Die große Stille - Lilienfein, Heinrich - kostenlos E-Book

Die große Stille E-Book

Heinrich, Lilienfein

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The Project Gutenberg EBook of Die große Stille, by Heinrich LilienfeinThis eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and mostother parts of the world at no cost and with almost no restrictionswhatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms ofthe Project Gutenberg License included with this eBook or online atwww.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll haveto check the laws of the country where you are located before using this ebook.Title: Die große StilleAuthor: Heinrich LilienfeinRelease Date: October 15, 2016 [EBook #53283]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GROßE STILLE ***Produced by Peter Becker and the Online DistributedProofreading Team at http://www.pgdp.net

Die große Stille

Die große Stille

Roman

von

Heinrich Lilienfein.

9.-11. Auflage

Stuttgart und Berlin 1919 J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger

Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht vorbehalten

Für die Vereinigten Staaten von Amerika: Copyright, 1912, by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger Stuttgart und Berlin

Dem Andenken meiner Hanna

1

Da klingelte es schon wieder.

Käthe hatte ihren Posten auf der obersten Treppenstufe gleich gar nicht verlassen. Elli stürmte mit lachender Neugier aus der Stube und bog sich so weit über das Geländer, daß die ältere, bedächtigere Schwester sie leise schalt und zupfte, einmal, weil es leichtsinnig war und man gesehen werden konnte, dann aber, weil sie selbst, obwohl die größere von beiden, so nicht auf ihre Kosten kam. Und der neue Ankömmling für Papas Sprechstunde mußte doch ganz genau gemustert werden. Das war so Brauch, so oft ein neues Semester begann und die Hörer einer nach dem andern anrückten, um sich den Namen des Geheimrats ins Kollegbuch schreiben zu lassen.

Marga war allein in dem gemütlichen Zimmer zurückgeblieben, das ihr und Ellis Mädchenreich war. Aber auch in ihren Fingern ruhte für einen Augenblick die feine Knüpfarbeit. Mit vorgebeugtem Kopf lauschte sie hinaus nach dem Treppenhaus. In der erwartungsvollen Stille war jedes Geräusch zu hören.

Im Erdgeschoß wurden Schritte laut. Es war Therese, die mit Brummen an die Glastür schlürfte und öffnete. Elli polterte in der Spannung einige Stufen hinunter. Ein zürnendes „Bst!” von Käthe wies sie zurecht.

Über Margas Gesicht huschte ein Lächeln. Ihre Blicke suchten die Tür. Sie ließ sich von der Spannung anstecken, als könnten die lichtlosen blauen Augen das unerbittliche Dunkel durchdringen, das sie inmitten der sonnigen Stube einhüllte.

Jetzt mußte der Ankömmling sichtbar sein.

Mit einem unverhohlenen „Oh!” der Enttäuschung fuhr Elli zurück und glitt von der Treppe ins Zimmer. „Nu mach' ich nicht mehr mit!” ließ sie sich halb traurig, halb zornig vernehmen, während sie sich in dem roten Plüschsofa, Margas Korbsessel gegenüber, schmollend zurückwarf.

„Wer war's denn?” forschte die Blinde.

„Ach was! Nicht der Mühe wert! Einfach lächerlich!” lautete die unklare Antwort, die ein tiefer Seufzer begleitete.

„Trabner, der alte Oberlehrer,” erklärte Käthe, die jetzt, gleichfalls enttäuscht, zurückkam.

„Ach der!” nickte Marga und nahm die auf den Knien liegende Handarbeit wieder auf.

„Der Flanellstorch!” ergänzte Elli, die ihren Unwillen an irgendwem auslassen mußte. „Mit der Glatze und der Stahlbrille, den Gummimanschetten und dem famosen Trikot-Stehumlegekragen. Ich glaube, er hört Papa seit fünfzig Jahren, der — der —”

„Ein sehr netter, vernünftiger Mensch,” meinte Käthe strafend. „Papa schätzt ihn sehr.” Als Älteste hielt sie es stets für ihre Pflicht, gerecht zu sein und Ellis vorlauten Urteilen die Spitze abzubrechen.

Aber Elli war heute gar nicht in der Laune, sich schulmeistern zu lassen. „Sieh mal an!” Sie bog ihren lichtblonden Lockenkopf zur Seite. „Du schwärmst wohl gar für den guten Flanellstorch?”

„Das ist ehrlich dumm, Kleinchen! Ich kann nur nicht leiden, daß man jemand in Bausch und Bogen ablehnt. Das weißt du.” Käthe setzte sich an den kleinen Schreibtisch am Fenster. Sie wollte fortfahren, in ihr Tagebuch zu schreiben.

„Vergiß das ja nicht gleich mit aufzuschreiben,” neckte Elli weiter. „Unter ‚Gedankensplitter‛.”

Käthe drehte sich empört nach der Spötterin um. „Das verbitt' ich mir, hörst du?” Ihre dunklen Augen zürnten, und sie strich sich die Haare aus der Stirn, zurück nach den schwarzen, wohlgeordneten Flechten. „Ich kann nicht dafür, daß dein Herr Wilkens ausbleibt,” setzte sie mit spitzem Vorwurf hinzu.

„Oho!” brauste Elli auf. „Ich kümmere mich wohl um Wilkens? Nicht so viel! Nicht so viel!” Die Röte, die ihr in die Wangen schoß, ärgerte sie noch mehr. „Nicht so viel!” erklärte sie zum drittenmal mit vor Erregung zitternder Stimme.

„Aber Kinder! Ihr seid ja garstig miteinander,” mahnte jetzt Margas weiche, ruhige Stimme. Ihre Hand tastete über den Tisch weg nach Elli, als wollte sie ihren Liebling beruhigen. „Er kann ja noch kommen,” flüsterte sie der jüngeren Schwester zu.

Elli entzog sich ihrer Liebkosung. Trotz und Schmerz kämpften in ihren hübschen Zügen und preßten ihr Tränen in die Augen. Sie war in dem seligen siebzehnjährigen Alter, wo Freude und Leid durcheinanderjagen wie Regen und Sonne an einem Apriltag. Sie kam sich unsagbar verkannt vor, nicht weil sie sich um den besagten Wilkens „nicht so viel” kümmerte, sondern gerade weil sie auf ihn gewartet hatte. Ihr kleines Geheimnis, über das sie mit den Schwestern sonst ganz gern einmal tuschelte, war nach ihrem Empfinden von Käthe furchtbar verletzt und entweiht.

Marga erriet diese Stimmung. Sie stand auf, legte die Arbeit auf den Tisch und setzte sich neben Elli aufs Sofa. Sie nahm sie in den Arm. Während Käthe mit großen steilen Schriftzügen ein neues Blatt des Tagebuchs füllte, redete sie in ihrer verständigen, zarten Weise halblaut dem Kleinchen zu, das nach einigem Widerstreben nicht nur den Trost in sein wundes Herz aufnahm, sondern auch dieses Herz auszuschütten begann.

Das Schnarren von Käthes Feder, das Flüstern der beiden auf dem Sofa waren die einzigen Geräusche, die das Zimmer, ja das ganze in nachmittägliche Stille versunkene Haus belebten. Kein Ton drang vom unteren Stockwerk, wo Geheimrat Richthoff arbeitete, herauf in die Mansardenstube. Der Flanellstorch mußte längst wieder seines Wegs gezogen sein, ohne daß sein Gehen auch nur ein winziges Teilchen des Interesses gefunden hätte, das seine Ankunft wachgerufen. Die kräftige, leuchtende Maisonne kam, zu mattem Gold gedämpft, durch die zugezogenen gelben Vorhänge an den Fenstern und tauchte die altmodischen Möbel, die erinnerungsreichen, behaglichen Kleinigkeiten in den Ecken und an den Wänden in ein wohliges Halbdunkel. Nichts schien mehr den dämmerigen Frieden dieser Ruhestunde stören zu wollen, die die Schwestern wie gewöhnlich zwischen Mittag und der Kaffeestunde da oben unter dem Dach verträumten und verplauderten.

Der Zeiger rückte auf drei Uhr los. Noch zwei Minuten, und der heisere Kuckuck mußte den Kopf dreimal zur Tür herausstrecken und sie wieder energisch hinter sich zuklappen. Damit war dann Papas Sprechstunde und alle Spannung für heute zu Ende.

Ein neues schrilles Klingeln an der Haustür kam dem Kuckuck zuvor. Marga und Elli hielten in ihrem Flüstern ein. Käthe blickte halb von ihrem Tagebuch auf.

„Sicher nichts Überwältigendes,” erklärte Elli mit einer Gleichgültigkeit, der die Neugier aus allen Fugen sah. „Ich stehe schon gar nicht mehr auf.”

„I wo, Kleinchen! Flugs auf deinen Posten!” ermunterte sie Marga.

Eine ziemlich tiefe, etwas hastige Stimme klang von unten aus dem Hausflur.

Elli rückte auf ihrem Sitz hin und her. Sie wollte nicht mehr, und doch wollte sie brennend gern. Käthe hatte die Feder weggelegt. Auch sie überlegte. Schon stand Elli auf und huschte nach der Tür. Käthe folgte langsam. Mit vereinten Kräften beugten sie sich draußen über das Geländer und spähten den heraufsteigenden Schritten entgegen. Marga lauschte wie zuvor. Es war wieder das alte lustige Spiel, das sie nicht lassen konnten, heute zum zehntenmal nicht. Die kleine Zänkerei war längst vergessen. Die Treppen, das Nußbaumgeländer knackten unter der Last der beiden vornübergebeugten Mädchenkörper verräterischer denn je.

