Die große Angst - Roland Paulsen - E-Book

Die große Angst E-Book

Roland Paulsen

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Warum fühlen wir uns schlechter, obwohl wir besser leben als je eine Gesellschaft zuvor? Was macht unser Leben heute komplizierter? Und warum sind Angststörungen und Depressionen gerade jetzt auf einem Höchststand? Dem geht der schwedische Soziologe Roland Paulsen in seiner klugen Analyse der Angst auf den Grund. Er zeigt, dass das Vermeiden jeglicher Risiken und die moderne Unfähigkeit, Unsicherheiten auszuhalten, zu einem weit verbreiteten Angstgefühl führen. So erhöht die schiere Menge an Möglichkeiten, die uns in jedem Lebensbereich offensteht, die Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheidungen und damit die Angst davor. Überinformation führt nicht zu Beruhigung, sondern zu Verunsicherung und Gedankenspiralen: Was, wenn ... Mit seinem intelligenten Porträt unseres »Zeitalters der Angst« trägt Paulsen dazu bei, dass wir die Welt und uns selbst besser verstehen. Und vielleicht etwas weniger ängstlich auf unser Leben blicken.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 519

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Warum fühlen wir uns schlechter, obwohl wir besser leben als je eine Gesellschaft zuvor? Was macht unser Leben heute komplizierter – abgesehen von aktuen Krisen wie der COVID-19-Pandemie? Und warum sind Angststörungen und Depressionen gerade jetzt auf einem Höchststand? Dem geht der schwedische Soziologe Roland Paulsen in seiner Betrachtung der Angst auf den Grund. Er zeigt anhand von konkreten Fallbeispielen und wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass das Vermeiden jeglicher Risiken und die moderne Unfähigkeit, Unsicherheiten auszuhalten, zu einem weitverbreiteten Angstgefühl führen. So erhöht die schiere Menge an Möglichkeiten, die uns in jedem Lebensbereich offensteht, die Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheidungen und damit die Angst davor. Verunsicherung und Gedankenspiralen sind die Folge. Der Blick in die Geschichte zeigt: Unser »Zeitalter der Angst« ist ein sehr junges Phänomen. In seiner klugen Gesellschaftsanalyse verdeutlicht Paulsen, wie es so weit kommen konnte und was wir gegen die Angst tun können. So trägt er dazu bei, dass wir uns und die Welt, in der wir leben, besser verstehen.

Autor

Dr. Roland Paulsen, geboren 1981, ist außerordentlicher Professor für Soziologie an der Universität Lund, Schweden, und ein vielfach ausgezeichneter Autor. Außerdem schreibt er für die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter.

ROLAND PAULSEN

DIE GROSSE ANGST

Warum wir uns mehr Sorgen machen als je eine Gesellschaft zuvor

Aus dem Schwedischen von Ricarda Essrich und Ulrike Brauns

Die schwedische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Tänk om« bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm, Schweden.Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe Mai 2021

Copyright © 2020 der Originalausgabe: Roland Paulsen

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe: Mosaik Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Buch wurde vermittelt von Bonnier Rights, Stockholm, Schweden.

Umschlag: Sabine Kwauka

Umschlagmotiv: shutterstock / imagewriter

Redaktion: Nadine Lipp

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

KW ∙ IH

ISBN 978-3-641-27807-6V002

www.mosaik-verlag.deBesuchen Sie den Mosaik Verlag im Netz

Für Anna

»Denken Sie mal an das alte Klischee, der Geist sei ein ›ausgezeichneter Diener, aber ein schrecklicher Herr‹. Oberflächlich betrachtet ist das nur ein weiteres lahmes und banales Klischee, aber auf den zweiten Blick birgt es eine große und schreckliche Wahrheit. Es ist keineswegs Zufall, dass Erwachsene, die mit Schusswaffen Selbstmord begehen, sich fast immer in den Kopf schießen.«

David Foster Wallace 1

Inhalt

Vorwort

Ein Fenster zu den Gedanken

Ohrenbetäubende Gedanken

Mit der Unsicherheit leben

TEIL 1 Angst in der heutigen Zeit

Wie es uns geht

Die Launen des Glücks

Unglück als Massenphänomen

Abschiedsbriefe

Der Herrscher im Kopf

Was sind Ängste und Sorgen

Gedanken über das, was nicht existiert

Kontrafaktische Verschiebung

Denken Sie nicht an einen Eisbären

Opposition im Kopf

In den Klauen der Gedanken

Die Grenzen der Logik

Absturzgefahr

Gedanken als Krankheit

Die Maschinerie des Denkens

TEIL 2 Ein Blick in die Geschichte: Wie wir hier gelandet sind

Zeithorizonte

Eine Zeit ohne Zeit

Lebensintensität

Ausweitung des Zukunftshorizonts

Der Kampf gegen die Zukunft

Entzauberungen

Ein entzaubertes Leben

Wie ein Uhrwerk

Homo mechanicus

Anhängsel der Maschinen

Überschuss und ökonomisches Ungleichgewicht

Abbau des Handwerks

Die Arbeit als Halt

Das Leben, das nicht Schritt hält

Die Welt als Risiko

Die Rationalität des Risikos

Die Moral des Risikos

Die Wahrnehmung des Risikos

Risikopolitik

Risiken, die sich selbst bewirken

Das Ich als Risiko

Das Innere

Zusammen allein

Auswertung des Inneren

Latente Homosexualität

Was, wenn ich jemanden getötet habe?

Vernichtung von Erfahrungen

Unter Selbstverdacht

Risikobereiche

Risikobereich I: Religion

Risikobereich II: Sexualität

Risikobereich III: Aggression

Risikobereich IV: Beziehungen

Der Mut, nicht allem Bedeutung beizumessen

TEIL 3 Die Maßnahmen unserer Zeit: Was wir tun (können)

Die Sorgen im Zaum halten

Momente des Schweigens

Von der Ablenkung zur Sucht

Neue Erkenntnisse aus der Therapiefabrik

Der Wunsch, nur noch zu fühlen

Die Sorgen, die bleiben

Mit den Sorgen leben

Krankheit und Situation

Akzeptanz

Unsichere Weisheiten

Was wir tun, wenn wir mit Sorgen leben – oder warum das Handlungsproblem bleibt

Jenseits der Therapie

Dank

Anmerkungen

Personenregister

Sachregister

Vorwort

Die Frage Was, wenn? ist ein Gedankenspiel. Was, wenn? hat uns bis auf den Mond gebracht und uns die Welt der Partikel erschlossen. Was, wenn? hat aber auch zu Genozid und wirtschaftlichen Katastrophen geführt.

Während ich dies hier schreibe, beherrschen folgende Was, wenn?-Fragen weltweit den Alltag: Was, wenn zu wenig getan wird, um die COVID-19-Pandemie aufzuhalten? Was, wenn zu viel getan wird? Was, wenn die Maßnahmen zu einer Wirtschaftskrise führen? Was, wenn durch die daraus resultierende Arbeitslosigkeit und Armut noch mehr Menschen sterben? Was, wenn die Impfung nicht reicht? Was, wenn wir von nun an mit regelmäßigen Corona-Ausbrüchen rechnen müssen?

Während sich die Fragen wie von selbst stellen, sind die Antworten schwerer zu finden, obwohl sich die führenden Expertinnen und Experten der Welt mit ihnen befassen. Was passiert also, wenn sich eine Einzelperson mit ähnlichen Was, wenn?-Problemen konfrontiert sieht?

Damit beschäftige ich mich in diesem Buch, mit der Frage, wie kompliziert das Leben geworden ist. Wer selbst noch keine längere Phase der Depression durchgemacht hat oder an einer Angststörung leidet, hat höchstwahrscheinlich nahe Verwandte, auf die das zutrifft. Vielen von uns geht es schlecht, sogar so schlecht, dass dieses Gefühl Teil des Alltags geworden ist.

Im Jahr 2017 meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) etwas, vor dem sie bereits lange warnte und dessen Eintreffen sie noch wenige Jahre zuvor erst für 2030 prognostiziert hatte: Weltweit hatten Depressionen körperliche Erkrankungen von der Spitze der häufigsten gesundheitlichen Beeinträchtigungen verdrängt. In nur zehn Jahren war die Zahl der Menschen, die an Depressionen litten, um fast 20 Prozent gestiegen. Angststörungen sind mittlerweile sogar noch weiter verbreitet als Depressionen.

Auch wenn es zum Leben dazugehört, sich schlecht zu fühlen, scheint es ein immer größer werdender Teil des Lebens zu sein. Es handelt sich nicht länger um ein Sozialkonstrukt, nicht länger darum, wie es uns geht oder wie wir über unser Wohlbefinden sprechen. Alle verfügbaren Statistiken kommen zum selben Ergebnis: Wir fühlen uns schlechter denn je.

Dieses Buch will zeigen, warum Sorgen und Ängste so lebensbestimmend geworden sind. Es illustriert die Entwicklung von der Urzeit bis zum heutigen Tag, wo die Menschen wie gebannt sind von der Zukunft, von Ursache und Wirkung, von Risiken und Katastrophen, von ihren eigenen Gedanken und Gefühlen – eine zunehmende Entzauberung der Welt, wobei die Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit nur eines von vielen Symptomen ist.

In den vergangenen vier Jahren bin ich tief in Statistiken eingetaucht und habe eine Übersicht über das menschliche Leid zusammengetragen. Zudem habe ich mit vielen Menschen über ihre Probleme gesprochen. Ich wollte über konkrete Personen, über konkrete Probleme schreiben, jenseits von Statistiken und Diagnosen. Einer dieser Menschen ist Patrick, der sich so sehr in seinen Gedanken verlor, dass er seine Frau und Kinder nicht mehr wahrnahm; Samira, die nach ihrer Scheidung fast vierzig Ayahuasca-Trips gemacht und dabei Gott getroffen hat; Helena, die in nur einem Jahr auf vier unterschiedliche Krebsarten untersucht wurde, ohne dass sie tatsächlich krank war; und Daniel, der viele Jahre lang mit dem Zwangsgedanken lebte, pädophil zu sein.

