Die Geschichte der getrennten Wege - Elena Ferrante - E-Book

Die Geschichte der getrennten Wege E-Book

Elena Ferrante

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Beschreibung

Das letzte Mal habe ich Lila vor fünf Jahren gesehen. Wir schlenderten früh am Morgen unsere Straße, den Stradone, entlang, und wie nun schon seit Jahren gelang es uns nicht, uns miteinander wohlzufühlen.

Elena und Lila sind inzwischen erwachsene Frauen. Lila hat einen Sohn bekommen und sich von allem befreit, von der Ehe, von ihrem neuen Namen, vom Wohlstand. Sie hat ihrem alten Viertel den Rücken gekehrt, arbeitet unter entwürdigenden Bedingungen in einer Wurstfabrik und befindet sich unversehens im Zentrum politischer Tumulte. Elena hat Neapel ganz verlassen, das Studium beendet und ihren ersten Roman veröffentlicht. Als sie in eine angesehene norditalienische Familie einheiratet und ihrerseits ein Kind bekommt, hält sie ihren gesellschaftlichen Aufstieg für vollendet. Doch schon bald muss sie feststellen, dass sie ständig an Grenzen gerät.

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Seitenzahl: 675

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Elena und Lila sind inzwischen erwachsene Frauen. Lila hat einen Sohn bekommen und sich von allem befreit, von der Ehe, von ihrem neuen Namen, vom Wohlstand. Sie hat ihrem alten Viertel den Rücken gekehrt, arbeitet unter entwürdigenden Bedingungen in einer Wurstfabrik und befindet sich unversehens im Zentrum politischer Tumulte. Elena hat Neapel ganz verlassen, das Studium beendet und ihren ersten Roman veröffentlicht. Als sie in eine angesehene norditalienische Familie einheiratet und ihrerseits ein Kind bekommt, hält sie Ihren gesellschaftlichen Aufstieg für vollendet. Doch schon bald muss sie feststellen, dass sie ständig an Grenzen gerät.

Elena Ferrante hat sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahr 1992 für die Anonymität entschieden. Ihre vierbändige Neapolitanische Saga besteht aus Meine geniale Freundin, Die Geschichte eines neuen Namens, Die Geschichte der getrennten Wege und Die Geschichte des verlorenen Kindes. Diese Bücher erscheinen in 50 Ländern und haben sich millionenfach verkauft.

Karin Krieger übersetzt aus dem Italienischen und Französischen, darunter Bücher von Claudio Magris, Anna Banti, Armando Massarenti, Margaret Mazzantini, Ugo Riccarelli, Andrea Camilleri, Alessandro Baricco und Giorgio Fontana. Sie war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds und erhielt 2011 den Hieronymusring.

Im Februar 2018 erscheint:

Elena Ferrante

Die Geschichte der getrennten Wege

Erwachsenenjahre

Band 3 der Neapolitanischen Saga

Roman

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Storia di chi fugge e di chi resta bei Edizioni e/o, Rom.

Dieses Buch ist dank einer Übersetzungsförderung seitens des Italienischen Außenministeriums und der Cooperazione Internazionale Italiana erschienen.

Die Personen und die Handlung des vorliegenden Werkes sowie alle darin enthaltenen Namen und Dialoge sind erfunden und Ausdruck der künstlerischen Freiheit der Autorin. Jede Ähnlichkeit mit realen Begebenheiten, Personen, Namen und Orten wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt. Auch die Erwähnung real existierender Institutionen, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher unterliegt der rein fiktionalen Gestaltung des Werkes.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2017.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017

© 2013 by Edizioni e/o

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Die handelnden Personen und was in den vorhergehenden Bänden geschah

Familie Cerullo (die Familie des Schuhmachers)

Fernando Cerullo, Schuster, Lilas Vater. Er erlaubte seiner Tochter nach der Grundschule keinen weiteren Schulbesuch.

Nunzia Cerullo, Lilas Mutter. Sie steht ihrer Tochter zwar nahe, hat aber nicht genügend Autorität, um sich für Lila gegen ihren Mann durchzusetzen.

Ihre Kinder:

Raffaella Cerullo, genannt Lina oder Lila, ist im August 1944 geboren. Mit sechsundsechzig Jahren verschwindet sie spurlos aus Neapel. Sie ist eine hervorragende Schülerin und schreibt im Alter von zehn Jahren die Erzählung Die blaue Fee. Nach Abschluss der Grundschule erlernt sie das Schuhmacherhandwerk. Sehr jung heiratet sie Stefano Carracci und führt erfolgreich zunächst die Salumeria im neuen Viertel und später das Schuhgeschäft an der Piazza dei Martiri. Während eines Ferienaufenthalts auf Ischia verliebt sie sich in Nino Sarratore und verlässt seinetwegen ihren Ehemann. Nach dem Scheitern der wilden Ehe mit Nino und nach der Geburt ihres Sohnes Gennaro verlässt Lila Stefano endgültig, als sie erfährt, dass Ada Cappuccio ein Kind von ihm erwartet. Sie zieht mit Enzo Scanno nach San Giovanni a Teduccio und nimmt eine Arbeit in der Wurstfabrik von Bruno Soccavo an.

Rino Cerullo, Lilas großer Bruder, ebenfalls Schuhmacher. Auf Lilas Anregung und mit dem Geld von Stefano Carracci gründet er gemeinsam mit seinem Vater Fernando die Schuhmacherei Cerullo. Er ist mit Stefanos Schwester Pinuccia Carracci verheiratet, ihr gemeinsamer Sohn heißt Ferdinando, genannt Dino. Lilas erstes Kind wird den Namen ihres Bruders – Rino – tragen.

Weitere Kinder

Familie Greco (die Familie des Pförtners)

Elena Greco, genannt Lenuccia oder Lenù, ist im August 1944 geboren und die Autorin der langen Geschichte, die wir hier lesen. Elena beginnt sie zu schreiben, als sie erfährt, dass Lina Cerullo, ihre Freundin seit Kindertagen, die nur von ihr Lila genannt wird, verschwunden ist. Nach der Grundschule geht Elena mit wachsendem Erfolg weiter zur Schule. Dank ihrer guten Leistungen und der Protektion durch ihre Lehrerin, Professoressa Galiani, übersteht sie auf dem Gymnasium unbeschadet eine Auseinandersetzung mit dem Religionslehrer über die Rolle des Heiligen Geistes. Ermuntert durch Nino Sarratore, in den sie seit ihrer Kindheit heimlich verliebt ist, und mit Lilas wertvoller Hilfe wird sie einen Artikel über diesen Streit schreiben, der aber von der Zeitschrift, für die Nino arbeitet, am Ende doch nicht veröffentlicht wird. Elenas brillante schulische Laufbahn wird zum einen mit einem Diplom der Scuola Normale gekrönt, einer Eliteuniversität in Pisa, wo sie Pietro Airota kennenlernt und sich mit ihm verlobt, und zum anderen mit einem Roman, in dem sie das Leben im Rione und ihre Jugenderlebnisse auf Ischia verarbeitet.

Peppe, Gianni und Elisa, Elenas jüngere Geschwister

Der Vater ist Pförtner in der Stadtverwaltung.

Die Mutter ist Hausfrau. Ihr Hinken ist für Elena eine große Belastung.

Familie Carracci (die Familie von Don Achille)

Don Achille Carracci, der Unhold aus den Märchen, Schwarzhändler und Halsabschneider. Er wurde ermordet.

Maria Carracci, seine Frau. Sie arbeitet in der familieneigenen Salumeria.

Ihre Kinder:

Stefano Carracci, Lilas Ehemann. Er verwaltet das von seinem Vater angehäufte Vermögen und wird mit der Zeit ein erfolgreicher Geschäftsmann, dank der zwei gut gehenden Salumerias und des Schuhgeschäfts an der Piazza dei Martiri, das er gemeinsam mit den Solara-Brüdern eröffnet hat. Unzufrieden in der turbulenten Ehe mit Lila, beginnt er eine Affäre mit Ada Cappuccio, mit der er zusammenzieht, als sie schwanger wird und Lila nach San Giovanni a Teduccio geht.

Pinuccia Carracci, sie arbeitet zunächst in der familieneigenen Salumeria und später im Schuhgeschäft. Sie ist mit Lilas Bruder Rino verheiratet und hat einen Sohn mit ihm, Ferdinando, genannt Dino.

Alfonso Carracci, er ist Elenas Banknachbar auf dem Gymnasium und mit Marisa Sarratore liiert. Er wird das Schuhgeschäft an der Piazza dei Martiri leiten.

Familie Peluso (die Familie des Tischlers)

Alfredo Peluso, Tischler. Kommunist. Des Mordes an Don Achille angeklagt und verurteilt, muss er ins Gefängnis, wo er stirbt.

Giuseppina Peluso, seine Frau. Arbeiterin in der Tabakfabrik. Als ihr Mann stirbt, nimmt sie sich das Leben.

