaftsverhältnisse aufgrund der Teilnahme an denselben Kulthandlungen – cognatio spiritualis – Tod und Neugeburt beim Abschluß von Blutsbrüderschaften: bei englischen Zigeunern, in Angola und auf Madagaskar – Blutmischung bei Initiationen in Kultbünde – „Passage“-Charakter gewisser Blutriten – volkskundliche Parallelen zum Rasengang: Heilriten des Durchkriechens etc. – Rituelle Neugeburt aus der Erde auf dem Balkan – Auflegen von Rasenstücken in magischen Praktiken des Volksaberglaubens und in Sagen – Fähigkeit, Unsichtbares zu sehen – grundlegende Wandlung durch den Eintritt unter die Erde: höhere Begabung – Verstehen der Vogelstimmen – Eintritt unter die Erde als Eintritt in eine höhere Seinsform – fóstbrœðr als Söhne einer spirituellen Macht – Odin und das fóstbrœðralag – Odin als Stifter und Beschirmer von Blutsbrüderschaften – zur Strophe 9 der Lokasenna – fóstbrœðralag nicht nur ein individuelles Verhältnis – vorchristliche skandinavische „Brüder“-Bünde: Rökstein, Bären-Brüder der Gesta Danorum, andere Runensteine – Odin, Gott der Bünde – unterschiedliche Anzahl von fóstbrœðr – die Teilnehmerzahl gestattet keine Trennung zwischen dem fóstbrœðralag und umfassenderen Brüderscharen – Anführer von Brüderscharen zugleich Bruder unter Brüdern – Odin als Patron von Einzelmenschen – Odin als „fóstri“ der fóstbrœðr – Bedeutungsambivalenz von an. „fóstbroðir“ – Etymologie der entsprechenden Wortfamilie – Beispiele für die Doppelbedeutung – Versuche, sie zu erklären – fóstbrœðralag als Brüderschaft „in“ Odin? – Christliche Entsprechungen – Gründe für die Familienferne des fóstbrœðralag und das Fehlen von Heiratsbeschränkungen – Zusammenfassung

Bibliographie

Sachverzeichnis

Autorenverzeichnis

Weitere Bücher

Anmerkungen

I.

EINLEITUNG

Es besteht kein Zweifel, daß auch die Germanen der frühen, vorchristlichen Zeit eine Einrichtung kannten, die in der völkerkundlichen Literatur im allgemeinen als „Blutsbrüderschaft“ bezeichnet wird und bei der durch das Vermischen einiger Blutstropfen der Beteiligten eine Art „künstlicher Verwandtschaft“, ein „verwandtschaftsähnliches“ Verhältnis geschaffen wird.

Alle Belege für die Existenz der germanischen Blutsbrüderschaft stammen aus dem Norden; bei den Kontinentalgermanen scheinen sich keine Spuren dieser urtümlichen heidnischen Institution gehalten zu haben. Von einem global-vergleichenden Standpunkt aus betrachtet ist dies eine höchst merkwürdige und schwer zu erklärende Tatsache, die meines Wissens bisher völlig unbeachtet geblieben ist. Dieser Frage weiter nachzugehen, wäre für die Kenntnis der germanischen Blutsbrüderschaft zweifellos von großer Bedeutung.

Es wäre also – streng genommen – nicht von der germanischen, sondern von der altnordischen oder altskandinavischen Blutsbrüderschaft zu sprechen. Wenn im folgenden dennoch von der „germanischen“ Blutsbrüderschaft die Rede sein wird, so ist das nicht dahingehend zu verstehen, daß „skandinavisch“ und „germanisch“ gleichgesetzt werden, sondern es soll damit in erster Linie die – wenn auch nur in einem bestimmten Teil der Germania belegte – „germanische“ Institution von den entsprechenden Einrichtungen anderer Völker abgehoben werden.1

In Skandinavien, wo das Christentum erst um die Jahrtausendwende Fuß zu fassen vermochte, hatte sich die Erinnerung an diese höchst altertümliche Form der Verbrüderung noch bis in jene Zeit hinein erhalten, in der auf Island die Sagas verfaßt wurden. Blutsbrüderschaft nach überliefertem heidnischen Ritual wird damals aber auch in Skandinavien wohl schon seit langem nicht mehr geschlossen worden sein.

Aus einigen Belegen allerdings geht deutlich hervor, daß die Institution der Blutsbrüderschaft in den Jahrhunderten zwischen der Landnahmezeit und dem endgültigen Durchdringen des Christentums auf Island noch lebendig gewesen sein muß.

Unser Wissen über die germanische Blutsbrüderschaft beruht auf einer Reihe von Belegen in Werken der isländischen und der dänischen Literatur des Hochmittelalters. Die relativ große Zahl der Erwähnungen kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bis auf ganz wenige Ausnahmen tatsächlich nur um Erwähnungen handelt, aus denen man zwar eine Vorstellung von der Häufigkeit und Bedeutsamkeit dieser Einrichtung, nicht aber von ihrer Eigentümlichkeit zu gewinnen vermag.

Eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Rekonstruktion dieser aus früheren Zeiten übernommenen Institution besteht darin, daß die kulturhistorische Zuverlässigkeit gerade derjenigen Stellen, die für die Blutsbrüderschaft und den Rasengang am wichtigsten sind, ziemlich umstritten ist.

Was mag die Ursache für das Verschwinden der altnordischen Blutsbrüderschaft gewesen sein? Es liegt nahe, den Grund dafür in der Christianisierung des Nordens zu suchen. Abgesehen von der Verschiedenartigkeit der Missionierung ist dagegenzuhalten, daß weder bei den Kelten noch bei den Südslawen eine prinzipielle Unverträglichkeit der heidnischen Blutsbrüderschaft mit dem Christentum gegeben war: bei beiden Völkern wurde die althergebrachte Institution der Blutsbrüderschaft in christlichem Sinne umgedeutet und – wenigstens in frühen Zeiten – dem neuen Glauben mehr oder weniger „offiziell“ eingefügt.

Daß die vorchristliche Blutsbrüderschaft zumindest in einigen Fällen als ein Gegenstück der christlichen Eucharistiegemeinschaft, der Brüderschaft all derjenigen, die gemeinsam das Blut Christi getrunken haben, aufgefaßt wurde, geht aus der altirischen Erzählung vom Boroma unzweifelhaft hervor.2 Von großem Interesse scheint mir die spontane Deutung der Blutsbrüderschaft als einer „Art Eucharistie“ zu sein, die Eugen ZINTGRAFF am Ende des vergangenen Jahrhunderts von seinem eingeborenen Dolmetscher erhielt:

Mein Dolmetscher Muyenga, der natürlich auch unter dem Schwur stand, hatte einmal in Kamerun bei einem Missionar gearbeitet. Er belehrte mich nun während des Gelages, Blutsfreundschaft bei den Schwarzen sei so gut, als wenn ein Christ auf die Bibel schwöre. Die Blutsbrüderschaft sei überhaupt das Abendmahl des schwarzen Mannes.3

Sowohl in Irland als auch bei den Südslawen war es durchaus möglich, daß Kleriker sich an einer Verbrüderung durch Blutmischung beteiligten4, daß sie ihre Zeremonien leiteten5, und sogar, daß die Verbrüderung in einer Kirche stattfand6.