Die Musterung des ahnungslosen Besuchers dauerte lange. Für Marga in ihrem Alleinsein schienen die Schwestern eine Ewigkeit auszubleiben. Endlich klappte im ersten Stock die Tür zum Zimmer des Geheimrats ins Schloß. Käthe und Elli stürmten gleichzeitig zurück ins Zimmer. „Etwas schrecklich Interessantes!” rief Elli aufgeregt schon von weitem.

„Ein Neuer! Hat noch nie bei Papa gehört!” berichtete auch Käthe mit ungewohnter Lebhaftigkeit, während sie vorsichtig die Tür nach dem Flur zuzog.

„Alt? Jung? Groß? Klein? So erzählt doch nur!” forschte Marga mit jener Neugier, die sie mitunter leidenschaftlich überkam, wenn ihr junger Sinn sich aufbäumte, als fürchtete sie, die Schwestern möchten ihr ein Stück Leben vorenthalten, nach dem sie sich in ihrer Dunkelheit nicht minder sehnte als die anderen mit ihren hellen Augen.

Alle drei rückten an dem runden Tisch ganz nahe zusammen. Fast stießen sie mit den eifrig aufgestützten Ellbogen aneinander. Käthe und Elli überstürzten und ergänzten sich in ihren Mitteilungen. Die ganze ausgelassene Lust der „Bande”, wie Papa Richthoff seine Mädels nannte, machte sich in dieser halb spaßhaften, halb ernsten Kritik Luft.

„Sehr straffe männliche Erscheinung,” beschrieb Käthe.

„Groß, schlank!” unterbrach Elli. „Schick gekleidet! Jackettanzug — Pfeffer und Salz! Braune Stiefel!”

„Weißt du, Marga, ähnlich wie der eine Assistent von Professor Lepart,” erklärte Käthe.

„Doktor Zerweck? Das Gigerl? Ich danke!” ereiferte sich Elli. „Nicht die Spur, Marga. Viel natürlicher, gar nicht geckenhaft!”

„Nicht wie ein Philologe, weißt du,” nahm Käthe den Bericht wieder auf. „Mehr weltmännisch.”

„O, das will ich nicht sagen,” widersprach Elli. „Es gibt sehr feine Philologen.” Sie verstummte plötzlich und wurde wieder rot. Wilkens war nämlich Philologe, derselbe Wilkens, der vorhin an der kleinen Tränenszene schuldig geworden war.

Jetzt mußten sie alle drei über Ellis Naivität lachen, sie selber nicht zum wenigsten.

„Aber wie sieht er denn nun eigentlich aus?” fragte Marga ganz unglücklich. „So erzählt doch mal ordentlich!”

Käthe und Elli fingen wieder von vorn an. Schwatzend und lachend lieferten sie eine Charakteristik, so wirr und widerspruchsvoll, daß Marga sich nach noch so vielen Beschreibungen so klug vorkam wie zuvor. Was sie mit einiger Bestimmtheit erfuhr, war nur, daß er einen braunen Vollbart trage und sehr ausdrucksvolle dunkle Augen habe. Über diese Augen, die keine der beiden Schwestern länger als eine Sekunde in beträchtlicher Ferne gesehen, drohte es zu neuem Streit zu kommen. Elli fand sie feurig, Käthe schmelzend.

Marga legte sich ins Mittel. „Wir müssen mal Papa fragen, wer es war,” sagte sie einfach und entschieden.

Käthe und Elli waren einen Moment sprachlos über diesen verblüffend klaren und offenen Rat. Dann fielen sie vereint mit ihren Bedenken über Marga her. Als ob das so einfach wäre, Papa zu fragen! Man würde ja verraten, daß man Posten gestanden! Papa würde Gott weiß was denken! Und wenn er erst merkte, daß man gern etwas von ihm wissen wollte, konnte man sicher sein, daß er schwieg wie ein Löwe. Das mußte fein eingefädelt werden. Da mußte ein richtiger Feldzugsplan gemacht werden. Wieder steckten sich die drei Mädchenköpfe wie die Häupter einer Verschwörung über dem Tisch zusammen. Sie fuhren erst erschrocken auseinander, als ziemlich laut an die Tür gepocht wurde.

Therese streckte den Kopf herein. „Der Kaffee steht unten,” meldete ihre mürrische Stimme. „Er wird kalt. Und der Herr Geheimrat hat nach dem seinen schon gerufen.”

Wie im Nu ging es aus der Stube und die Treppe hinunter. Elli voran, denn an ihr war die Reihe, Papa den Nachmittagskaffee zu bringen. Das war eine wöchentlich abwechselnde Ehre.

Käthe und Marga folgten Arm in Arm. Sie hatten am Nachmittag eine Besorgung zu machen und verabredeten den Stadtbummel. Bis zum Abendbrot galt es schon zu warten, ehe man gemütlich mit Papa plaudern konnte. Dann mußte man — man mußte erfahren, wer der „Neue” war.

Der Geheimrat hatte allerdings nicht die leiseste Ahnung von dem, was seine Mädels zu seinen Häupten trieben und planten. Wenn er nach dem Essen seinen Verdauungsgang im Garten gemacht hatte, wobei er mit der gewissenhaften Liebe von Jahrzehnten die Fortschritte seiner Bäume und Spaliere feststellte, die Schnecken von den Weinstöcken ablas, das allzu vordringliche Unkraut mit der Stockspitze aus den Wegen bohrte und nachbarwärts schleuderte — dann bildete die Sprechstunde den Übergang von der beschaulichen Ruhe zur eifrigen Arbeit. Wie ihm seine Besucher gefielen oder seine Laune es ihm eingab, fertigte er seine Hörer bald kurz und ohne viele Worte ab, bald verwickelte er sie in ein Gespräch und stellte — das war der Schrecken der jungen Semester, die zum erstenmal sich bei ihm anmeldeten — ein kleines historisches Examen an, sein Opfer unvermittelt an einem Rockknopf fassend und sich an seiner Verwirrung innerlich belustigend. War dann der letzte glücklich expediert und die Tür endgültig für weitere Besucher geschlossen, so schlüpfte er in den befreienden grauen Schlafrock, der schon bedenklich viele Jahre erlebt hatte, aber für unersetzlich galt, und steckte sich eine Zigarre an. Er verschwand hinter dem gewaltigen Zylinderbureau aus Nußbaumholz, das vom einen Fenster aus quer in die Stube stand und mit den mächtigen bändereichen Regalen im Rücken ein kleines Zimmer im Zimmer bildete. Eine Flut von Zetteln und Zettelchen, alle beschrieben mit seiner winzigen, mikroskopisch feinen Handschrift, breitete sich vor ihm und um ihn aus. Es war ein besonderes Kunststück, das nicht immer gleich gut gelang, den Nachmittagskaffee geräuschlos hereinzubringen und auf dem blätterbesäten Schreibtisch ein Eckchen zu erspähen, wo er hingesetzt werden konnte, ohne daß der alte Herr einen grollenden Sturm losbrechen ließ, weil man ihm alles durcheinanderwerfe und die peinliche Ordnung seiner Manuskripte, die für jeden andern einer peinlichen Unordnung zum Verwechseln ähnlich sah, gewissen- und verständnislos zerstöre. Nur Marga genoß das Vorrecht, daß ihren suchenden Fingern Nachsicht, sogar etwas Hilfe gewährt wurde. Das war aber eine Zartheit, die als geheimes und stillschweigendes Abkommen zwischen Vater und Tochter verborgen blieb.

Heute, wo Elli an der Reihe war, hatte es grimmiges Murren gegeben, so daß sie den Schwestern verstört berichtete, Papa sei grauenhaft aufgelegt und müsse wie ein schalloses Ei behandelt werden. Dabei war der alte Herr bei sich selber ganz zufrieden. Mit Bedacht und Vorliebe spielte er den Pascha, der unberechenbar seine Gnaden und Ungnaden verteilt. Nach seiner wohlgemeinten Ansicht gab es kein besseres Mittel, um die „Bande” einigermaßen in Zaum und Zucht zu halten. Nachdem ihm seine um fünfzehn Jahre jüngere Frau gestorben, ehe Elli und Marga auch nur aus den Kinderschuhen waren, hatte er eine Erzieherin ins Haus genommen. Eine Zeitlang war es auch mit einer Hausdame versucht worden. Aber aus alledem waren so viel Unbequemlichkeiten und Mißhelligkeiten entstanden, die seine ihm notwendige Gelehrtenruhe störten, daß er, als die beiden jüngsten leidlich herangewachsen waren, das Hauswesen mit seinen drei Töchtern allein zu führen unternahm. Etliche Kollegen, unterschiedliche Tanten und Basen hatten erklecklich dazu den Kopf geschüttelt. Eine Musterwirtschaft war's ja auch nicht gerade geworden. Aber er war zufrieden, wie es war; er und die drei Mädchen fühlten sich glücklich in dem alten wohnlichen Haus am Wenzelsberg.