Ihre Kinder:

Pasquale Peluso, der älteste Sohn. Maurer, militanter Kommunist. Er ist der erste Junge, der Lilas Schönheit erkennt und ihr eine Liebeserklärung macht. Er verabscheut die Solaras und war mit Ada Cappuccio verlobt.

Carmela Peluso, nennt sich auch Carmen. Verkäuferin in einem Kurzwarengeschäft. Durch Lilas Vermittlung wird sie in Stefanos neuer Salumeria angestellt. Sie war lange mit Enzo Scanno zusammen, doch nach seinem Militärdienst verlässt er sie ohne eine Erklärung. Später verlobt sie sich mit dem Tankwart des Stradone.

Weitere Kinder

Familie Cappuccio (die Familie der verrückten Witwe)

Melina, Witwe, verwandt mit Nunzia Cerullo. Sie putzt die Treppen in den Wohnblocks des Rione und war die Geliebte von Donato Sarratore, Ninos Vater. Wegen dieser Liebschaft zogen die Sarratores weg aus dem Rione, und Melina verliert den Verstand.

Melinas Mann schleppte Kisten auf dem Obst- und Gemüsemarkt und starb unter ungeklärten Umständen.

Ihre Kinder:

Ada Cappuccio, von klein auf musste sie ihrer Mutter beim Treppenputzen helfen. Mit Lilas Hilfe wird sie als Verkäuferin in der Salumeria im Rione angestellt. Nachdem sie lange mit Pasquale Peluso verlobt war, wird sie Stefano Carraccis Geliebte. Als sie schwanger wird, zieht sie zu ihm. Aus ihrer Beziehung geht eine Tochter hervor, Maria.

Antonio Cappuccio, Automechaniker. Er war Elenas Freund und ist extrem eifersüchtig auf Nino Sarratore. Seine mögliche Einberufung zum Militärdienst beunruhigt ihn sehr, aber als Elena sich an die Solara-Brüder wendet, um ihn davor zu bewahren, ist er zutiefst gekränkt und setzt ihrer Beziehung ein Ende. Während seiner Armeezeit bekommt er eine schwere Nervenkrankheit und wird vorzeitig entlassen. Von Armut getrieben, begibt er sich nach seiner Rückkehr in die Dienste Michele Solaras, der ihn für einen langen, undurchsichtigen Auftrag nach Deutschland schickt.

Weitere Kinder

Familie Sarratore (die Familie des dichtenden Eisenbahners)

Donato Sarratore, Zugschaffner, Dichter, Journalist. Ein Frauenheld, der der Geliebte von Melina Cappuccio war. Als Elena auf Ischia Ferien macht und im selben Haus wie die Sarratores zu Gast ist, muss sie die Insel überstürzt verlassen, um sich Donatos sexuellen Belästigungen zu entziehen. Sie gibt sich ihm allerdings im darauffolgenden Sommer aus Kummer über die Affäre zwischen Nino und Lila am Strand hin. Um dieses erniedrigende Erlebnis zu bannen, schreibt Elena in ihrem Buch darüber, das später veröffentlicht wird.

Lidia Sarratore, Donatos Frau

Ihre Kinder:

Nino Sarratore, der älteste Sohn, hasst seinen Vater. Er ist ein ausgezeichneter Schüler und hat mit Lila eine lange, heimliche Affäre, die nach einem extrem kurzen Zusammenleben endet, als Lila schwanger wird.

Marisa Sarratore, sie ist mit Alfonso Carracci zusammen.

Pino, Clelia und Ciro Sarratore, die jüngeren Kinder

Familie Scanno (die Familie des Gemüsehändlers)

Nicola Scanno, Gemüsehändler, stirbt an einer Lungenentzündung.

Assunta Scanno, seine Frau, stirbt an Krebs.

Ihre Kinder:

Enzo Scanno, ebenfalls Gemüsehändler. Lina hat ihn seit ihrer Kindheit sehr gern. Enzo war lange mit Carmen Peluso verlobt, die er nach Abschluss seines Militärdienstes aber ohne eine Erklärung verlässt. Bei der Armee beginnt er sich weiterzubilden und erwirbt im Fernstudium einen Abschluss als Techniker. Als Lila beschließt, Stefano endgültig zu verlassen, kümmert Enzo sich um sie und ihren Sohn Gennaro und bringt sie in eine Wohnung in San Giovanni a Teduccio.

Weitere Kinder

Familie Solara (die Familie des Besitzers der gleichnamigen Bar-Pasticceria)

Silvio Solara, Besitzer der Solara-Bar, Monarchist und Faschist. Als Camorra-Mitglied ist er in illegale Geschäfte im Rione verwickelt. Er stellt sich gegen die Gründung der Schuhmacherei Cerullo.

Manuela Solara, seine Frau, Wucherin. Ihr rotes Buch ist im Rione sehr gefürchtet.

Ihre Kinder:

Marcello und Michele Solara. Obwohl sie großspurig und rücksichtslos auftreten, sind sie der Schwarm aller Mädchen im Rione, Lila natürlich ausgenommen. Marcello verliebt sich in Lila, aber sie weist ihn ab. Michele ist etwas jünger als Marcello, doch kaltblütiger, intelligenter und brutaler. Er ist mit Gigliola Spagnuolo, der Tochter des Konditors, verlobt, doch im Laufe der Jahre entwickelt er eine krankhafte Obsession für Lila.

Familie Spagnuolo (die Familie des Konditors)

Signor Spagnuolo, Konditor in der Solara-Bar

Rosa Spagnuolo, seine Frau

Ihre Kinder:

Gigliola Spagnuolo, verlobt mit Michele Solara

Weitere Kinder

Familie Airota

Guido Airota, Professor für griechische Literatur

Adele Airota, seine Frau. Sie arbeitet für den Mailänder Verlag, in dem Elenas Roman veröffentlicht wird.

Ihre Kinder:

Mariarosa Airota, die älteste Tochter, Dozentin für Kunstgeschichte in Mailand

Pietro Airota, Elenas Kommilitone und ihr Verlobter, er hat eine glänzende Universitätslaufbahn vor sich.

Die Lehrer

Maestro Ferraro, Grundschullehrer und Bibliothekar. Er verleiht Lila und Elena in der Grundschule einen Preis für eifriges Lesen.

Maestra Oliviero, Grundschullehrerin. Sie erkennt Lilas und Elenas Fähigkeiten als Erste. Elena, der Lilas Erzählung Die blaue Fee sehr gefallen hat, gibt sie Maestra Oliviero zur Lektüre. Verärgert darüber, dass Lilas Eltern sich geweigert haben, ihre Tochter auf die Mittelschule zu schicken, äußert sich die Lehrerin nie zu der Erzählung und hört sogar auf, sich um Lila zu kümmern. Sie konzentriert sich nur noch auf Elenas Werdegang. Nach langer Krankheit stirbt sie kurz nach Elenas Studienabschluss.

Professor Gerace, Gymnasiallehrer in der Unterstufe

Professoressa Galiani, Gymnasiallehrerin in der Oberstufe, hochgebildet, Kommunistin. Sie ist sofort von Elenas Intelligenz beeindruckt, leiht ihr Bücher, nimmt sie bei einem Streit gegen den Religionslehrer in Schutz und lädt sie zu einer Party ihrer Kinder zu sich nach Hause ein. Das Verhältnis zwischen ihr und Elena kühlt sich ab, als der leidenschaftlich für Lila schwärmende Nino ihre Tochter Nadia verlässt.

Weitere Personen

Gino, der Sohn des Apothekers. Er war Elenas erster Freund.

Nella Incardo, Maestra Olivieros Cousine. Sie wohnt in Barano auf Ischia und vermietet im Sommer einige Zimmer ihres Hauses an Familie Sarratore. Sie beherbergt auch Elena während eines Ferienaufenthaltes am Meer.

Armando Galiani, Medizinstudent, Sohn von Professoressa Galiani

Nadia Galiani, Studentin, Tochter von Professoressa Galiani und die Freundin Ninos, der ihr einen Abschiedsbrief schreibt, als er sich in Lila verliebt

Bruno Soccavo, ein Freund Nino Sarratores und der Sohn eines reichen Industriellen aus San Giovanni a Teduccio. Er gibt Lila Arbeit in der Wurstfabrik seiner Familie.

Franco Mari

1

Das letzte Mal habe ich Lila vor fünf Jahren gesehen, im Winter 2005. Wir schlenderten früh am Morgen unsere Straße, den Stradone, entlang, und wie nun schon seit Jahren gelang es uns nicht, uns miteinander wohlzufühlen. Nur ich redete, das weiß ich noch. Sie sang vor sich hin, grüßte die Leute, die aber nicht zurückgrüßten, und die wenigen Male, da sie mich unterbrach, gab sie nur Ausrufe von sich, die keinen erkennbaren Zusammenhang mit dem hatten, was ich sagte. Im Laufe der Zeit war zu viel Schlimmes, teils auch Entsetzliches, geschehen, und um wieder Vertrauen fassen zu können, hätten wir uns verschwiegene Gedanken erzählen müssen, aber mir fehlte die Kraft, um sie zu formulieren, und Lila, die diese Kraft vielleicht besaß, hatte keine Lust dazu, sah keinen Sinn darin.

