Die gute Tochter - Karin Slaughter - E-Book
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Die gute Tochter E-Book

Karin Slaughter

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Beschreibung

"Lauf!", fleht ihre große Schwester Samantha. Mit vorgehaltener Waffe treiben zwei maskierte Männer Charlotte und sie an den Waldrand. "Lauf weg!" Und Charlie läuft. An diesem Tag. Und danach ihr ganzes Leben. Sie ist getrieben von den Erinnerungen an jene grauenvolle Attacke in ihrer Kindheit. Die blutigen Knochen ihrer erschossenen Mutter. Die Todesangst ihrer Schwester. Das Keuchen ihres Verfolgers.
Als Töchter eines berüchtigten Anwalts waren sie stets die Verstoßenen, die Gehetzten. 28 Jahre später ist Charlie selbst erfolgreiche Anwältin. Als sie Zeugin einer weiteren brutalen Bluttat wird, holt ihre Geschichte sie ganz ungeahnt ein.

"Die gute Tochter" ist ein Meisterwerk psychologischer Spannung. Nie ist es Karin Slaughter besser gelungen, ihren Figuren bis tief in die Seele zu schauen und jede Einzelne mit Schuld und Leid gleichermaßen zu belegen.

"Die dunkle Vergangenheit ist stets gegenwärtig in diesem äußerst schaurigen Thriller. Mit Feingefühl und Geschick fesselt Karin Slaughter ihre Leser von der ersten bis zur letzten Seite."
Camilla Läckberg

"Eine großartige Autorin auf dem Zenit ihres Schaffens. Karin Slaughter zeigt auf nervenzerfetzende, atemberaubende und fesselnde Weise, was sie kann."
Peter James

"Karin Slaughter ist die gefeiertste Autorin von Spannungsunterhaltung. Aber Die gute Tochter ist ihr ambitioniertester, ihr emotionalster - ihr bester Roman. Zumindest bis heute."
James Patterson

"Es ist einfach das beste Buch, das man dieses Jahr lesen kann. Ehrlich, kraftvoll und wahnsinnig packend - und trotzdem mit einer Sanftheit und Empathie verfasst, die einem das Herz bricht."
Kathryn Stockett

"Die Brutalität wird durch ihre plastische Darstellung körperlich spürbar, das Leiden überträgt sich auf den Leser."
(Hamburger Abendblatt)

"Aber es sind nicht nur die sichtbaren Vorgänge und Handlungen von guten oder schlechten Individuen, die die (…) Autorin penibel genau beschreibt. Es sind vor allem die inneren, die seelischen Abläufe, die überzeugen."
(SHZ)

"Das alles schildert Slaughter mit unglaublicher Wucht und einem Einfühlungsvermögen, das jedem Psychotherapeuten zu wünschen wäre."
(SVZ)

"Die aktuelle Geschichte um die Quinns ist eine Südstaaten-Saga der besonderen Art, von der ihr nicht weniger erfolgreiche Kollege James Patterson sagt, sie sei ‚ihr ambitioniertester, ihr emotionalster, ihr bester Roman. Zumindest bis heute‘."
(Focus Online)

"Die Autorin hat hier ein ausgezeichnetes Buch vorgelegt, dass mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt hat."
(Krimi-Couch.de)

"Es gibt Bücher, bei denen man das Atmen vergisst. Die Romane der amerikanischen Schriftstellerin gehören dazu. So auch dieser Pageturner. (…) Karin Slaughter versteht es meisterhaft, glaubwürdige Charaktere zu erschaffen und ihre Leser fortwährend zu überraschen."
(Lebensart)

"Atmosphärisch dichter Thriller über die sozialen Gespinste einer Kleinstadt, psychologisch sehr stimmig, mit vielen Schichten und Überraschungen."
(Bayrischer Rundfunk)

"Dieser Thriller hat es in sich, jede einzelne Figur hat Tiefe und Profil, nichts bleibt flach. Die 608 Seiten lesen sich einfach so weg: spannend, fesselnd, bewegend - von der ersten bis zur letzten Seite." (Hanauer Anzeiger)

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Seitenzahl: 818

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HarperCollins®

Copyright © 2017 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Good Daughter Copyright © 2017 by Karin Slaughter erschienen bei: William Morrow, New York

Published by arrangement with William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.

Verwendete Zitate: Flannery O’ Connor, „To A“ © 1979 by Regina O’Connor. Mit freundlicher Genehmigung von: Mary Flannery O’Connor Charitable Trust via Harold Matson Co., Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Dr. Seuss, Zitat aus einem Interview der L. A. Times. Mit freundlicher Genehmigung des Dr. Seuss Estate.

Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg – Artwork von HarperCollins Publishers Ltd 2017 / Henry Steadman Coverabbildung: Henry Steadman Redaktion: Silvia Kuttny-Walser / Eva Wallbaum

ISBN E-Book 9783959676700

www.harpercollins.de

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

Widmung

„… was du mein Ringen um Unterwerfung nennst … ist kein Ringen um Unterwerfung, sondern ein Ringen um Annahme, und zwar um leidenschaftliche Annahme. Ich meine, womöglich sogar mit Freude. Stell dir vor, wie ich zähnefletschend auf die Pirsch nach der Freude gehe – und dazu in voller Rüstung, denn es ist ein höchst gefährliches Unterfangen.“

Flannery O’Connor

DONNERSTAG, 16. MÄRZ 1989

WAS MIT SAMANTHA GESCHAH

Samantha Quinn spürte ein Brennen wie von tausend Hornissen in den Beinen, als sie auf der langen, einsamen Zufahrt in Richtung Farmhaus rannte. Ihre Turnschuhe trommelten im Rhythmus des rasenden Herzschlags über die kahle Erde. Der Schweiß hatte ihren Pferdeschwanz in ein dickes Tau verwandelt, das bei jedem Schritt an ihre Schultern klatschte. Die zarten Knochen in ihren Fußgelenken schienen jeden Moment bersten zu wollen.

Sie lief noch schneller, sog die trockene Luft ein, spurtete, dass es schmerzte.

Ein Stück weiter vorn stand Charlotte im Schatten ihrer Mutter. Sie alle standen im Schatten ihrer Mutter. Gamma Quinn war eine hochgewachsene Frau mit wachen blauen Augen, kurzem dunklem Haar und einer Haut so hell wie ein Briefumschlag. Zudem war sie mit einer scharfen Zunge ausgestattet, die winzige, schmerzhafte Verletzungen gern an Stellen zufügte, wo man sie am wenigsten gebrauchen konnte. Schon aus der Ferne sah Samantha, wie Gamma beim Blick auf die Stoppuhr in ihrer Hand die Lippen missbilligend zu einem schmalen Strich verzog.

Das Ticken des Sekundenzeigers hallte in Samanthas Kopf wider. Sie zwang sich, noch schneller zu rennen. Die Sehnen in ihren Beinen waren zum Reißen gespannt. Die Hornissen schwärmten in ihre Lungen. Der Plastikstab in ihrer Hand fühlte sich glitschig an.

Noch zwanzig Meter. Fünfzehn. Zehn.

Charlotte nahm ihre Position ein, sie drehte Samantha den Rücken zu, blickte geradeaus und lief los. Den rechten Arm streckte sie blind nach hinten aus und wartete darauf, dass ihr der Staffelstab in die Handfläche geklatscht wurde, damit sie das nächste Teilstück laufen konnte.