Dies scheint doch wohl darauf hinzudeuten, daß sich das Verschwinden der nordgermanischen Blutsbrüderschaft nicht (oder zumindest nicht allein) auf eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Blutsbrüderschaft und Christentum zurückführen läßt. Eine der Ursachen für das Erlöschen der germanischen Blutsbrüderschaft dürfte vielmehr in der eigentümlichen Ausformung zu suchen sein, welche die Institution der Blutsbrüderschaft meiner Ansicht nach bei den Germanen erfahren hatte und die ihren Charakter entscheidend geprägt zu haben scheint: Die besondere Nähe zur Person und zum Kult Odins7.

Einerseits ist der Abstand zwischen dem Zeitpunkt, zu dem sich die in den Quellen geschilderten Handlungen ereigneten, und dem Zeitpunkt der Abfassung der Texte, die davon berichten, ziemlich groß8, woraus sich bestimmt einige der Unsicherheiten erklären lassen, andererseits deutet vieles darauf hin, daß am Ende der heidnischen Zeit der ursprüngliche „Sinn“ der Institution den Beteiligten selbst nicht mehr zur Gänze bewußt gewesen sein wird und das Wissen um den tieferen Zusammenhang der Handlungen, die beim Verbrüderungsritual Verwendung fanden, schon damals verlorengegangen war. Ich bin der Ansicht, daß die aus frühesten Zeiten übernommene Institution der Blutsbrüderschaft in Skandinavien bereits vor ihrer endgültigen Verdrängung durch das Christentum im Schwinden begriffen gewesen war.9

Darüber hinaus ist noch ein weiterer Umstand in Betracht zu ziehen, der die geringe Anzahl von Beschreibungen der Art und Weise, in der die heidnischen Nordgermanen ihre Blutsbrüderschaften schlossen, zu erklären vermag: genauso wie einem Christen die Feststellung, daß jemand getauft wurde, genügt, und es überflüssig und unsinnig wäre, dabei jedesmal alle Handlungen, die das Sakrament der Taufe umfaßt, aufzuzählen und zu beschreiben, genauso wird für einen Isländer des 9. oder 10. Jahrhunderts der Hinweis, daß zwei Männer Blutsbrüderschaft geschlossen hatten, genügt haben, um ihm dadurch das Ritual und die Konsequenzen ins Gedächtnis zu rufen, die zu diesem Zeitpunkt in Island die Institution der Blutsbrüderschaft ausmachten.10

Vielleicht können diejenigen Stellen, die neben der allgemeinen Charakterisierung der Situation Einzelheiten des Rituals erwähnen, gerade dahingehend gedeutet werden, daß die Erzähler nunmehr ihre Vertrautheit mit den Sitten und Bräuchen der alten Zeiten unter Beweis stellen wollten, indem sie die Blutsbrüderschaft nicht mehr als eine ohnehin wohlbekannte Institution bloß erwähnten oder auf sie anspielten, sondern indem sie Beschreibungen von dieser im hohen Mittelalter auch dem skandinavischen Publikum schon fremd gewordenen und nur mehr vom Hörensagen bekannten Einrichtung der heidnischen Vorzeit in ihre Dichtung einfließen ließen. Gerade die Verfasser der Fornaldarsögur lieben das Motiv der Verbrüderung ganz besonders. In manchen dieser Sagas ist es geradezu eine Art Mode geworden, daß sich die Hauptpersonen bei der ersten sich anbietenden Gelegenheit verbrüdern.

Während sich über die Konsequenzen, die die germanische Blutsbrüderschaft mit sich zog, trotz etlicher Unsicherheiten ein einigermaßen abgerundetes Bild gewinnen läßt, ist die Rekonstruktion des Rituals und somit die Gesamtdarstellung der spezifisch germanischen Blutsbrüderschaftsform höchst problematisch und umstritten.

Seit mehr als einem Jahrhundert hat der sogenannte Rasengang, das „ganga undir jarðarmen“ der altnordischen Texte, der in einem unzweifelhaften, aber schwer zu deutenden Zusammenhang mit dem altskandinavischen Ritual der Blutmischung stand, das Interesse der Forschung angezogen. Zumal jenes „ganga undir jarðarmen“ aber nicht nur beim Abschluß von Blutsbrüderschaften Verwendung fand, sondern auch noch andere, mit einer Verbrüderung offenbar nicht zusammenhängende, Funktionen haben konnte, stand der Rasengang und die Deutung seiner verschiedenartigen Anwendungsmöglichkeiten fast ausschließlich im Mittelpunkt des Forschungsinteresses; der Verbrüderung durch das Vermischen des Blutes hingegen, deren Symbolik auch dem modernen Menschen noch irgendwie verständlich, wenngleich in ihrer Heiligkeit und Unverbrüchlichkeit sicherlich nicht wirklich nachvollziehbar erscheint, würde in allen Untersuchungen, die diesen Fragekreis berühren, viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Zwar gibt es seit Jacob GRIMM eine beträchtliche Anzahl von Arbeiten zur Problematik des Rasengangs11, die Blutsbrüderschaft wurde jedoch in all diesen Unteersuchungen der Problematik des Rasengangs ziemlich in den Hintergrund gedrängt.

Eine besondere Schwierigkeit bei der Beschreibung der germanischen Form der Blutsbrüderschaft besteht weiters auch darin, daß sich dieselbe von anderen Formen „künstlicher“ Brüderschaft, die es, wie bei vielen anderen Völkern auch, neben der Verbrüderung durch Blut auch bei den frühen Nordgermanen gegeben hat, kaum abgrenzen läßt. Auch bei einer recht geringen Zahl von Ausnahmen sehe ich meist keine Möglichkeit, zu entscheiden, ob eine Verbrüderung durch Blutmischung oder aber eine der anderen institutionellen Verbrüderungsformen gemeint ist. Auch die Terminologie reicht – vor allem deshalb, weil sich die historische Entwicklung der den Begriffen zugrundeliegenden Gegebenheiten weitestgehend unserer Kenntnis entzieht – nicht aus, um eine scharfe Trennung der Blutsbrüderschaft von anderen Formen vorchristlicher germanischer Brüderschaften zu ermöglichen12. Der Versuch, die nordgermanische Blutsbrüderschaft von den ihr sehr nahe verwandten Einrichtungen der Schwurbrüderschaft und der Eidbrüderschaft um jeden Preis abtrennen zu wollen, wäre schon allein aufgrund unseres relativ bescheidenen Wissens über diesen Bereich der altgermanischen Kultur zum Scheitern verurteilt. Die verschiedenen Verbrüderungsformen, welche die Nordgermanen besaßen, waren wohl trotz aller Unterschiede und aller divergierenden und konvergierenden Entwicklungen, die im Lauf der Zeiten eingetreten sein müssen, letzten Endes doch nur Variationen der selben Grundvorstellung.

Den Mittelpunkt der gegenwärtigen Arbeit wird allerdings die germanische Blutsbrüderschaft bilden, wenngleich die anderen Formen „künstlicher“ Brüderschaft dabei stets im Auge behalten werden sollten.