An den Tagen, an denen nicht eine Kolleg- oder Seminarstunde ihn abrief, saß Geheimrat Richthoff vom Nachmittag bis zum Abend in seiner Schreibtischecke. Im qualmenden Nebel der Zigarren, die er eine an der andern ansteckte, verschwand für ihn die Außenwelt. An ihre Stelle traten die geistigen Gestalten seiner römischen Kaiser, mit denen er leibhaftig und wie mit seinesgleichen umging. Aus der Unzahl kleiner Züge, die er mit unermüdlichem Fleiß Tausenden von Inschriften, spärlichen, unverläßlichen Geschichtschreibern, all den zwar unermeßlichen, aber noch so unverarbeiteten Quellen abzwang, formte er mit feiner, geistreicher Kunst seine Kaisergeschichte. Die Studien eines ganzen Lebens trug er, an der Schwelle des Alters, in einem darstellenden Werke großen Stils zusammen. Mit eiserner Energie hatte er von Jahr zu Jahr den Wunsch, das Erforschte und Gesammelte zum Kunstwerk umzuschaffen, niedergehalten. Jetzt endlich, seit Jahresfrist, hatte er sich der Haft der Kleinarbeit entlassen. Mit dem Ungestüm eines Jungen begann er zu gestalten. In der Seligkeit, das kritisch Erklügelte endlich künstlerisch erleben zu dürfen, erfüllte sich ihm der Traum seines Daseins. Alle Freuden und Leiden des Schaffenden erlebte er in der drangvoll-fürchterlichen Enge seines Schreibtisches. Verzweiflung und Resignation wechselten mit feurigem Entzücken. Er haderte mit seinen Kaisern; er knirschte, brummte, schalt vernehmlich und drohte, wenn sie sich spröde zeigten und ihre glatten, scharfen Cäsarenköpfe in den Schleier der Undurchdringlichkeit hüllten. Das waren die Tage, wo die Arbeit um zwei, drei Zeilen vorrückte, von denen die eine wieder gestrichen werden mußte. Dann wurde er unzugänglich, griesgrämig, unwirsch und konnte mit seinem Unmut das ganze Haus durcheinanderwerfen. Ein andermal war alles eine Herrlichkeit: die Kaiser hielten ihm stand; sie traten hervor wie aus Marmor gemeißelt, klar, formgebietend, lebenheischend; dann verklärte ein heimliches Lächeln sein Gesicht, heimlich, denn es saß tief drinnen zwischen dem weißen dichten Vollbart und schoß höchstens einmal wie ein neckender Blitz unter den scharfen Brillengläsern hervor. Flüssig und leicht und selbstverständlich sprangen die Worte, die Sätze aus der Feder, und Blatt um Blatt bedeckte sich mit der minutiösen, schwer leserlichen Schrift. An solchen Tagen war Vater Richthoff umgänglich, zu einem Scherz bereit, innerlich von einer kindlichen Heiterkeit. Da hielt der barsche Pascha nicht vor. Er drückte ein Auge zu, ließ sich Wünsche und Bitten vortragen, gab Lob und Zustimmung, kurz: Papa hatte seinen guten Tag und die Bande mit ihm.

Einen guten Tag hatte der alte Herr auch heute hinter sich, als er sich endlich entschloß, die Feder wegzulegen und den Rest der soundsovielten Zigarre dem Aschenbecher zu opfern. Er rieb sich befriedigt die Hände und schob die kleine schwarze Samtkappe, die — ein würdiges Seitenstück des betagten Schlafrocks — den dünnbehaarten, massigen Schädel schützte, über die Stirn zurück. Dann stand er auf und öffnete ein Fenster. Vom Vorgarten, der Haus und Straße gleich einer erhöhten Terrasse trennte, atmeten die in voller Blüte stehenden zwei Kastanienbäume ihren milden, süßen Duft. Die untergehende Sonne warf rote Lichtbündel auf den Kiesplatz und sprenkelte die Gartenmöbel, die um den steinernen Tisch standen. Dort saß Marga, die Hände im Schoß, den Kopf mit dem schlichten, aschblonden Knoten weit gegen den Baumstamm zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Vom Kamin eines Hauses gegenüber schmetterte eine Amsel ihre Triller in die auffallend weiche, stille Luft des Maiabends. Marga schien angespannt zu lauschen. Ein Ausdruck, von Wonne und Weh seltsam gemischt, lag auf dem zarten Gesicht, das im Dämmerschatten des Baumes blasser aussah, als es war.

Der Geheimrat sah ihr einen Augenblick ruhig zu, ehe er sich entschloß, ihre Träumerei zu unterbrechen. Bei ihr, die sein Sorgenkind war, bekämpfte er mit einer Strenge, die ihm nicht leicht wurde, den für ihre zwanzig Jahre und ihre Blindheit begreiflichen Hang, sich in einer schwärmenden Gemütsstimmung einseitig zu verlieren. Gerade sie, der das Schicksal ein kärgeres Los zugemessen als den andern, wollte er davor behüten, ihre Kraft in einem überschwenglichen Gefühlsleben zu verzehren. Er vergaß darüber, daß die Unendlichkeit ihrer Träume sie auch wieder mit der verdunkelten Endlichkeit und Beschränkung ihres Daseins versöhnte.

„Na, Marga, du scheinst nicht so hungrig zu sein wie ich,” klang es jetzt mit neckendem Vorwurf zu ihr hinunter.

Ein leises Zittern lief über Margas Körper. Sie schrak zusammen, als kehrte sie plötzlich aus weiter, luftiger Ferne zurück, und die Augen irrten in die Höhe.

„Wir haben mit dem Abendbrot nur auf dich gewartet. Es ist alles fertig,” gab sie in leichter Verwirrung zurück; sie stand auf und eilte mit geübter Sicherheit der Glastür zu, die vom Erdgeschoß in den Vorgarten führte.

„Langsam, langsam!” mahnte der Geheimrat, während er sich vom Fenster zurückzog. Fast tat es ihm leid, sie aus ihrem verlorenen Sinnen geweckt zu haben. Er warf noch einen halb schmeichelnden, halb wehmütigen Abschiedsblick auf das Wirrsal seiner Manuskriptblätter, ehe er sein Zimmer verließ und die Treppe hinunterstieg.

Im Eßzimmer war alles seines Erscheinens gewärtig. Die Mädels kamen ihm entgegen und führten ihn wie im Ehrengeleit zu seinem bequemen Sessel. Käthe goß ihm den Tee ein. Marga strich seine gerösteten Butterschnitten. Elli schob ihm noch ein Kissen in den Rücken. Er ließ sich gern ein bißchen verwöhnen. Doch die Behendigkeit, mit der er heute bedient wurde, erschien ihm fast verdächtig.

Therese erschien mit den Schüsseln. Unauffällig stellte Käthe eine Platte mit jungen Spargeln als Sondergericht vor den väterlichen Teller.

Der Geheimrat stutzte. „Kinder, ich habe wohl heute Geburtstag, was? Frische Spargel! Anfang Mai! Wie komm' ich zu solchen Leckereien?” Er sah sich fragend im Kreise um. Sein eines Auge zwinkerte unmerklich.

„Marga und ich kamen auf der Hauptstraße bei Testers vorbei,” erklärte Käthe harmlos. „Wir sahen zufällig, daß er im Schaufenster die ersten Schwetzinger Spargel ausgestellt hatte, und weil du sie so gern magst —”

„So wollten sie dir eben eine Freude machen,” schloß Elli mit wohlgemeinter, aber verlegener Hast.

„Hm! Etwas unverantwortlich, aber nett von euch.” Es war jetzt für den alten Herrn ausgemacht, daß die Bande etwas von ihm wollte. Entweder mußten sie neue Frühjahrskleider haben oder sie wollten eine Einladung annehmen oder weiß Gott was. Es galt also, auf der Hut zu sein.

Käthe und Elli sahen sich mit verzweifelten Blicken an. Sie gaben das Treffen schon so gut wie verloren. Der etwas spöttische Ton verriet ihnen, daß Vater Richthoff die Absicht, ihn durch einen Leckerbissen in seiner guten Laune zu unterstützen, durchschaut habe.

Es entstand ein längeres Schweigen. Marga, der von Natur alle Diplomatie fremd war, empfand die kritische Situation am unbehaglichsten. Nur aus schwesterlicher Solidarität hatte sie sich mit dem Plan befreundet, das Geheimnis des „Neuen”, das zu ergründen man sich nun einmal in unschuldiger Kinderei verschworen hatte, auf raffinierten Umwegen herauszulocken. Ihr schien es geraten, jetzt geradezu aufs Ziel loszugehen.

„Hast du schon viele neue Hörer fürs Sommersemester, Papa?” fragte sie unbefangen. Und ohne sich durch einen Ellbogenstoß Ellis irremachen zu lassen, fuhr sie fort: „Bitte, erzähl' uns mal, wer heute alles bei dir war.”

Käthe und Elli blieb der Bissen im Halse stecken. Diese Kühnheit war unerhört. Noch ein ungeschicktes Wort, und Papa erriet, daß sie seine Sprechstunde belauert hatten. Im vorigen Jahr, als Wilkens sich einschreiben ließ, hatte er Elli einmal auf der Treppe erwischt: es hatte eine erschreckliche Strafpredigt über Anstand und Manieren abgesetzt. Und jetzt ...! Käthe trat Marga unter dem Tisch auf den Fuß. Es war einfach haarsträubend gefährlich, was sie da mit ihrer unverbesserlichen Offenheit anrichtete.

Der alte Herr liebte allerdings nichts weniger, als wenn man sich in seine „Amtsangelegenheiten” mischte. Wenn er etwas davon mitzuteilen für gut fand, war das eine seltene Huld und geschah aus freien Stücken. Wäre er weniger befriedigt von seinen römischen Kaisern gekommen, eine barsch ablehnende Antwort hätte nicht ausbleiben können. Aber guter Dinge, wie er war, begnügte er sich mit der mildesten Form, die er hatte, wenn es galt, unerwünschte Fragen abzuweisen: er überhörte sie und blieb eifrig in seine Mahlzeit vertieft.

Die drei Mädels kannten ihn zu genau, um nicht diesen stummen Bescheid zu verstehen.

Elli und Käthe verständigten sich durch einen Blick: Lasciate ogni speranza!

Marga hatte aufgehört zu essen. Sie hatte den Kopf gesenkt. Die Finger der rechten Hand strichen langsam das Tischtuch. Trauer und Beschämung prägten sich in ihrem Gesicht aus. Bei ihrer gesteigerten Empfindungsfähigkeit ging dieser stumme Tadel tiefer als eine entschiedene Zurückweisung. Sie fühlte sich überdies vor den Schwestern gedemütigt.