Das war die blinde Übergabe, sie erforderte Vertrauen und Koordination, und wie bei allen Versuchen in der letzten Stunde, waren sie beide der Herausforderung nicht gewachsen. Charlotte zögerte und warf einen Blick über die Schulter. Samantha machte einen Satz nach vorn. Der Plastikstab knallte oberhalb von Charlottes Handgelenk auf ihren Unterarm, genau auf die roten Striemen, die von den letzten zwanzig Versuchen herrührten.

Charlotte schrie auf. Samantha stolperte. Der Stab fiel zu Boden. Gamma stieß einen lauten Fluch aus.

„So, mir reicht es.“ Gamma steckte die Stoppuhr in die Brusttasche ihres Overalls. Sie stapfte zum Haus, die Sohlen ihrer nackten Füße waren gerötet vom kahlen Boden des Hofs.

Charlotte rieb sich das Handgelenk. „Arschloch.“

„Blöde Kuh.“ Samantha versuchte ihre bebenden Lungen mit Luft zu füllen. „Du sollst doch nicht nach hinten schauen!“

„Und du sollst mir nicht den Arm wund prügeln.“

„Es heißt blinde Übergabe, nicht Hosenscheißer-Übergabe.“

Die Küchentür fiel krachend ins Schloss. Die beiden sahen zu dem hundert Jahre alten Farmhaus hinauf, das ein unförmig wucherndes, tristes Denkmal für die Zeit vor zugelassenen Architekten und Baugenehmigungen war. Das Licht der untergehenden Sonne trug nichts dazu bei, den seltsamen Eindruck abzumildern. Über die Jahre war nicht viel mehr weiße Farbe aufgetragen worden als unbedingt nötig. Schlaffe Spitzenvorhänge hingen in den verschmierten Fenstern. Über ein Jahrhundert von Sonnenaufgängen über dem nördlichen Georgia hatte die Eingangstür zu einem fahlen Treibholzgrau gebleicht. Das Dach hing durch, quasi ein Symbol für die Last, die das Haus nun, nach dem Einzug der Quinns, zu tragen hatte.

Zwei Jahre und eine lebenslange Zwietracht trennten Samantha von ihrer dreizehnjährigen kleinen Schwester, aber sie wusste, dass sie zumindest in diesem Moment beide das Gleiche dachten: Ich will nach Hause.

Zu Hause war eine mit roten Ziegeln verkleidete Ranch, die an der Stadt gelegen war. Zu Hause, das waren ihre Kinderzimmer, die sie mit Postern, Aufklebern und, in Charlottes Fall, mit grünem Magic Marker verziert hatten. Ihr Zuhause hatte eine gepflegte Rasenfläche als Vorgarten, kein kahles, von Hühnern aufgescharrtes Fleckchen Erde mit einer fast siebzig Meter langen Zufahrt, damit man sah, wer sich dem Haus nähert.

Niemand von ihnen hatte gesehen, wer sich dem roten Ziegelhaus genähert hatte.

Erst acht Tage waren vergangen, seit ihr Leben zerstört worden war, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. An jenem Abend waren Gamma, Samantha und Charlotte zu einem Leichtathletik-Wettkampf in die Schule gegangen. Ihr Vater war auf der Arbeit gewesen, denn Rusty war immer auf der Arbeit.

Später erinnerte sich ein Nachbar an einen fremden schwarzen Wagen, der langsam die Straße hinauffuhr, aber niemand hatte den Molotow-Cocktail durch das Erkerfenster des roten Ziegelhauses fliegen sehen. Niemand hatte beobachtet, wie der Rauch unter der Traufe hervorquoll und die Flammen am Dach züngelten. Als endlich jemand Alarm schlug, war das rote Ziegelhaus nur mehr eine schwelende schwarze Ruine.

Kleidung. Poster. Tagebücher. Stofftiere. Hausaufgaben. Bücher. Zwei Goldfische. Ausgefallene Milchzähne. Geburtstagsgeld. Geklaute Lippenstifte. Heimlich gebunkerte Zigaretten. Hochzeitfotos. Babyfotos. Die Lederjacke eines Jungen. Ein Liebesbrief desselben Jungen. Mixtapes. CDs und ein Computer und ein Fernseher und ein Zuhause.

„Charlie!“ Gamma stand vor der Küchentür, die Hände in die Hüften gestemmt. „Komm und deck den Tisch.“

Charlotte drehte sich zu Samantha um und sagte: „Letztes Wort!“, bevor sie in Richtung Haus trabte.

„So ein Quatsch“, murmelte Samantha. Man behielt nicht das letzte Wort, indem man einfach „letztes Wort“ sagte.

Dann folgte sie ihrer Schwester langsamer und auf gummiweichen Beinen, denn sie war schließlich nicht der Trottel, der es nicht schaffte, die Hand nach hinten zu strecken und zu warten, bis einem dieser Stab hineingeklatscht wurde. Sie verstand nicht, warum Charlotte diese simple Übergabe einfach nicht lernte.

Samantha ließ ihre Schuhe und Socken neben denen von Charlotte auf dem Absatz vor der Küchentür zurück. Die Luft im Haus war klamm und schien zu stehen. Ungeliebt war das erste Adjektiv, das Samantha in den Sinn kam, als sie durch die Tür ging. Der frühere Bewohner, ein sechsundneunzigjähriger Junggeselle, war letztes Jahr in dem Schlafzimmer im Erdgeschoss gestorben. Ein Freund ihres Vaters ließ sie vorübergehend in dem Farmhaus wohnen, bis mit der Versicherung alles geklärt war. Falls alles geklärt wurde. Offenbar gab es Meinungsverschiedenheiten darüber, inwieweit das Verhalten ihres Vaters die Brandstiftung provoziert hatte.

Im Gerichtssaal der öffentlichen Meinung war das Urteil bereits gefällt worden, und wahrscheinlich hatte der Besitzer des Motels, in dem sie die letzte Woche verbracht hatten, sie aus diesem Grund aufgefordert, sich eine neue Bleibe zu suchen.

Samantha knallte die Küchentür zu, denn nur so konnte man sicher sein, dass sie auch wirklich geschlossen war. Ein Topf mit Wasser stand auf dem olivgrünen Herd. Eine Packung Spaghetti lag ungeöffnet auf der braunen Laminatarbeitsfläche. Die Küche wirkte stickig und feucht, der ungeliebteste Raum im ganzen Haus. Nicht ein Gegenstand harmonierte mit dem anderen. Der altertümliche Kühlschrank furzte jedes Mal, wenn man die Tür aufmachte. Ein Eimer unter der Spüle wackelte ganz von allein. Um den billigen Tisch standen lauter Stühle, die nicht zusammenpassten. Weiße Stellen auf den uneben verputzten Wänden zeigten, wo früher Fotos gehangen hatten.

Charlotte streckte die Zunge heraus, während sie Pappteller auf den Tisch segeln ließ. Samantha nahm eine Plastikgabel und schnippte sie ihrer Schwester ins Gesicht.