Ich hatte sie jedenfalls sehr gern, und immer wenn ich nach Neapel kam, wollte ich mich mit ihr treffen, auch wenn ich zugegebenermaßen etwas Angst davor hatte. Sie hatte sich sehr verändert. Das Alter hatte uns beide besiegt, aber während ich nun gegen einen Hang zum Übergewicht ankämpfte, war sie nach wie vor nur Haut und Knochen. Sie hatte kurzes Haar, das sie sich selbst schnitt, schlohweiß nicht weil sie sich bewusst dafür entschieden hätte, sondern aus Nachlässigkeit. Ihr stark gezeichnetes Gesicht erinnerte immer mehr an das ihres Vaters. Sie lachte überdreht, fast kreischend, und sprach zu laut. Sie gestikulierte in einem fort, mit einer so wilden Entschlossenheit, dass es aussah, als wollte sie die Wohnblocks zerhacken, die Straße, die Passanten, mich.

Wir waren auf der Höhe unserer Grundschule, als uns ein junger Mann, den ich nicht kannte, atemlos überholte und Lila zurief, man habe in den Grünanlagen neben der Kirche eine Frauenleiche gefunden. Wir liefen zu dem kleinen Park, und sich grob den Weg bahnend zog Lila mich in die Ansammlung von Schaulustigen hinein. Die Frau lag auf der Seite, war außerordentlich dick und trug einen unmodernen, dunkelgrünen Regenmantel. Lila erkannte sie sofort, ich nicht. Es war unsere Freundin aus Kindertagen Gigliola Spagnuolo, Michele Solaras Exfrau.

Ich hatte sie jahrzehntelang nicht gesehen. Ihr schönes Gesicht war entstellt, ihre Fußgelenke waren stark geschwollen. Die ehemals braunen Haare waren nun feuerrot und so lang, wie sie sie als junges Mädchen getragen hatte, jedoch dünn, auf der lockeren Erde ausgebreitet. Nur an einem Fuß trug sie einen flachen, stark abgenutzten Schuh; der andere Fuß steckte in einem grauen, am großen Zeh durchlöcherten Wollstrumpf, und der Schuh lag einen Meter weiter, als hätte sie ihn verloren, als sie nach einem Schmerz oder nach einem Schrecken getreten hatte. Ich brach in Tränen aus, Lila sah mich ärgerlich an.

Auf einer Bank in der Nähe warteten wir schweigend, bis man Gigliola wegbrachte. Was ihr passiert war, wie sie gestorben war, wusste man zunächst nicht. Wir gingen zu Lila, in die alte, kleine Wohnung ihrer Eltern, in der sie nun mit ihrem Sohn Rino lebte. Wir redeten über unsere Freundin, Lila sprach schlecht über sie, über das Leben, das sie geführt hatte, über ihre Anmaßungen, über ihre Gemeinheiten. Diesmal war ich es, die nicht zuhören konnte, ich musste an dieses zur Seite gedrehte Gesicht auf der Erde denken, daran, wie schütter das lange Haar gewesen war, an die Flecken weißlicher Kopfhaut. Wie viele Frauen, damals kleine Mädchen wie wir, lebten nun nicht mehr, waren von der Erde verschwunden, weil sie krank geworden waren, weil ihre Nerven dem Schleifpapier der Qualen nicht standgehalten hatten, weil ihr Blut vergossen worden war. Wir blieben eine kurze Weile in der Küche sitzen, ohne dass sich eine von uns dazu aufraffte, das Geschirr abzuräumen, dann gingen wir erneut aus dem Haus.

Die Sonne dieses schönen Wintertages ließ die Dinge heiter erscheinen. Der Rione hatte sich im Gegensatz zu uns überhaupt nicht verändert. Die niedrigen, grauen Häuser, der Hof unserer Kinderspiele, der Stradone, die dunklen Öffnungen des Tunnels und die Gewalt hatten die Zeit überdauert. Aber die Landschaft ringsumher war nun eine andere. Das grünliche Areal der Teiche existierte nicht mehr, die alte Konservenfabrik war verschwunden. Stattdessen gab es funkelnde Wolkenkratzer aus Glas, einst das Sinnbild einer strahlenden Zukunft, an die kein Mensch je geglaubt hatte. Ich hatte alle diese Veränderungen im Laufe der Jahre bemerkt, manchmal neugierig, doch meistens unaufmerksam. Als kleines Mädchen hatte ich mir vorgestellt, dass Neapel jenseits des Rione Wunder für mich bereithielt. So hatte es mich vor Jahrzehnten stark beeindruckt, wie der Wolkenkratzer am Hauptbahnhof Stockwerk für Stockwerk in die Höhe gewachsen war, ein Rohbau neben dem kühnen Bahnhof, der uns damals himmelhoch vorkam. Wie erstaunt ich gewesen war, als ich an der Piazza Garibaldi vorübergekommen war: »Sieh doch nur, wie hoch der ist«, sagte ich zu Lila, zu Carmen, zu Pasquale, zu Ada, zu Antonio, zu allen meinen damaligen Gefährten, mit denen ich mich zum Meer aufmachte, zu den Randgebieten der reichen Viertel. ›Da oben‹, dachte ich, ›wohnen die Engel, und bestimmt genießen sie den Blick über die ganze Stadt.‹ Dort hinaufzuklettern, bis ganz nach oben, das hätte mir sehr gefallen. Das war unser Wolkenkratzer, obwohl er nicht im Rione stand, ein Gebilde, das wir von Tag zu Tag wachsen sahen. Doch dann wurden die Arbeiten eingestellt. Als ich aus Pisa nach Hause zurückkam, schien mir der Wolkenkratzer am Bahnhof weniger das Symbol einer sich erneuernden Gemeinschaft zu sein als vielmehr ein weiterer Herd mangelnder Effizienz.

Damals erkannte ich, dass es keinen großen Unterschied zwischen unserem Rione und Neapel gab, das Unbehagen fand sich unterschiedslos hier wie dort. Bei jeder Rückkehr fand ich eine morschere Stadt vor, die dem Wechsel der Jahreszeiten, der Hitze, der Kälte und vor allem den Unwettern nicht standhielt. Mal war der Bahnhof an der Piazza Garibaldi überschwemmt, mal war die Galleria gegenüber dem Museum eingestürzt, mal gab es einen Erdrutsch, und das elektrische Licht kam nicht wieder. In meiner Erinnerung gab es dunkle Straßen voller Gefahren, einen immer chaotischeren Verkehr, Schlaglöcher, große Pfützen. Die vollen Gullys sprudelten und liefen über. Von den mit neuen, hingepfuschten Bauten überladenen Hügeln ergossen sich Ströme von Wasser, Jauche, Abfall und Bakterien ins Meer oder erodierten die unterirdische Welt. Man starb durch Fahrlässigkeit, Korruption und Gewalt, und doch unterstützten die Leute bei jeder Wahl begeistert die Politiker, die ihnen das Leben unerträglich machten. Sowie ich aus dem Zug gestiegen war, bewegte ich mich an den Orten, an denen ich aufgewachsen war, mit Vorsicht und achtete darauf, stets Dialekt zu sprechen, wie um zu signalisieren: Tut mir nichts, ich bin eine von euch.

In der Zeit, als ich mein Studium absolvierte, als ich eine Erzählung wie aus einem Guss schrieb, die nach wenigen Monaten völlig unerwartet zu einem Buch wurde, schienen sich die Dinge in der Welt, aus der ich kam, weiter zu verschlechtern. Während ich mich in Pisa, in Mailand wohlfühlte und manchmal sogar glücklich war, fürchtete ich bei jeder Rückkehr in meine Heimatstadt, dass ein unvorhergesehener Zwischenfall mich daran hindern könnte, sie wieder zu verlassen, dass mir alles, was ich mir erobert hatte, weggenommen werden könnte. Dann hätte ich nicht zu Pietro zurückgekonnt, den ich schon bald heiraten sollte; mir wäre ein so hübscher Ort wie der Verlag verwehrt geblieben; ich hätte nicht mehr von der vornehmen Art Adeles profitieren können, meiner künftigen Schwiegermutter, einer Mutter, wie meine nie gewesen war. Die Stadt war mir schon früher überfüllt erschienen, ein einziges Gedrängel von der Piazza Garibaldi bis nach Forcella, nach Duchesca, nach Lavinaio, bis zum Rettifilo. Ende der sechziger Jahre hatte ich den Eindruck, dass das Gewühl noch dichter geworden war und Ungeduld und Aggressivität ausuferten. Eines Morgens hatte ich mich zur Via Mezzocannone aufgemacht, dorthin, wo ich einige Jahre zuvor in einem Buchladen Verkäuferin gewesen war. Ich war aus Neugier hingefahren, um den Ort wiederzusehen, an dem ich so hart gearbeitet hatte, vor allem aber, um einen Blick auf die Universität zu werfen, die ich nie betreten hatte. Ich wollte sie mit der von Pisa vergleichen, mit der Scuola Normale, und hoffte sogar, zufällig den Kindern von Professoressa Galiani – Armando und Nadia – zu begegnen und mich mit dem brüsten zu können, was ich erreicht hatte. Aber der Weg und das Universitätsgelände hatten mich eingeschüchtert, alles war voller Studenten aus Neapel und dem gesamten Süden, gutgekleidete, laute, selbstbewusste junge Menschen und dazu Jugendliche mit ungehobelten und zugleich unterwürfigen Manieren. Sie drängten sich vor den Eingängen, in den Hörsälen und vor den Sekretariaten, wo sich lange und nicht selten rauflustige Schlangen bildeten. Wenige Schritte von mir entfernt hatten drei, vier Studenten ohne Vorwarnung angefangen sich zu prügeln, als genügte es ihnen schon, sich zu sehen, um mit Beschimpfungen und Schlägen aufeinander loszugehen, ein männliches Wüten, das seinen Blutdurst in einem Dialekt herausschrie, den nicht einmal ich ohne weiteres verstand. Ich war schnell davongelaufen, als hätte mich an einem Ort, den ich für sicher und ausschließlich von Vernunft bewohnt gehalten hatte, etwas Gefährliches gestreift.