Nach der deskriptiven Darstellung des Rituals und der Konsequenzen der germanischen Form der Blutsbrüderschaft soll im 4. Teil dieser Arbeit eine möglichst alle in Betracht kommenden Aspekte berücksichtigende Gesamtdeutung des altnordischen fóstbrœðralag versucht werden. Dies ist die eine Hauptaufgabe der folgenden Seiten.

Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß die Institution der Blutsbrüderschaft so gut wie weltweit verbreitet war. Nicht nur die Kelten, Germanen, Slawen, Skythen, Iberer, Lydier, Meder und Araber praktizierten sie13, sondern auch bei einer ganzen Reihe von anderen Völkern Asiens, z.B. den Türken und Mongolen, manchen Stämmen der Chinesen in der Frühzeit ihrer Kultur und insbesondere den Bewohnern des Malaiischen Archipels14, sowie den Ureinwohnern Australiens war diese Einrichtung bekannt. In keinem anderen Erdteil jedoch hat die Besiegelung von Freundschaften und Bündnissen durch das Vermischen einiger Blutstropfen der Betroffenen eine derartige Bedeutsamkeit und eine so erstaunliche Verbreitung erlangt wie in Afrika: dort scheint es – zumindest vor dem Eindringen der europäischen Zivilisation, der diese wohl jahrtausendealte Institution binnen kurzer Zeit zum Opfer fiel – südlich der Sahara tatsächlich nur sehr wenige Stämme gegeben zu haben, welche die Blutsbrüderschaft nicht kannten15. Ob diese Einrichtung auch der Urbevölkerung Amerikas bekannt war, oder ob sich die wenigen aus diesem Erdteil stammenden Beschreibungen blutsbrüderschaftsähnlicher Verbindungen auf europäischen Einfluß zurückführen lassen, ist eine rein ethnologische Frage16, die ich nicht beantworten kann und deren Lösung für die gegenwärtige Arbeit kaum von Bedeutung wäre.

Eines aber ist auch so gewiß: die Einrichtung der Blutsbrüderschaft findet sich bei so weit voneinander entfernten Völkern wie etwa den Negerstämmen Äquatorialafrikas, indogermanischen Völkern im Norden und Südosten Europas sowie den Eingeborenen Süd- und Ostasiens, Völkern und Stämmen, die im Verlauf ihrer historischen Entwicklung nie miteinander in Berührung gekommen sein können; an eine Ausbreitung der Institution der Blutsbrüderschaft durch Entlehnung (wenngleich eine solche in manchen Fällen gewiß in Betracht gezogen werden muß) von einem der eben genannten Völker zu den übrigen ist bei der oben angedeuteten weltweiten Verbreitung sicherlich nicht zu denken. Ob es sich aber um eine Erbsituation (die dann auf gemeinsame Ahnen der genannten Völker zurückgehen müßte) oder aber um spontane Parallelschöpfungen handelt, wird sich mit den bisher zur Verfügung stehenden Mitteln kaum entscheiden lassen.

Sollte die so überaus weitverbreitete Einrichtung der Blutsbrüderschaft wie z.B. die in ihrer Struktur und Funktion trotz weltweiter Verbreitung verblüffend „ähnlichen“ Initiationsriten nicht vielleicht eher als eine Ausformung dessen angesehen werden können, was Adolf BASTIAN mit dem Begriff Elementargedanke17 zu erfassen versucht hatte: als Ausdruck einer allgemeinmenschlichen Grundvorstellung? BASTIANs Anregungen wurden zu seiner Zeit heftig bekämpft und fielen dann ziemlich rasch der Vergessenheit anheim. Ich halte es jedoch für unzweifelhaft, daß es sich dabei um eine Fragestellung von allergrößter Bedeutsamkeit handelt, die unmittelbar in den Bereich der Problematik der Konstitution der menschlichen Psyche führt. Verständlicherweise kann es nicht das Ziel dieser Arbeit sein, zu einer „Archetypik der menschlichen Psyche“ vorzustoßen. Die folgenden Ausführungen wollen nur Anstoß zu derartigen Überlegungen sein und – soweit dies bei einem solchen Unternehmen möglich ist – dazu ein reichhaltiges und unmittelbares Anschauungsmaterial bieten.

Die Berechtigung solcher Überlegungen wäre allerdings nur dann gegeben, wenn sich tatsächlich zeigen ließe, daß mit dem von der Völkerkunde geschaffenen Begriff wirklich überall „das selbe“ gemeint ist. Worauf beruht aber letzten Endes diese Annahme? Lassen sich denn bei derartigen räumlichen und zeitlichen Unterschieden überhaupt Vergleiche anstellen, und worin besteht die Vergleichbarkeit? Wenn wir die Institution der Blutsbrüderschaft als eine traditionelle rituelle Vermischung des Blutes der Beteiligten mit der Absicht, dadurch eine nahe Verbindung oder ein Bündnis zu stiften oder zu bekräftigen, zu definieren versuchen und alle anderen mit dem menschlichen Blut verknüpften Riten beiseite lassen, dann zeigt sich tatsächlich, daß sich Entsprechungen dieses „Modells“ in den verschiedensten Kulturen wiederfinden. Innerhalb seines Umrisses scheinen sich dem Versuch, die Elemente, aus denen es jeweils besteht, – auch wenn dieselben aus verschieden gearteten Kulturen stammen – miteinander zu vergleichen, keine grundsätzlichen Bedenken entgegenzustellen.

Nun handelt es sich aber bei der gegenwärtigen Arbeit weder um eine völkerkundliche Untersuchung der Blutsbrüderschaft mit der Absicht, eine neue Theorie derselben zu entwickeln, noch um den Versuch, eine umfassende ethnologische „Gesamttypologie“ zu erstellen, sondern um eine Arbeit, in derem Mittelpunkt die germanische Form der Blutsbrüderschaft steht und bei der das völkerkundliche Material nur um seiner Beziehungen zur Germanistik willen herangezogen wird.

Neben der bereits angedeuteten Aufgabe der Beschreibung und Erklärung der nordgermanischen Form der Blutsbrüderschaft ergibt sich als zweite Hauptaufgabe die Beantwortung der Frage, inwieweit die germanische Blutsbrüderschaft als „typisch“ angesehen werden kann: eine Fragestellung, die meines Wissens von germanistischer Seite noch nie systematisch in Angriff genommen worden ist.18 Es wird danach zu fragen sein, welche Merkmale der germanischen Blutsbrüderschaft sich auch bei anderen Völkern wiederfinden, welche sonst bekannten Züge ihr fehlen, aber auch, ob es sich dabei um Wesentliches, nicht Wegzudenkendes oder nur um Äußerlichkeiten handelt. Möglicherweise wird sich dabei zeigen, daß das eine oder andere Merkmal nur den Nordgermanen eigentümlich war, sonst aber nirgendwo wiederkehrt. Das Ergebnis dieses über die skizzierte „innergermanistische“ Fragestellung noch hinausgreifenden Problemkreises müßte in der Feststellung liegen, wieweit und inwiefern spezifisch germanische Form der Blutsbrüderschaft Teil hat an einer über die einzelnen Kulturen hinausgehenden „Ähnlichkeit“ der zu untersuchenden Institution.