Charlotte stieß einen überraschten Laut aus, aber nicht aus Empörung. Die Gabel hatte sich elegant in der Luft überschlagen und war genau zwischen ihren Lippen gelandet. „Wahnsinn, das war ja abgefahren!“ Sie nahm sie aus dem Mund und hielt sie ihrer Schwester hin. „Ich mach den Abwasch, wenn du das noch mal schaffst.“

Samantha konterte: „Wenn du sie mir nur ein einziges Mal in den Mund wirfst, spüle ich eine Woche lang ab.“

Charlotte kniff ein Auge zu und zielte. Samantha versuchte nicht daran zu denken, wie doof es war, sich von ihrer kleinen Schwester eine Gabel ins Gesicht werfen zu lassen, aber im nächsten Moment kam Gamma mit einem großen Pappkarton zur Tür herein.

„Charlie, wirf nicht mit Gegenständen nach deiner Schwester. Sam, hilf mir diese Bratpfanne suchen, die ich neulich gekauft habe.“ Gamma stellte den Karton auf dem Tisch ab. Er war beschriftet mit ALLES FÜR 1 $. Dutzende von nur teilweise ausgepackten Kartons waren über das Haus verteilt. Sie bildeten ein Labyrinth in allen Zimmern und Fluren und waren gefüllt mit Sachen aus dem Secondhand-Laden, die Gamma für einen Apfel und ein Ei gekauft hatte.

„Überlegt mal, wie viel Geld wir sparen“, hatte sie verkündet und ein ausgewaschenes lila T-Shirt in die Höhe gehalten, dessen Aufdruck die Church Lady aus Saturday Night Live zitierte: Na, wenn DAS nichts Besonderes ist!

Jedenfalls glaubte Samantha, dass das auf dem Shirt stand. Sie hatte sich mit Charlotte in der Ecke versteckt und wäre fast gestorben vor Scham, weil sie die Sachen anderer Leute tragen sollte. Die Socken anderer Leute. Sogar die Unterwäsche anderer Leute, ehe ihr Vater zum Glück ein Machtwort gesprochen hatte.

„Herrgott noch mal!“, hatte Rusty Gamma angeschrien. „Warum nähst du uns nicht gleich in Sackleinen ein und fertig?“

Worauf Gamma vor Wut schäumend zurückgeschrien hatte: „Jetzt soll ich also auch noch Nähen lernen?“

Ihre Eltern stritten jetzt über neue Dinge, weil es keine alten Dinge mehr gab, über die sie streiten konnten. Seine Pfeifensammlung. Seine Hüte. Seine staubigen Jurabücher, die überall aufgeschlagen herumlagen. Gammas Zeitschriften und wissenschaftliche Aufsätze, die sie mit roten Unterstreichungen, Kreisen und Anmerkungen versehen hatte. Ihre Keds-Turnschuhe, aus denen sie immer vor der Haustür geschlüpft war, ohne sie wegzuräumen. Charlottes Drachen. Samanthas Haarspangen. Die Bratpfanne von Rustys Mutter gab es nicht mehr. Den grünen Dampfgarer, den Gamma und Rusty zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten, gab es nicht mehr. Den verbrannt riechenden Toaster gab es nicht mehr. Die Küchenuhr in Form einer Eule, deren Augen im Sekundentakt hin und her pendelten. Die Haken, an die sie ihre Jacken gehängt hatten. Die Wand, an der die Haken befestigt waren. Gammas Kombi, der wie ein Dinosaurierfossil in der rußgeschwärzten Höhle stand, die einmal die Garage gewesen war.

Das Farmhaus enthielt fünf klapprige Stühle, die der alleinstehende Farmer bei seinem Räumungsverkauf nicht losgeworden war, einen alten Küchentisch, der zu billig war, um als Antiquität durchzugehen, und eine große Garderobe, die in einen engen Wandschrank eingelassen war, von dem ihre Mutter sagte, dass sie Tom Robinson aus Wer die Nachtigall stört einen Nickel bezahlen müssten, damit er ihn zerlegte.

Nichts hing in dem Garderobenschrank. Nichts lag gefaltet in den Wäscheschubladen oder stand auf den hohen Regalen in der Speisekammer.

Sie waren vor zwei Tagen in das Farmhaus gezogen, aber sie hatten noch kaum eine Kiste ausgepackt. Der Flur hinter der Küche glich einem Labyrinth aus falsch beschrifteten Behältern und fleckigen braunen Papiertüten, die nicht geleert werden konnten, bevor die Küchenschränke saubergemacht waren, und die Küchenschränke würden erst saubergemacht werden, wenn Gamma sie dazu zwang. Die Matratzen im Obergeschoss lagen auf dem blanken Böden. Auf umgedrehten Getränkekisten standen gesprungene Lampen, in deren Licht sie lesen konnten, und die Bücher, die sie lasen, waren keine geliebten Schätze, sondern Leihbücher aus der öffentlichen Bibliothek von Pikeville.

Jeden Abend wuschen Samantha und Charlotte mit der Hand ihre kurzen Laufhosen, die Sport-BHs und Socken und die Lady-Rebels-Lauftrikots, denn diese gehörten zu den wenigen kostbaren Besitztümern, die nicht den Flammen zum Opfer gefallen waren.

„Sam.“ Gamma zeigte auf die Klimaanlage im Fenster. „Mach dieses Ding an, damit ein bisschen frische Luft hier reinkommt.“

Samantha untersuchte den großen Metallkasten, bis sie den Knopf zum Einschalten fand. Der Motor ratterte los. Kalte Luft mit einem Aroma von Brathähnchen strömte zischend aus den Lüftungsschlitzen. Samantha sah in den Hof hinaus. Ein verrosteter Traktor stand unweit der baufälligen Scheune. Irgendein ihr unbekanntes landwirtschaftliches Gerät steckte daneben halb in der Erde. Der Chevrolet Chevette ihres Vaters war über und über verdreckt, aber wenigstens war er nicht mit dem Garagenboden verschmolzen wie der Kombi ihrer Mutter.

„Wann sollen wir Daddy von der Arbeit abholen?“, fragte sie Gamma.

„Jemand vom Gericht fährt ihn nach Hause.“ Gamma warf einen Blick zu Charlotte, die fröhlich vor sich hin pfeifend einen Pappteller zu einem Flugzeug zu falten versuchte. „Er hat da diesen Fall.“

Diesen Fall.

Die Worte wirbelten in Samanthas Kopf umher. Ihr Vater hatte immer einen Fall, und da waren immer Leute, die ihn dafür hassten. Es gab nicht einen verkommenen mutmaßlichen Kriminellen in Pikeville, Georgia, den Rusty Quinn nicht vertrat. Drogendealer. Vergewaltiger. Mörder. Einbrecher. Autodiebe. Pädophile. Kidnapper. Bankräuber. Ihre Fallakten lasen sich wie schlechte Krimis, die auf die immer gleiche, üble Weise endeten. In der Stadt nannte man Rusty den Anwalt der Verdammten – so wie man auch Clarence Darrow genannt hatte; soweit Samantha wusste, hatte allerdings nie jemand eine Brandbombe in Clarence Darrows Haus geworfen, weil er einen Mörder aus der Todeszelle befreit hatte.

Denn darum war es bei dem Brand gegangen.

Ezekiel Whitaker, ein Schwarzer, den man fälschlich für den Mord an einer weißen Frau verurteilt hatte, war am selben Tag aus dem Gefängnis entlassen worden, an dem auch eine mit brennendem Kerosin gefüllte Flasche durch das Erkerfenster der Quinns flog. Für den Fall, dass die Botschaft noch nicht klar gewesen war, hatte der Brandstifter noch das Wort NIGGERFREUND auf den Boden der Einfahrt gesprüht.