Viele von ihnen sind extreme Beispiele, und dennoch unterscheiden sie sich gar nicht so sehr von denjenigen unter uns, die sich mit weit »normaleren« Alltagsproblemen durchs Leben schlagen. Die Fixierung auf Katastrophenszenarien bei Angststörungen, das Pendeln zwischen Obsession und Zwang bei Zwangsstörungen, die sich selbst erfüllende Angst vor einer Panikattacke bei Panikstörungen sind nur unterschiedliche Ausprägungen derselben zugrunde liegenden Angstmuster. Alle zusammen stehen sie für eine historische Entwicklung, die zu diesem Zeitpunkt geradewegs in die falsche Richtung steuert – eine Ausrichtung, die sich aber jederzeit ändern könnte.

Ich hoffe, dass Ihnen dieses Buch gefallen wird, aber mehr noch wünsche ich Ihnen die heilsame Erkenntnis, dass wir alle dasselbe einsame Leiden in uns tragen.

Roland Paulsen

Ein Fenster zu den Gedanken

In der griechischen Mythologie gingen laut Äsop drei Götter einen Wettstreit ihrer Kunstfertigkeiten ein. Poseidon erschuf einen Stier, Athena ein Haus und Zeus einen Menschen. Als Schiedsrichter wählten sie Momos, den Meister der Kritik. Dieser hatte aber an allen Werken etwas auszusetzen. Beim Stier bemängelte er die Platzierung der Augen. Sie hätten direkt unter den Hörnern befestigt sein sollen, damit der Stier sehen konnte, wohin er stieß. Das Haus erschien ihm eine Fehlkonstruktion, denn es hatte keine Räder, um es bei einem Umzug mitnehmen zu können. Am Menschen war falsch, dass er seine Gedanken vor anderen verbergen konnte. Momos fand, in seinem Brustkorb fehle ein Fenster, durch das alle sehen konnten, was er dachte. Zeus war die Mäkelei zu viel, und er warf Momos vom Olymp.

In Äsops Fabeln, der ältesten schriftlichen Quelle dieses Mythos, begründet Momos nicht, warum er sich einen Einblick in das Innere des Menschen wünscht. Diese Interpretation wird dem Lesepublikum überlassen. In einer spätantiken Version des Mythos steht, Momos wollte leichter unterscheiden können, ob ein Mensch log oder die Wahrheit sprach. Das wäre eine gute Erklärung, darüber hinaus kann man sich aber auch andere Gründe vorstellen, warum ein Fenster zu den Gedanken der Menschen interessant sein könnte. Nicht zuletzt könnte ein solches Fenster den Menschen helfen, sich weniger einsam zu fühlen.1

Dass wir das Unglück anderer unterschätzen, ist ein reichlich belegtes Phänomen. Das Fazit von Studien, deren Teilnehmer zunächst ihre eigenen Probleme schildern und dann die Probleme anderer einschätzen sollen, ist eindeutig: Wir glauben, die anderen haben es leichter als wir. Dies gilt sowohl für Fremde als auch für Menschen, die wir kennen. Wer das Unglück anderer am meisten unterschätzt, leidet selbst auch am meisten. Bereits die Vorstellung, andere seien viel glücklicher, sorgt für Angst und Kummer. Hinter dieser Vorstellung können mitunter Neidgefühle stecken, aber oft geht es eher darum, dass man das eigene Leid weniger als Niederlage empfindet, wenn man weiß, dass auch andere es schwer haben.2

Wie groß erst wäre unsere Angst, wenn wir wüssten, wie es wirklich in unseren Mitmenschen aussieht?

Ohrenbetäubende Gedanken

Daniel ist Musiker. Er hat dichtes braunes Haar, und man kann sich gut vorstellen, wie er den Kopf zu einer Sonate über dem Cello wiegt. Obwohl ich weiß, dass Daniel Probleme hat – deshalb haben wir uns zu einem Gespräch verabredet –, macht er bei unserem ersten Treffen einen glücklichen Eindruck auf mich. Das weckt direkt ein Bild von seiner Kindheit in meiner Vorstellung: gesunde Ernährung, Eltern, die sich nicht getrennt haben, Trainingslager und endlose Ferien im Sommerhaus. Ein Aufwachsen geprägt von der Liebe zu seinem Cello, das er schon von Kindesbeinen an beherrschen wollte. Ein musisches Leben unter Gleichgesinnten am Konservatorium, das ihm Auslandsaufenthalte in Paris und Straßburg ermöglicht hatte. Vieles davon ist tatsächlich Teil seiner Biografie. Die Musik war immer ein Lichtblick, selbst während eintöniger Wiederholungsübungen bot sie ihm Zuflucht. Heute bedauert er, dass er sich ihr nicht noch intensiver gewidmet hat. Vielleicht hätte sie ihn vor all dem anderen bewahrt, nicht zuletzt vor seinem verheerenden Streben danach, ein durch und durch guter Mensch zu sein.

Nicht, dass etwas falsch daran wäre, gut zu sein. An dem Ziel an sich ist nichts auszusetzen. Die Frage ist nur, was es eigentlich bedeutet, »gut zu sein«. Für Daniel bedeutet es ganz grundsätzlich, Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. Aber was genau heißt das?

In Daniels Heimatort gab es einen Fluss. Im Sommer badeten die Kinder darin, im Winter liefen sie über das Eis. Daniel mochte es, am Brückengeländer zu stehen und auf den Fluss zu schauen, oder Steine hineinzuwerfen und zu beobachten, wie sie vom schwarzen Wasser verschluckt wurden. Eines Tages sammelte er nach der Schule ein paar Steine am Straßenrand und warf sie in den Fluss. Danach ging er heim.

Als er später im Bett lag und schlafen sollte, kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht etwas Dummes getan hatte.

Vor ein paar Jahren hatte jemand ein Fahrrad in den Fluss geworfen. Seither lag es dort, niemand hatte es geborgen. Die Vorstellung, dass es dort am Grund, halb versunken im Sand, vor sich hin rostete, belastete ihn.

Was, wenn?

Er erinnert sich, dass ihm der Gedanke wie ein Scherz vorkam. Man konnte ihn unmöglich ernst nehmen. Die Vorstellung war nicht nur unrealistisch, sondern auch unwahrscheinlich. Gut, nicht völlig unwahrscheinlich. Es bestand ja ein Risiko. Aber das war lächerlich gering. Unwirklich. Selbstverständlich konnte einer der Steine, die er in den Fluss geworfen hatte, das Fahrrad auf dem Grund getroffen haben. Unwahrscheinlich, aber möglich. Darüber hinaus bestand ein sehr geringes Risiko, dass sich durch den Stein Rost vom Fahrrad gelöst haben konnte.

Ein geringes Risiko? Minimal. Aber dennoch ein Risiko. Ungefähr vergleichbar mit dem Risiko, dass ein Flugzeug abstürzt, dachte er. Oder vielleicht eher, dass die Erde von einem Asteroiden getroffen wird. Winzige Risiken – die manchmal zu Katastrophen führten. Und dann bestand das Risiko, dass der Rost, der sich gelöst hatte, nun im Wasser verteilt wurde und … Nein, jetzt sprachen wir von einem verschwindend geringen Risiko, einem unmöglichen Risiko.

Trotzdem.

Der Gedanke kam ihm.

Was, wenn der Rost, der sich vielleicht durch den Stein, den er geworfen hatte, vom Fahrrad gelöst hatte, nun die Fische im Fluss vergiftete?

Ein irrer Gedanke. Das war ihm sofort bewusst. Dennoch: Das Risiko bestand. Und wenn er eine derartige Katastrophe verursacht hatte, musste er dann nicht auch die Verantwortung dafür übernehmen?

Er warf sich im Bett hin und her. Konnte den Gedanken nicht ernst nehmen.

Trotzdem belastete er ihn, er wog schwer. Und je mehr er darüber nachdachte, desto größer wurde die Belastung. Nicht zuletzt, weil er anfing, den Gedanken weiterzuspinnen. Vor seinem inneren Auge sah er schon die Lokalzeitung mit Bildern von toten Fischen, die an der Oberfläche trieben. Er sah einen Polizisten, der sagte, es gäbe noch keine Verdächtigen, aber Zeugen hätten ausgesagt, dass ein Junge massenhaft Steine von der Brücke geworfen habe. Vielleicht noch einen Experten, der erklärte, dass man selbstverständlich nicht einfach Steine in den Fluss werfen dürfe, wenn dort Schrott auf dem Grund lag, bei all den Folgen, die das für »die Fauna«, »das Biotop« und »das Ökosystem« haben konnte.

Er betrachtete den Eingangsgedanken noch einmal. Verrückt! Und doch war er schon im nächsten Moment wieder da. Warum hatte er gleich mehrere Steine in den Fluss geworfen? Und warum diesen großen?

Der Gedanke hielt ihn wach. Sollte er nicht etwas unternehmen? Mit einem Erwachsenen reden? Dabei war die Vorstellung doch so verrückt, er wusste schließlich, dass nichts davon zutraf. Aber warum beschäftigte es ihn dann? Und was, wenn es doch zutraf? Schon hatte er wieder die Bilder der toten Fische vor Augen. Alle anderen im Haus schliefen längst, nur Daniel lag wach. Lange. Am nächsten Morgen hörte er in sich hinein, als er die Augen aufschlug.

War der Gedanke immer noch da?

Ja, war er. Mehrere Tage lang drückte er ihm aufs Gemüt.