Dem alten Herrn entging ihre Stimmung nicht. Er wollte heute fröhliche Gesichter um sich sehen. „Sag mal, Marga,” begann er, nachdem er die zweite Tasse Tee in einem Zug geleert hatte, mit gravitätischem Ernst, „ich höre, du hast heimliche Herrenbekanntschaften!”

Käthe und Elli starrten erst Papa, dann die Schwester mit aufgerissenen Augen an.

„Ich — heimliche Herrenbekanntschaften?!” stammelte Marga.

„Na ja!” fuhr der Geheimrat im selben Ton fort, während er sich wie ein Großinquisitor im Sessel zurücklehnte. „Kennst du vielleicht einen gewissen Doktor Perthes? Ich glaube — ja doch — Max Perthes?”

„Perthes?” wiederholte Marga ungläubig und schüttelte den Kopf.

„Der Herr behauptet aber, dich zu kennen.”

„Davon weiß ich nichts,” beteuerte sie ernsthaft. Eine leichte Röte belebte ihre matten Farben. Sie erinnerte sich des Namens nicht. Sie kannte nur die Herren, die als Hörer des Geheimrats ein- oder zweimal im Jahr zur Abfütterung kamen, und auch diese nur flüchtig, denn solche offiziellen Gesellschaften pflegten für sie fast immer eine Qual zu sein, die sie nur auf Papas ausdrücklichen Wunsch ertrug.

„Was ist er denn?” platzte Elli hervor, die ihre Neugier nicht mehr bemeistern konnte. „Philolog oder Jurist oder —”

„Immer fein geduldig, Kleinchen! Bring mir meine Zigarren!”

Elli beeilte sich, die Kiste vor ihn hinzustellen. Erwartungsvoll blieb sie neben ihm stehen.

„Wo will er denn Marga kennen gelernt haben?” konnte nun auch die besonnene Käthe sich nicht enthalten zu fragen. Daß Marga einen Herrn kennen sollte, den sie und Elli nicht kannten, das war etwas zu Außergewöhnliches.

„Du hältst mich zum besten, Papa,” erklärte Marga bestimmt.

„Oho! Objektive, geschichtliche Tatsache! Quelle unanfechtbar!” Der alte Herr hatte sich die lange Holländerin angesteckt und blies den Rauch von sich. Er weidete sich an der Neugier seiner Mädels und gefiel sich darin, sie noch höher zu spannen. „Übrigens ein schrecklicher Modejüngling,” setzte er nach einer Pause seine Mitteilungen fort.

„Ein Modejüngling — und Marga!” rief Elli lachend. Käthe lachte mit, und auch Marga schüttelte mit leisem Lächeln von neuem den Kopf.

„Er ist, glaube ich, Mediziner.”

„Mediziner?” klang es dreifach noch ungläubiger zurück.

„Trägt er vielleicht ein Pfeffer-und-Salz-Jackett?” entfuhr es Elli. „Und —” Sie verstummte jäh, über sich selber erschrocken. In ihrer übersprudelnden Lebhaftigkeit hatte sie alle Vorsicht vergessen.

Käthe war außer sich über diese Dummheit. Sie stand auf, Marga folgte ihr. Alle drei umstanden sie den kurulischen Sessel des Geheimrats, der Gott sei Dank keine Ahnung von so modischen Fachausdrücken wie „Pfeffer-und-Salz-Jackett” hatte und von seinen Besuchern alles andere eher denn Einzelheiten ihrer Kleidung im Gedächtnis behielt.

„Pfeffer-und-Salz-Jackett?” wiederholte er kopfschüttelnd. „Woher kennst denn du ihn, Kleinchen?”

„Nein, nein! Ich meinte nur so; ich kenne ihn so wenig wie irgendwer,” versicherte Elli krampfhaft.

„Also, kurz und gut,” resümierte der alte Herr, „er behauptet, Volontärarzt in Hemsbach gewesen zu sein.”

„Volontärarzt? In Hemsbach?” Marga besann sich. Sie war dort einen Sommer über — es war vier, fünf Jahre her — in einer Blindenanstalt gewesen, um sich in ihren Fertigkeiten zu vervollkommnen. Aus ihrer Erinnerung an diese schwere Zeit löste sich jetzt eine entfernte Gestalt. Damals war neben dem Direktor ein jüngerer Arzt dort, der sich gern mit ihr unterhielt und mit ihr lernte. Jetzt kam ihr auch der Name zurück. „Ach, der!” setzte sie plötzlich gedankenvoll hinzu.

„Jawohl — der!” schmunzelte der Geheimrat. „Habe ich nun recht, wenn ich sage, Marga hat heimliche Herrenbekanntschaften?”

„Natürlich hast du recht!” rief Elli lustig. „Das sind ja nette Sachen, die man von dir hört, Margakind!” Sie schlang den Arm um Margas Hals und zupfte sie neckend am Ohr.

„Und gar nie ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen!” sagte Käthe ganz vorwurfsvoll.

„Aber das war ja nur eine ganz flüchtige Bekanntschaft,” verteidigte sich Marga. Sie war ordentlich bestürzt. Ihre Augen gingen ratlos auf die Suche. Sie war rührend in ihrer leichten Erregung und verschämten Hilflosigkeit. Dazu regte sich etwas wie Stolz in ihr. Daß der Besuch des „Neuen”, der die Gemüter so beschäftigt hatte und nun unerwartet, kampflos aus seinem Inkognito hervorgetreten war, gerade mit ihr zusammenhing, war ein für ihre abgeschlossene Welt ungewöhnliches Ereignis. „Doktor Perthes war übrigens gar kein solcher Laffe,” erklärte sie nach einigem Besinnen mit ernsthaftem Nachdruck und unter allgemeiner Heiterkeit.

Der alte Herr erhob sich jetzt gleichfalls von seinem Sessel und klopfte ihr auf die Schulter. „Jedenfalls hast du ihn mir auf den Hals gehetzt, Kind. Er behauptet steif und fest, du hättest ihn eingeladen, uns zu besuchen, wenn er je einmal hierherkäme. Zugegeben?”

„Das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, daß er damals freundlich zu mir war und —”

„Närrchen! Natürlich kam er nicht nur deshalb und deinetwegen. Er hatte an mich eine Empfehlung von meinem Freunde Schlutius in Bonn, der irgendwie mit ihm verwandt ist. Das genügt! Käthe, setz ihn auf die Liste. Er wird gelegentlich mal eingeladen. Und damit hat der Schnack ein Ende.” Er gab Marga einen leichten Backenstreich. Das war ein Zeichen seiner höchsten Gunst. Dann nahm er seine Abendzeitung vor und ging durch Wohnzimmer und Salon nach der verglasten Veranda auf der Vorderseite des Hauses. Dort brannte schon die Lampe, unter deren Schein er lesend eine halbe Stunde auf und ab ging, ehe er wieder zu seinen Kaisern hinaufstieg.

Für die drei Mädels aber hatte der Schnack noch kein Ende. Kaum war Vater Richthoff außer Hörweite, so wurde Marga von Elli und Käthe mit Fragen über und über bestürmt. Sie wußte nicht halb soviel, als sie hätte wissen müssen. Elli, die ihren siebzehnjährigen Übermut austoben mußte, wo immer eine Gelegenheit sich bot, faßte Marga als Herr um die Taille. Marga mußte jetzt unbedingt tanzen lernen. „Was soll dein Doktor sonst von dir denken? Dein Doktor kann das von dir verlangen. Dein Doktor wird entsetzt sein, wenn du solche Schritte machst.” So ging der lose Mund atemlos immerzu, während sie Marga unerbittlich im Kreise drehte, ob diese wollte oder nicht. Käthe schrieb indessen feierlich „Doktor Max Perthes” auf die Liste der Einzuladenden, die zu führen Papa ihr anvertraut hatte, und hielt, unbekümmert, ob sie gehört wurde oder nicht, sehr weise Reden darüber, daß sie den „Neuen” gleich für einen Mediziner gehalten hätte; daß Mediziner immer so und so aussehen und immer solche und solche Menschen seien.

Zum Glück für Marga fiel es den Schwestern plötzlich ein, daß ja heute der „Akademische Gesangverein” Probe hatte. Wollte man nicht zu spät kommen und von Professor Külz ein Nasenrümpfen beziehen, so war es höchste Zeit zum Aufbruch. Im Nu stürmte Elli davon, um sich fertigzumachen. Ihr feines Stimmchen trällerte die zu probende Bachkantate durchs Haus. Käthe folgte ihr, nachdem sie Therese zum Abräumen des Tisches gerufen.

Marga blieb im Eßzimmer zurück. Sie war wie betäubt von der letzten Viertelstunde. Von Papas neckender Enthüllung und dem Umtrieb, den Elli mit ihr angestellt hatte. Sie ordnete das zerzauste Haar, dessen Strähnen von dem unfreiwilligen Tanz sich an den Schläfen und im Nacken gelöst hatten. Während Therese abzuräumen begann, ging sie auf den kleinen Hof hinaus, der in gleicher Höhe mit dem ersten Stock hinter dem Hause lag, und von dem ein steiler Weg bergwärts in den Garten oder, wie er allgemein hieß, den „Weinberg” führte.