Und jetzt verteidigte Rusty einen Mann, der beschuldigt wurde, ein neunzehnjähriges Mädchen entführt und vergewaltigt zu haben. Ein weißer Mann und ein weißes Mädchen, dennoch erregte der Fall die Gemüter, weil der Mann aus einer Unterschichtfamilie kam und das Mädchen aus gutem Haus stammte. Rusty und Gamma sprachen nie offen über den Fall, aber die Einzelheiten des Verbrechens waren so schauerlich, dass der Klatsch, der in der Stadt herumging, unter der Haustür durchgekrochen kam, über die Lüftungsschlitze einsickerte und nachts in den Ohren der Familie dröhnte, wenn sie zu schlafen versuchte.

Penetration mit einem unbekannten Gegenstand.

Widerrechtliches Gefangenhalten.

Verbrechen wider die Natur.

Es gab Fotos in Rustys Akten, nach denen selbst die neugierige Charlotte lieber nicht stöberte, denn einige von ihnen zeigten, wie das Mädchen in der Scheune neben dem Haus der Familie hing, weil das, was der Mann ihr angetan hatte, so schrecklich war, dass sie damit nicht weiterleben konnte.

Samantha ging mit dem Bruder des toten Mädchens zur Schule. Er war zwei Jahre älter als Sam, aber wie alle anderen wusste er, wer ihr Vater war und der Gang über den von Spinden gesäumten Schulkorridor war, als müsste sie durch das rote Ziegelhaus laufen, während die Flammen ihr die Haut versengten.

Das Feuer hatte ihr nicht nur das Schlafzimmer, die Kleidung und die geklauten Lippenstifte geraubt. Samantha hatte außerdem den Jungen verloren, dem die Lederjacke gehört hatte, und die Freundinnen, die sie früher zu Partys eingeladen hatten, mit denen sie ins Kino gegangen war und bei denen sie übernachtet hatte. Selbst ihrem angebeteten Leichtathletik-Trainer, der Samantha seit der sechsten Klasse betreut hatte, fehlte angeblich die Zeit, mit ihr zu arbeiten.

Gamma hatte dem Direktor mitgeteilt, sie würde die Mädchen vorläufig zu Hause behalten, damit sie beim Auspacken helfen konnten, aber Samantha kannte den wahren Grund, denn Charlotte war seit dem Brand jeden Tag weinend von der Schule nach Hause gekommen.

„Tja, Mist.“ Gamma gab es auf, nach der Bratpfanne zu suchen, und klappte den Karton zu. „Ihr beide habt hoffentlich nichts gegen ein vegetarisches Abendessen.“

Es machte den Mädchen nichts aus, weil es sowieso keine Rolle spielte. Gamma war eine fürchterliche Köchin, und sie war es auf eine fast aggressive Weise. Sie hasste Rezepte. Sie stand Gewürzen offen feindselig gegenüber. Wie eine Wildkatze sträubte sie sich instinktiv gegen jede Domestizierung.

Harriet Quinn wurde nicht Gamma genannt, weil ein frühreifes Kind das Wort „Mama“ nicht richtig aussprechen konnte, sondern weil sie zwei Doktortitel hatte, einen in Physik und einen in einem Fach, das nicht weniger Grips erforderte. Samantha konnte es sich nie merken, aber hätte sie raten müssen, hätte sie darauf getippt, dass es mit Gamma-Strahlen zu tun hatte. Ihre Mutter war für die NASA tätig gewesen, bevor sie nach Chicago gezogen war, um bei Fermilab zu arbeiten, ehe sie nach Pikeville zurückgekehrt war, wo sie sich um ihre todkranken Eltern kümmerte. Falls es eine romantische Geschichte darüber gab, wieso Gamma ihre vielversprechende wissenschaftliche Karriere aufgegeben hatte, um einen Provinzanwalt zu heiraten, hatte Samantha sie jedenfalls nie gehört.

„Mom.“ Charlotte setzte sich schwerfällig an den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. „Ich habe Bauchweh.“

„Hast du keine Hausaufgaben zu machen?“, fragte Gamma.

„Chemie.“ Charlotte schaute auf. „Kannst du mir helfen?“

„Das ist keine Raketenwissenschaft.“ Gamma warf die Spaghetti in einen Topf mit kaltem Wasser. Dann drehte sie das Gas auf.

Charlotte verschränkte die Arme. „Und weil es keine Raketenwissenschaft ist, komme ich schon alleine zurecht? Oder willst du sagen, es ist keine Raketenwissenschaft, und das ist die einzige Wissenschaft, in der du dich auskennst, und deshalb kannst du mir nicht helfen?“

„Das waren zu viele Konjunktionen in einem Satz.“ Gamma entzündete das Gas am Herd mit einem Streichholz. Es flammte zischend auf. „Geh dir die Hände waschen.“

„Ich glaube, ich habe eine berechtigte Frage gestellt.“

„Auf der Stelle!“

Charlotte stöhnte dramatisch auf, als sie sich vom Tisch erhob und den Flur entlangtänzelte. Samantha hörte, wie eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Dann wiederholte sich das Ganze bei einer zweiten Tür.

„So ein Mist!“, bellte Charlotte.

Es gab fünf Türen in dem langen Flur, deren Anlage keiner wie auch immer gearteten Logik folgte. Eine führte in den gruseligen Keller. Eine in den Dielenschrank. Hinter einer der mittleren Türen lag seltsamerweise das winzige Schafzimmer, in dem der Junggeselle gestorben war. Hinter einer weiteren die Speisekammer. Die verbliebene Tür führte schließlich ins Badezimmer, doch selbst nach zwei Tagen hatte sich dessen Lage bei niemandem von ihnen im Langzeitgedächtnis festgesetzt.

„Gefunden!“, rief Charlotte nun, als hätten alle atemlos auf diese Nachricht gewartet.

„Von der Grammatik abgesehen, wird sie eines Tages eine gute Anwältin abgeben“, sagte Gamma. „Zumindest hoffe ich das. Wenn dieses Mädchen nicht fürs Streiten bezahlt wird, dann weiß ich auch nicht.“

Samantha lächelte bei der Vorstellung, wie ihre schludrige, chaotische kleine Schwester in einem Blazer herumlief und eine Aktentasche in der Hand trug. „Und was werde ich später mal?“

„Alles, was du willst, mein Kind, nur werde es nicht hier.“

Dieses Thema kam in letzter Zeit häufiger zur Sprache: Gammas dringender Wunsch, dass Samantha von hier fortging, irgendeinen Weg einschlug – Hauptsache, sie tat nicht das, was die Frauen hier machten.

Gamma hatte nie zu den anderen Müttern in Pikeville gepasst, selbst damals nicht, als Rustys Arbeit sie noch nicht zu Außenseitern gemacht hatte. Nachbarn, Lehrer, die Leute auf der Straße, alle hatten eine Meinung zu Gamma Quinn, und die war selten positiv. Sie war klüger, als ihr guttat. Sie war eine schwierige Frau. Sie wusste nicht, wann sie den Mund zu halten hatte. Sie wollte sich einfach nicht anpassen.