Er diskutierte mit sich selbst. Sollte er sich vielleicht selbst anzeigen, es einfach gestehen, damit alles seinen Lauf nehmen konnte? Aber sie würden ihn auslachen! Das war das Schlimmste. Das, was er da möglicherweise getan hatte, machte ihm Angst, was seine Angst wiederum verstärkte, denn wenn er solche Angst hatte, bedeutete das doch, dass er den zugrunde liegenden Gedanken ernst nahm. Etwas war nicht in Ordnung, etwas war mit ihm passiert.

Am Ende beschloss er, die Verantwortung für seine Tat zu übernehmen und sie seiner Mutter zu gestehen. Da diese jedoch augenscheinlich nicht nachvollziehen konnte, wo das Problem war, musste er jedes mögliche Gefahrenmoment so sorgfältig wie möglich beschreiben, damit wirklich deutlich wurde, was er angestellt hatte. Bis heute ist er sich nicht sicher, ob sie die Lage wirklich verstanden hat, dieser Moment legte jedoch den Grundstein für eine lange Serie von Bekenntnissen und beruhigenden Worten zwischen den beiden.

Dabei konnte es um alles Mögliche gehen, angefangen bei der Todesangst, er könne Krebs bekommen, bis hin zu einem diffusen Gefühl von Unsicherheit, bei dem die drohende Katastrophe weniger eindeutig war. Oft machte er sich Sorgen, die Schulbücher zu Hause vergessen zu haben. Oder den Schlüssel für den Spind. Sollte er nicht besser noch mal nachsehen? Auch wenn seine Mutter ihm versicherte, dass er gerade erst in den Rucksack geschaut hatte, kam es vor, dass er auf dem Schulweg den Reißverschluss noch zehnmal aufzog, um zu prüfen, ob alles an Ort und Stelle war. Rein theoretisch konnte er sich ja vorher verguckt haben. Manchmal blieb er dann ganze 20 Minuten vor seinem Spind stehen, um sich zu vergewissern, dass dieser richtig abgeschlossen war.

»Warum war das so wichtig für dich?«

»Das kann ich gar nicht so genau sagen, es war einfach wichtig, in der Schule gut zu sein. Auf Prüfungen habe ich mich wochenlang vorbereitet. Ich weiß nicht, woran es lag, vielleicht an meiner Persönlichkeit. Wahrscheinlich glaubte ich, alles würde zugrunde gehen, wenn ich mich nicht benahm. Auch wenn mir gar nicht genau klar war, was ›zugrunde gehen‹ in meinem Fall eigentlich bedeuten würde.«

Die Sorgen wandelten sich und wurden selbst zum Ursprung weiterer Sorgen. Was stimmte eigentlich nicht mit ihm? Jedes Mal, wenn er seiner Mutter etwas gestand, wusste er bereits, was sie sagen würde, um ihn zu beruhigen, und auch, dass sie recht hatte. Trotzdem waren die Zweifel wie ein ständiges Raunen im Kopf, dem nur Sport und intensives Musizieren Einhalt gebieten konnten.

Selbst nachdem Daniel von zu Hause ausgezogen war, um sein Ingenieurstudium zu beginnen, rief er weiterhin seine Mutter an, damit sie ihn beruhigen konnte. Kaum hatte er seine Bachelor-Arbeit abgegeben, überfiel ihn die tiefe Sorge, er könnte ein Plagiat angefertigt haben. Schließlich hatte ihm ein Kommilitone ein paar Vorschläge für den Theorieteil gemacht. Obwohl Daniel eigentlich wusste, dass das kein Plagiat war, googelte er die Kriterien. Die vielen Diskussionen, was nun tatsächlich Plagiat war und was in eine Grauzone fiel, ließen sich auf seinen Fall nicht übertragen. Obwohl, vielleicht doch, auf sehr abstrakter Ebene?

Er machte sich Sorgen, die rechtlichen Vorgaben falsch gedeutet zu haben. Also suchte er nach Präzedenzfällen und setzte eine Liste mit Argumenten auf, die die Anklage gegen ihn vorbringen konnte. In der nächsten Spalte formulierte er die Gegenargumente seines Verteidigers. Er stellte sich vor, dass er von der Uni fliegen und was dann in der Studentenzeitung über ihn stehen würde. Seine Mutter beruhigte ihn, so gut sie konnte, aber in seinem Kopf ging das Gerichtsverfahren noch stundenlang weiter. Bald schon war er bei der klassischen Aussagenlogik angelangt und Experte für Urheberrecht geworden.

Die Plagiatssorgen verschwanden erst, als er sich gedanklich in die nächste Misere hineinsteigerte. Und im Vergleich zu den neuen Qualen wirkten seine früheren Grübeleien wie eine Phase meditativen Seelenheils.

Für Daniel war es immer konfliktbehaftet gewesen, Pornoseiten zu besuchen. Schon in jungen Jahren brachte es das Gedankenkarussell in Schwung. Warum zum Beispiel war es erregend, einer Frau dabei zuzusehen, wie sie einem Mann einen blies? Was, wenn nicht der Anblick der Frau, sondern die Erektion des Mannes ihn erregte? Hieß das, dass er schwul war? An sich wäre das kein Problem, nur nahm er sich nicht als homosexuell wahr. Er fühlte sich von Frauen angezogen, nicht von Männern. Aber machte er sich nur selbst etwas vor? Was, wenn er tief im Inneren doch schwul war, ohne es zu wissen? Vielleicht war er schlicht homophob, so wie die Priester, die Homosexualität als Teufelswerk verurteilten, nur um dann im nächsten Moment mit einem Mann in einer öffentlichen Toilette erwischt zu werden.

Dieses Mal nahm seine Mutter seine Sorgen sehr ernst. Sie wollte nicht, dass er sich schämte, falls er schwul war, und versuchte, die Frage offenzuhalten.

Als Daniel der Verdacht plagte, pädophil zu sein, konnte er seine Mutter nicht länger um Hilfe bitten. Er war gerade als Austauschstudent an der Uni in Straßburg angenommen worden und hatte dort sogar schon Kontakt zu einem Ensemble aufgenommen. Beim Anklicken einer Pornoseite öffnete sich plötzlich eine Unmenge an Pop-up-Fenstern. Während er sie wegklickte, entdeckte er ein Fenster mit etwas, das er für Kinderpornografie hielt. Sofort rauschte das Blut in seinen Ohren. Daniel bekam Panik und fuhr hektisch seinen Computer herunter.

»Ich hatte solche Angst, dass ich mich unter dem Bett verkroch.«

Konnte Kinderpornografie einfach so auf seinem Bildschirm auftauchen? Musste man sich dafür nicht in dieses »Dark Net« begeben? Hatte er einen Virus auf dem Computer, der mit Google interagierte? Andererseits: Arbeitete Google nicht aktiv daran, die Verbreitung solcher Seiten zu verhindern?

Er googelte.

Gedanken, die er nie für möglich gehalten hätte, übernahmen die Kontrolle. In seinem Kopf wurde ein neues Gerichtsverfahren gegen ihn eröffnet. Ein Was, wenn? reihte sich ans nächste, und je mehr er über sie nachdachte, desto glaubwürdiger und gleichzeitig unglaubwürdiger fand er sie.

Was, wenn?-Nr. 1: Was, wenn dies tatsächlich als Besitz von Kinderpornografie galt? Im Netz stand, man machte sich schuldig, sobald man solche Inhalte aus dem Netz lud.

Was, wenn?-Nr. 2: Was, wenn die Polizei ihn verdächtigte und auf seinem Computer irgendwelche digitalen Spuren fand? Aber warum sollte sich die Polizei für seinen Rechner interessieren?

Was, wenn?-Nr. 3: Was, wenn sein Rechner bei seiner Google-Suche einem Einsatzkommando gegen Cyberkriminalität ein Signal übermittelt hatte? Himmel, seine Suche musste ja verdächtig klingen: Wie findet man Kinderpornografie? Wenn das keinen Alarm auslöste, war der Geheimdienst nicht der Rede wert.

Was, wenn?-Nr. 4: Was, wenn die Polizei nun gegen ihn ermittelte und seine Internetaktivitäten überwachte? Obwohl, wäre das nicht eigentlich gut? Denn dann würden sie ja sehen, dass es ansonsten keine verdächtigen Seitenaufrufe gegeben hatte. Genau. Obwohl – siehe Was, wenn?-Nr. 1.

Was, wenn?-Nr. 5: Was, wenn die Staatsanwaltschaft Ermittlungen anstrengte? Wie hohl würden seine Rechtfertigungen klingen? Aber ein Staatsanwalt würde das doch verstehen, oder? Er hatte ja nichts getan, das mussten sie doch begreifen. Selbst wenn es eine Untersuchung gab, konnte die Staatsanwaltschaft das Beweismaterial als zu schwach einstufen, um einer juristischen Überprüfung standzuhalten – das wusste er von früher.

Was, wenn?-Nr. 6: Was, wenn es zur Gerichtsverhandlung kam und er gezwungen wäre, sich einen Verteidiger zu suchen? Würde er den Prozess überhaupt überstehen?

Was, wenn?-Nr. 7: Was, wenn er freigesprochen wurde? Das wäre besser als eine Verurteilung, aber würde er damit leben können, überhaupt verdächtigt worden zu sein? Wurde so etwas in einem Register vermerkt? »Kein Rauch ohne Feuer«, hieß es doch. Würde er sich sein Leben lang rechtfertigen müssen?

Was, wenn?-Nr. 8: Was, wenn er verurteilt wurde?

Daniel sagt, mit jedem neuen Was, wenn? bekam die Angst neues Futter.