„Typische“ Elemente des Verbrüderungsrituals bzw. typische Konsequenzen der Blutsbrüderschaft sind meiner Auffassung nach solche, die die Institution konstituieren, und zwar nur diejenigen, die bei mehreren genetisch nicht näher verwandten und kulturell voneinander nicht beeinflußten Völkern vorkommen.

Allerdings gibt es in diesem Sinne außer den in meinem Definitionsversuch genannten Grundtatsachen der Blutmischung und der Gemeinschaftsstiftung kein einziges Element, das überall vorkommt. Manche sind relativ selten, manche ziemlich häufig. Je häufiger ein Element in sehr verschiedenen Weltgegenden auftritt, desto „typischer“ wird man es wohl nennen dürfen, je mehr sich seine Verbreitung völliger Isoliertheit annähert, desto eher scheint die Bezeichnung „atypisch“ gerechtfertigt.

Spricht man allerdings von einem völkerkundlichen „Typus der Blutsbrüderschaft“ (etwa synonym mit „der Elementargedanke Blutsbrüderschaft“), dann gäbe es in diesem Sinne natürlich überhaupt keine „atypischen“ Elemente: denn alle Elemente, die als Teile der Blutsbrüderschaft auftreten können, wären in diesem Fall typisch. Eine immer vollständigere Sammlung des Materials würde vermutlich in allen Fällen, wo das Problem der Typik zur Entscheidung steht, immer deutlicher klären können, welche Elemente zu den typischen und welche zu den nur zufällig auftretenden in einer solchen um ihre Typik zu befragenden „Gruppe“ von Phänomenen zu rechnen sei.

Entscheidend ist der Standpunkt, den man einnimmt. Vergleicht man die konstituierenden Elemente der Institution in verschiedenen Kulturen nach typologischen Gesichtspunkten, dann werden sich typische (d.h. mehreren genetisch nicht näher verwandten und kulturell voneinander unabhängigen Völkern gemeinsame) Merkmale erkennen lassen. Sehr seltene bzw. vollständig isolierte Elemente sind von einem solchen übergeordneten, global vergleichenden Blickpunkt aus als nicht typisch (als „atypisch“) anzusprechen. Verändert man nun seinen Standpunkt und betrachtet die zu untersuchende Institution aus dem Blickwinkel desjenigen Volkes, dessen Blutsbrüderschaft in einem oder in mehreren konstituierenden Elementen atypisch ist, dann freilich ist eben dieses Abweichen von der allgemeinen Norm gerade für dieses bestimmte Volk wiederum typisch und signifikativ. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß man nur durch einen Wechsel der Blickrichtung zu einer solchen – eben nur scheinbaren – Doppeldeutigkeit gelangt. Durch die Berücksichtigung der verschiedenartigen Blickrichtungen verschwindet dieser scheinbare Widerspruch.

Doch darf man eines nicht außer acht lassen: die Erkenntnis der jeweils für ein bestimmtes Volk oder einen bestimmten Stamm typischen Elemente ist durch die Erkenntnis der (global vergleichend gesehen) atypischen Elemente bedingt. Nur dann, wenn ich erkannt habe, was allgemein betrachtet typisch oder atypisch ist, kann ich zur Konstatierung des jeweils Besonderen, für eine bestimmte Kultur Typischen vordringen. Ohne den ersten Schritt der Feststellung von typischen bzw. nicht typischen Merkmalen ist auch der zweite, die Erkenntnis des für eine bestimmte Kultur Typischen, nicht möglich.

Die Ausgangsbasis für diesen vergleichenden Teil der Arbeit bilden völkerkundliche Beschreibungen. Zweifellos besitzen dieselben recht unterschiedlichen wissenschaftlichen Wert; manche von ihnen stammen von Forschern oder Missionaren, die Jahre oder sogar Jahrzehnte bei ein und demselben Volk gelebt haben, andere wiederum geben nur den oberflächlichen Eindruck wieder, den europäische Reisende, die sich zufälligerweise einmal gezwungen sahen, mit einem Eingeborenenhäuptling Blutsbrüderschaft zu schließen, von dieser Einrichtung gewonnen hatten.

Besonders wichtig jedoch ist es, sich den Umstand vor Augen zu halten, daß alle unsere Berichte von Außenstehenden stammen, wenn auch zum Teil von Außenstehenden, denen die Mittel der modernen Forschung zu Gebote standen. Trotzdem (um nicht zu sagen: gerade deshalb) wird ihren Augen so manches, was sich nicht nach außen hin kundtut, verborgen geblieben sein. Dazu kommt außerdem noch die Tatsache, daß dann, wenn einer der Beteiligten ein Europäer war, bisweilen ein vereinfachtes Ritual verwendet wurde.19 Sicherlich wissen wir dank der ethnologischen Forschung über die Blutsbrüderschaften der sogenannten „primitiven“ Völker besser Bescheid als über dieselben bei längst erloschenen Kulturen wie etwa der heidnisch-nordgermanischen, wo wir ausschließlich auf Rekonstruktionen angewiesen sind. Es darf jedoch keinesfalls übersehen werden, daß auch die völkerkundlichen Untersuchungen unserer Zeit keineswegs frei von Deutungen und Wertungen sind!

II.

BELEGSITUATION

Um eine gesicherte und leicht nachprüfbare Basis für alle weiteren Ausführungen zu schaffen, werden im folgenden diejenigen Stellen, aus denen sich Angaben über die Institution der nordgermanischen Blutsbrüderschaft entnehmen lassen, im originalen Wortlaut wiedergegeben.

Daran anschließend sollen die wesentlichen Elemente der einzelnen Belegstellen in Form von Tabellen zusammengestellt werden. Dies scheint insbesondere deshalb angebracht, weil sich manche der Abschnitte, die sich auf die Blutsbrüderschaft beziehen, naturgemäß ziemlich ähnlich sind, die wirklich gesicherten Elemente aber doch von Fall zu Fall variieren. Allerdings werden die Tabellen nur diejenigen Merkmale erfassen können, die an den betreffenden Stellen expressis verbis erwähnt werden und sie werden dementsprechend auch lediglich eine praktische Hilfe zu einer synoptischen Betrachtung der konstituierenden Elemente sein.

Weiters soll eine Situierung der einzelnen Belege den Stellenwert der Episode im Rahmen des Erzählgeschehens, dem sie entnommen ist, in Erinnerung rufen.