Als Samantha klein gewesen war, hatte Gamma mit dem Laufen begonnen. Wie die meisten anderen Dinge hatte sie diesen Sport schon für sich entdeckt, bevor alle es taten, sie war an den Wochenenden Marathons gelaufen und hatte vor dem Fernseher ihr Jane-Fonda-Aerobic gemacht. Aber ihre sportliche Tüchtigkeit war nicht das einzige, was die Leute abstieß. Man konnte sie nicht beim Schachspielen schlagen und nicht bei Trivial Pursuit. Noch nicht einmal beim Monopoly. Sie kannte alle Antworten bei Jeopardy. Sie wusste, wann es wen oder wem hieß. Sie konnte sich mit falschen Informationen nicht abfinden. Sie verachtete organisierte Religion. Sie hatte die sonderbare Angewohnheit, in Gesellschaft mit abseitigem Faktenwissen herauszuplatzen.

Wusstet ihr, dass Pandas vergrößerte Handgelenksknochen haben?

Wusstet ihr, dass Kammmuscheln eine Reihe von Augen auf ihren Schalen haben?

Wusstet ihr, dass der Granit in New Yorks Grand Central Station mehr Strahlung abgibt, als es bei einem Kernkraftwerk erlaubt ist?

Ob Gamma glücklich war, ob sie ihr Leben genoss, ob sie sich über ihre Kinder freute, ob sie ihren Mann liebte – all das waren vereinzelte, unzusammenhängende Informationen in dem tausendteiligen Puzzle, das ihre Mutter darstellte.

„Wofür braucht deine Schwester so lange?“

Samantha lehnte sich zurück und schaute in den Flur. Alle fünf Türen waren noch zu. „Vielleicht hat sie sich im Klo hinuntergespült.“

„In einer dieser Kisten muss eine Saugglocke sein.“

Das Telefon läutete, die schrille Glocke im Innern des altmodischen Wählscheibentelefons an der Wand war deutlich zu hören. In dem roten Ziegelhaus hatten sie ein schnurloses Telefon und einen Anrufbeantworter gehabt, um die eingehenden Anrufe zu kontrollieren. Das Wort „Scheiße“ hatte Samantha zum ersten Mal überhaupt auf dem Anrufbeantworter gehört. Sie war mit ihrer Freundin Gail von gegenüber zusammen gewesen. Das Telefon läutete, als sie zur Haustür hereinkamen, aber Samantha war zu langsam gewesen, daher hatte der Anrufbeantworter die Begrüßung übernommen.

„Rusty Quinn, ich mach dich kalt, Bursche. Hast du verstanden? Ich bringe dich verdammt noch mal um, ich vergewaltige deine Frau, und ich zieh deinen Töchtern die Haut ab, als würde ich einen Hirsch ausnehmen, du gottverfluchter Scheißkerl.“

Das Telefon läutete ein viertes Mal. Dann ein fünftes Mal.

„Sam.“ Gammas Tonfall war streng. „Lass Charlie nicht rangehen.“

Samantha stand vom Tisch auf, die Frage „Und was ist mit mir?“ ließ sie unausgesprochen. Sie nahm den Hörer ab und hielt ihn ans Ohr. Instinktiv zog sie das Kinn ein und biss die Zähne zusammen, als ob sie einen Schlag erwartete. „Ja?“

„Hallo, Sammy-Sam. Gib mir mal deine Mutter.“

„Daddy.“ Samantha seufzte seinen Namen. Und dann sah sie, wie Gamma entschlossen den Kopf schüttelte. „Sie ist gerade nach oben gegangen, um ein Bad zu nehmen.“ Zu spät fiel Samantha ein, dass sie die gleiche Ausrede schon vor einigen Stunden benutzt hatte. „Soll sie dich zurückrufen?“

„Ich habe den Eindruck, unsere Gamma übertreibt es in letzter Zeit ein wenig mit der Körperpflege“, sagte Rusty.

„Seit das Haus abgebrannt ist, meinst du?“ Die Worte waren Samantha herausgerutscht, bevor sie sich bremsen konnte. Der Versicherungsagent der Pikeville Fire and Casualty war nicht der einzige Mensch, der Rusty Quinn die Schuld an dem Feuer gab.

Rusty lachte auf. „Na, ich weiß es jedenfalls zu schätzen, dass du dir das bis jetzt verkniffen hast.“ Das Klicken seines Feuerzeugs war in der Leitung zu hören. Offenbar hatte ihr Vater vergessen, dass er auf einen Stapel Bibeln geschworen hatte, das Rauchen aufzugeben. „Hör zu, Schätzchen, sag Gamma, wenn sie aus der Wanne kommt, dass ich den Sheriff darum gebeten habe, einen Wagen zu euch zu schicken.“

„Den Sheriff?“ Samantha versuchte Gamma ihre Panik zu vermitteln, aber ihre Mutter wandte ihr weiter den Rücken zu. „Was ist los?“

„Nichts ist los, Süße. Es ist nur so, dass sie diesen üblen Typen, der das Haus abgefackelt hat, noch nicht erwischt haben, und heute ist ein weiterer unschuldiger Mann freigekommen, was einigen Leuten auch wieder nicht gefallen wird.“

„Meinst du den Mann, der dieses Mädchen vergewaltigt hat, das sich dann umgebracht hat?“

„Die Einzigen, die wissen, was diesem Mädchen zugestoßen ist, ist sie selbst, der Täter und Gott im Himmel. Ich gebe nicht vor, einer von ihnen zu sein, und dir würde ich auch nicht dazu raten.“

Samantha hasste es, wenn ihr Vater diesen Tonfall eines Provinzanwalts annahm, der sein Plädoyer abschließt. „Daddy, sie hat sich in einer Scheune erhängt. Das ist eine bewiesene Tatsache.“

„Warum gibt es nur so viele widerborstige Frauen in meinem Leben?“ Rusty deckte offenbar den Hörer mit der Hand ab und sprach mit einer anderen Person. Samantha hörte das heisere Lachen einer Frau. Lenore, die Sekretärin ihres Vaters. Gamma hatte sie nie gemocht.

„Also gut.“ Rusty war wieder in der Leitung. „Bist du noch da, Schätzchen?“

„Wo sollte ich sonst sein?“

„Leg auf“, sagte Gamma.

„Baby.“ Rusty blies Rauch aus. „Sag mir, was ich tun muss, damit es besser wird, und ich tue es auf der Stelle.“

Ein alter Anwaltstrick: sein Gegenüber das Problem lösen lassen. „Daddy, ich …“

Gamma drückte auf die Gabel und beendete das Gespräch.

„Mama, wir haben uns unterhalten!“

Gamma ließ die Hand auf dem Telefon ruhen. Statt sich zu erklären, sagte sie: „Denk mal über die Herkunft des Ausdrucks ‚auflegen‘ nach.“ Sie nahm Samantha den Hörer aus der Hand und hängte ihn ein. „Und du weißt natürlich, dass dieser Haken hier ein Hebel ist, der, wenn man ihn niederdrückt, den Schaltkreis öffnet, damit ein Anruf empfangen werden kann.“

„Der Sheriff schickt einen Wagen“, sagte Samantha. „Oder vielmehr wird Daddy ihn bitten, es zu tun.“

Gamma schaute skeptisch drein. Der Sheriff war kein ausgesprochener Fan der Quinns. „Du musst dir vor dem Essen noch die Hände waschen.“

Samantha wusste, dass es sinnlos war, eine Fortsetzung des Gesprächs erzwingen zu wollen. Es sei denn, sie wollte, dass ihre Mutter einen Schraubenzieher suchte und das Telefon auseinandernahm, um ihr den Schaltkreis zu erklären, was sie bei zahllosen Geräten bereits getan hatte. Gamma war die einzige Mutter in der Straße, die das Öl bei ihrem Wagen selbst wechselte.