»Das ist heute noch so. Es beruhigt mich nicht, dass das Risiko, dass ich überführt werde, bei einem Zehntelpromille liegt. Dass überhaupt ein Risiko besteht, reicht aus, dass ich an nichts anderes denken kann. In diesem Fall ging es schließlich so weit, dass ich mir auszumalen begann, was ich tun würde, wenn im Falle einer Verurteilung all meine Freunde mir den Rücken zukehren würden.«

»Was würdest du tun?«

»Ich würde Mönch werden, mich in die Einsamkeit zurückziehen.«

Parallel zu den juristischen Sorgen stellte er auch seine eigene Sexualität wieder infrage – diesmal aber mit einer Komponente, die unerträglich war. Warum beschäftigte ihn das eigentlich so sehr? Hatte er nur Angst vor den rechtlichen Konsequenzen, oder steckte noch etwas ganz anderes dahinter? Wochenlang hatte er darüber nachgedacht, wie man an Kinderpornografie kam – war das nicht seltsam? Sicher, er wollte sich vergewissern, dass er sich nicht eines Verbrechens schuldig gemacht hatte. Aber was, wenn ein anderes, verborgenes Motiv dahintersteckte? Was, wenn er unbewusst pädophil war? Was, wenn eigentlich das die Ursache all seiner früheren Probleme war?

Die Gedanken dröhnten nur so in seinem Kopf. Daniel fühlte die Schuld und Scham eines Pädophilen, ohne in der Sache an sich auch die Erregung zu spüren. Zugleich war das sein einziger Trost, der Strohhalm, der ihm sagte, dass er sich all das nur einbildete: der Gedanke, dass Pädophilie ihn einfach nur mit Ekel erfüllte. Aber was, wenn dieser Ekel die eigentliche Erregung war? Konnte er wirklich sicher sein, dass er nicht erregt war?

Während seines Austauschjahrs in Straßburg stellte er sich selbst auf die Probe.

»Es ging so weit, dass ich Kinder schließlich kaum noch ansehen konnte, ohne mich zu fragen, ob ich sexuell von ihnen angezogen wurde. Und das an sich war ja schon verdächtig. Warum guckt man überhaupt hin, wenn man keine Anziehungskraft spürt?«

Daniel konnte sich selbst nicht mehr davon überzeugen, dass er nicht pädophil war. Vor seinem inneren Gericht verlor er ein Berufungsverfahren nach dem anderen. Wenn er das alles als Einbildung abtat, warf er sich Verdrängung vor. Wenn er nach Anzeichen sexueller Erregung suchte, verhielt er sich wie ein Pädophiler. Wenn er beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken, kamen die Gedanken trotzdem. Und dass er nicht aufhören konnte, an Pädophilie zu denken, war doch Beweis genug, oder?

Da es mit der Zeit nicht besser, sondern noch schlimmer wurde, weil die Angst sich potenzierte, je länger er sich in diesem gedanklichen Hamsterrad befand, wandte Daniel sich an die Gesundheitsberatung der Universität Straßburg. Er beschrieb sein Gedankenkarussell in groben Zügen, traute sich aber nicht, all seine Gedanken und Gefühle laut auszusprechen. Erst nach seiner Rückkehr nach Schweden vertraute er sich einer Psychiaterin an.

Als Daniel ihr alles geschildert hatte, sagte die Psychiaterin etwas, das sein Leben rettete. Sie erklärte: Wenn sie sicherstellen wollte, dass ihre Kinder keine Opfer von Missbrauch wurden, würde sie Daniel als Babysitter engagieren. Er sei nämlich nicht pädophil. Im Gegenteil: Hätte er keine Aversion gegen Pädophilie gehabt, hätte sich das Thema nie zu einem Zwangsgedanken entwickelt.3

Mit der Unsicherheit leben

Daniel leidet an einer Zwangsstörung, die man auf Englisch Obsessive Compulsive Disorder (OCD) nennt, genauer gesagt, an einer Obsession. Unerwünschte Gedanken wie »Was, wenn ich pädophil bin« drängen sich ihm auf und bestimmen sein Denken. Solche unerwünschten Gedanken können wir alle haben. Problematisch wird es erst, wenn wir sie nicht zulassen, sondern »neutralisieren« wollen – also verurteilen oder widerlegen –, woraufhin sie paradoxerweise einen Sinn bekommen und immer vorherrschender werden.

Es ist nicht klar, wie diese Störung entsteht, es gab in den letzten Jahren jedoch verschiedene Theorien dazu. Die beiden folgenden Theorien hatten einen besonders großen Einfluss auf die Medizin:

Die Ursache für Daniels Problem ist eine dysfunktionale Verbindung im Gehirn, wahrscheinlich zwischen dem Orbitofrontalkortex, den Basalganglien und dem Thalamus. Vereinfacht gesagt verarbeitet der Orbitofrontalkortex sensorische Informationen, um Signale an die Basalganglien zu schicken, die wiederum Signale an den Thalamus schicken. Dieser ist für die Steuerung der Motorik und – so vermutet man – die Neutralisation unerwünschter Gedanken zuständig und sendet Informationen zurück an den Orbitofrontalkortex. Das Ganze erfolgt in einem ständigen Kreislauf. Problematisch wird es, wenn der Thalamus fehlerhafte Warnsignale an den Orbitofrontalkortex sendet, weil er die falsche sensorische Information erhalten hat: Es besteht keine Gefahr. Dann stimmen das erwartete und das tatsächliche Ergebnis des zu neutralisierenden Gedankens nicht überein. Eine erneute Neutralisation scheint erforderlich zu sein – eine »Trial and Error«-Spirale.4Daniel hat eine Hypermoral entwickelt, um unbequeme Wahrheiten über sich selbst zu verbergen und zu kompensieren. Dabei geht es unter anderem um unterbewusste Schuldgefühle wegen Onanie in der Jugend, aber auch um aggressive Impulse, die durch die Hypermoral aus dem Bewusstsein verdrängt werden und als Zwangsgedanken wiederkommen. Sigmund Freud führt als Beispiel für diesen Vorgang den sogenannten Rattenmann-Fall an. Ein Mann hatte Angst, dass sein Vater und seine zukünftige Frau einer Foltermethode ausgesetzt werden könnten, bei der eine ausgehungerte Ratte sich durch den Enddarm frisst. Der Gedanke bereitete ihm Qualen und Ekel und setzte sich als Zwangsgedanke fest. Freud folgerte, dies sei ein Ausdruck verdrängter Analerotik. Indem er an die Ratte im Anus des Vaters dachte, vermied der Mann, sich mit seiner analerotischen Neigung auseinanderzusetzen. Daraus würde man also schließen, dass Daniels Zwangsgedanken, wie schrecklich sie auch erscheinen mögen, ihm dabei helfen, eine noch unbequemere Wahrheit über sich selbst zu verbergen.5

Es ist möglich, dass beide Theorien zutreffen, denn die eine schließt die andere nicht aus. Aber beide weisen Mängel auf. Sie gehen etwa nicht der Frage nach, wie Daniels Problem entstanden ist. Wenn die Ursache der Zwangsgedanken auf eine dysfunktionale Verbindung im Gehirn zurückzuführen ist, wie ist es dazu gekommen? Wenn Daniels Störung mit einer Hypermoral zusammenhängt, die schambehaftete Wünsche verdrängt, woher kommt diese Hypermoral? Was könnte ihr vorausgegangen sein?

In diesem Buch möchte ich eine dritte Theorie aufstellen. Ich nehme an, dass Daniels Problem die extreme Ausprägung einer erlernten Unfähigkeit ist. Bis zu einem gewissen Grad leiden die meisten Menschen darunter, doch in den letzten zwei Jahrhunderten fand eine radikale Steigerung statt. Diese Unfähigkeit lässt sich nicht nur im individuellen Handeln, sondern auch in der Gesellschaft, Politik, Gesetzgebung, Technologie und bei der Arbeit beobachten. Es handelt sich also nicht um ein individuelles Symptom, sondern um ein Krankheitsbild: Der moderne Mensch ist ganz allgemein unfähig, mit Unsicherheit zu leben.

Das Denken in Kausalitäten (Was, wenn …) ist ein Werkzeug im Umgang mit Unsicherheit. Wir stellen uns Dinge vor, die passiert sind oder vielleicht passieren könnten. Wir berechnen Wahrscheinlichkeiten und wägen Risiken gegeneinander ab. Während ich diese Sätze schreibe, dreht sich die öffentliche Diskussion fast ausschließlich um verschiedene Was, wenn?-Szenarien rund um das Thema COVID-19.

Glücklicherweise lassen sich viele dieser Was, wenn?-Überlegungen schnell auflösen. Seit Beginn der Pandemie haben sich die Zugriffszahlen auf vielen größeren Nachrichtenportalen verdoppelt. Uns stehen Statistiken, wissenschaftliche Abhandlungen und zahllose Experten zur Verfügung, die sich in ihrem Berufsleben ausschließlich mit epidemiologischen Fragen wie diesen beschäftigen. Dennoch wirkt die Zukunft ungewiss und jede Entscheidung diskutabel. Die Fachleute sind sich nicht einig. Und die Meinungsverschiedenheiten spiegeln sich nicht zuletzt in der unterschiedlichen Ausprägung der Maßnahmen wider, die die Regierungen weltweit verhängt haben: Einreiseverbote, Ausgangssperren, Schul-, Universitäts- und Restaurantschließungen und das Verbot von größeren Menschenansammlungen. Überall wird hitzig diskutiert, inwiefern die Maßnahmen zu zaghaft oder viel zu drastisch gewesen sind.6

Wenn sich ein Mensch privat mit ähnlichen Was, wenn?-Fragen konfrontiert sieht, kann es ganz schön kompliziert werden.