Zuerst sollen nur diejenigen Stellen angeführt werden, in denen tatsächlich von einer Vermischung des Blutes zwischen den sich Verbrüdernden gesprochen wird oder in denen zumindest auf eine solche angespielt ist. Wie aber bereits in der Einleitung angedeutet wurde20, ist es praktisch unmöglich, diejenigen Stellen, die tatsächlich von einer Blutmischung sprechen, von solchen, die offenbar dieselbe Institution meinen, ohne aber eindeutige Hinweise auf das Ritual zu geben, abzugrenzen. Es wäre gewiß verfehlt, diejenigen Stellen, in denen die Blutmischung expressis verbis erwähnt wird, von solchen, welche die Annahme zulassen, daß es sich um dieselbe Institution gehandelt haben muß, zu trennen. Wie verfehlt eine solche Trennung wäre, zeigt sich unter anderem darin, daß der Terminus „fóstbrœðralag“ weit über die Grenzen der durch Blutmischung geschlossenen Brüderschaft hinausgeht21: diejenigen Stellen, welche die Institution nicht nur umschreiben, sondern sie auch beim Namen nennen, verwenden durchwegs den Ausdruck „fóstbrœðralag“22. Andererseits konnte ein fóstbrœðralag z.B. nach Ausweis der Egils saga einhenda ok Ásmundar berserkjabana (Kap. IV)23 durch gegenseitigen Handschlag geschlossen werden: in einem solchen Fall ist wohl kaum an eine Blutmischung zu denken.

Es sollen daher im weiteren auch diejenigen Stellen mit in die Arbeit einbezogen werden, die den Schluß zulassen, daß den erwähnten Handlungen oder Konsequenzen ebenfalls die Institution des fóstbrœðralag zugrunde gelegen sein muß. Dies kann jedoch im Rahmen der gegenwärtigen Arbeit nur dann sinnvoll sein, wenn aus ihnen mehr zu entnehmen ist als bloß die Erwähnung der Tatsache, daß zwei oder mehr Personen eine „Brüderschaft“ geschlossen hätten, d.h., wenn sich in ihnen Angaben über das Verbrüderungsritual bzw. etwaige Konsequenzen finden. Bloße Erwähnungen der Institution, aus denen sich nichts weiter als ein Hinweis auf ihre Existenz entnehmen läßt, sind zwar insoferne aufschlußreich, als sie beim Leser oder Zuhörer die Bekanntschaft mit einer institutionalisierten Verbrüderungsart offenbar voraussetzen, indem sie nichts erklären oder veranschaulichen, sie sind aber für die gegenwärtige Arbeit, die sowohl eine deskriptive Darstellung als auch eine Deutung der nordgermanischen Blutsbrüderschaft anstrebt, völlig unergiebig und werden dementsprechend auch nicht als Belege gewertet.

A) DIE GERMANISCHEN BELEGE FÜR BLUTSBRÜDERSCHAFT

1. Lokasenna, Strophe 9

In der neunten Strophe der Lokasenna findet sich eine deutliche Anspielung auf die Einrichtung der Blutsbrüderschaft.

Loki betritt den Saal der Götter. Alle verstummen bei seinem Erscheinen. Bragi macht Loki darauf aufmerksam, daß er von niemandem zum Gelage der Götter geladen worden sei. Daraufhin wendet sich Loki an Odin und fordert ihn auf, sich zu besinnen, daß er mit ihm in der Urzeit sein Blut vermischt habe:

Mantu Þat, Óðinn, er við í árdaga

blendom blóði saman;

ölvi bergia léztu eigi mundo,

nema ocr væri báðom borit.24

Diese Aufforderung hat zur Folge, daß Odin seinem Sohn Widar befiehlt, Loki Bier einzuschenken. Loki beginnt sogleich mit seinen Zankreden.

Sehr viel ist dieser Stelle nicht zu entnehmen: wir erfahren nur, daß Odin und Loki die Beteiligten waren, daß die beiden ihr Blut vermischt haben (við… blendom blóði saman), daß das erwähnte Bündnis „in alten Tagen“ (í árdaga) geschlossen worden war, und daß, wohl einer dem und inhärenten Konsequenz zufolge, der eine fortan dem anderen die Tischgemeinschaft nicht versagen dürfe.

Die Umstände, unter denen die Verbindung zustande gekommen war, bleiben genauso im Dunkeln wie die Absicht und Zielsetzung, die dem Bund innewohnten. Auch darüber, wie die Blutsbrüderschaft geschlossen worden war, erfahren wir nichts; die Frage, mit welchem Ritual in diesem Fall zu rechnen sei, ist nicht zu beantworten.

2. Brot af Sigurðarkviðu

Bedeutsamer und auch um vieles aufschlußreicher ist der Hinweis auf die Blutsbrüderschaft, die Sigurd mit Gunnar (und Högni) nach seiner Ankunft am Hofe der Gjukungen geschlossen hatte: davon berichtet das Alte Sigurdlied. Die entsprechenden Stellen der Völsunga saga und der Snorra Edda bestätigen die Erzählung des Alten Sigurdliedes.

Brünhild hat Gunnar dazu gebracht, Sigurd zu töten. Auf dem Heimweg verkündet ein Rabe den Mördern: „’Ycr mun Atli eggiar rioðá, muno vígscá of viða eiðar’“ – „an euch wird Atli Eisen röten, der Meineid wird die Mörder fällen.“25 Der Bruch der Blutsbrüderschaft, der Mord am Blutsbruder, ist in der nordischen Nibelungendichtung zum zentralen Motiv geworden, das den tragischen Untergang der Burgunden auslöst und bedingt.

Das Eddalied erzählt dann weiter (Str. 14 ff.), wie Brünhild früh am Morgen erwacht und den Männern weinend ihren schrecklichen Traum verkündet, in dem sie den Untergang der Nibelungen vorausgesehen hat: der Meineid, d.h. die Ermordung des Blutsbruders, ist Ausgangspunkt der Katastrophe. Anklagend wendet sich Brünhild nach geschehener Tat an Gunnar (Str. 16-18):

Hugða ec mér, Gunnar, grimt í svefni,

svalt alt í sal, ættac sæing kalda;

enn Þu, gramr, riðir glaums andvani,

fiötri fatlaðr í fíanda lið.

Svá mun öll yðor ætt Niflunga

afli gengin: eroð eiðrofa.

Mantattu, Gunnar, til gorva Þat,

er Þit blóði i spor baðir rendot;

nú hefir Þu hánom Þat alt illo launat,

er hann fremstan sic finna vildi.

Þá reyndi Þat, ęr riðit hafði

móðigr á vit mín at biðia,

hvé herglötuðr hafði fyrri

eiðom haldit við inn unga gram.26

Über die Umstände und das Ziel der Verbrüderung erfahren wir aus dieser Stelle nichts: es geht aus ihr nur hervor, daß die Blutmischung mit Eiden verbunden war. Die Völsunga saga und die Snorra Edda sind in dieser Hinsicht ausführlicher. Im Gegensatz zur Lokasenna wird hier jedoch eine überaus bedeutsame Einzelheit erwähnt: die Helden haben nämlich zum Zweck der Verbrüderung ihr Blut in die Spur träufeln lassen („Þit blóði i spor baðir rendot“).

Direkte Folgen des Verhältnisses, das hier genauso wie in der Lokasenna nur umschrieben und nicht mit einem bestimmten Begriff bezeichnet wird, werden keine genannt; der Bruch der Blutsbrüderschaft erscheint jedoch als eine zutiefst verwerfliche Handlung, woraus sich die Unverletzlichkeit und Heiligkeit erahnen lassen, die der Blutsbrüderschaft normalerweise eigen waren.