Es war schon kühl geworden. Eine reine, würzige Luft strich vom Weinberg herunter. Die Dämmerung, deren dunkles Wachsen Marga um sich fühlte, tat ihr wohl. Sie kreuzte die Arme hinter dem Rücken und verschränkte die Hände. Das war ihre liebste Haltung, wenn ein Ungewohntes in ihrem Innern wirkte. So schritt sie langsam im Hof auf und nieder. So überdachte und verarbeitete sie das Kleinste und das Größte, bis es in die große und einfache Stille ihrer Seele aufgegangen war, die nichts Unfertiges und Unklares in sich duldete. Eine um die andere ging sie ihre Empfindungen durch. Erst war sie erschrocken, als Papa sie so gravitätisch vornahm und zur Rede stellte. Dann hatte sie den Scherz herausgemerkt. Freude und Stolz hatte sie gefühlt, daß ein Mann sich ihrer erinnerte, nach ihr sich erkundigte und ihretwegen Besuch machte. Jedes andere junge Mädchen hätte an ihrer Stelle ähnliches empfunden. Für sie war es nur neuer, verwirrender, weil das Leben da draußen, das Leben der Weltmenschen, wie sie es nannte, sich immer nur um die beiden Schwestern zu kümmern pflegte, nicht um sie. Sie wollte ihre heimliche Freude in der Lustigkeit der Schwestern aufgehen lassen. Willig ließ sie sich ausfragen, sich necken, mit sich tollen. Aber unvermutet stieg ein anderes Gefühl in ihr auf, ein bitteres, schmerzliches: hinter der Fröhlichkeit der anderen steckte etwas, das sie verletzte, ohne daß sie es wußten oder wollten. Daß es gerade sie war, Marga, die Blinde, die Ausgeschlossene; sie, bei der die Bekanntschaft mit einem Mann so gar nichts zu bedeuten hatte — das machte die Sache so besonders spaßhaft. Es war so komisch, weil es so ganz ungefährlich war. Und im selben Sinne hatte es auch Papa aufgenommen: „Damit hat der Schnack ein Ende!” — hinter diesem Wort fand ihr Grübeln die gleiche Grenze, jenseits deren es für sie keine Wünsche, keine Hoffnungen, darum auch keinen Ernst geben konnte.

Und an jene Grenze stieß auch jetzt sie selbst, während sie so sicher und still in dem ihr vertrauten Hofraum auf und ab schritt. Sie hatten ja recht. Es war in Wirklichkeit so. Dies Jenseits war ihr genommen, seit in ihrem vierzehnten Jahr, zwei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, eine Netzhautablösung ihre ohnehin schon schwachen Augen für immer gelöscht hatte. Damals hatte sie nur halb begriffen, was sie verloren. Erst mit den Jahren wuchs auch das Verständnis ihres Verlustes. Die Schwestern und alle, mit denen sie umging, sprachen nie davon. Aus ihrem Mitleid erriet sie es. Immer besser, immer bestimmter wußte sie, daß das höchste Glück, das einem Menschenkind nach irdischem Denken und Fühlen aufbehalten war, nicht das ihre sein konnte. Sie fühlte Kraft genug in sich, um zu entsagen. Sie kämpfte, sie rang, sie ruhte nicht, bis ihre Stille ihr gab, was sie brauchte; bis sie mit sich allein zufrieden sein und nur in sich selber ihr Glück suchen wollte. Ihr Stolz kam ihr zu Hilfe; ihr Stolz hielt sie aufrecht, wenn sie zu verzagen und schwach zu werden drohte.

Und dennoch — dennoch! Es war noch eine andere Kraft in ihr, die sich mitunter gegen ihre stille Ergebenheit aufbäumte. Ihre Jugend ließ und ließ sich nicht auf einmal und für immer niederzwingen. Die fühlte sie auch jetzt sich auflehnen. Die stürmte in ihr auf, daß sie die Hände an die heißen, pochenden Schläfen legen mußte. War nicht dieser Doktor Perthes doch vielleicht um ihretwillen gekommen? Er konnte ja die Empfehlung, von der Papa sprach, sich haben nur darum geben lassen, weil er sie wiedersehen wollte. Es brauchte nicht nur der Wunsch zu sein, Verkehr zu haben oder höflich zu sein oder ihr seine mitleidsvolle Achtung auszudrücken — — Aber das war ja Unsinn! Sie schwärmte ja! Sie täuschte sich vor, ihn näher zu kennen, als sie ihn je gekannt. Das Bild, das ihr die Erinnerung gab, bestand kaum aus ein paar spärlichen Zügen: er hatte manchmal mit ihr geplaudert, sie belehrt, war auf die Gedanken und Gefühle eines halberwachsenen Mädchens nachsichtig eingegangen. Sie machte jetzt ihre Erinnerung mit Gewalt ärmer, als sie war. Sie wollte nicht schwächlich, weich gegen sich sein, sondern tapfer. Und klar, wie sie es immer von sich verlangte. Rücksichtslos klar.

Jetzt war sie schon so weit, daß sie lächeln konnte. Lächeln über den winzigen, eingebildeten Sturm, der ihr Gleichgewicht hatte stören wollen.

Langsam stieg sie vom Hof in den Weinberg hinauf.

Der Nachtwind rüttelte leise und friedlich in den Büschen und Baumkronen. Von dem Fliederstrauch bei der ersten Laube nahm er eine Wolke blühenden Duftes und hauchte sie über Marga aus. Hoch und höher stieg sie; kaum daß sie an einen Stein anstieß, so vertraut war ihr die Steige. Bis zu ihrer Pappel, die hinter der zweiten Laube stand, klomm sie empor.

Dort lehnte sie sich gegen den rissigen Stamm.

Die Nacht war ihre Freundin. Sie wuchs von unten herauf, aus der Ebene, wo die Stadt einschlummerte; wo draußen ferne Tannensäume starrten und der Fluß zwischen jungen Feldern sich verlor, in Margas Träumen so schön wie in keiner Wirklichkeit. Sie senkte sich auf sie herab, aus der unendlichen Höhe und Tiefe des Himmels, wo die Sterne blitzen mußten, nein blitzten — ein einziges, ewiges, königliches Gewirk von leuchtendem Gold und seliger Bläue. Weit, weit breitete sie die Arme aus, als könnte sie die Nacht, die friedliche, an sich raffen. Aus der Ferne und Nähe, von unten, von oben. Und dann schlang sie die Hände beglückt über ihrem Kopf ineinander; so frei fühlte sie sich, so klar, so in sich selber und in der Nacht geborgen.

2

Am Sonnabend war es üblich, das Institut früher als sonst zu verlassen. Professor Hammann, der Chef, war den ganzen Tag nicht erschienen. Er war über Sonnabend und Sonntag wieder einmal weggefahren. Nach dem Rhein. Er pflegte dann Freitagabends seinen beiden Assistenten en passant seine „Dienstreise” anzukündigen.

Junggeselle, reich, durch glänzende akademische Beziehungen in seiner Laufbahn gesichert, ohne Ehrgeiz und ohne tiefere Neigung zu seiner Wissenschaft, trieb er seine Bakteriologie bestenfalls wie einen Sport unter den andern. Denn der Sport war seine Lebensaufgabe, er war die Grundlage seiner Lebensanschauung. Man konnte sicher sein, daß die „Dienstreise” einem Rennen, einer Regatta, einem Tennis- oder Hockeymatch galt, bei dem er nicht fehlen durfte. Du lieber Gott! Die Bazillen nahmen ihm das nicht weiter übel. Mit den zweien, die er selber früher entdeckt, war das bißchen Gelehrtenruf hergestellt: die „Jahrbuchunsterblichkeit”, wie er mit unverhohlener Selbstironie im vertrauten Kreise zu sagen pflegte. Das Weitere besorgten die Assistenten unter seinem Namen.

Doktor Markwaldt, der erste Assistent, hatte schon gleich nach fünf Schluß gemacht. Er saß rittlings auf seinem Stuhl und las seine Berliner Zeitung. Bisweilen schielte er über das Blatt weg nach seinem Kollegen, der noch immer mikroskopierte, und stellte psychologische Zwischenbetrachtungen an.

Dieser Perthes war doch ein merkwürdiger Bursche! Markwaldt bildete sich ein, Menschenkenner von Beruf zu sein — er beurteilte seine Fähigkeit nach der Fixigkeit seines Urteils —, aber dieser Junge, dieser Perthes, trotzte nun bald seit fünf Monaten, seit er überhaupt zweiter Assistent war, den Markwaldtschen Erfahrungsgrundsätzen. Drei Wochen lang arbeitete er wie ein Büffel; er verbiß sich in irgendeine Sache und schien darüber Himmel und Erde zu vergessen. Der Junge war ein Streber, ein ganz gewöhnlicher Streber. Das stand fest. So lange, bis die drei nächsten Wochen anfingen. Wie mit einem Schlage war derselbe Perthes wie ausgewechselt. Er erschien fast nur gastweise im Institut; er sprach von seiner Wissenschaft in den geringschätzigsten Ausdrücken, spielte sich als Naturmensch und Krafthuber auf, der in Wald und Feld herumtobte, wie ein Besessener ruderte und zeitweise überhaupt vom Erdboden verschluckt zu sein schien. Keine Frage: der Junge war ein ausgepichter Faulenzer, der es nie zu etwas bringen konnte. Alles Laune, Tollheit, Verschrobenheit. Bis das Wetter von neuem umschlug und der Arbeitsteufel wieder über ihn kam. Aus diesem Chamäleon mochte ein anderer klug werden!

Inzwischen hatte Perthes mit einem kurzen Entschluß den weißen Arbeitsmantel in den Kasten gehängt und mit dem schon bekannten Pfeffer-und-Salz-Jackett vertauscht. „Gehen wir?” fragte er mit knappem Ton, schon halb in der Tür.

„Höchste Zeit!” Markwaldt sprang auf und steckte die Zeitung in die Tasche.