Was, wenn?-Spiralen haben in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. In den 1970er-Jahren ging man noch davon aus, dass schätzungsweise 0,005 bis 0,05 Prozent der US-Bürgerinnen und -Bürger unter Zwangsgedanken litten. Praktizierenden Psychologen konnte es passieren, dass sie während ihrer beruflichen Laufbahn nie einen Patienten mit einer Zwangsstörung zu sehen bekamen. 1973 schrieb ein amerikanischer Forscher, Zwangsstörungen gehörten »ohne Zweifel zu den ungewöhnlichsten Formen der psychischen Störung«.7

Heute zählt die Weltgesundheitsorganisation Zwangsgedanken zu den psychischen Problemen, die am weitesten verbreitet sind. Untersuchungen gehen davon aus, dass diese Diagnose auf circa 2 bis 3 Prozent der Menschen in der westlichen Welt zutrifft. Dabei ist das Zwanghafte nur eine von vielen Ausprägungen eines bestimmten Denkmusters. Dazu gehören auch all die Sorgen, die mit Was, wenn? beginnen und komplexe Risikobewertungen des Unbekannten nach sich ziehen. Viele dieser Was, wenn?-Fragen wurden mit der Zeit spezifischen Krankheitsbildern zugeordnet:8

»Was, wenn meine Kopfschmerzen von einer Hirnhautentzündung kommen?« – Hypochondrie »Was, wenn die anderen deshalb schweigen, weil sie mich nicht mögen?« – soziale Phobie »Was, wenn ich jetzt sterbe?« – Panikstörung

Über die Jahre wurden die Krankheitsbilder immer vielfältiger, doch dabei handelte es sich immer um Variationen ein und desselben Themas. Fasst man alle sogenannten Angststörungen zusammen, denen ein Was, wenn? zugrunde liegt, leidet ungefähr ein Drittel aller Europäer einmal im Leben darunter. Weltweit sind Angststörungen die verbreitetste Form einer psychischen Erkrankung.9

Dabei bedarf der Begriff »Störung« als solcher einer Korrektur. Die »Störung« besteht nämlich vor allem darin, dass die Betroffenen unter ihrem Was, wenn? leiden. Eine Person, die denkt »Was, wenn die Zombieapokalypse droht?« und in ihrem Garten einen Bunker baut, hat aus diagnostischer Sicht keine Störung, solange sich diese Person nicht selbst an ihrem Verhalten stört. Im Gegenteil, sie kann mit diesem Verhalten sogar soziale Anerkennung erlangen und sich eine Identität darauf aufbauen.

Ein Systementwickler, der ein Überwachungssystem für die Erfassung von Performance, Kundenkontakt und Verkäufen aufbaut, macht nur seinen Job. Kein Risiko ist zu gering, wenn es darum geht, Performance und Gewinnmaximierung zu messen. In der Politik kann man Stimmen gewinnen, wenn man verspricht, härter gegen Kriminalität vorzugehen, ganz egal, ob diese in der Gesellschaft zugenommen hat oder nicht. Die Politik erfüllt inzwischen eine Schutzfunktion. Sie soll Bedrohungen abwehren – Wirtschaftskrisen, steigende Arbeitslosigkeit, sinkende Wettbewerbsfähigkeit, verringertes Wachstum, Gesundheitsgefahren. Selbst radikalere Politikansätze zeichnen sich heutzutage durch einen Risikofokus aus. Eine Politik, die all ihr Handeln danach ausrichtet, die Erderwärmung zu stoppen, basiert auf einer Risikobewertung. So plausibel dieses Ziel auch ist, das Grundprinzip ist das gleiche.

Das war nicht immer so.

Jede Angst erklärt sich selbst. Etwaige Gefahren sind ja keine Einbildung, sondern eine Manifestation der eigenen Unsicherheit. Genauso, wie das Risiko besteht, dass die Sonne morgen nicht wieder aufgeht, besteht auch ein Risiko, dass Daniels Steine im Fluss aufgrund unglücklicher Schmetterlingseffekte mindestens einen Fisch vergiftet haben. Die Katastrophe kann uns jederzeit treffen. Nur weil eine Hypochonderin 75-mal einen Arzt aufgesucht hat, weil sie hinter ihren Symptomen Krebs vermutet hat, heißt das nicht, dass beim 76. Mal nicht tatsächlich Krebs gefunden wird. Rechnen wir die weniger mysteriösen Risiken für Tod, Krankheit und Unfälle ein, ist es wahrscheinlich, dass uns mindestens ein Mal in unserem Leben etwas Schreckliches passiert. Somit wäre eher der Gedanke, die Welt sei sicher, eine Wahnvorstellung.

Aber die Angst verdeutlicht nicht nur die Myriaden von Gefahren, die uns drohen. Sie ist auch eng mit unserem Handeln verknüpft und mit der Frage, wie wir mit all diesen Gefahren umgehen. Denn darin unterscheidet sich die Angst von der Furcht.

Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard definierte Furcht als das Gefühl, das man hat, wenn man in einen Abgrund schaut. Die Gefahr ist eindeutig: Was, wenn ich falle? Die Angst hingegen entsteht bei dem Gedanken daran, vor einem Abgrund zu stehen und hinunterzusehen, sich dem Anblick auszusetzen und es in der Hand zu haben, ob man weiterhin hinuntersieht – oder einen Schritt macht und springt.

Die Angst verdeutlicht nicht nur die Gefahr, dass etwas passieren wird, sondern auch eine Form der Selbstreflexion: Was werde ich tun? Warum denke ich darüber nach? Werde ich allmählich verrückt? Mit diesen selbstbezüglichen Fragen wird – Kierkegaard zufolge – ein »Schwindel der Freiheit« geweckt.10

Ein ähnlicher Ansatz findet sich auch in der buddhistischen Lehre über unsere Ohnmacht im Anicca – der einfachen Tatsache, dass alles in der Welt unbeständig ist und dass es am Ende in einer Katastrophe in Form unseres Todes mündet. In der Angst fehlt die Akzeptanz für diese Vergänglichkeit. Wir erkennen die Gefahr und regen uns in selbstverstärkenden Spiralen über unsere Aufregung auf, während wir gleichzeitig einen Weg suchen, um die Gefahr zu bannen. So pendeln Angstgedanken ganz wie Zwangsgedanken zwischen Obsession (Fixierung auf etwas Unangenehmes) und Compulsion (der Versuch, das Unangenehme zu neutralisieren).

Buddhistisch beeinflusste Lehrende weisen schon lange darauf hin, dass dieses Pendeln nicht unnormal im Sinne von krankhaft ist. Im Gegenteil: Der überwiegende Teil unserer Gedanken, selbst bei formal »gesunden« Menschen, befasst sich damit, zukünftige Probleme zu sehen und zu lösen. Wir leben mit diesem Hin und Her als ununterbrochenem Hintergrundrauschen. Und es kann so laut werden, dass daneben alles andere in den Hintergrund tritt. Es spielt keine Rolle, wo wir sind, ob wir in unserem weichen Bett liegen und unserem Atmen lauschen, ob wir in ausgelassener Runde zusammensitzen oder allein am Himmel ein Nordlicht beobachten. Das Rauschen kann all das in einen Albtraum verwandeln.

Trotzdem hört es nicht auf. Dass wir einen Gedankengang unzählige Male wiederholen, hindert uns nicht daran, ihn noch ein weiteres Mal durchzugehen, als wäre das verantwortungsbewusster, als es bleiben zu lassen. Das Grübeln verschmilzt mit unserem Ich. Der Gedankenstrom, ein Strom, der sich schwerlich steuern lässt und durch unkontrollierbare Einflüsse in der Gegenwart und in der Vergangenheit variiert, bildet unser Zentrum. Wir identifizieren uns mit der Stimme in unserem Kopf, als ginge sie von einem zerebralen Kontrollraum aus, und unterfüttern damit die Geschichten darüber, wer wir sind.

Dieses Rauschen beschäftigt die Menschheit schon so lange, dass wir – Buddhisten, Stoikerinnen, Existenzphilosophen, Psychoanalytikerinnen, Behavioristen – es inzwischen als existenziell betrachten.

Dieser Annahme möchte ich entgegentreten und argumentieren, dass dieses Rauschen des Gedankenstroms nicht existenziell ist. Menschen haben sich nicht schon immer mit der Frage beschäftigt, wer sie »eigentlich« sind und was ihnen in der Zukunft drohen könnte. Aus historischer Perspektive betrachtet, scheinen der innere Kritiker und die ewigen Selbstverdächtigungen ein junges Phänomen zu sein. Ebenso wie die Besessenheit von drohenden Katastrophen.

Für einen Zeitraum von etwa 200000 Jahren haben die Menschen als Nomaden gelebt. Das wenige, was zum Leben nötig war, musste jeden Tag neu beschafft werden. Es wurde kein Land bewirtschaftet, demnach musste man sich auch keine Gedanken um das Lagern der Ernte machen. Damals war es nicht nur schwer, länger als ein paar Tage im Voraus zu planen, es war auch völlig sinnlos. Lose soziale Gefüge in immer wieder neuen Gruppierungen und flachen oder nicht existenten Hierarchien führten dazu, dass selbst besser entwickelte Ich-Konstruktionen daran wenig auszusetzen hatten. Die wenigen Menschengruppen, die bis ins 20. Jahrhundert hinein in dieser Form lebten, hatten allem Anschein nach keinen besonderen Bedarf an ritualisierten Meditationspraktiken oder psychedelischer Egotranszendenz. Sie lebten bereits in der Gegenwart.11

Dieses Buch zeigt, wie das soziale Fundament der Gegenwart erodiert ist. Der Zukunftshorizont hat sich bis zur Unbegreiflichkeit ausgedehnt – für die Lagerung von Atommüll machen wir Pläne, die Hunderttausende Jahre umfassen, und wir eröffnen Sparkonten für ungeborene Kinder. Das Individuum ist zu einem Ich mit Familiennamen geworden. Es durchläuft zehn oder mehr Jahre in einem klassifizierenden Bildungssystem, um unzählige Karrieremöglichkeiten zu haben, die eine ganze Hierarchie materialistischer Lebensstandards mit sich bringen, nach denen es schlussendlich beurteilt wird. Die Wahlmöglichkeiten, die uns Kultur und Technologie in Massen bescheren, unterwandern das Leben so stark, dass die Wohlhabendsten von uns allein bei der Wahl des Essens täglich mehr als 200 Entscheidungen fällen müssen. Jede Entscheidung will rational begründet werden – sogar jene, die wir uns nicht immer aussuchen können, wie zum Beispiel, ob wir lieber allein, in einer Paarbeziehung, in einer polygamen Beziehung, in einer Kernfamilie oder in einer kinderreichen Patchwork-Familie leben möchten. Dabei hat die zunehmende Entscheidungsfreiheit die Gefahr mit sich gebracht, sich falsch zu entscheiden, zu versagen, sich dem Abgrund zu nähern, und sie hat die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern immer größer werden lassen.12

Bei dem Bild, das ich hier entwerfe, werden manche Linien deutlicher sein als andere, doch die zugrunde liegende Forschung ist solide genug, um die Konturen einer Soziologie der Angst zu skizzieren. Farbe verleihen dem Ganzen die vielen Interviewten, die über das gesamte Spektrum von den dunkelsten Sorgen bis hin zu beschämenden Zwangsgedanken berichten wollten. Sollte dieses Buch das große Versprechen der Literatur einlösen – nämlich ein Fenster zu den Gedanken zu sein, die wir alle haben, von denen aber nur die Mutigsten zu erzählen wagen –, so ist es ihr Verdienst.