2 a) Völsunga saga

Während im fragmentarischen Alten Sigurdlied nur rückblickend auf die Blutsbrüderschaft angespielt wird, der Bericht von ihrem Abschluß jedoch dem verlorengegangenen Teil des Liedes angehört hat, macht die Völsunga saga auch eine Situierung des Zeitpunktes und der näheren Umstände dieses Ereignisses möglich:

Gunnar versucht, Sigurd mit allen nur möglichen Mitteln an seinem Königshof zu halten.

Gunnar sagte: ‚Alles wollen wir dazu tun, daß du lange hier bleibst; beides, unser Reich und unsere Schwester bieten wir dir an; kein andrer würde sie bekommen, wenn er auch um sie bäte.‘

Sigurd antwortete: ‚Habt Dank für eure Auszeichnung! Ich will es annehmen.‘27

Nun schwören sie einander Blutsbrüderschaft:

Þeir sveriazt nu i brędralagh, sem Þeir se sambornir brędr.28

Im Zusammenhang mit dem geplanten Verrat an Sigurd wird mehrmals auf das zwischen ihm und Gunnar bestehende Bruderschaftsverhältnis angespielt. Als Brünhild ihren Gemahl auffordert, Sigurd zu töten, ist Gunnar zutiefst bekümmert:

Gunnar vard nu miok hugsiukr ok Þottiz eigi vita,

hvat hellzt la til, allz hann var i eidum vid Sigurd…29

Darauf wendet sich Gunnar an Högni um Rat. Dieser tritt ganz entschieden gegen einen Bruch der Blutsbrüderschaft ein:

Ecki samir ockr sęrinn at riufa med ufridi.30

So verfällt Gunnar auf den Gedanken, Gutthorm, der an der Blutmischung nicht teilgenommen hatte und der demzufolge trotz seiner nahen Verwandtschaft für nicht gebunden gilt, zum Mord an Sigurd anzustiften:

Eggium til Gutthorm rodur ockarnn. Hann er ungr ok fas vitande ok fyrir utan alla eida.31

Nach der Schilderung des Bettmordes folgt wiederum Brünhilds Traum, dem Inhalt nach mit der Strophe 17 des Alten Sigurdliedes identisch. Brünhild schildert Gunnar, was sie im Traum vorausgesehen hat:

Þat dreymde mic, Gunnar, at ek atta kalda sęng, enn Þu ridr i hendr uvinum Þinum ok aull ętt ydr man illa fara, er Þer erut eidrofa, ok mundir Þu at uglaukt er Þit blaundudut blode saman Sigurdr ok Þu, er Þu rett hann, ok hefir Þu honum allt illu launad Þat, …32

Erst an dieser Stelle wird unmißverständlich gesagt, auf welche Weise das „broeðralag“, von dessen Eingehung in Kap. 28 berichtet worden war, geschlossen wurde: durch das Vermischen des Blutes der Beteiligten (Þit blaundudut blode saman). Dies ist übrigens ganz genau dieselbe umschreibende Wendung wie in der Lokasenna (við… blendom blóði saman). Jan DE VRIES hat darauf hingewiesen33, daß Loki den Satz, mit dem er Odin an ihren Blutbund erinnert, mit den Worten „Mantu Þat, Óðinn…“ beginnt, Brünhild im Alten Sigurdlied Gunnar mit den gleichen Worten („Mantattu, Gunnar…“) auf sein Blutsbruderverhältnis mit Sigurd verweist, und daraus den Schluß auf einen literarischen Zusammenhang der beiden Stellen gezogen. Vielleicht war im verlorenen Teil des Alten Sigurdliedes die Blutsbrüderschaftsschließung ebenfalls mit dem Ausdruck „Blut zusammenmischen“ umschrieben worden und hatte der Dichter der Lokasenna diese Worte ebenso wie die erwähnte Anredeformel aus dem – ihm noch zur Gänze bekannten – Alten Sigurdlied übernommen.

Daß die Beteiligten ihr Blut in der Fußspur vermischten, wird von der Völsunga saga im Gegensatz zum Alten Sigurdlied nicht erwähnt. Auch sonst finden sich in ihr keine Angaben über das Ritual: „Blut zusammenmischen“ steht hier für die gesamte Institution mit allem, was sie umfaßte – und offenbar genügte dies den Zuhörern. Die Einrichtung der Blutsbrüderschaft war ihnen also nichts Fremdes, über das der Dichter sie erst hätte belehren müssen.

Die Völsunga saga ist andererseits aber auch wieder ausführlicher als das Alte Sigurdlied, indem sie besonders hervorhebt, welcher Art das Verhältnis zwischen den Blutsbrüdern war, nämlich so, „als wenn sie von der selben Mutter geboren wären“ („sem Þeir se sambornir brędr“).

Besonders ist zu bemerken, daß hier häufig das Wort „eiÞr“ im Zusammenhang mit der Blutsbrüderschaft verwendet wird: Gunnar ist mit Sigurd durch Eide verbunden, („hann var i eidum vid Sigurd“), Gutthorm dagegen steht außerhalb aller Eide („fyrir utan alla eida“) und dann heißt es, daß Gunnar und Högni durch ihr Verbrechen an Sigurd eidbrüchig geworden sind („Þer erut eidrofa“)34.

2 b) Snorra Edda

Außer im Alten Sigurdlied und der Völsunga saga wird das Blutsbrüderverhältnis Sigurds mit Gunnar und Högni auch noch in der Jüngeren Edda erwähnt, und zwar im Skáldskaparmál, Kap. 39 und 41 f. Die beiden Stellen der Snorra Edda, die sich darauf beziehen, bringen allerdings keine ergänzenden Angaben über das Ritual und die Natur des Bundes; aus ihnen ist viel weniger zu entnehmen als aus dem Alten Sigurdlied und der Völsunga saga. Die Angaben der Snorra Edda können nur als Bestätigung des dort Gesagten angesehen werden.

Nachdem Sigurd lange Zeit am Hofe der Burgunden verbracht hat, schwört er mit Gunnar und Högni Brudereide:

Sigurðr reið Þadan ok kom til Þess konungs, er Gjúki hét:

konar hans er nefnd Grímhildr; brn Þeira varu Þau

Gunnarr, Hgni, Guðrún, Guðny; Gutthorm var stjúpson Gjúka.

Þar dvalðisk Sigurðr langa hrið; Þá fekk hann Gurúnar Gjúkadóttur,

en Gunnar ok Hgni sórusk í brœðralag við Sigurð.35

Im Zusammenhang mit der Ermordung Sigurds wird das zwischen ihm und seinen Schwägern bestehende Bruderschaftsverhältnis noch einmal erwähnt, und zwar als direkter Grund dafür, daß Gutthorm die Tat ausführt:

Eptir Þat eggjaði hon Gunnar ok Hgna at drepa Sigurð,

en fyrir Því at Þeir váru eiðsvarar Sigurðar, Þá eggjuðu

Þeir til Gotthorm, bróður sinn, at drepa Sigurð; hann

lagði Sigurð sverði í gógnum sofanda, en er hann fekk sárit,

Þá kastaði hann sverðinu Gram eptir honum, svá at sundr

sneið í miðju mannin; Þar fell Sigurðr ok sonr hans

Þrévetr, er Sigmundr hét, er Þeir drápu.36

Genau mit dem gleichen Ausdruck wie in der Völsunga saga wird auch in der Jüngeren Edda gesagt, daß Gunnar und Högni mit Sigurd „Brüderschaft geschworen“ hätten („Þeir sveriazt nu i brędralag“, bzw. „… sórusk í brœðralag“). Das ist aber auch alles, was wir aus der Jüngeren Edda über dieses Verhältnis erfahren, denn es wird weder erwähnt, daß die Verbrüderung durch eine Blutmischung erfolgte, noch, daß das Blut in der Fußspur vermischt wurde.