Nach einer kurzen Weisung an den Institutsdiener, der aus seiner Stube im Erdgeschoß getrommelt wurde, verließen die beiden Assistenten das Haus und schlenderten, die langweilige Enzisheimer Straße vermeidend, durch die Allee am Fluß aus dem klinischen Viertel stadtwärts.

Es war ein ungleiches Paar. Perthes, hochgewachsen, schlank, brünett, überragte den rundlichen, weißblonden Markwaldt um fast zwei Haupteslängen. Auch wenn er, wie jetzt, langsam ging, war er mindestens um einen Schritt dem anderen voraus. Er hatte den blaubebänderten Panamahut abgenommen oder vielmehr noch gar nicht aufgesetzt. Lässig schlenkerte er ihn in der Linken. Den Kopf mit dem dichten, dunklen, verworrenen Haar, den buschigen Brauen, dem kräftigen braunen Vollbart neigte er leicht nach rechts zu seinem Gefährten herunter, als hörte er dessen Reden zu. Doch waren die leicht zugekniffenen Augen geradeaus ins Weite gerichtet und verrieten das Gegenteil.

Markwaldt erzählte von einem Gartenfest, das Hupfeld, das „große Tier” der Fakultät, die weitberühmte chirurgische Exzellenz, im vorigen Sommer gegeben hatte. „Sie müssen dort Besuch machen, Kollege! Unbedingt. Das einzige Haus großen Stils in unserem gottbegnadeten Jammerdorf. Tipptopp! Nicht diese ollen, langweiligen Geheimratsfressereien, wo man sich mit zehn, zwanzig höheren Töchtern tothupsen muß. Und dann — Alli! Pardon, Alice!” Er schnalzte statt aller Charakteristik mit der Zunge. „Na, die kennen Sie ja schon — Fräulein Exzellenz, was?”

Perthes schüttelte gleichgültig den Kopf. „Keine Ahnung,” antwortete er zerstreut.

„Nicht die Möglichkeit! Sie sollten unter die Sterngucker gehen, Perthes. Wahrhaftig!” Markwaldt blieb stehen und klopfte empört mit dem Stock auf den Boden, daß seine kuglige Figur, die so prall in dem blauen Anzug mit der buntgestickten Weste steckte, in Erschütterung geriet. Dann stützte er beide Hände auf den achatenen Stockknopf und stellte eins seiner kurzen Beine graziös hinter das andere. Er zwang so Perthes, stehenzubleiben und sich zu ihm umzuwenden. „So was übersieht man doch nicht — die einzige schicke Erscheinung im ganzen Nest! Wetten, daß das Teufelsmädel Sie schon kennt?”

Perthes zuckte ungeduldig die Achseln. Markwaldt langweilte ihn. Er wollte weiter, aber sein Partner blieb unerbittlich stehen, wo er stand, und redete drauflos.

„So werden Sie's zu nichts bringen, Verehrtester! Zu gar nichts. Und Sie wollen akademisch werden?! Die Mädels sind ja doch die Hauptsache, sag' ich Ihnen. Den ganzen Professorenklumpatsch können Sie, wie Gott-Vater, in die eine Wagschale legen, Ihre Bakteriologie und was Sie sonst wissen dazu. In die andere Schale muß das richtige Mädel, und wuppdich — sie senkt sich, daß die Professorenperücken und Ihre Wissenschaft an die Decke fliegen. So liegt die Chose!”

Jetzt mußte Perthes — unter der Wucht solcher Anschaulichkeit — wohl oder übel lachen. Seine starken weißen Zähne leuchteten aus dem dunklen Barthaar. „Das ist doch wohl die alte Schule, Kollege Markwaldt,” meinte er leichthin.

„Alte Schule?” ereiferte sich Markwaldt. „Alte Schule? Sie, o Sie — verzeihen Sie! — Sie unglaublicher Embryo! Die ewige Schule ist das!” Er mußte sich jetzt entschließen, dem weiterschreitenden Perthes zu folgen. „Werden ja sehen. Übrigens, Besuch machen müssen Sie bei Hupfeld doch. Das ist einfach so Brauch von alters her. Fragen Sie den Chef!”

„Ich besuche, wen ich will,” gab Perthes mit beinahe unfreundlicher Bestimmtheit zurück. Ein Angriff auf seine Freiheit bewirkte bei ihm alles andere eher als Nachgiebigkeit.

„Verdrehtes Huhn!” knirschte Markwaldt in sich hinein, doch immerhin so vorsichtig, daß sein Gefährte die Schmeichelei nur ahnen konnte. Ihm konnte es ja schließlich egal sein, wie Perthes die Sache angriff. So harmlos er sonst war, so sagte ihm doch jetzt der Ärger: Je verkehrter, desto besser. Seine Verstimmung dauerte indes nicht lange. Schon strich er wieder mit der Selbstgefälligkeit des guten Jungen, der er war, den kurzgeschnittenen dürftigen Schnurrbart und pfiff durch die roten Lippen. An der Brücke, die hinüber nach der Neustadt führte, verabschiedete er sich.

„Kommen doch zum Klinikerabend heute, was?” fragte Markwaldt.

„Vielleicht,” lautete die ausweichende Antwort.

„Na, denn — auf Wiedersehen!” Markwaldt schritt seinem Stammcafé zu, wo er die Zeit bis zum Abendessen mit Billardspielen totschlagen wollte.

Perthes ging auf der Altstadtseite am Fluß weiter. Die Allee wurde dort belebter. Alte Leute saßen auf den Bänken in der Sonne, die in ihrem sachten Niedergang seitwärts in die Allee hereinblinkte. Kinder häufelten Sand und liefen den Fußgängern zwischen die Beine. Auf dem Fluß schoß ein langes, schmales Ruderboot pfeilschnell dahin. Die Ruderer mit ihren roten Mützen und weißen Trikotanzügen hoben sich grell ab von dem dunkelgrünen Wasser. Ihre nackten Arme warfen sie nach dem lauten, mechanischen Kommando des Steuermanns im Gleichtakt vor und zurück. Auf dem Graspfad unten an der Uferböschung lief der Leiter des Klubs, ein jugendfroher Gymnasialprofessor, mit einer mächtigen Schalltube. Er begleitete das Boot und rief seine Kritik durch den Trichter dröhnend über das Wasser hin. Zuzeiten selbst ein leidenschaftlicher Ruderer, sah Perthes dem Boot mit Interesse nach. Dann ging er über die Straße nach seiner nahen Wohnung und stieg lässig die Treppe hinauf.

Ein geräumiges Giebelzimmer mit dem freien Blick auf den Fluß und die gegenüberliegenden Waldberge war sein Quartier. Ein kleiner Alkoven stieß daran. Eine Veranda, luftig und keck wie ein Vogelnest, war unter den Dachsparren vorgebaut. Einfach, aber freundlich und sauber war alles eingerichtet. Es war gut hausen da oben.

Als Perthes eintrat, sah er sich um. Auf dem Tisch lag eine Drucksache. Er riß sie auf und warf sie beiseite. Ein medizinischer Katalog, weiter nichts.

Eine Weile stand er unter der offenen Verandatür und starrte hinüber nach dem anderen Ufer. Unter den Landhäusern in der Neustadt drüben schien er ein bestimmtes zu fixieren. Dann drehte er sich schroff zurück ins Zimmer. Er trat vor seine Bibliothek, die auf einem Regal neben dem Schreibtisch an der Wand stand. Eine seltsame literarische Auslese, die sich da beisammen fand. Kochs „Reiseberichte über Rinder- und Bubonenpest in Indien” neben Richard Wagners Werken; einige Bände der „Medizinischen Wochenschrift” neben Schopenhauer, Haeckel, Zola; ein Band Kant, Sophokles, Pasteur, Goethe, Czernys Krebsforschungen nachbarlich beieinander. Nichts aus der bunten Reihe lockte ihn. Mit leeren Händen setzte er sich in den rohrgeflochtenen Schaukelstuhl.

Ganz so unbegreiflich und kompliziert, wie Doktor Markwaldt sich seinen Kollegen Max Perthes dachte, war er wahrhaftig nicht. Er gehörte nur zu den Naturen, die länger und mühevoller als andere nach einem Ausgleich ihrer inneren Widersprüche suchen, weil diese Widersprüche tiefer sind und ein unbändiges Temperament sie eher verschärft als mildert. Väterlicherseits aus einem endlosen Geschlecht wackerer, nüchterner Landärzte in der Pfalz stammend, mütterlicherseits der Abkömmling einer einst hochangesehenen Gelehrtenfamilie am Niederrhein, hatte er sich, früh verwaist, nach seinem Abiturium mit einem beinahe fanatischen Wirklichkeitsdurst auf die Naturwissenschaften gestürzt. Auf Chemie und Physik, auf Botanik, Zoologie und Physiologie hatte er sich wahllos neben- und nacheinander geworfen. Spielend bemächtigte sich sein beweglicher Geist des Stoffes und wußte ihn zu durchdringen. Dann trat jäh und heftig die Übersättigung ein. Es war, als trete sein Herz beiseite und lehne sich auf gegen die trockene und einseitige Arbeit des Kopfes, die es noch eben freudig zu teilen schien. Mit einem herzhaften Entschluß ging er zur Medizin über. Die Verbindung von Wissen und Praxis mußte seinen ursprünglichen und seinen ererbten Anlagen mehr entsprechen, als die bloß beschreibende Erforschung der Natur. Mit fünfundzwanzig Jahren machte er sein Examen und baute bald darauf seinen Doktor in Chirurgie. Mit der Befriedigung war es auch schon zu Ende. Dieselbe Jagd, in der ein unstetes Herz den Kopf von einem Gegenstand zum anderen riß, begann von neuem. Von der Chirurgie ging er zur inneren Medizin, von dort zur Augenheilkunde über. Die praktische Tätigkeit war so eng, so gleichförmig, so unfruchtbar. Ein kleines Vermögen, über das er unabhängig verfügen konnte, zehrte sich in diesem Hin und Wider der Neigungen langsam auf. Er fühlte den moralischen und wirtschaftlichen Zwang, sich Halt zu gebieten. In der unwiderruflichen Absicht, sich in einem Fachgebiet festzufahren, hatte er die Assistentenstelle am Bakteriologischen Institut übernommen. Hier wollte er aushalten und sich durchsetzen, eine Lebensstellung gründen um jeden Preis. Wenn er seinem Vorsatz treu blieb und seine Arbeiten nur einigermaßen von Erfolg begleitet waren, reichten seine Mittel aus, um sich zu einer Professur durchzuschlagen.