TEIL 1 Angst in der heutigen Zeit

Wie es uns geht

Ich bat um ein Zeichen, es nicht zu tun. Es kam keins.1

Suizid war das Thema einer der ersten soziologischen Studien überhaupt. Und es war auch das Thema, durch das ich zur Soziologie zurückgekehrt bin, dem Fach, in dem ich einst promoviert wurde. Ich stieß auf eine akademische Studie mit den typischen eng beschriebenen Seiten, die sonst nur eine Handvoll Wissenschaftler liest, in der Hunderte Abschiedsbriefe wiedergegeben wurden. Beim Lesen fühlte ich mich, als hätte sich das berüchtigte Fenster zur Brust des Menschen geöffnet und als wäre ich eingeladen worden hindurchzuschauen.

Eigentlich wäre es angemessen, wenn die Suizidologie (eine Wissenschaft, die sich mit der Erforschung des Suizids und der Suizidprävention beschäftigt) so viel Raum in der täglichen Berichterstattung einnähme wie derzeit die Volkswirtschaft.

Als der französische Soziologe Émile Durkheim vor etwas mehr als einem Jahrhundert den Weg für die Suizidologie bereitete, vertrat er die These, das Motiv des Einzelnen für den Suizid sei irrelevant. Die Wissenschaft verstünde besser als die Person selbst, was in ihr vorging. Diese Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert hielt sich hartnäckig. Mit der Zeit kleidete man sie sogar in ein medizinisches Gewand: Menschen, die sich das Leben nehmen, seien psychisch krank und hätten daher keine Vorstellung von ihren Motiven.

Forschung, die von dieser Prämisse ausgeht, ist problematisch – ihr fehlt das Fenster zu dem, was in einem Menschen vorgeht. Die naheliegende Frage: Was denken und fühlen Menschen, die sich das Leben nehmen?, beantwortet sie nicht.

»Im September 2007 kam ich zu dem Schluss, dass es sich nicht mehr lohnt weiterzuleben. Ich wandelte all mein Vermögen in Bargeld um und beschloss, mein Leben zu beenden, wenn mir das Geld ausging. Und nun ist es mir ausgegangen.«2

Die Motive sind vielschichtig. Für jede Antwort, die sie liefern, kommt eine neue Frage auf. Sehen Sie sich das Zitat an. Was kann diesen Mann, geboren in einem der reichsten Länder der Welt und wohlhabend, zu diesem Schritt getrieben haben? Kann es überhaupt rationale Gründe geben, oder handelt es sich immer um frei erfundene Erklärungen, die lediglich an der Oberfläche des darunter liegenden Morasts kratzen?

Wir wissen, dass wir es bei Suizid nicht nur mit einer individuellen Abweichung zu tun haben. Es ist kein Zufall, dass die Suizidrate in Russland seit Jahrzehnten 20- bis 60-mal höher ist als auf Barbados. Irgendetwas in Russland wirkt sich negativ auf den Lebenswillen aus. Aber was? Welcher gesellschaftliche Aspekt könnte die Verzweiflung erklären, die mit einer Entscheidung zur Selbsttötung einhergeht?3

Eine schwierige Frage, besonders vor dem Hintergrund der gern postulierten allgemeinen Haltung, die Menschen hätten es nie besser gehabt als heute. Dass ein durchschnittlicher europäischer Mensch im 13. Jahrhundert mit den damals herrschenden Lebensbedingungen haderte, verstehen wir. Wir wissen, dass die Pest für 30 bis 50 Prozent der Bevölkerung tödlich war. Es schaudert uns bei dem Gedanken an vergangene Zeiten mit Missernten und daraus entstehenden Epidemien: Tuberkulose, Pocken, Ruhr und Mumps. Wir können uns kaum vorstellen, wie das Leben gewesen sein muss, wenn 20 bis 30 Prozent aller Kinder, arme wie reiche, nach nur ein paar Lebensjahren starben.4

Angesichts der Tatsache, dass es heute erheblich weniger Leid dieser Art gibt, erscheint es unbegreiflich, warum jemand Grund zu klagen haben sollte. Die Mordrate in Europa ist im Vergleich zum Mittelalter 40-mal geringer. Unserer Lebensmittelproduktion können selbst Wetterbedingungen nichts anhaben, die vor nur ein paar Jahrhunderten noch eine Hungersnot zur Folge gehabt hätten. Laut des Welternährungsberichts leiden weltweit mehr Menschen an Übergewicht als an Hunger. Die Pocken haben die Menschheit über Jahrtausende verfolgt, heute sind sie weltweit besiegt. Auch Polio ist fast ausgerottet. Und bei einer fünfmal geringeren Kindersterblichkeit sollte das Kinderkriegen uns nicht mehr annähernd so großes Kopfzerbrechen bereiten wie früher.5

Das kann gar nicht genug betont werden: Die Menschheit surft derzeit auf einer Welle wirtschaftlicher und technologischer Entwicklung nie gekannter Art. Im Hinblick auf Ernährung, technische Ausstattung, Wohntemperatur und Gesundheitsversorgung leben selbst Menschen mit niedrigem Einkommen in der Regel besser als ein König im Mittelalter. Das Smartphone, das wir mit uns herumtragen, ist ein Wunderwerk mit einem gut sieben Millionen Mal größeren Speicher und der hunderttausendfachen Prozessorleistung des Computers, der sich an Bord der Apollo 11 auf ihrem Weg zum Mond befand.6

Warum sollte es uns also schlecht gehen?

Die Launen des Glücks

Viele Menschen gehen davon aus, dass auch das Wohlbefinden dem Prinzip des ewigen Fortschritts folgt. Sie neigen dazu, ihr eigenes Glück, oder ihre sogenannte Lebenszufriedenheit, in Korrelation zum Wirtschaftswachstum zu sehen. Da alle Länder immer mehr produzieren und konsumieren, sind das gute Neuigkeiten. Denn dann müssten wir nur dafür sorgen, dass sich die Räder der Wirtschaft immer schneller drehen, und könnten uns darauf verlassen, dass das Glück insgesamt weiter zunimmt. Das wäre eine beruhigende Nachricht, wir müssten uns keine Sorgen machen, das Wichtigste wäre, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.

Wenn wir uns eingehender mit der Glücksforschung beschäftigen, finden wir mehrere Gründe, dieses Weltbild zu hinterfragen. Ab einem bestimmten Niveau (vergleichbar mit dem, das wir in den 1950er-Jahren erreicht haben) wird der Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum eines Landes und der Anzahl der Menschen mit einer hohen Lebenszufriedenheit immer schwächer. Oberhalb dieses Niveaus lässt sich kaum noch ein Muster erkennen. Ein steinreiches Land wie Singapur weist beispielsweise keine höhere Anzahl an glücklichen Menschen auf als ein erheblich ärmeres Land wie Panama. Und ein mittelreiches Land wie Finnland übertrifft erheblich reichere Länder wie Luxemburg und Kuwait mühelos.7

Historisch betrachtet zeigt sich diese Entwicklung in den reichsten Ländern am deutlichsten. In Japan, den USA und Großbritannien hat sich das Wirtschaftswachstum im Betrachtungszeitraum verdoppelt, während die Entwicklung des Glücksniveaus stagnierte. Die amerikanischen Umfrageergebnisse seit den frühen 1970er-Jahren bis heute zeigen sogar, dass die Bevölkerung dort mit ihrem Leben etwas weniger zufrieden ist, obwohl die USA inzwischen doppelt so reich sind.8

Glücksmessungen bieten mit anderen Worten Raum für verschiedene Interpretationen. Auch die Art und Weise, wie Glück überhaupt gemessen wird, ist eine viel diskutierte Problemstellung. Normalerweise verwendet man eine zehnstufige Skala (Cantril-Leiter genannt), auf der die Befragten zwischen 0 für »das schlechteste Leben, das Sie sich vorstellen können« und 10 für »das beste Leben, das Sie sich vorstellen können« wählen sollen. Aber was bedeutet diese Einschätzung? Wie interpretieren wir beispielsweise Begriffe wie »vorstellen«?