Kurz, mit jedem Jahr hatte ich einen schlimmeren Eindruck. In der regnerischen Zeit damals hatte die Stadt neue Risse bekommen, ein ganzer Palazzo hatte sich zur Seite geneigt wie ein Mensch, der sich auf die wurmstichige Armlehne eines alten Sessels stützt, woraufhin sie nachgibt. Tote, Verletzte. Und Schreie, Schlägereien, Knallkörper. Es schien, als hegte die Stadt eine Wut, die keinen Weg hinaus fand und sie deshalb innerlich zerfraß oder auf ihrer Oberfläche Pusteln bildete, prall von Gift gegen alle, gegen Kinder, Erwachsene, Leute aus anderen Städten, NATO-Amerikaner, Touristen aus aller Herren Länder und gegen die Neapolitaner selbst. Wie konnte man es an diesem chaotischen, gefährlichen Ort nur aushalten, am Stadtrand, im Zentrum, auf den Hügeln, unterhalb des Vesuvs? Was für einen hässlichen Eindruck hatte San Giovanni a Teduccio auf mich gemacht, auch die Fahrt dorthin. Was für einen hässlichen Eindruck hatte die Fabrik, in der Lila arbeitete, auf mich gemacht, und Lila selbst auch, Lila mit ihrem kleinen Sohn, Lila, die in einem heruntergekommenen Neubau mit Enzo zusammenwohnte, obwohl sie nicht mit ihm schlief. Sie hatte gesagt, er wolle die Funktionsweise elektronischer Rechner studieren und sie wolle ihm dabei helfen. Ihre Stimme hatte sich mir eingeprägt, mit der sie versucht hatte, San Giovanni, die Würste, den Gestank der Fabrik und ihren eigenen Zustand wegzuwischen, indem sie mir mit gespielter Sachkunde Begriffe aufzählte wie: Kybernetisches Zentrum der Mailänder Statale und Sowjetisches Zentrum für die Anwendung von Rechnern in den Gesellschaftswissenschaften. Sie wollte mir weismachen, dass demnächst auch in Neapel ein solches Zentrum entstehen würde. Ich hatte gedacht: in Mailand vielleicht, in der Sowjetunion bestimmt, aber nicht hier, hier sind das die fixen Ideen deines unkontrollierbaren Hirns, in die du jetzt auch noch den armen, zutiefst ergebenen Enzo hineinziehst. Stattdessen lieber weggehen. Für immer abhauen, weit weg aus dem Leben, das wir von Geburt an geführt hatten. Sich in einer gut entwickelten Gegend niederlassen, wo wirklich alles möglich war. Ich hatte mich tatsächlich davongemacht. Aber nur, um in den darauffolgenden Jahrzehnten festzustellen, dass ich mich geirrt hatte, dass dies nur eine Kette mit immer größeren Gliedern war: Der Rione verwies auf die Stadt, die Stadt auf Italien, Italien auf Europa, Europa auf den ganzen Planeten. Und heute sehe ich das so: Nicht der Rione ist krank, nicht Neapel, die ganze Erde ist es, das Universum ist es, oder die Universen. Und die Kunst besteht darin, den wahren Zustand der Dinge vor anderen und vor sich selbst zu verbergen.

Darüber sprach ich an jenem Nachmittag im Winter 2005 mit Lila, eindringlich und wie um Abbitte zu leisten. Ich wollte anerkennen, dass sie schon von klein auf alles begriffen hatte, ohne Neapel je zu verlassen. Aber ich schämte mich fast sofort, merkte meinen Worten den mürrischen Pessimismus eines alternden Menschen an, den Ton, den sie nicht ausstehen konnte. Und wirklich zeigte sie mir ihre altgewordenen Zähne mit einem Lächeln, das eher eine gereizte Grimasse war, und sagte:

»Du spielst hier die Schlaue, wirfst mit klugen Sprüchen um dich? Was hast du vor? Willst du über uns schreiben? Willst du über mich schreiben?«

»Nein.«

»Sei ehrlich.«

»Das wäre viel zu kompliziert.«

»Aber du hast mit dem Gedanken gespielt, du tust es noch.«

»Ein bisschen, ja.«

»Du musst mich in Ruhe lassen, Lenù. Du musst uns alle in Ruhe lassen. Wir müssen verschwinden, wir sind das nicht wert, weder Gigliola noch ich, niemand.«

»Das ist nicht wahr.«

Unzufrieden verzog sie das Gesicht und musterte mich mit kaum sichtbaren Augen und mit leicht geöffneten Lippen.

»Na gut«, sagte sie. »Schreib, wenn du unbedingt willst, schreib über Gigliola oder sonst wen. Aber nicht über mich, wag es ja nicht, versprich es mir.«

»Ich werde über niemanden schreiben, auch über dich nicht.«

»Vorsicht, ich behalte dich im Auge.«

»Ach ja?«

»Ich komme und durchforste deinen Computer, ich lese deine Dateien und lösche sie.«

»Na, na.«

2

Diese drei Worte habe ich nicht mehr vergessen, es war das Letzte, was sie zu mir gesagt hat: Nicht vor mir. Seit Wochen schreibe ich nun schon fieberhaft, ohne Zeit damit zu verlieren, meine Sätze erneut durchzulesen. Wenn Lila noch lebt – überlege ich gerade, während ich an meinem Kaffee nippe und auf das Wasser des Po schaue, das gegen die Pfeiler des Ponte Principessa Isabella stößt –, wird sie nicht widerstehen können und kommen, um in meinem Computer herumzuschnüffeln, sie wird lesen und sich als die schrullige, alte Frau, die sie ist, über meinen Ungehorsam aufregen, sie wird sich einmischen wollen, wird korrigieren, wird ergänzen und wird ihren Drang vergessen, sich aufzulösen. Ich spüle die Tasse ab, gehe zum Schreibtisch und schreibe weiter, mit jenem kalten Frühling in Mailand beginnend, als an einem Abend vor über vierzig Jahren ein Mann mit einer starken Brille vor der ganzen Versammlung voller Sarkasmus über mich und mein Buch sprach und ich verwirrt und zitternd antwortete. Bis plötzlich Nino Sarratore aufstand, der mit seinem ungepflegten, tiefschwarzen Bart fast nicht wiederzuerkennen war, und meinen Widersacher heftig attackierte. Von da an schrie mein ganzes Ich im Stillen seinen Namen – wie lange hatte ich ihn nicht gesehen, vier Jahre oder fünf –, und obwohl ich vor Anspannung wie eingefroren war, stieg mir eine heiße Röte ins Gesicht.