Nicht, dass sie noch in der Straße wohnten.

Samantha stieß sich an einer Kiste im Flur. Sie hielt ihre Zehen umklammert, als könnte sie den Schmerz wegdrücken. Den restlichen Weg zum Bad hinkte sie. Im Flur kam sie an ihrer Schwester vorbei. Charlotte boxte sie in den Arm, denn solche Dinge tat Charlotte eben.

Der Quälgeist hatte die Tür wieder geschlossen, so dass Samantha erst einmal die falsche öffnete, bevor sie endlich das Bad fand. Die Toilette war sehr niedrig und zu einer Zeit eingebaut worden, als die Leute noch kleiner waren als heute. Die Dusche bestand aus einer eckigen Kunststoffwanne, in deren Fugen schwarzer Schimmel wuchs. Im Waschbecken lag ein Schlosserhammer. Schadstellen von schwarzem Gusseisen zeigten an, wo der Hammer wiederholt in das Becken gefallen war. Gamma war es gewesen, die dahinterkam, wozu er gut war. Der Wasserhahn war so alt und verrostet, dass man mit dem Hammer auf den Griff schlagen musste, damit der Hahn nicht tropfte.

„Das repariere ich am Wochenende“, hatte sich Gamma als Belohnung für das Ende einer fraglos schwierigen Woche in Aussicht gestellt.

Wie üblich hatte Charlotte in dem winzigen Badezimmer einen Saustall hinterlassen. Wasserlachen auf dem Boden und Spritzer am Spiegel. Selbst der Toilettensitz war nass. Samantha griff nach der Papierhandtuchrolle an der Wand, dann überlegte sie es sich anders. Von Anfang an hatte sich dieses Haus nur wie eine Interimslösung angefühlt, aber nun, da ihr Vater mehr oder weniger zu verstehen gegeben hatte, dass er den Sheriff vorbeischickte, weil es vielleicht genauso abgefackelt werden würde wie das letzte, erschien ihr Saubermachen als reine Zeitverschwendung.

„Essen!“, rief Gamma aus der Küche.

Samantha spritzte sich Wasser ins Gesicht. Ihr Haar fühlte sich sandig an. Rote Streifen zogen sich über Waden und Arme, wo sich die Erde mit ihrem Schweiß vermischt hatte. Sie hätte gern ein ausgiebiges heißes Bad genommen, aber es gab nur eine einzige Wanne im Haus, und die hatte Klauenfüße und einen dunklen, rostfarbenen Ring rund um den Rand, wo der frühere Bewohner jahrzehntelang den Dreck von seiner Haut geschrubbt hatte. Nicht einmal Charlotte stieg in die Wanne, und Charlotte war ein Ferkel.

„Hier drin ist es einfach zu traurig“, hatte ihre Schwester gesagt und sich aus dem Badezimmer zurückgezogen.

Die Wanne war nicht das einzige, was Charlotte beunruhigend fand. Der unheimliche, feuchte Keller. Der schaurige Dachboden, der voller Fledermäuse war. Die knarrenden Schranktüren. Das Schlafzimmer, in dem der Vorbesitzer gestorben war.

In der untersten Schublade des Garderobenschranks hatte sich ein Foto des Farmers befunden. Sie hatten es heute Morgen entdeckt, als sie vorgaben sauberzumachen. Beide Schwestern trauten sich nicht, es anzurühren. Sie hatten auf das einsame, rundliche Gesicht des Mannes hinuntergeblickt und sich von etwas Düsterem darin überwältig gefühlt, obwohl das Bild nur eine typische Szenerie der Ära der Großen Depression zeigte, mit einem Traktor und einem Maulesel. Der Anblick der gelben Zähne des Farmers verfolgte Samantha, wenngleich es ihr ein Rätsel war, wie auf einem Schwarz-Weiß-Foto etwas gelb aussehen konnte.

„Sam?“ Gamma stand in der Tür zum Badezimmer und sah auf das Spiegelbild.

Niemand hatte sie je für Schwestern gehalten, denn sie waren eindeutig Mutter und Tochter. Sie hatten die gleiche kräftige Kinnlinie, die gleichen hohen Wangenknochen und die gleichen geschwungenen Augenbrauen, die von den meisten Menschen als Ausdruck von Hochmut gedeutet wurden. Gamma war nicht schön, aber sie war beeindruckend, mit dem dunklen, fast schwarzen Haar und den hellblauen Augen, die vor Freude funkelten, wenn sie etwas besonders lustig oder lächerlich fand. Samantha war alt genug, um sich noch an eine Zeit zu erinnern, als ihre Mutter das Leben sehr viel weniger ernst genommen hatte.

„Du vergeudest Wasser“, mahnte Gamma.

Samantha verschloss den Wasserhahn mithilfe des Hammers, den sie dann wieder ins Becken legte. Sie hörte einen Wagen zum Haus fahren. Vermutlich der Mitarbeiter des Sheriffs – was überraschte, weil Rusty seine Versprechen nur selten einlöste.

Gamma stand hinter ihr. „Bist du noch traurig wegen Peter?“

Der Junge, dessen Jacke mit dem Haus verbrannt war. Der Junge, der Samantha einen Liebesbrief geschrieben hatte, der ihr jetzt aber nicht mehr in die Augen schaute, wenn sie sich im Schulflur begegneten.

„Du bist hübsch“, sagte Gamma. „Weißt du das?“

Samantha sah sich im Spiegel erröten.

„Hübscher, als ich es je war.“ Gamma kämmte mit den Fingern Samanthas Haar zurück. „Ich wünschte, meine Mutter hätte lange genug gelebt, um dich kennenzulernen.“

Samantha erfuhr nur selten etwas über ihre Großeltern. Wenn sie es richtig verstanden hatte, hatten sie Gamma nie verziehen, dass sie fortgegangen war, um zu studieren. „Wie war Grandma?“

Gamma lächelte unbeholfen. „Hübsch, wie Charlie. Sehr klug. Hemmungslos glücklich. Immer beschäftigt. Die Art von Mensch, die man einfach gernhat.“ Sie schüttelte den Kopf. Trotz all ihrer Diplome hatte Gamma die Wissenschaft der Liebenswürdigkeit noch nicht entschlüsselt. „Sie hatte schon graue Strähnen im Haar, bevor sie dreißig wurde. Sie sagte, es läge daran, dass ihr Gehirn so schwer arbeite, aber wir wissen natürlich, dass jedes Haar im Ursprung immer weiß ist. Es erhält Melanin durch bestimmte Zellen, die sich Melanozyten nennen und die Pigmente in die Haarfollikel pumpen.“

Samantha lehnte sich in die Arme ihrer Mutter zurück. Sie schloss die Augen und genoss die vertraute Melodie von Gammas Stimme.