Die Meinungen gehen hier stark auseinander. Mehrere Studien kommen zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass in den meisten Ländern Eltern ihr Glück geringer einschätzen als Personen ohne Kinder. Sie scheinen mit ihrem Leben weniger zufrieden zu sein – besonders in der Zeit, in der sie sich um ihre Kinder kümmern.9

Aber wenn wir etwas genauer hinschauen, ergibt sich ein anderes Bild der Elternschaft: Auf die Frage, inwiefern sie das Gefühl haben, dass ihr Leben einen wichtigen Sinn hat, also »sinnvoll« ist, antworten Eltern viel häufiger mit Ja als Kinderlose.10

Die Unterscheidung zwischen »Glück« und »Sinn« zeigt in vielerlei Hinsicht, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, dem es »gut geht«. Ein Teil von uns ist zufrieden oder unzufrieden, froh oder traurig, glücklich oder unglücklich. Aber es gibt auch etwas in uns, das Fragen stellt: ob das Leben einen Sinn hat, ob es in einem größeren Zusammenhang steht, ob wir auf ethisch vertretbare Weise leben, ob wir dazu beitragen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Wenn wir diese Fragen berücksichtigen, lässt sich an der Vorstellung, die Welt würde immer besser werden, kaum noch festhalten.

Obwohl in den letzten 200 Jahren eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung nie gekannten Ausmaßes stattgefunden hat, behaupten die jüngeren Generationen heute: Dies ist der Wendepunkt. Wer heute aufwächst, wird es schlechter haben. Vor allem im Hinblick auf materiellen Wohlstand hat der Zukunftsglaube nachgelassen. In Hoch- und Niedrigeinkommensländern antwortet die Mehrheit der Befragten, dass heute aufwachsende Kinder es finanziell schwerer haben werden als ihre Eltern. In einigen Ländern wie Frankreich und Japan glauben nur 15 Prozent, dass es den Kindern einmal besser gehen wird. Selbst wenn man jüngere (nach 1982 geborene) Personen befragt, geht die Mehrheit in den meisten untersuchten Ländern nicht nur davon aus, dass sie es finanziell schlechter haben wird, sondern auch, dass sie weniger glücklich sein wird als die Generation ihrer Eltern.11

Was diese Kehrtwende im Vertrauen auf die Zukunft bedeutet, ist derzeit noch nicht abzusehen. Es war einmal umgekehrt, jüngere Generationen erklärten: Wir wollen nicht so leben wie unsere Eltern, wir wollen einen neuen Weg finden!

Als mit den Linksströmungen der 1960er-Jahre die Welle der Studentenbewegungen über die westliche Welt schwappte, richteten sich diese gegen die von der Elterngeneration hinterlassenen Strukturen. Auf Pariser Häuserfassaden konnte man lesen: »In einer Gesellschaft, die jedes Abenteuer zunichtegemacht hat, ist das einzige noch bleibende Abenteuer, die Gesellschaft zunichtezumachen.« Die Jungen lehnten sich dagegen auf, das durchgeplante Leben der Eltern zu wiederholen und sich wie diese durch ein Leben im Zwiespalt zwischen Arbeits- und Familienpflichten kämpfen zu müssen.

Heute verhält es sich umgekehrt. Die Jugendgeneration – häufig als selbstsüchtig und narzisstisch beschimpft – macht sich Sorgen, dass das durchgeplante Leben der Eltern außerhalb ihrer Möglichkeiten liegen könnte.12

Und wenn es jemandem gelungen ist, ins durchgetaktete Hamsterrad einzusteigen, heißt das nicht zwangsläufig, dass sich bei ihm oder ihr auch das Gefühl einstellen wird, Teil eines größeren Zusammenhangs zu sein. Die Frage, ob der eigene Job die Welt positiv beeinflusst, verneint beinahe die Hälfte der Befragten. Auf eine andere Frage, die seit den 1950er-Jahren immer wieder in Umfragen auftaucht – Was würden Sie tun, wenn Sie so viel Geld gewännen, dass Sie nie wieder arbeiten müssten? –, antworten rund zwei Drittel, dass sie ihren derzeitigen Job kündigen würden.13

Diese Umfragen finden vor allem in Europa und Nordamerika statt, doch das Phänomen »Sinnmangel« als solches lässt sich weltweit beobachten. Vor einigen Jahren führte das Meinungsforschungsinstitut Gallup eine internationale Studie zur Frage durch, was Menschen über ihre Arbeit denken. Knapp 13 Prozent waren »engagiert« bei der Arbeit. Die Mehrheit aber, 63 Prozent, war »nicht engagiert«, sie hatte »mental abgeschaltet« und ging nur noch wegen des Gehalts zur Arbeit. Weitere 24 Prozent hatten sich mental »aktiv gelöst«. Sie fühlten sich nicht nur nicht wohl, sie hatten sogar eine feindliche Haltung gegenüber ihrem Arbeitgeber entwickelt. Während die Mehrheit ihre Arbeit meistens einfach aushielt, gab es also mehr als doppelt so viele Menschen, die ihre Arbeit hassten, als solche, die gern zur Arbeit gingen.14

Erstaunlicherweise folgt das Sinnerleben im Vergleich zum Glück einem umgekehrten Muster: Während das Glück mit dem Wirtschaftswachstum eines Landes zunimmt, nimmt das Sinnerleben ab.

Aus der Aufstellung der Gallup-Daten aus 132 Ländern geht diese Tendenz ebenso ausgeprägt wie eindeutig hervor: Je höher das Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf, desto weniger Menschen erkennen einen wichtigen Sinn in ihrem Leben. Das bedeutet nicht, dass ein höheres BNE zwangsläufig Sinnlosigkeit verursacht. Aber es lässt sich erkennen, dass Industrialismus und Massenproduktion von Waren und Dienstleistungen das Problem nicht lösen.15

Wirtschaftswachstum verhindert auch nicht, dass Menschen sich das Leben nehmen. Auch hier sehen wir ein umgekehrtes, wenn auch nicht ganz so ausgeprägtes Muster: Je reicher ein Land, desto höher die Selbstmordrate.16

Unglück als Massenphänomen

Wenn ich an einem Bahnhof in Schweden die Passanten betrachte, weiß ich, dass etwa jeder zehnte im letzten Jahr Antidepressiva eingenommen hat oder derzeit einnimmt. Den Auswertungen der OECD zufolge hat sich dieser Anteil seit 2001 verdoppelt. Rechnet man angstdämpfende Medikamente und andere Arten von Psychopharmaka hinzu, reden wir laut dem Schwedischen Zentralamt für Gesundheits- und Sozialwesen sogar von jedem sechsten. Diese Zahlen sehen in anderen westlichen Ländern bis auf ein paar geringe Abweichungen ähnlich aus. In den USA nimmt zum Beispiel jede vierte Frau mittleren Alters ein Antidepressivum.17

Warum haben so viele Menschen das Gefühl, ohne Medikamente nicht auszukommen?

Wenn wir solche Fragen stellen, wechseln wir den Fokus: Wir fragen nicht, wie gut es den Menschen geht, sondern, wie schlecht es ihnen geht. Das hat mehrere Vorteile.

»Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.«18 So begann Lew Tolstoi seinen Roman Anna Karenina. Das ließe sich auch über Unglück im Allgemeinen sagen. Wir können das Unglück in verschiedene Unterkategorien und Fragen auf Fragebögen einteilen und dadurch konkretisieren. In weiten Teilen der Welt wird ein glückliches Leben mit einem geglückten Leben gleichgesetzt. Durch Aufzählung all der Arten, auf die wir uns schlecht fühlen können, lässt sich der Einfluss der sogenannten sozialen Erwünschtheit reduzieren. Es lässt sich also verhindern, dass viele davon ausgehend antworten, was ihrer Meinung nach für ein gutes Leben steht.19

Wenn wir untersuchen wollen, wie schlecht es uns geht, gibt es jedoch ein Problem: In aller Regel werden Studien in diesem Feld auf Basis von medizinischen Prämissen durchgeführt, bei denen das Sich-schlecht-Fühlen als etwas Krankhaftes betrachtet wird. Dieses Problem schließt an eine lange Debatte zu der Frage an, inwieweit menschliche Sorgen medikalisiert, das heißt zum Gegenstand medizinischer Behandlung gemacht werden.

Wo verläuft beispielsweise die Grenze zwischen Schüchternheit und sozialer Phobie? Zwischen Niedergeschlagenheit und Depression? Zwischen Sorgen und einer generalisierten Angststörung?

Vieles von dem, was früher als normal galt, betrachten wir heute als Erkrankung. Das zeigt sich vor allem daran, wie stark die Anzahl an Krankheitsbildern und Diagnosekriterien zugenommen hat. So wurde zum Beispiel in der letzten Ausgabe des amerikanischen diagnostischen und statistischen Leitfadens psychischer Störungen (DSM) die »Trauerreaktion« als Ausnahme gestrichen. Bis dahin kam Depression als Diagnose nicht infrage, wenn der Patient in den letzten zwei Monaten nahe Angehörige verloren hatte. Seit der Änderung wird das, was bisher als Trauer galt, als Depression eingestuft.20

Diese Medikalisierung erschwert Schlussfolgerungen, wenn man allein die Anzahl an Menschen betrachtet, die sich in psychiatrischer Behandlung befinden.

Mit der Medikalisierung kam auch die Frage nach Übermedikation auf. Leider besteht das Risiko, dass die Kritik an der Medikalisierung die Frage, wie es uns tatsächlich geht, überdeckt. Viele, denen heute Psychopharmaka verschrieben werden, hätten diese vor 50 Jahren wahrscheinlich nicht bekommen. Aber das heißt nicht, dass der Mehrkonsum sich nur durch eine Medikalisierung erklären ließe. Einem Menschen, der Psychopharmaka nimmt, geht es ja schlecht. Er ist nicht faul, nicht weniger glaubwürdig. Er ist nur ein Mensch, der sich Hilfe gesucht hat. Die Statistik zum Konsum von Psychopharmaka ist eine von mehreren Indikationen dafür, wie viele Menschen das Gefühl haben, Hilfe zu benötigen.

Im Hinblick auf die Diagnostik stehen uns zahlreiche empirische Daten aus weltweit durchgeführten Studien zu psychischen Belastungen zur Verfügung. Denn die Medikalisierung sollte kein Grund sein, die Empirie zu vernachlässigen. Für mich steckt hinter einer Diagnose nicht immer zwingend eine Krankheit, wohl aber indiziert sie ein psychisches Leiden – schon allein deshalb, weil »klinisch signifikantes Leiden« bei allen psychiatrischen Krankheitsbildern ein Diagnosekriterium ist.21

Problematisch wird es, wenn die Diagnostik auf einer unsicheren Grundlage basiert.