Wenn, ja wenn ... Perthes legte die langen, nervigen Hände mit den Fingern ineinander und spannte sie vor der Stirn, daß sie in den Gelenken knackten. So viel Kraft in sich zu fühlen und so wenig Herr über seinen Willen werden zu können! Seit Wochen fühlte er das Bohren und Quälen in sich, das einer neuen Krisis vorauszugehen pflegte. Mit Händen und Füßen wehrte er sich gegen diese Erkenntnis. Wo hinaus wollte er? Wo gab es noch eine geistige Aufgabe, die er an sich reißen konnte, um sie wieder von sich zu stoßen? In ihm wuchsen und wiederholten sich immer häufiger die Stimmungen, die ihn in allen Wissenschaften nichts mehr sehen ließen, als eine einzige unselige Verbildung. Er hatte schon früh in der Pflege und Ausbildung seiner körperlichen Kräfte ein Gegengewicht gegen die innere Unausgeglichenheit gesucht. Neuerdings übertrieb er, wie er alles übertrieb, diese physische Abmüdung in jenen oft wochenlangen Anfällen, in denen er für Markwaldt statt eines Strebers ein ausbündiger Faulenzer war. Auf die Dauer verfingen solche Radikalkuren immer weniger. Seine Entwicklung drängte ziemlich spät, aber unfehlbar auf eine Entscheidung, die nicht in der Wissenschaft, sondern nur im wirklichen Leben ausgefochten werden konnte. Nicht mehr darauf kam es für ihn an, ob er für seinen Kopf eine erträglich befriedigende Lösung für tausend und ein Welträtsel fand; ein unterdrücktes, vernachlässigtes und verleugnetes Gemütsleben verlangte sein Recht gegen die nüchterne, materialistische Kultur des Verstandes. Er stand, ohne sich darüber mehr als ahnungsweise klar zu sein, vor dem Kampfe, der über den vollen Menschen, seinen Charakter und sein Schicksal entschied. Es bedurfte nur eines geringen Anlasses von außen, und er mußte zum Ausbruch kommen.

Perthes' Gedanken nahmen jetzt ihre Richtung wieder nach dem Landhaus aus rotem Sandstein, jenseits des Flusses, das er zuvor fixiert hatte. Eigentlich hatte er die Sache vergessen wollen. Vor zehn oder vierzehn Tagen — oder war es so lange noch nicht? — war er am Abend, als er nicht wußte, was er tun sollte, in den Stadtgarten gegangen, um etwas Musik zu hören und Menschen zu sehen. Es war Sonntag und sommerlich warm. Zwei-, dreimal schritt er den Rundweg ab, den boshafte Menschen das „Heiratskarussell” getauft hatten. Endlos wälzte sich da im Schein der hellen Bogenlampen ein Strom von geputzten jungen Mädchen aus der Bürgerschaft und von buntbemützten Studenten im Kreise mit- und gegeneinander. Die Pärchen suchten und fanden sich in einem Kreuzfeuer von Blicken. Erst wurde die Angebetete mit feierlich-ernstem Kappenschwenken begrüßt, dann angesprochen und flirtend begleitet.

Anfangs hatte ihm das Treiben Spaß gemacht. Bald langweilte es ihn, und er setzte sich vor den Musikpavillon, wo die Stadtkapelle, ein leidlich braves Orchester, in Ouvertüren, Sinfoniesätzen und Tänzen sich und anderen gütlich tat. Während er den Tönen nachträumte und dabei gedankenverloren in das drehende Gewühl der Menschen starrte, traf sich sein Blick zufällig mit dem eines jungen Mädchens, das im Gespräch mit einem Burschenschafter, einem kecken, welterobernden Frankonenfuchs, vorüberging. Die großen vergißmeinnichtblauen Augen ruhten halb ernst, halb schelmisch eine Sekunde in den seinen. Ohne daß er sich etwas dabei dachte, wiederholte sich dies flüchtige Blickspiel ein zweites und drittes Mal. In ihrem duftigen Rosakleidchen mit dem offenen, auf die Schultern herabfallenden Blondhaar war die Kleine, halb erwachsen, halb Kind, eine Erscheinung von zartem, poetischem Reiz. Er hätte sie vergessen, wenn sie ihm nicht am Vormittag darauf, mit dem Marktkorb unter dem Arm, begegnet wäre, als er zum Institut ging. Sie trug die Haare aufgesteckt und schritt sehr gesetzt und geradeausblickend an ihm vorüber. Am Nachmittag des folgenden Tages sah er sie mit der Musikmappe in der Hauptstraße. Einer scherzhaften Anwandlung nachgebend, folgte er ihr über die Neue Brücke und entdeckte ihre Wohnung. An einem der nächsten Abende ging er — es war dies einer seiner regelmäßigen Spaziergänge — am jenseitigen Ufer spazieren. Sie saß handarbeitend auf dem Balkon. Perthes liebte es, die Sonne über dem Fluß untergehen zu sehen. Er hatte keinen Grund, von einer angenehmen Gewohnheit abzuweichen, und tat es jetzt nur insoweit, als er regelmäßig im Vorbeigehen hinaufsah, während sie heruntersah. Gestern war sie ihm wieder mit dem Marktkorb begegnet. Sehr würdig und ernst. Kaum daß ihn die großen, glanzvollen Augen streiften. Aber sie verlor zufällig ihren Handschuh. Perthes hob ihn auf. Er sprach sie an. Es ergab sich von selbst, daß er sie ein paar Schritte begleitete. Mit reizendem Widerstreben ließ sie es geschehen. Einige belanglose Redensarten wurden ausgetauscht. Sie sprach mit einer allerliebsten Mischung von Altklugheit und Kindlichkeit. Während der Arbeit im Institut dachte er bisweilen an sie. Wie man an eine liebenswürdige Landschaft denkt. Man ruht sich in ihrer Erinnerung aus und mochte sie wiedersehen. Heute, am frühen Morgen, als er zwischen Veranda und Zimmer unter der Tür seinen Kaffee hinunterjagte, ertappte er sich zum erstenmal dabei, wie er das bewußte Sandsteinhaus zwischen den alten und neuen Giebeln jenseits des Flusses suchte und fand. Jetzt kam er sich albern vor. Um es nicht noch mehr zu werden, beschloß er, von nun an die Sonne vom diesseitigen Ufer untergehen zu sehen.

Während er sich noch immer im Schaukelstuhl wiegte, schien ihm der heldenhafte Entschluß, auf eine freundliche Gewohnheit zu verzichten, noch lächerlicher als die ganze Geschichte. Das Weibliche hatte in seinem Leben stets nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Was er von Frauen kannte, verdiente kaum diesen Namen. Der beliebte medizinische Zynismus diente ihm als Schild wie gegen alle Empfindsamkeit so gegen eine seelische Überschätzung des Weibes. So wollte er es wenigstens. Warum sollte er es nicht auch, wie andere, mit einer harmlosen Spielerei versuchen, der er in jedem Augenblick ein Ende machen konnte — morgen, übermorgen so gut wie heute? War er nicht schon schwerlebig genug? Das fehlte noch, daß er spröde mit sich tat wie eine alte Jungfer!

Mit einem entschiedenen Ruck sprang er von seinem Rohrsessel auf, setzte den Hut auf und war wieder auf der Straße.

Es war später als sonst, als er auf die Brücke kam.

Die Dampfstraßenbahn, die nach den Dörfern in der Ebene fuhr, rollte lärmend an ihm vorbei. Heimkehrende Spaziergänger, verspätete Arbeiter, Kinderwagen, eine auswärtige Knabenschulklasse, die zum Bahnhof eilte, drängten an ihm vorbei.

Perthes war froh, als er die Treppe hinuntersteigen konnte, die nach der stilleren Uferstraße führte.

Die Platanenallee, die er hinaufschritt, führte zwischen Rasenanlagen hindurch, am Bootshaus des Ruderklubs vorbei. Es war schon geschlossen. Die Wiese zwischen der Allee und dem Fluß war sonst gegen Abend der Tummelplatz eines Fußballklubs. Auch sie war heute schon verödet. Keine Menschenseele begegnete ihm. Die Villen zur Rechten schienen wie ausgestorben.

Jetzt war er dicht bei dem bewußten Hause. Zwischen den Bäumen durch konnte er auf Erker und Balkon des Landhauses sehen. Sein „Ufermädchen”, wie er sie hieß, saß nicht da, nicht dort.

Enttäuscht schlenderte er weiter, ans Ende der Allee, wo die Anlagen und die Villenstraße aufhörten und die Obstgärten anfingen. Er bog nach der Wiese hin ab und näherte sich dem Wasser.

Über blühende Schlehenbüsche weg blickte er hinaus auf den Fluß, der seine Wellen in die Ebene wälzte. Die Sonne stand, eine feurige Kugel, darüber, umglüht von violettem, purpurnem und silberweißem Gewölk.