„Stress und Hormone können die Pigmentierung herausziehen, aber Grandma führte zu dieser Zeit ein recht unkompliziertes Leben – als Mutter, Ehefrau, Lehrerin an der Sonntagsschule. Wir können also davon ausgehen, dass sie ihr Grau einer genetischen Eigenheit verdankte, und das bedeutet, dass dir oder Charlie oder auch euch beiden das Gleiche passieren kann.“

Samantha öffnete die Augen. „Dein Haar ist nicht grau.“

„Weil ich einmal im Monat in den Schönheitssalon gehe.“ Ihr Lachen verklang zu schnell. „Versprich mir, dass du immer auf Charlie Acht gibst.“

„Charlie kann auf sich selbst Acht geben.“

„Ich meine es ernst, Sam.“

Samantha spürte ihr Herz bei Gammas nachdrücklichem Tonfall schneller schlagen. „Warum?“

„Weil du ihre große Schwester bist und es deine Aufgabe ist.“ Sie nahm Samanthas Hände. Ihr Blick im Spiegel war starr. „Wir haben eine harte Zeit hinter uns, mein Kind. Ich will nicht lügen und behaupten, dass es sich bessert. Charlie muss wissen, dass sie sich auf dich verlassen kann. Du musst ihr diesen Stab immer fest in die Hand drücken, egal wo sie ist. Du musst sie finden. Erwarte nicht, dass sie dich findet.“

Samantha schnürte es die Kehle zu. Gamma sprach jetzt über etwas anderes, über etwas Ernsteres als einen Staffellauf. „Gehst du weg?“

„Natürlich nicht.“ Gamma blickte finster. „Ich will dir nur sagen, dass du dich als Mensch nützlich machen musst, Sam. Ich dachte wirklich, du hättest diese alberne dramatische Teenagerphase hinter dir.“

„Ich bin nicht …“

„Mama!“, schrie Charlotte.

Gamma drehte Samantha zu sich. Sie legte ihre rauen Hände an die Wangen ihrer Tochter und umfasste ihr Gesicht. „Ich gehe nirgendwohin, Kleines. So leicht werdet ihr mich nicht los.“ Sie drückte ihr einen Kuss auf die Nase. „Verpass diesem Wasserhahn noch einen Schlag, bevor du zum Essen kommst.“

„Mom!“, schrie Charlotte.

„Du lieber Himmel“, beschwerte sich Gamma beim Verlassen des Badezimmers. „Charlie Quinn, schrei hier nicht herum wie ein Straßenbengel.“

Samantha nahm den kleinen Hammer zur Hand. Der schlanke Holzgriff war durch die ständige Nässe aufgequollen wie ein Schwamm, der Kugelkopf verrostet und vom gleichen roten Farbton wie die Erde im Hof. Sie schlug auf den Hahn und wartete kurz, um sich zu vergewissern, dass kein Wasser mehr heraustropfte.

„Samantha?“, rief Gamma.

Samantha runzelte die Stirn und wandte sich zur Tür. Ihre Mutter rief sie nie bei ihrem vollen Namen. Selbst Charlotte musste es aushalten, Charlie genannt zu werden. Gamma hatte ihnen erklärt, sie würden es eines Tages zu schätzen wissen. Sie hatte mehr wissenschaftliche Artikel veröffentlicht und Fördermittel zugesprochen bekommen, seit sie mit Harry unterschrieb statt mit Harriet.

„Samantha.“ Gammas Stimme klang kalt, eher wie eine Warnung. „Bitte versichere dich, dass der Wasserhahn dicht ist, und komm dann umgehend in die Küche.“

Samantha sah wieder in den Spiegel, als könnte ihr Abbild ihr erklären, was hier los war. So sprach ihre Mutter nicht mit ihnen. Nicht einmal, wenn sie ihnen irgendwelche technischen Geräte erläuterte.

Ohne nachzudenken, griff Samantha ins Waschbecken und nahm sich den kleinen Hammer. Sie hielt ihn hinter ihrem Rücken, als sie durch den langen Flur zur Küche ging.

Alle Lampen waren eingeschaltet. Draußen war es schon dunkel geworden. Sie dachte an ihre Laufschuhe, die neben denen von Charlotte auf der Küchenschwelle standen, an den Plastikstab, der irgendwo im Hof lag. Den mit Papptellern gedeckten Tisch. Das Plastikbesteck.

Sie hörte ein Husten, ein tiefes, das vielleicht von einem Mann kam. Vielleicht aber auch von Gamma, denn sie hustete in letzter Zeit immer, als hätte sie den Rauch von dem Hausbrand in die Lunge bekommen.

Noch ein Husten.

Samanthas Nackenhaare sträubten sich.

Die Hintertür lag am anderen Ende des Flurs, ein schwacher Lichtschein drang durch das Milchglas. Samantha warf einen Blick zurück. Sie konnte den Türgriff sehen. Sie stellte sich vor, wie sie ihn drehte, obwohl sie sich immer weiter von ihm entfernte. Bei jedem Schritt, den sie machte, fragte sie sich, ob sie sich albern benahm oder zu Recht besorgt war. Ob das hier einer dieser Streiche war, die ihre Mutter so gern mit ihnen spielte, wie etwa Glubschaugen aus Plastik an den Milchkrug im Kühlschrank zu kleben oder „Helft mir, ich werde in einer Klopapierfabrik gefangen gehalten!“ auf die Innenseite der Klopapierrolle zu schreiben.

Es gab nur ein Telefon im Haus: das mit der Wählscheibe in der Küche.

Die Pistole ihres Vaters lag in der Küchenschublade.

Die Munition war irgendwo in einer Schachtel.

Charlotte würde sie auslachen, wenn sie den Hammer sah. Samantha schob ihn hinten in ihre Laufshorts. Das Metall war kalt an ihrem Rücken, der nasse Holzgriff fühlte sich an wie eine Zunge. Sie zog das T-Shirt über den Hammer, als sie die Küche betrat.

Und erstarrte.

Das hier war kein Scherz.

Zwei Männer standen in der Küche. Sie rochen nach Schweiß, Bier und Zigaretten. Sie trugen schwarze Handschuhe und schwarze Sturmhauben, die ihre Gesichter verbargen.

Samantha öffnete den Mund. Die Luft war plötzlich dicht wie Baumwolle und verschloss ihr die Kehle.

Einer war größer als der andere. Der Kleine war dafür schwerer. Massiger. War mit Jeans und einem schwarzen Hemd bekleidet. Der größere Typ trug ein verwaschenes weißes T-Shirt, Jeans und blaue hochgeschnittene Turnschuhe mit roten Schnürsenkeln, die nicht gebunden waren. Der Kleinere wirkte gefährlicher, aber das war schwer zu sagen, weil Samantha hinter ihren Masken nichts außer ihrem Mund und ihren Augen sah.

Nicht dass sie ihnen in die Augen geschaut hätte.

Der mit den Turnschuhen hielt einen Revolver.

Schwarzhemd hatte eine Flinte, die direkt auf Gammas Kopf gerichtet war.

Ihre Mutter hatte die Hände erhoben. „Es ist gut“, sagte sie zu Samantha.

„Nein, ist es nicht.“ Die Stimme von Schwarzhemd rasselte wie der Schwanz einer Klapperschlange. „Wer ist noch im Haus?“

Gamma schüttelte den Kopf. „Niemand.“

„Lüg mich bloß nicht an, Schlampe.“

Ein Klopfen war zu hören. Charlotte saß am Tisch und zitterte so heftig, dass die Stuhlbeine auf den Boden klapperten wie ein Specht, der in einen Baumstamm schlägt.