In einer klassischen Studie, die 1973 in der Zeitschrift Science veröffentlicht wurde, schickte der amerikanische Psychologe David Rosenhan zwölf »Pseudopatienten« zu jeweils einer psychiatrischen Notfallambulanz. Sie hatten nur eine Anweisung erhalten: Sie sollten vorgeben, eine Stimme in ihrem Kopf würde immer wieder bestimmte Wörter sagen. Obwohl die Teilnehmer sich ansonsten normal verhielten, wurde bei fast allen Schizophrenie diagnostiziert, und sie wurden stationär aufgenommen. In einer anderen Phase des Experiments vereinbarte Rosenhan mit einer psychiatrischen Klinik, drei Monate lang immer wieder Pseudopatienten hinzuschicken. Nach drei Monaten berichtete das Krankenhaus, man habe 193 Patienten aufgenommen. 41 von ihnen seien verdächtig gewesen, 23 hätten mit hoher Wahrscheinlichkeit simuliert. Tatsächlich aber hatte Rosenhan überhaupt keine Pseudopatienten dort hingeschickt.22

Die Rosenhan-Studie wurde heftig kritisiert, löste aber dennoch eine Krise in der Psychiatrie aus, die unter anderem eine Präzisierung der Diagnosekriterien in späteren Ausgaben des Diagnose-Leitfadens zur Folge hatte. Doch die Frage nach Über- und Unterdiagnostik bleibt. Es gibt zum Beispiel keine medizinisch vertretbare Erklärung dafür, dass 2 Prozent der Kinder in Nevada Medikamente gegen ADHS erhalten, während der Anteil in Louisiana mehr als fünfmal so hoch ist. An einigen Orten scheinen die Ärzte schneller mit einer Diagnose bei der Hand zu sein als an anderen. Daher sind psychiatrische Patientendaten nicht sehr gut geeignet, um einzuschätzen, wie weit ein bestimmtes Krankheitsbild verbreitet ist.23

Um die tatsächliche Verbreitung der Krankheitsbilder messen zu können, hat die WHO Diagnoseformulare entwickelt und Interviewende losgeschickt, um Hunderttausende Personen auf der ganzen Welt in einer repräsentativen Auswahl zu befragen. Diese Formulare wurden seit den 1970er-Jahren zu riesigen Fragenkatalogen weiterentwickelt und verfeinert. Allein die Durchführung eines Interviews kann Stunden dauern, manchmal müssen die Interviewenden die Befragten sogar mehrmals aufsuchen. Diese Methode soll eine einheitliche Auswertung der psychischen Gesundheit weltweit ermöglichen. Inzwischen sind die Befragungen ein fester Bestandteil der World Mental Health Survey Initiative der WHO. Mit erstaunlichem Ergebnis.24

Im Jahr 1990 galt Depression als weltweit vierthäufigste Krankheitsursache, nach Atemwegserkrankungen, Durchfallbeschwerden und pränatalen Komplikationen. Im Jahr 2000 kam Depression schon auf den dritten und 2010 auf den zweiten Platz. 2017 berichtete die WHO schließlich, es sei eingetreten, wovor man schon seit Langem warne und was ihrer ursprünglichen Schätzung zufolge etwa im Jahr 2030 passieren sollte: Die weltweit häufigste Krankheitsursache war keine somatische Erkrankung mehr, sondern die Depression. Im Laufe nur eines Jahrzehnts war die Anzahl der an Depression Erkrankten global um fast 20 Prozent gestiegen.25

Betrachtet man die häufigsten psychiatrischen Krankheitsbilder und wie viele Personen in einem bestimmten Jahr die Diagnosekriterien erfüllen, fallen vor allem die Zahlen für die reichsten Länder der Welt ins Auge. Heute trifft wenigstens eine der häufigsten Diagnosen auf einen von vier Amerikanern zu. Großbritannien und Australien liegen nicht weit dahinter, und in Frankreich und Kanada ist es immer noch jeder Fünfte.26

Angesichts dieser Zahlen möchte ich erneut die Frage aufwerfen, was eigentlich »normal« ist. Wenn ein Viertel der Bevölkerung eine Form der psychischen Erkrankung hat, müssen wir wohl daraus schließen, dass es relativ normal ist, nicht gesund zu sein.

Und wenn wir fragen, wie viele Menschen in ihrem Leben schon einmal Phasen erlebt haben, in denen die Kriterien für die häufigsten Depressions- und Angsterkrankungen auf sie zutrafen, drängt sich die Frage »Was ist normal?« noch mehr auf. Auch hier variieren die Ergebnisse: von 12 Prozent in Nigeria bis 47 Prozent in den USA. Fast jeder zweite Einwohner.27

Auch wenn die WHO einen schnellen Anstieg im Hinblick auf bestimmte Krankheitsbilder festgestellt hat (unter anderem bei depressions- und angstbezogenen Erkrankungen), darf man die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass die Datenlage nicht ausreicht, um Aussagen über die weltweite Entwicklung über einen längeren Zeitraum treffen zu können. Bei einigen Ländern, vor allem den USA, lassen sich aber historisch Tendenzen erkennen. Bereits 1985 hat man in zwei epidemiologischen Studien festgestellt, dass sich das Risiko eines Amerikaners, depressiv zu werden, im Laufe von lediglich zwei Generationen verzehnfacht hat.28

Ein historischer Vergleich wird durch die Tatsache erschwert, dass die Diagnosekriterien über die Jahre verändert wurden. Um diese Problematik zu umgehen, kann man stattdessen nach körperlichen Beschwerden wie Schlafstörungen, Schwindel, Atemnot, Konzentrationsschwierigkeiten und Kopfschmerzen fragen. Denn die Art und Weise, wie wir über sie sprechen, hat auf diese Beschwerden keinen so großen Einfluss.

Die amerikanische Psychologin Jean Twenge war mit dieser Methode sehr erfolgreich. Ihre Aufstellungen zeigen, dass Angst heutzutage ein normaler Bestandteil unseres Lebens ist. In einem Vergleich von 269 Studien, die zwischen 1952 und 1993 durchgeführt wurden, stellte sie unter anderem fest, dass ein durchschnittliches nordamerikanisches Kind zu Beginn der 1990er-Jahre ängstlicher war als durchschnittliche Patienten in der Kinderpsychiatrie in den 1950er-Jahren.29

Twenge zufolge hat sich das Wohlbefinden von jungen Menschen in den 2010er-Jahren in einem rasanten Tempo verschlechtert. Sie führt dafür zahlreiche Erklärungen an.

Ihr sei beispielsweise aufgefallen, dass die Zunahme von Depressionen und Ängsten mit einer historisch beispiellosen Vorsicht bei den Jugendlichen zusammenzufallen scheint. Amerikanische 18-Jährige trinken heute nur noch rund halb so viel Alkohol wie Mitte der 1970er-Jahre. Ihre sporadischen sexuellen Beziehungen sind beträchtlich zurückgegangen, und die Anzahl an Gymnasiasten, die in Prügeleien geraten, hat sich seit 1991 halbiert. Gleichzeitig haben Depressionssymptome zwischen 2012 und 2015 – in nur drei Jahren – bei jungen Männern um 21 Prozent und bei jungen Frauen um 50 Prozent zugenommen.30

Diese Zahlen erlangten weltweite Aufmerksamkeit, und viele folgerten daraus, dass psychische Erkrankungen in den USA derzeit besonders häufig vorkommen – eine Entwicklung, die sich auch in einer immer größer werdenden Welle von »Tod aus Verzweiflung« (das heißt Tod verursacht durch Suizid, Alkohol oder eine Überdosis) äußert, mit der Folge, dass die mittlere Lebenserwartung mehrere Jahre nacheinander zurückgegangen ist.31

Ein weiteres Land, das die psychische Gesundheit von Kindern genau beobachtet und seit Langem Daten sammelt, die über die psychiatrischen Diagnosen hinausgehen, ist Schweden.

Und auch hier zeigt sich ein alles andere als positives Bild. Kinder, die bei der Hotline der Kinderrechtsorganisation Barnens rätt i samhället (Bris) anrufen und um Hilfe bitten, sprechen am häufigsten über psychische Belastungen. Es ist ein relativ neues Phänomen, das sich aber auch in den Daten widerspiegelt, die die Behörde für Volksgesundheit seit 1985 erfasst hat. In Schweden hat das Auftreten psychosomatischer Erkrankungen bei Elfjährigen seit Beginn der Erfassung drastisch zugenommen. Bei den 13- und 15-Jährigen hat sich der Anteil verdoppelt. Im Hinblick auf Schlafstörungen, Nervosität und Niedergeschlagenheit geben etwa vier von zehn 15-jährigen Mädchen heftige Beschwerden an.32

Eine derartige Entwicklung lässt sich in Hochlohnländern grundsätzlich feststellen. Auch in der jährlichen Untersuchung der Lebensverhältnisse durch das Schwedische Zentralamt für Statistik hat sich der Anteil an jungen Erwachsenen, die schwere Beschwerden wie Ängstlichkeit, Sorgen und Angst angaben, in den letzten zehn Jahren verdoppelt – und es sind doppelt so viele Frauen wie Männer.33

Wenn diese Entwicklung in der Öffentlichkeit diskutiert wird, dann fast ausschließlich in Bezug auf den zunehmenden Bedarf an psychiatrischer Behandlung. Aber hier gibt es auch andere Aspekte zu bedenken, wie etwa die Frage, wie es überhaupt dazu kommt, dass es so vielen Menschen innerhalb so kurzer Zeit so viel schlechter geht.