Durch die Verbrüderung sind Gunnar und Högni zu „Eidbrüdern“ Sigurds geworden („Þeir váru eiðsvarar Sigurðar“). Auch hier findet sich die gleiche Ausdrucksweise vom „Schwören“ („sveria“) der Brüderschaft und das dadurch entstehende Verhältnis wird durch „eiÞr“ gestiftet.

Der in mehreren Varianten überlieferte Beleg von der Blutsbrüderschaft Sigurds mit Gunnar und Högni ist trotz des Fehlens einer detaillierten Beschreibung einer der wertvollsten, die wir für diese Institution aus dem Nordgermanischen besitzen.

3. Gísla saga Súrssonar

Der ausführlichste und zugleich auch bei weitem aufschlußreichste Bericht über den Abschluß einer Blutsbrüderschaft zwischen heidnischen Isländern findet sich in der Gísla saga Súrssonar, einer Isländersaga, die wohl im 12. Jh. gestaltet wurde und deren erhaltene Fassung eine Neubearbeitung des 13. Jh. ist37. Die Stelle im 6. Kapitel, in welcher der Abschluß der Blutsbrüderschaft zwischen den Habichtstalern auf dem Valseyrarthing beschrieben wird, wurde von Finnur JÓNSSON als der locus classicus für diesen eigentümlichen Brauch bezeichnet38.

Die Habichtstaler (Gísli, Þorgrímr, Þorkell und Vésteinn) benehmen sich auf dem Thing höchst übermütig. Während die anderen an den Verhandlungen teilnehmen, sitzen sie in der Hütte und trinken Bier. Es entsteht bei den anderen ein Gerede über ihren Übermut, und der weise Gest prophezeit, daß sie, „wenn der dritte Sommer kommt“, schon nicht mehr so einmütig sein werden wie jetzt. Die Habichtstaler erfahren von dieser Prophezeiung, und aus Trotz, um ihre Erfüllung zu verhindern, schließen sie Blutsbrüderschaft.

Gísli svarar: ‚Hér mun han mælt mál talat hafa; en vörumz

ver, at eigi verði hann sannspár; enda sé ek gott ráð til

Þessa, at vér bindum várt vinfengi með meirum fastmælum en

áðr, ok sverjumz í fóstbrœðralag fjórir.‘

En Þeim sýniz Þetta ráðligt. Ganga nú út í eyrarodda, ok

rísta Þar upp ór jörðu jarðarmen, svá at báðir endar váru

fastir í jörðu, ok settu Þar undir málaspjót, Þat er maðr

mátti taka hendi sinni til geirnagla. Þeir skyldu Þar fjórir

undir ganga, Þorgrímr, Gísli, Þorkell ok Vésteinn; ok nú

vekja Þeir sér blóð ok láta renna saman dreyra sinn i Þeiri

moldu, er upp var skorin undan jarðarmeninu, ok hrœra saman

allt, moldina ok blóðit. En síðan fellu Þeir allir á kné,

ok sverja Þann eið, at hverr skal annars hefna sem bróður

síns, ok nefna öll goðin í vitni.39

Unmittelbar nach dem Abschluß der Blutsbrüderschaft beginnen jedoch schon die Unstimmigkeiten, als Þorgrímr erklärt, daß er Vésteinn gegenüber keine Verpflichtungen haben wolle. So geht Gests Prophezeiung rascher in Erfüllung, als irgendjemand gedacht hätte.

Die Eingehung der Blutsbrüderschaft ist also kein bloßes Motiv, sondern ihr kommt eine zentrale Funktion im Rahmen der Gesamtkonzeption der Saga zu. In dieser Hinsicht steht die Gísla saga den nordischen Dichtungen von Sigurds Tod sehr nahe. Es wurde deshalb ein Einfluß der Nibelungendichtung, die „für den Aufbau der Saga bestimmend“ gewesen sei, in Betracht gezogen40; de VRIES weist darauf hin, daß „das Streitgespräch der Schwägerinnen Auðr und Asgerðr in der dyngja wie in der senna von Guðrún und

Brynhildr den Anlaß zu den tragischen Verwicklungen zwischen den durch Blutsbrüderschaft Verwandten“ bildet41. Doch müßte, falls hier wirklich ein literarischer Zusammenhang bestehen sollte, die Schilderung des Rituals, das die Saga gibt, dadurch nicht entwertet werden.

Die Gísla saga übertrifft alle anderen Belege durch die Ausführlichkeit, mit der im 6. Kapitel das Ritual der Verbrüderung beschrieben wird. Die Zeremonie des „ganga undir jarðarmen“ wird hier ganz eindeutig als ein Element des Verbrüderungsrituals ausgewiesen. Die Zeremonie wird sehr eingehend beschrieben: ein Rasenstreifen („jarðarmen“) wird aus der Erde geschnitten, jedoch so, daß beide Enden mit dem Boden verbunden bleiben („svá at báðir endar váru fastir í jrðu“); unter diesen wird ein Runenspeer („málaspjót“) gestellt, der so lang ist, daß ein stehender Mann die Schaftnägel mit der Hand erreichen kann. Unter diesen Rasenstreifen treten die Beteiligten – im geschilderten Fall sind es vier Männer – und „wecken“ sich das Blut („vekja Þeir sér blóð“). Dieses lassen sie in die unter dem jarðarmen befindliche Erde fließen („láta renna saman dreyra sinn i Þeiri moldu, er upp var skorin undan jarðarmeninu“); darauf wird es mit der Erde vermengt („… ok hrœra saman allt, moldina ok blóðit“). Dann schwören sie kniend einen Eid („ok sverja Þann eið“), einander wie leibliche Brüder zu rächen („hverr skal annars hefna sem bróður síns“) und rufen dazu alle Götter als Zeugen an („nefna ll goðin í vitni“).

Wie im Alten Sigurdlied lassen die sich Verbrüdernden auch hier ihr Blut aus dem Erdboden zusammenfließen; davon jedoch, daß die Vermischung in den Fußspuren der Beteiligten erfolgte, steht in der Gísla saga nichts. Ist das in ihr geschilderte Ritual von dem im Alten Sigurdlied erwähnten grundsätzlich verschieden?42 Dies ist eine der schwierigsten Fragen im Zusammenhang mit der Form des Rituals der germanischen Blutsbrüderschaft; von ihrer Beantwortung hängt ja die Gesamtvorstellung, die wir uns vom altnordischen fóstbrœðralag machen, weitgehend ab.