Kaum hatte Nino seine Rede beendet, bat der Mann mit einer knappen Geste ums Wort. Es war klar, dass er verärgert war, aber ich war viel zu aufgewühlt, um sofort zu begreifen, warum. Natürlich war mir aufgefallen, dass Ninos Beitrag die Diskussion von der Literatur auf die Politik verlagert hatte, und dies in einer aggressiven, beinahe schon respektlosen Weise. Doch ich maß dem zunächst keine Bedeutung bei, ich konnte mir nicht verzeihen, dass ich mich in der Auseinandersetzung nicht hatte behaupten können, dass ich vor einem hochgebildeten Publikum unzusammenhängendes Zeug geredet hatte. Dabei war ich doch sehr gut. Am Gymnasium hatte ich in schwierigen Situationen reagiert, indem ich versucht hatte, wie Professoressa Galiani zu sein, ich hatte mir ihren Ton und ihre Sprache angeeignet. Für Pisa hatte dieses weibliche Vorbild nicht ausgereicht, dort hatte ich es mit wirklich versierten Leuten zu tun. Franco, Pietro, alle hervorragenden Studenten und natürlich die renommierten Dozenten an der Normale drückten sich hochkompliziert aus, schrieben mit ausgefeilter Kunstfertigkeit und verfügten über eine Methodik, über eine logische Klarheit, die Professoressa Galiani nicht besaß. Aber ich hatte geübt, wie sie alle zu sein. Und häufig war es mir auch gelungen, ich hatte das Gefühl gehabt, die Worte so zu beherrschen, dass ich die Unstimmigkeiten des Daseins, das Auftreten heftiger Gemütsbewegungen und atemlose Reden ein für alle Mal hatte wegfegen können. Ich beherrschte nun einen Rede- und Schreibstil, der mit einer ausgesuchten Wortwahl, mit weit ausholenden, wohldurchdachten Ausführungen, mit einer zwingenden Anordnung der Argumente und mit einer Klarheit der Form, die nie nachlassen durfte, darauf abzielte, den Gesprächspartner so zu vernichten, dass ihm die Lust zum Widerspruch verging. Doch an jenem Abend hatten sich die Dinge nicht so gefügt, wie sie sollten. Zunächst hatten mich Adele und ihre in meinen Augen sehr belesenen Freunde und dann der Mann mit der starken Brille eingeschüchtert. Ich war wieder zu dem eifrigen Mädelchen aus dem Rione geworden, zu der Pförtnertochter mit dem Akzent aus dem Süden, die selbst erstaunt war, dass sie an diesem Ort gelandet war, um die junge, gebildete Schriftstellerin zu spielen. Und so hatte ich mein Selbstvertrauen verloren und ohne Überzeugung und zusammenhanglos gesprochen. Dazu auch noch Nino. Sein Auftritt hatte mir das Heft aus der Hand genommen, und seine vorzügliche Fürsprache zu meinen Gunsten hatte mir bestätigt, dass ich mein ganzes Können schlagartig eingebüßt hatte. Wir kamen aus ähnlichen Verhältnissen, hatten beide darum gekämpft, diese Sprache zu erwerben. Aber er hatte sie nicht nur wie selbstverständlich angewandt und mühelos gegen seinen Gesprächspartner gerichtet, sondern es sich manchmal, wenn er es für nötig gehalten hatte, auch erlaubt, gezielt etwas Unordnung in dieses elegante Italienisch zu bringen, und dies mit einer unverschämten Geringschätzung, durch die es ihm schnell gelungen war, den schulmeisterlichen Tonfall des Mannes mit der starken Brille veraltet und vielleicht auch ein wenig lächerlich wirken zu lassen. Folglich dachte ich, als ich sah, dass dieser erneut das Wort ergreifen wollte: ›Er ist wütend, und wenn er vorhin schon schlecht über mein Buch gesprochen hat, wird er jetzt noch schlechter darüber sprechen, um Nino, der es in Schutz genommen hat, zu blamieren.‹

Aber den Mann schien etwas anderes zu beschäftigen: Er kam nicht noch einmal auf meinen Roman zurück und erwähnte auch mich nicht mehr. Stattdessen konzentrierte er sich auf einige Formulierungen, die Nino beiläufig gebraucht, aber mehrfach wiederholt hatte: elitäre Arroganz, antiautoritäre Literatur. Erst da begriff ich, dass ihn besonders die politische Wendung der Diskussion verärgert hatte. Dieser Sprachgebrauch hatte ihm nicht gefallen, und das betonte er, indem er seine tiefe Stimme plötzlich mit einem sarkastischen Falsett durchsetzte (demnach wird der Stolz auf Wissen heutzutage als Arroganz bezeichnet, demnach ist jetzt auch schon die Literatur antiautoritär?). Dann begann er auf dem Wort Autorität herumzureiten, »Gott sei Dank« – sagte er – »ein Schutzwall gegen die ungezogenen jungen Kerle, die sich aufs Geratewohl zu jeder Frage äußern und dabei auf den Unsinn irgendwelcher Gegenvorlesungen der Mailänder Statale zurückgreifen.« Er sprach lange über dieses Thema, wobei er sich ans Publikum wandte, nie unmittelbar an Nino oder an mich. Doch zum Schluss nahm er zunächst den alten Kritiker, der neben mir saß, ins Visier und dann direkt Adele, die vielleicht von Anfang an das eigentliche Ziel seiner Polemik gewesen war. »Ich habe nichts gegen die jungen Leute« – sagte er – »aber gegen die promovierten Erwachsenen, die stets bereit sind, eigennützig jede neue Mode der Dummheit mitzumachen.« Dann war er endlich still, und mit leisen, aber energischen »Gestatten Sie«, »Verzeihung«, »Danke« wandte er sich zum Gehen.

Die Anwesenden standen auf, um ihn vorbeizulassen, feindselig und doch willfährig. Da wurde mir endgültig klar, dass er hohes Ansehen genoss, ein so hohes Ansehen, dass sogar Adele auf einen verärgerten Abschiedsgruß seinerseits mit einem herzlichen »Danke, auf Wiedersehen« antwortete. Vielleicht deshalb überraschte Nino alle ein wenig, als er ihn in einem Befehlston, der zugleich spöttisch klang, bei seinem Professorentitel rief, womit er zeigte, dass er wusste, mit wem er es zu tun hatte – Professore, wo wollen Sie denn hin, nicht weglaufen

3

Benommen stand ich vom Tisch auf, ich konnte kaum fassen, dass Nino wirklich hier war, in Mailand, in diesem Raum. Aber da war er und kam lächelnd, doch mit beherrschten Schritten ohne Eile bereits auf mich zu. Wir gaben uns die Hand, seine war heiß, meine kalt, und sagten uns, wie sehr wir uns freuten, uns nach so langer Zeit wiederzusehen. Zu wissen, dass der schlimmste Teil des Abends endlich vorüber war und dass nun er leibhaftig vor mir stand, dämpfte meine schlechte Laune, aber nicht meine Aufregung. Ich stellte ihn dem Kritiker vor, der mein Buch so großzügig gelobt hatte, sagte, Nino sei ein Freund aus Neapel, wir seien zusammen aufs Gymnasium gegangen. Der Kritiker war freundlich, obwohl auch er einige Hiebe von Nino abbekommen hatte, lobte, wie er mit dem Professor umgegangen war, sprach wohlwollend über Neapel und unterhielt sich mit ihm wie mit einem hervorragenden Studenten, der ermutigt werden musste. Nino erzählte, er wohne seit Jahren in Mailand, beschäftige sich mit ökonomischer Geographie und gehöre – er lächelte – zur armseligsten Kategorie in der akademischen Hierarchie, nämlich zu den Assistenten. Er sagte es auf eine gewinnende Art, ohne das etwas mürrische Benehmen, das er als Junge gehabt hatte, und er schien sich eine leichtere Rüstung als die zugelegt zu haben, die mich auf dem Gymnasium fasziniert hatte, ganz als hätte er sich von zu schweren Gewichten befreit, um sich im Turnier schneller und mit Eleganz durchwinden zu können. Erleichtert stellte ich fest, dass er keinen Ehering trug.

Inzwischen waren einige von Adeles Freundinnen herangekommen, um sich mein Buch signieren zu lassen, was mich sehr bewegte, es war das erste Mal, dass mir das geschah. Ich zögerte, wollte Nino keinen Moment aus den Augen verlieren, wollte aber auch den Eindruck, ich sei ein unbeholfenes Mädchen, abschwächen. Also ließ ich ihn mit dem alten Kritiker – er hieß Tarratano – allein und widmete mich zuvorkommend meinen Leserinnen. Ich nahm mir vor, mich schnell loszueisen, doch die Bücher waren neu, rochen druckfrisch, ganz anders als die zerlesenen, muffigen Exemplare, die Lila und ich uns aus der Bibliothek im Rione ausgeliehen hatten, und ich brachte es nicht fertig, sie mit dem Kugelschreiber in Eile vollzuschmieren. Ich stellte meine schönste Schrift aus Maestra Olivieros Zeiten zur Schau und dachte mir ausgefeilte Widmungen aus, was bei den wartenden Damen zu einiger Ungeduld führte. Ich tat es mit stark klopfendem Herzen und ließ Nino nicht aus den Augen. Ich zitterte bei dem Gedanken, er könnte gehen.