Das Schauspiel, das er liebte, machte ihn heute melancholisch. Er fühlte eine Leere in sich und kam sich einsamer vor als sonst. Kein Zweifel: es war, weil er Hilde König, das kleine Mädel mit den losen Haaren und den lockenden blauen Augen nicht in seiner Nähe wußte. Wie läppisch das war! Und doch konnte er nicht dagegen an.

Verdrießlich trat er den Rückweg an.

In einem Vorgarten wurde mit Wasser gesprengt. Die Luft war voll von dem frischen Geruch des genetzten Grases. Die Stadt, die jetzt rechts vor ihm lag, schmiegte sich im matten, rötlichen Licht der versagenden Sonnenstrahlen mit ihren zackigen Dächern und steilen Türmen friedlich gegen die verschwimmenden Berge. Von einer der Kirchen klang die Abendglocke herüber.

Der Balkon, nach dem Perthes von neuem spähte, blieb leer.

In der Ferne sah er jetzt zwei jugendliche Gestalten die Allee herunterkommen. Sie gingen Arm in Arm. Er meinte in der einen von ihnen Hilde König zu erkennen. Es war eine Täuschung. Unweit von ihm, bei einer Bank, trennten sie sich. Das größere der beiden Mädchen eilte mit lebhaftem Schritt nach dem nächstgelegenen Landhaus; das zurückbleibende setzte sich, offenbar um zu warten, auf die Bank. Sie trug unter dem leichten, offenen Mantel eine beigefarbene Bluse zum dunklen Rock und über dem hellen Haar einen einfachen englischen Strohhut mit schwarzem Band.

Gleichgültig ging Perthes vorüber. Kaum mit einem flüchtigen Blick streifte er das Gesicht der Wartenden.

Ein paar Schritte weiter blieb er stehen. Es durchzuckte ihn plötzlich, als wäre er diesen zarten und doch festen, ausdrucksvollen Zügen schon irgendwo und irgendwann begegnet. Wie zufällig wandte er sich um. Das junge Mädchen hatte jetzt einen Arm mit dem Ellbogen aufs Knie und den vorgeneigten Kopf mit dem Kinn auf den Handrücken gestützt. Die Augen, erst zur Erde gesenkt, sahen auf, als hätte sie gehört, daß sein Schritt innehielt, und suchten die Stelle, wo er stand. Das unsichere Irren des Blickes verriet ihm ihre Blindheit. Er erkannte jetzt das mattfarbene Gesicht mit den etwas knochigen Wangen, die runde, ebenmäßige Stirn, über die das Haar, unter dem Hut vorquellend, mit einer aschblonden Welle niederfiel. Er konnte sich nicht täuschen, es mußte Marga Richthoff sein.

Sie schien zu fühlen, daß sie beobachtet wurde. Unruhig wandte sie den Kopf weg und zurück, in der Richtung des Hauses, in dem ihre Begleiterin verschwunden war.

Perthes folgte einer impulsiven Regung und ging gerade auf sie zu.

Sie fuhr unwillkürlich etwas zurück.

„Erschrecken Sie nicht, Fräulein Richthoff —”

„Ich weiß ja gar nicht, wer Sie sind,” kam es zurückhaltend, aber furchtlos von ihren Lippen.

„Doktor Perthes,” sagte er einfach. „Ich habe Ihrem Herrn Vater dieser Tage meine Aufwartung gemacht. Als alter Bekannter von Hemsbach her kann ich nicht so grußlos an Ihnen vorübergehen.”

Marga, obwohl zuerst verdutzt, fand sich schnell zurecht. „Das ist nett von Ihnen,” erklärte sie offen. Eine sichtliche Freude belebte ihr Gesicht. Wie einem alten Kameraden bot sie ihm die Hand. „Papa hat von Ihrem Besuch erzählt. Ich war ganz erstaunt, daß Sie Ihr Versprechen nicht vergessen hatten.”

„Sie scheinen ja meinem Gedächtnis wenig Gutes zuzutrauen.” Perthes fühlte sich fast beschämt. Daß er sich an die Empfehlung, die ihm sein Onkel Schlutius, der Germanist in Bonn, für Richthoff mitgegeben, erinnert hatte, war ein Zufall und die Ausführung des Besuchs eine Laune gewesen.

„Es wäre noch nichts Böses gewesen, wenn Sie den dummen, eigensinnigen Backfisch von damals aus dem Gedächtnis verloren hätten,” meinte Marga.

„Na, na — so schlimm war die Sache mit Ihnen nicht.”

„O ja!” versetzte sie ernsthaft. „Ich dachte gerade in diesen Tagen daran, wie trotzig und unleidlich ich damals war. Wissen Sie noch — der Direktor hatte mich schon halb und halb aufgegeben, nur Sie ließen sich nicht abschrecken und ruhten nicht, bis ich die Buchstaben doch noch tasten lernte. — Ich war damals zu unglücklich, um vernünftiger und gelehriger zu sein,” setzte sie nachdrücklich hinzu.

„Und jetzt? Wie steht's mit dem Lesen und Punktieren?” forschte Perthes.

„Ganz ordentlich. Wenn Sie einmal zu uns kommen —” Marga stockte einen Moment. Es fiel ihr ein, sie möchte zu vertraulich sein. Ihrer Natur nach gab sie sich harmlos oder gar nicht. Aber sie wurde oft von den Schwestern und sogar von Papa deshalb getadelt.

„Natürlich komme ich einmal. Wenn man mich haben will,” meinte er munter. „Und dann halte ich eine Prüfung ab. Vollschrift, Kurzschrift! Lesen und Schreiben!”

„O weh! Da muß ich mich ja vorher richtig vorbereiten. Sonst blamiere ich mich unbarmherzig,” erwiderte Marga mit leisem Lachen.

„Wir werden ja sehen.” Er hörte Schritte jenseits der Allee. „Ihre Freundin kommt zurück.”

„Meine Schwester.”

„Also — auf Wiedersehen!” Er ergriff Margas Hand und schüttelte sie herzhaft.

Ehe sie seinen Gruß erwidern konnte, setzte Perthes, freundlich den Hut schwenkend, seinen Weg fort. Die unerwartete, so ungezwungen freundschaftliche Begegnung hatte ihm wohlgetan. Seine Verstimmung war gewichen. Mit großen Schritten ging er nach der Brücke und heimwärts. Er dachte sogar daran, nach dem Abendessen an den Klinikertisch zu gehen. —

Ganz aufgeregt kam Käthe auf Marga zu. „Wer war denn das?” fragte sie neugierig und vorwurfsvoll zugleich, während sie dem Davonschreitenden erstaunt nachblickte.

„Doktor Perthes hat mich begrüßt,” erklärte Marga freimütig. Mit anschmiegender Zärtlichkeit, in der ihre innere Erregung nachklang, hängte sie sich an den Arm der Schwester. „Er war reizend. Ganz der alte.”

„Hat er dich so mir nichts, dir nichts einfach angesprochen?”

„Natürlich! Warum auch nicht?”

Sie gingen langsam die Allee hinunter.

„Aber das tut man doch nicht,” fuhr Käthe kopfschüttelnd fort. „Eine Dame — auf offener Straße —”

„Ich hätte es viel unnatürlicher gefunden, wenn er stocksteif vorbeigegangen wäre,” versicherte Marga überzeugt. Sie war beglückt von ihrem bescheidenen Erlebnis und wollte sich nicht auf solche gesellschaftliche Haarspaltereien einlassen, die ihr ein unverständlicher Greuel waren.

Käthe schwieg. Das war ein Zeichen, daß ihr gesittetes Gewissen Margas leichtere Auffassung nicht guthieß.

Als sie auf der Brücke anlangten, begann es leise zu dämmern. Die roten Wolken über dem Fluß verblaßten, und der Ostwind blies aus den Bergen nach der Ebene. Wenn sie nicht zu spät zum Abendbrot kommen wollten, mußten sie ihre Schritte beschleunigen.

Marga war es zufrieden und fröhlich ums Herz. Mit ihren leichten, glücklichen Schritten konnte Käthe fast nicht mitkommen. Sie fühlte sich unwillkürlich und unbewußt gereizt. Ob sie wollte oder nicht: sie mußte ein wenig Wasser in Margas fröhlichen Wein gießen. „Weißt du,” begann sie bedächtig, „Lizzie hat mir erzählt,” — Lizzie war die Freundin, bei der sie in der Uferstraße für eine Minute eingeschaut hatte, um Noten zurückzubringen — „daß dein Doktor Perthes Abend für Abend dort herumspaziert.”

„Es wird ihm dort gefallen. Er wird sich an den Sonnenuntergängen über dem Wasser freuen,” meinte Marga lebhaft.

„Er soll nicht bloß deshalb kommen, sondern —”

„Sondern?” fragte Marga harmlos neugierig.

„Er macht Hilde König den Hof,” entfuhr es Käthe. „Er soll sie öfters mal ans Haus begleitet haben. Das spricht nicht gerade für seinen Geschmack. Denn das unschuldige Kind läßt sich ja von jedem jüngsten Studenten die Cour schneiden.” Es war, ohne daß sie es wollte, ein Ton von selbstgerechter Schärfe in ihre Worte gekommen.

Marga verlangsamte ihre Schritte. Wenn Käthe sie in diesem Moment angesehen hätte, hätte sie bemerkt, daß ihre Wangen und ihre Lippen sich leise verfärbten. Der kleine, mehr weibliche als schwesterliche Pfeil traf mitten in Margas unschuldige Heiterkeit. Sie schüttelte betroffen den Kopf. Sie konnte das nicht glauben. Gerade dieses oberflächliche kleine Mädel, das alle Welt für sein weites Herz kannte, das sollte ...