Auch die Absicht, mit der die Blutsbrüderschaft in diesem speziellen Fall geschlossen wird, wird in der Gísla saga eindeutig ausgesprochen: aus Trotz gegen ein prophezeites Schicksalsverhängnis („at eigi verði hann sannspár“) beschließen vier – teilweise sogar miteinander verwandte – Männer, ihre Freundschaft noch fester und enger zu machen als bisher („at vér bindum várt vinfengi með meirum fastmælum en áðr“); sie tun dies, indem sie Blutsbrüderschaft schließen.

Die einzige Konsequenz, die in der Gísla saga erwähnt wird, ist die gegenseitige Rachepflicht. Der eine ist verpflichtet, den anderen wie seinen Bruder zu rächen („hverr skal annars hefna sem bróður síns“).

Von ganz besonderer Bedeutung ist die Tatsache, daß diese Stelle zugleich mit einer detaillierten Beschreibung einer „echten“ Blutsbrüderschaft auch den Terminus erwähnt, mit dem im Altnordischen diese Institution bezeichnet wurde, nämlich „fóstbrœðralag“.

4. Saxo Grammaticus: Gesta Danorum

In den Gesta Danorum finden sich mehrere Erwähnungen „künstlicher“ Brüderschaften43, nur an einer einzigen Stelle wird jedoch expressis verbis gesagt, daß die Brüderschaft durch das Vermischen des Blutes begründet wurde. Dies ist vielleicht dadurch zu erklären, daß SAXO es bei der ersten Erwähnung der Institution für nötig erachtet hatte, etwas genauer darauf einzugehen (er unterstreicht ja auch besonders, daß es sich um einen Brauch vergangener Zeiten handelt), dies aber in allen weiteren Fällen verständlicherweise nicht mehr nötig war. Vermutlich ist bei einigen der in anderen Büchern seiner Gesta Danorum erwähnten Brüderschaften jedoch keine Verbrüderung durch Blutmischung gemeint, sondern es können „Eidbrüderschaften“ oder „Schwurbruderschaften“ ohne Blutritual gemeint sein.44

Im 1. Buch der Gesta Danorum wird erzählt, wie der jugendliche Hadding, nachdem er seine Pflegemutter verloren hat, Odin begegnet. Odin bedauert ihn ob seiner Einsamkeit und stiftet zwischen Hadding und einem Wikinger namens Liser Blutsbrüderschaft:

Spoliatum nutrice Hadingum grandævus forte quidam, altero orbus oculo, solitarium miseratus Lisero cuidam piratæ solemni pactionis iure conciliat. Siquidem icturi fœdus veteres vestigia sua mutui sanguinis aspersione perfundere consueverant, amicitiarum pignus alterni cruoris commercio firmaturi. Quo pacto Liserus et Hadingus artissimis societatis vinculis colligati Lokero, Curetum tyranno, bellum denuntiant.45

Die Absicht, mit der die Brüderschaft geschlossen wird, besteht also in der Schaffung eines besonders engen Freundschaftsbundes („amicitiarum pignus… firmaturi“). Die Blutsbrüder sind „artissimis societatis vinculis colligati“.

Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, daß hier Odin selbst als Stifter der Blutsbrüderschaft genannt wird („grandævus forte quidam, altero orbus oculo“).

Ähnlich wie im Alten Sigurdlied wird auch hier erwähnt, daß das Blut der Beteiligten in die „Spuren“ vergossen wurde („vestigia sua mutui sanguinis aspersione perfundere“). Der beiderseitige Charakter dieses „Bluttausches“ wird besonders hervorgehoben („mutui sanguinis aspersione“ – „alterni cruoris commercio“).

Ebenso wie im Alten Sigurdlied wird auch hier nichts davon erwähnt, daß die Blutmischung unter einem „jarðarmen“ stattgefunden habe.

SAXO bezeichnet das Verhältnis zwischen den Blutsbrüdern mit dem Ausdruck „fœdus“: der juristische Aspekt ist ihm offenbar wichtig, denn die Blutsbrüderschaft wird unmißverständlich als ein besonders feierlicher Rechtsvertrag definiert („solemni pactionis ius“).

Besonders in den Fornaldarsögur ist sehr häufig von „fóstbrœðr“ und der Institution des „fóstbrœðralag“ die Rede; nur zweimal jedoch wird erwähnt, daß das fóstbrœðralag durch Blutmischung geschlossen wurde.46

5. Egils saga einhenda ok Ásmundar berserkjabana

Ásmundr berserkjabani erzählt sein Leben: nach dem Bericht von Kindheit und Jugend schildert er, wie er sich einmal auf der Jagd verirrte und dabei mit Árán von Tattaríá zusammentraf. Nachdem sie beide miteinander gekämpft hatten, schwören sie sich Blutsbrüderschaft:

Þá talaði Árán til Ásmundar: ‚Ekki skulu vit vapnaskipti

prófa, Því Þat verðr skaði okkar beggja. Vil ek, at vit

sverjumz í fóstbrœðralag; at hvárr skal annars hefna, ok

eiga fé saman, fengit ok ófengit.‘ Þat fylgði ok svardaga

Þeirra, at hvárr sem lengr lifði, skyldi láta verpa haug

etir annan, ok láta Þar í svá mikit fé, sem Þeim pætti

sóma. Sian skal sá, sem lengr lifir, sitja hjá enum dauða

III nætr í haugi, ok fara síðan burt, ef hann vildi.

Voktu sér síðan blóð, ok létu renna saman; heldu

menn Þat Þá eiða.47

Der Vorschlag, Blutsbrüderschaft zu schließen, geht von Árán aus („vil ek, at vit sverjumz í fóstbrœðralag“). uch hier wird die Eingehung des Bundes mit der Wendung „sveria í fóstbrœðralag“ bezeichnet.

Über das Ritual wird nur gesagt, daß sie sich „das Blut weckten“ und es zusammenfließen ließen („voktu sér síðan blóð, ok létu renna saman“). Weder die Fußspuren noch das jarðarmen werden erwähnt. Mit diesen Worten war die Blutmischung schon in der bedeutend älteren Gísla saga beschrieben worden („… ok nú vekja Þeir sér blóð ok láta renna saman“). Dies könnte auf eine literarische Übernahme deuten.

Anders verhält es sich bei den Konsequenzen, die aus der Blutsbrüderschaft entspringen. Hier ist die Egils saga einhenda bei weitem ausführlicher als die Gísla saga: neben der Rachepflicht („hvárr skal annars hefna“) erwähnt sie außerdem, daß den Blutsbrüdern ihr Besitz gemeinsam gehören soll, und zwar nicht nur all das, was sie derzeit ihr Eigentum nennen, sondern auch alles, was sie erst in Zukunft erwerben werden („eiga fé saman, fengit ok ófengit“). Darüber hinaus soll der Überlebende für den Verstorbenen den Grabhügel aufwerfen lassen und ihm so viele Grabbeigaben mitgeben, als ihm geziemend erscheint („hvárr sem lengr lifði, skyldi láta verpa haug eptir annan, ok láta Þar í svá mikit fé, sem Þeim pætti sóma“) und endlich ist der Überlebende verpflichtet, drei Nächte bei seinem toten Blutsbruder im Grabhügel zu verbringen; dann kann er fortgehen, wenn er dies will („skal sá, sem lengr lifir, sitja hjá enum dauða III nætr í haugi, ok fara síðan burt, ef hann vildi“).