Er ging nicht. Zu ihm und Tarratano hatte sich Adele gesellt, und Nino wandte sich ehrerbietig und zugleich zwanglos an sie. Ich erinnerte mich daran, wie er auf dem Flur des Gymnasiums mit Professoressa Galiani gesprochen hatte, und es fiel mir nicht schwer, den brillanten Gymnasialschüler von damals und den jungen Mann von heute in meinem Kopf zusammenzubringen. Allerdings schob ich wie eine unnötige Verirrung, die uns allen Leid zugefügt hatte, heftig den Studenten auf Ischia beiseite, den Liebhaber meiner verheirateten Freundin, den verstörten jungen Kerl, der sich in der Toilette des Schuhgeschäfts an der Piazza dei Martiri versteckt hatte und der Gennaros Vater war, eines Kindes, das er nie gesehen hatte. Gewiss hatte ihn Lilas Überfall ins Schleudern gebracht, aber – das schien mir auf der Hand zu liegen – es hatte sich nur um eine flüchtige Affäre gehandelt. So intensiv diese Geschichte auch gewesen sein mochte, so tief die Spuren auch waren, die sie bei ihm hinterlassen hatte, war sie doch nun vorbei. Nino hatte sich wieder gefangen, und ich war froh darüber. Ich dachte: ›Ich muss Lila erzählen, dass ich ihn getroffen habe, dass es ihm gut geht.‹ Dann überlegte ich es mir anders: ›Nein, das erzähle ich ihr nicht.‹

Als ich mit den Widmungen fertig war, hatte sich der Raum geleert. Adele nahm sanft meine Hand und lobte mich sehr dafür, wie ich über mein Buch gesprochen und auf den miesen Einwurf – so nannte sie es – des Mannes mit der starken Brille geantwortet hatte. Da ich widersprach (ich wusste nur zu gut, dass es nicht stimmte), bat sie Nino und Tarratano um ihre Meinung, und natürlich ergingen sich die beiden in Komplimenten. Nino, der mich ernst ansah, sagte sogar: »Sie ahnen ja nicht, wie dieses Mädchen schon auf dem Gymnasium war, hochintelligent, hochgebildet, sehr mutig, sehr schön.« Und während mir die Röte im Gesicht brannte, begann er mit freundlicher Ironie von meinem Jahre zurückliegenden Streit mit dem Religionslehrer zu erzählen. Adele hörte zu, lachte häufig. »Unsere Familie«, sagte sie, »hat Elenas Qualitäten sofort erkannt.« Dann verkündete sie, dass sie in einem nahegelegenen Lokal Plätze fürs Abendessen reserviert habe. Ich wurde unruhig, murmelte verlegen, ich sei müde und hätte keinen Hunger, und gab zu verstehen, dass ich vor dem Schlafengehen gern noch ein paar Schritte mit Nino gehen würde, da wir uns lange nicht gesehen hatten. Ich wusste, dass das unhöflich war, das Essen sollte mir zu Ehren und als Dank an Tarratano

4

Wir verließen die Buchhandlung. Adele ging mit Tarratano taktvoll voraus, Nino und ich folgten ihnen. Doch ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte, ich fürchtete, jedes Wort könnte falsch sein. Er war es, der keine Stille aufkommen ließ. Erneut lobte er mein Buch, sprach dann mit großer Hochachtung von den Airotas (er bezeichnete sie als »die kulturvollste aller Familien, die in Italien etwas zählen«), erwähnte, dass er Mariarosa kannte (»Sie ist immer in vorderster Front. Vor zwei Wochen hatten wir einen heftigen Streit.«), gratulierte mir, weil er gerade von Adele erfahren hatte, dass ich mit Pietro verlobt sei, dessen Buch über den Bacchus-Kult er zu meiner Überraschung kannte, sprach jedoch vor allem voller Ehrerbietung über das Familienoberhaupt, Professor Guido Airota, »einen wahrhaft außergewöhnlichen Mann«. Ich ärgerte mich etwas, weil er bereits von meiner Verlobung wusste, und es verstimmte mich, dass das Lob meines Buches nur als Einleitung zu dem weitaus beharrlicheren Lob von Pietros ganzer Familie und von Pietros Buch diente. Ich unterbrach Nino, erkundigte mich nach ihm, aber er blieb vage, nur einige Andeutungen über ein kleines Buch, das demnächst veröffentlicht werde und das er als langweilig, doch notwendig bezeichnete. Ich ließ nicht locker, fragte ihn, ob er in Mailand anfangs Schwierigkeiten gehabt habe. Er antwortete mit ein paar allgemeinen Bemerkungen über die Probleme, die man habe, wenn man ohne einen Centesimo in der Tasche aus dem Süden komme. Dann fragte er mich aus heiterem Himmel:

»Du wohnst jetzt wieder in Neapel?«

»Im Moment ja.«

»Im Rione?«

»Ja.«

»Ich habe den Kontakt zu meinem Vater endgültig abgebrochen und sehe keinen aus meiner Familie mehr.«

»Wie schade.«

»Es ist gut so. Mir tut es nur leid, dass ich nichts von Lina höre.«

Für einen kurzen Augenblick dachte ich, ich hätte mich getäuscht und Lila sei nie aus seinem Leben verschwunden, er sei nicht meinetwegen in die Buchhandlung gekommen, sondern nur, um zu erfahren, wie es ihr gehe. Dann sagte ich mir: ›Wenn er sich wirklich nach Lila hätte erkundigen wollen, hätte er in all den Jahren schon einen Weg gefunden, um sich zu informieren‹, und ich antwortete impulsiv, mit der Deutlichkeit eines Menschen, der ein Thema schnell beenden will:

»Sie hat ihren Mann verlassen und lebt jetzt mit einem anderen zusammen.«

»Hat sie ein Mädchen oder einen Jungen bekommen?«

»Einen Jungen.«

Missmutig verzog er das Gesicht, sagte:

»Lina hat Mut, zu viel sogar. Aber sie kann sich den Realitäten nicht unterordnen, sie ist nicht in der Lage, andere und sich selbst zu akzeptieren. Sie zu lieben war eine schwierige Erfahrung.«

»Inwiefern?«

»Sie weiß nicht, was Hingabe ist.«

»Vielleicht übertreibst du da.«

»Nein, sie ist wirklich verkorkst, im Kopf und insgesamt, auch sexuell.«

Diese Worte – auch sexuell – verstörten mich mehr als alles andere. Also gab Nino ein negatives Urteil über seine Beziehung zu Lila ab? Also hatte er mir soeben gesagt, dass dieses Urteil sich auch auf Sexuelles bezog? Einige Sekunden starrte ich die vor uns gehenden dunklen Gestalten von Adele und ihrem Freund an. Aus meiner Betroffenheit wurde Angst, ich bemerkte, dass auch sexuell erst der Anfang war, dass er noch deutlicher werden wollte. Jahre zuvor hatte sich Stefano mir nach seiner Heirat anvertraut, hatte mir von seinen Problemen mit Lila erzählt, hatte dies aber getan, ohne Sexuelles zu erwähnen, kein Mann im Rione hätte das getan, wenn er über die Frau sprach, die er liebte. Es wäre undenkbar gewesen, dass Pasquale mir von Adas Sexualität erzählt hätte, oder schlimmer noch, dass Antonio mit Carmen oder Gigliola über meine Sexualität gesprochen hätte. Die Jungen taten das untereinander – und auf vulgäre Art, wenn ihnen nichts oder nichts mehr an uns Mädchen lag –, aber nie den Mädchen gegenüber. Doch ich ahnte, dass Nino, der neue Nino, es vollkommen normal fand, mir von der sexuellen Beziehung zu erzählen, die er mit meiner Freundin gehabt hatte. Ich wurde verlegen, zog

5

Adele übernahm die Verteilung der Plätze. Ich neben Nino und gegenüber von Tarratano, sie neben Tarratano und gegenüber von Nino. Wir bestellten, und inzwischen kam das Gespräch bereits auf den Mann mit der starken Brille, einen Professor für italienische Literatur – wie ich erfuhr – und regelmäßigen Mitarbeiter des Corriere della Sera, ein Christdemokrat. Diesmal hielten sich weder Adele noch ihr Freund zurück. Außerhalb der Buchhandlung mit ihren Ritualen sagten sie alles erdenklich Schlechte über diesen Mann und lobten Nino dafür, wie er ihm entgegengetreten war und ihn in die Flucht geschlagen hatte. Sie amüsierten sich besonders beim Wiederholen der Worte, mit denen er den Mann angefahren hatte, als er den Raum verließ, Sätze, die sie gehört hatten und ich nicht. Sie fragten ihn nach dem genauen Wortlaut, Nino wich aus, sagte, er erinnere sich nicht. Aber dann kamen die Worte heraus, vielleicht für diese Gelegenheit neu erfunden, etwas in der Art wie: Sie kriegen es fertig und schaffen zum Schutz der Autorität in allen ihren Erscheinungsformen glatt die Demokratie ab. Und von nun an redeten nur noch die drei, mit wachsendem Eifer, über Geheimdienste, über Griechenland, über die Folter in den Gefängnissen dieses Landes, über Vietnam, über das unverhoffte Aufkommen der Studentenbewegung nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa und der Welt und über einen Beitrag von Professor Airota im Ponte zum Thema der Forschungs- und Ausbildungsbedingungen an den Universitäten – über den Nino sagte, er habe ihm Wort für Wort zugestimmt.

»Ich erzähle meiner Familie, dass er Ihnen gefallen hat«, sagte Adele. »Mariarosa fand ihn miserabel.«

»Mariarosa begeistert sich nur für das, was die Welt nicht geben kann.«

»Bravo, genauso ist es.«

Ich wusste nichts von diesem Beitrag meines künftigen Schwiegervaters. Das Ganze war mir unangenehm, ich hörte schweigend zu. Zunächst hatten die Prüfungen einen Großteil meiner Zeit in Anspruch genommen, dann meine Diplomarbeit, dann mein Buch und seine rasche Publikation. Darüber, was in der Welt vor sich ging, war ich nur oberflächlich informiert, und ich hatte so gut wie nichts von Studenten, Demonstrationen, Zusammenstößen, Verletzten, Festnahmen und Blutvergießen mitbekommen. Da ich nun nicht mehr an der Universität studierte, war das Murren von Pietro, der sich über das beschwerte, was er wörtlich »den gesammelten Blödsinn von Pisa« nannte, alles, was ich wirklich über dieses Chaos wusste. Folglich nahm ich ringsumher ein Szenario mit unscharfen Zügen wahr. Züge, die meine Begleiter dagegen anscheinend genauestens entschlüsseln konnten, allen voran Nino. Ich saß neben ihm, hörte zu, streifte seinen Arm mit meinem, eine Berührung nur durch den Stoff, die mich trotzdem aufwühlte. Er hatte sich seine Vorliebe für Zahlen bewahrt, bezifferte die inzwischen stattliche Menge der Immatrikulationen und die realen Kapazitäten der Universitätsgebäude, dazu die Stunden, die die Herren Professoren wirklich arbeiteten, und die Zahl all derer, die oft lieber im Parlament oder in den Verwaltungsräten saßen oder sich höchst lukrativen Beratertätigkeiten und ihrer privaten Berufsausübung widmeten, als sich um Forschung und Lehre zu kümmern. Adele pflichtete ihm bei, ihr Freund auch, und manchmal ergänzten sie etwas, wobei sie Leute erwähnten, von denen ich noch nie gehört hatte. Ich fühlte mich ausgeschlossen. Die Feier meines Buches war für sie nicht mehr so wichtig, und meine künftige Schwiegermutter schien sogar die Überraschung vergessen zu haben, die sie mir versprochen hatte. Ich sagte leise, ich käme gleich wieder, Adele nickte zerstreut, und Nino redete leidenschaftlich weiter. Tarratano vermutete wohl, dass ich mich langweilte, und sagte fürsorglich und fast flüsternd:

»Kommen Sie schnell zurück, mir liegt viel an Ihrer Meinung.«

»Ich habe keine Meinung«, antwortete ich mit einem schwachen Lächeln.

Auch er lächelte:

»Einer Schriftstellerin fällt doch immer etwas ein.«

»Vielleicht bin ich ja keine Schriftstellerin.«

»Aber ja doch.«

Ich ging zur Toilette. Nino hatte schon immer die Fähigkeit besessen, mir, sobald er den Mund auftat, meine Zurückgebliebenheit vorzuführen. ›Ich muss wieder lernen‹, dachte ich. ›Wie habe ich mich nur so gehenlassen können? Natürlich, bei Bedarf kann ich mit Worten etwas Sachkenntnis und etwas Begeisterung vortäuschen. Aber ich kann so nicht weitermachen, ich habe zu vieles gelernt, was unwichtig ist, kaum etwas Wichtiges. Als die Geschichte mit Franco vorbei war, ist mir das bisschen Neugier auf die Welt abhandengekommen, mit der er mich angesteckt hatte. Und meine Beziehung mit Pietro hat mir nicht geholfen. Was ihn nicht interessierte, hörte auch auf, mich zu interessieren. Wie anders Pietro ist, anders als sein Vater, als seine Schwester, als seine Mutter. Und vor allem anders als Nino. Wäre es nach Pietro gegangen, hätte ich nicht einmal meinen Roman geschrieben. Fast ärgerlich hat er ihn akzeptiert, wie einen Verstoß gegen den akademischen Kanon. Oder vielleicht übertreibe ich auch, und es ist nur meine Schuld. Ich habe meine Grenzen, kann mich nur auf eine Sache konzentrieren und blende alles andere aus. Aber jetzt werde ich mich ändern. Gleich nach diesem langweiligen Abendessen schnappe ich mir Nino und zwinge ihn, die ganze Nacht mit mir spazieren zu gehen, ich werde ihn fragen, welche Bücher ich lesen, welche Filme ich mir ansehen, welche Musik ich hören soll. Ich werde mich bei ihm unterhaken und sagen: Mir ist kalt.‹ Wirre Absichten, unvollständige Sätze. Ich verbarg meine Angst vor mir, sagte mir nur: ›Kann sein, dass das unsere einzige Chance ist, morgen fahre ich ab, ich werde ihn nicht wiedersehen.‹

Währenddessen betrachtete ich mich wütend im Spiegel. Mein Gesicht sah müde aus, kleine Pickel am Kinn und dunkle Augenringe kündigten meine Regel an. ›Ich bin hässlich, klein, habe zu viel Busen. Ich hätte längst begreifen müssen, dass ich ihm nie gefallen habe, er hat Lila ja nicht von ungefähr mir vorgezogen. Aber mit welchem Ergebnis? Sie ist verkorkst, auch sexuell, hat er gesagt. Es war falsch von mir, vom Thema abzulenken. Ich hätte Neugier zeigen und ihn weiterreden lassen müssen. Wenn er noch mal darauf zurückkommt, bin ich skrupelloser, dann sage ich zu ihm: Wann ist denn ein Mädchen sexuell verkorkst? Ich frage das – werde ich ihm lachend erklären –, um mich zu ändern, falls mir das nötig erscheint. Vorausgesetzt, man kann sich überhaupt ändern, wer weiß das schon.‹ Mit Abscheu erinnerte ich mich an das, was am Maronti-Strand zwischen mir und seinem Vater vorgefallen war. Ich dachte auch an den Sex mit Franco auf der Liege in seinem kleinen Zimmer in Pisa. Hatte ich dabei etwas falsch gemacht, was zwar bemerkt, mir aber taktvoll verschwiegen worden war? Und wenn ich, nur mal angenommen, noch an diesem Abend mit Nino ins Bett ginge, würde ich da auch etwas falsch machen, so dass er denken würde: ›Sie ist so verkorkst wie Lila‹, und würde er hinter meinem Rücken mit seinen Studienfreundinnen von der Statale und vielleicht sogar mit Mariarosa darüber reden?

Mir wurde bewusst, wie unangenehm seine Worte waren, ich hätte ihn zurechtweisen müssen. ›Aus diesem schlechten Sex‹, hätte ich ihm sagen müssen, ›aus diesem Erlebnis, über das du jetzt so negativ urteilst, ist ein Kind hervorgegangen, der kleine Gennaro, ein kluger Junge. Es ist nicht schön von dir, so zu reden, es geht doch nicht darum, wer verkorkst und wer wohlgeraten ist, Lila hat sich für dich ruiniert.‹ Und ich nahm mir vor: Wenn ich Adele und ihren Freund losgeworden bin, wenn Nino mich ins Hotel bringt, dann spreche ich das Thema noch mal an und sage ihm das.

6

Mein Verlobter sprang auf, umarmte mich. Von Nino hatte ich ihm nie erzählt. Über Antonio hatte ich einige, wenige, Worte verloren, und auch über meine Beziehung mit Franco, die in den Studentenkreisen von Pisa ohnehin allseits bekannt gewesen war, hatte ich mit Pietro gesprochen. Doch Nino hatte ich nie erwähnt. Diese Geschichte tat mir weh, enthielt peinliche Momente, für die ich mich schämte. Sie zu erzählen hätte bedeutet, einzugestehen, dass ich seit jeher einen Menschen liebte, wie ich Pietro nie lieben würde. Und ihr eine Ordnung, einen Zusammenhang zu geben, hätte mit sich gebracht, auch über Lila zu sprechen, über Ischia, es hätte mich vielleicht veranlasst, zu gestehen, dass die Episode über den Sex mit einem reifen Mann, die in meinem Buch vorkam, auf einer wahren Begebenheit am Maronti-Strand beruhte, auf einer Entscheidung, die ich als verzweifeltes junges Mädchen getroffen hatte und die ich nun, nach so langer Zeit, abstoßend fand. Also alles nur meine Angelegenheit, ich hatte meine Geheimnisse für mich behalten. Hätte Pietro davon gewusst, hätte er den Grund dafür, dass ich ihn nun so unzufrieden begrüßte, sofort verstanden.

Er setzte sich wieder an die Stirnseite des Tisches, zwischen seine Mutter und Nino. Er verschlang ein Steak, trank Wein, sah mich aber nervös an, er spürte meine schlechte Laune. Sicherlich hatte er Gewissensbisse, weil er nicht rechtzeitig gekommen war und er ein wichtiges Ereignis in meinem Leben verpasst hatte, weil seine Nachlässigkeit als ein Zeichen dafür gedeutet werden konnte, dass er mich nicht liebte, und weil er mich ohne seine tröstende Zuneigung mit fremden Menschen alleingelassen hatte. Es wäre schwierig gewesen, ihm zu erklären, dass mein düsteres Gesicht und meine Schweigsamkeit gerade darauf zurückzuführen waren, dass er eben nicht bis zum Schluss weggeblieben war, dass er sich zwischen mich und Nino gedrängt hatte.

Nino machte mich übrigens noch unglücklicher. Er saß neben mir, sprach jedoch überhaupt nicht mit mir. Pietros Ankunft schien ihn zu freuen. Er schenkte ihm Wein ein, bot ihm eine Zigarette an, gab ihm Feuer, und nun stießen sie beide mit schmalen Lippen Rauch aus, redeten über die beschwerliche Autofahrt von Pisa nach Mailand, über die Freude am Fahren. Mir fiel auf, wie unterschiedlich sie waren. Nino dürr, schlaksig, mit lauter, herzlicher Stimme; Pietro untersetzt, mit der komischen, struppigen Haarmähne über seiner enormen Stirn, die dicken Wangen vom Rasierer abgeschürft, die Stimme stets gedämpft. Sie schienen hocherfreut zu sein, dass sie sich kennengelernt hatten, eine für den eigenbrötlerischen Pietro ungewöhnliche Regung. Nino redete auf ihn ein, zeigte ein aufrichtiges Interesse an seinen Studien (irgendwo habe ich einen Artikel gelesen, in dem du Milch und Honig dem Wein und jeder Form von Rausch gegenüberstellst), drängte ihn, ihm davon zu erzählen, und mein Verlobter, der zu diesen Dingen sonst eher nichts sagte, gab nach, korrigierte gutmütig, öffnete sich. Aber gerade als Pietro aufgeschlossener wurde, ging Adele dazwischen.

»Genug geplaudert«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Was ist mit der Überraschung für Elena?«

Ich sah sie unsicher an. Noch mehr Überraschungen? Genügte es nicht, dass Pietro stundenlang und ohne Pause unterwegs gewesen war, um wenigstens rechtzeitig zu dem Abendessen zu kommen, das mir zu Ehren stattfand? Neugierig musterte ich meinen Verlobten. Er hatte nun die mürrische Miene, die er für gewöhnlich aufsetzte, wenn er gezwungen war, in der Öffentlichkeit etwas Gutes über sich zu sagen. Er teilte mir mit, allerdings kaum hörbar, dass man ihn zum Professor ernannt habe, zu einem sehr jungen Professor mit eigenem Lehrstuhl in Florenz. Einfach so, wie durch Zauberei und ganz wie üblich bei ihm. Er brüstete sich nie mit seinen Fähigkeiten, ich wusste fast nichts darüber, wie sehr er als Gelehrter geschätzt wurde, er erzählte mir nicht von den harten Prüfungen, denen er sich unterzog. Und nun also warf er geringschätzig diesen Satz hin, als hätte seine Mutter ihn dazu gezwungen, als bedeutete er ihm nicht viel. Dabei bedeutete er ein beachtliches Ansehen schon in jungen Jahren, bedeutete er finanzielle Sicherheit, bedeutete er Abschied von Pisa, bedeutete er, sich einem politischen und kulturellen Klima entziehen zu können, das ihn seit Monaten aus irgendeinem Grund aufregte. Und vor allem bedeutete er, dass wir im Herbst oder spätestens Anfang des nächsten Jahres heiraten würden und ich Neapel verlassen konnte. Niemand erwähnte diesen letzten Punkt, doch alle gratulierten sowohl Pietro als auch mir. Sogar Nino, der kurz danach auf die Uhr sah, einige säuerliche Bemerkungen über Universitätskarrieren machte und laut sagte, es tue ihm leid, aber er müsse los.

7

Ich bedankte mich bei Adele und ihrem Freund dafür, dass sie sich so für mich und mein Buch eingesetzt hatten. Die zwei geizten nicht mit aufrichtigem Lob für Nino und redeten mit mir, als hätte ich einen Anteil daran, dass er so sympathisch, so intelligent geworden war. Pietro sagte nichts, er ließ nur einen Anflug von Gereiztheit erkennen, als seine Mutter ihn bat, nicht so spät nach Hause zu kommen, sie waren beide zu Gast bei Mariarosa. Sofort sagte ich: »Du brauchst mich nicht zu begleiten, geh ruhig mit deiner Mutter.« Niemand kam auf die Idee, dass ich das ernst meinen könnte, dass ich unglücklich war und lieber allein sein wollte.

Während des ganzen Heimwegs war ich unausstehlich. Ich erklärte, Florenz gefalle mir nicht, und das war nicht wahr. Ich erklärte, ich wolle nicht mehr schreiben, sondern unterrichten, und das war nicht wahr. Ich erklärte, ich sei erschöpft, todmüde, und das war nicht wahr. Und damit nicht genug. Als Pietro mir ohne Umschweife ankündigte, er wolle meine Eltern kennenlernen, schrie ich ihn an: »Du bist wohl verrückt geworden, lass meine Eltern in Ruhe, du passt nicht zu ihnen, und sie passen nicht zu dir!« Da fragte er mich erschrocken:

»Willst du mich denn nicht mehr heiraten?«

Fast hätte ich geantwortet: Stimmt, das will ich nicht, doch ich beherrschte mich rechtzeitig, ich wusste, dass auch das nicht wahr war. Matt sagte ich: »Entschuldige, ich fühle mich nicht wohl, natürlich will ich dich heiraten«, und ich griff nach seiner Hand, verflocht meine Finger mit seinen. Er war klug, außerordentlich gebildet und gutherzig. Ich hatte ihn gern, wollte ihm nicht wehtun. Aber während ich seine Hand hielt, während ich ihm bestätigte, dass ich ihn heiraten wollte, wusste ich doch mit Bestimmtheit, dass ich, wenn er an diesem Abend nicht im Restaurant erschienen wäre, versucht hätte, mir Nino zu angeln.

Es fiel mir schwer, mir das einzugestehen. Es wäre natürlich eine Gemeinheit gewesen, die Pietro nicht verdient hatte, und doch hätte ich sie gern und vielleicht ohne schlechtes Gewissen begangen. Ich hätte einen Weg gefunden, Nino an mich zu ziehen, zusammen mit unserer ganzen Vergangenheit von der Grundschule bis zum Gymnasium, und auch mit der Erinnerung an Ischia und an die Piazza dei Martiri. Ich hätte ihn mir geangelt, obwohl mir seine Bemerkung über Lila nicht gefallen hatte und mich beunruhigte. Ich hätte ihn mir geangelt, und Pietro hätte ich es nie erzählt. Vielleicht hätte ich es Lila erzählen können, aber wann, im Alter womöglich, wenn nach meiner Vorstellung für sie und für mich nichts mehr von Belang sein würde. Die Zeit war wie immer ein entscheidender Faktor. Nino wäre nur eine Nacht geblieben, er hätte mich am Morgen verlassen. Obwohl ich ihn seit jeher kannte, war er aus Träumereien gemacht, ihn für immer an mich zu binden, wäre unmöglich gewesen, er kam aus der Kindheit, war aus kindlichen Sehnsüchten zusammengesetzt, hatte nichts Konkretes und nichts Zukünftiges. Pietro dagegen war heutig, massiv, ein Grenzstein. Er markierte ein für mich völlig neues Terrain, ein Terrain der Vernunft, regiert von Gesetzen, die er aus seiner Familie hatte und die allem einen Sinn gaben. Es galten große Ideale, der Kult des guten Namens, Fragen des Prinzips. Nichts im Reich der Airotas war einfach nur so. Heiraten, zum Beispiel, wurde zu einem Beitrag im Kampf für den Laizismus. Pietros Eltern waren nur standesamtlich getraut, und Pietro hätte, obgleich er meines Wissens über eine umfassende religiöse Bildung verfügte, oder vielleicht sogar deswegen, niemals kirchlich geheiratet, eher hätte er auf mich verzichtet. Das Gleiche galt für die Taufe. Pietro war nicht getauft, Mariarosa ebenso wenig, folglich würden auch unsere Kinder nicht getauft werden. Alles lief so bei ihm ab, er schien beständig von einer höheren Ordnung geleitet zu sein, die ihm, obwohl sie nicht göttlichen, sondern familiären Ursprungs war, doch die Gewissheit gab, auf der Seite von Wahrheit und Gerechtigkeit zu stehen. Was den Sex anging, nun ja, war er vorsichtig. Er wusste genug von meiner Geschichte mit Franco Mari, um daraus zu schließen, dass ich keine Jungfrau mehr war, trotzdem kam er nie darauf zu sprechen, nicht einmal mit einem anklagenden Halbsatz, einer taktlosen Bemerkung, einem kurzen Auflachen. Ich wusste nicht, ob er andere Freundinnen gehabt hatte, und es war schwierig, ihn sich mit einer Hure vorzustellen, ich schloss auch aus, dass er jemals eine Minute seines Lebens darauf verschwendet hatte, mit anderen Männern über Frauen zu reden. Er konnte anzügliche Witze nicht ausstehen. Konnte Geschwätz, Geschrei, Partys und jede Form von unnützem Aufwand nicht ausstehen. Obwohl er aus sehr wohlhabenden Verhältnissen stammte, neigte er – in dieser Hinsicht im Disput mit seinen Eltern und seiner Schwester – zu einer Art von Askese innerhalb des Überflusses. Und er hatte ein ausgeprägtes Pflichtgefühl, nie hätte er seine Pflichten mir gegenüber vernachlässigt, nie hätte er mich betrogen.