Samantha sah in den Flur zurück, zu der Tür, dem Lichtschein.

„Hierher.“ Der Mann in den blauen Turnschuhen wies Samantha an, sich neben Charlotte zu setzen. Sie bewegte sich langsam, beugte vorsichtig die Knie, behielt die Hände über dem Tisch. Der Holzstiel des Hammers stieß gegen die Stuhllehne.

„Was war das?“ Schwarzhemd riss den Kopf zu ihr herum.

„Es tut mir leid“, flüsterte Charlotte. Urin sammelte sich in einer Pfütze am Boden. Sie hielt den Kopf gesenkt und schaukelte vor und zurück. „Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.“

Samantha nahm die Hand ihrer Schwester.

„Sagen Sie uns, was Sie wollen“, sagte Gamma. „Wir geben es Ihnen, und dann können Sie gehen.“

„Und was, wenn ich das will?“ Schwarzhemds Augen waren auf Charlotte gerichtet.

„Bitte“, sagte Gamma. „Ich tue, was Sie wollen. Alles.“

„Alles?“ Schwarzhemd sagte es auf eine Weise, dass alle verstanden, was sie ihm angeboten hatte.

„Nein“, sagte Turnschuh. Seine Stimme klang jünger, nervös, vielleicht ängstlich. „Dafür sind wir nicht hergekommen.“ Sein Adamsapfel hüpfte unter der Sturmhaube auf und ab, als er sich zu räuspern versuchte. „Wo ist dein Mann?“

In Gammas Augen blitzte etwas auf. Zorn. „Er ist auf der Arbeit.“

„Warum steht dann der Wagen draußen?“

„Wir haben nur ein Auto, weil …“, fing Gamma an.

„Der Sheriff …“ Samantha verschluckte den Rest des Satzes, als sie zu spät erkannte, dass sie etwas Falsches gesagt hatte.

Schwarzhemd sah wieder zu ihr. „Was war das, Kleine?“

Samantha senkte den Kopf. Charlotte drückte ihre Hand. Der Sheriff schickt jemanden, hatte sie sagen wollen. Rusty hatte den Wagen des Sherriffs angekündigt, aber Rusty behauptete viele Dinge, die sich dann als falsch herausstellten.

„Sie hat nur Angst“, sagte Gamma. „Wollen wir nicht in das andere Zimmer gehen? Dann können wir in Ruhe besprechen, was ich für euch tun kann.“

Samantha spürte, wie etwas Hartes gegen ihren Schädel schlug. Sie schmeckte die Metallfüllungen in ihren Zähnen. In ihren Ohren dröhnte es. Die Flinte. Er drückte die Mündung der Flinte an ihren Scheitel.

„Du hast etwas über den Sheriff gesagt, Kleine. Ich habe es genau verstanden.“

„Nein“, sagte Gamma. „Sie meinte …“

„Halt’s Maul.“

„Sie wollte nur …“

„Ich sagte, du sollst verdammt noch mal das Maul halten!“

Samantha blickte auf, als die Flinte zu Gamma schwenkte.

Gamma streckte die Hände aus, ganz langsam, als müsste sie die Finger durch Sand schieben. Alle waren plötzlich in einer Sequenz einzelner Bilder gefangen, die Bewegungen abgehackt, die Körper wie aus Ton. Samantha sah, wie sich die Finger ihrer Mutter einer nach dem anderen um den abgesägten Lauf der Flinte schlossen. Gepflegte Fingernägel. Eine Schwiele am Daumen, wo sie den Kugelschreiber hielt.

Es gab ein kaum hörbares Klicken.

Ein Sekundenzeiger an einer Uhr.

Eine Tür, die ins Schloss fällt.

Ein Schlagbolzen, der an die Zündkapsel einer Patrone schlägt.

Vielleicht hörte Samantha das Klicken, oder sie bildete sich das Geräusch nur ein, während sie auf Schwarzhemds Zeigefinger starrte, als er abdrückte.

Eine rote Explosion vernebelte die Luft.

Blut spritzte an die Decke. Ergoss sich auf den Boden. Warme, zähflüssige rote Schlieren legten sich über Charlottes Kopf und besprühten seitlich Samanthas Hals und Gesicht.

Gamma sank zu Boden.

Charlotte schrie.

Samantha nahm wahr, wie auch ihr Mund sich öffnete, aber der Laut blieb in ihrem Hals stecken. Sie war jetzt vollkommen starr. Charlottes Schreie gingen in ein entferntes Echo über. Alle Farben verblassten. Sie wurden in eine Schwarz-Weiß-Szenerie verschoben, wie das Bild des alten Farmers. Dunkles Blut hatte sich auf dem Gitter der weißen Klimaanlage versprüht, kleine schwarze Punkte sprenkelten das Fensterglas. Draußen war der Nachthimmel anthrazitgrau. Nur das einsame, stecknadelkopfgroße Licht eines fernen Sterns war zu sehen.

Samantha hob die Hand und fasste sich an den Hals. Sand. Knochen. Noch mehr Blut, alles war voller Blut. Sie spürte einen Pulsschlag an ihrer Kehle. War es ihr eigenes Herz oder ein Teil des Herzens ihrer Mutter, das unter ihren zitternden Fingern schlug?

Charlottes Schreie schwollen zu einer durchdringenden Sirene an. Das schwarze Blut an Samanthas Fingern wurde tiefrot. Der graue Raum erblühte wieder in lebhaften, grellen, wütenden Farben.

Tot. Gamma war tot. Sie würde Samantha nie wieder raten, aus Pikeville wegzugehen, sie nie wieder anschreien, weil sie eine einfache Frage in einer Prüfung nicht beantworten konnte, weil sie sich auf der Laufstrecke nicht genügend anstrengte, weil sie keine Geduld mit Charlotte hatte, weil sie nichts Nützliches leistete in ihrem Leben.

Samantha rieb die Finger aneinander. Sie hatte einen Splitter von Gammas Zähnen an der Hand. Erbrochenes rauschte in ihren Mund. Sie konnte vor Tränen nichts sehen. Eine Trauer vibrierte wie eine Harfensaite in ihrem Körper.

Von einem Moment auf den anderen stand ihre Welt Kopf.

„Sei still!“ Der mit dem schwarzen Hemd schlug Charlotte so heftig, dass sie fast vom Stuhl gefallen wäre. Samantha fing sie auf, klammerte sich an sie. Beide schluchzten, zitterten, schrien. Das geschah nicht wirklich. Ihre Mutter konnte nicht tot sein. Sie würde gleich die Augen öffnen. Sie würde ihnen erklären, wie ein kardiovaskuläres System funktionierte, während sie ihren Körper Stück für Stück wieder zusammenbaute.

Wusstet ihr, dass ein durchschnittliches Herz jede Minute fünf Liter Blut durch den Körper pumpt?

„Gamma“, flüsterte Samantha. Der Schuss aus der Flinte hatte ihre Brust aufgerissen, ihren Hals, ihr Gesicht. Die linke Seite des Kiefers war nicht mehr da. Ein Teil des Schädels. Ihr wundervolles, kompliziertes Gehirn. Ihre geschwungenen, arroganten Augenbrauen. Niemand würde Samantha je wieder etwas erklären. Niemand würde sich je wieder dafür interessieren, ob sie es verstand. „Gamma.“

„Großer Gott!“ Der mit den Turnschuhen schlug sich wie von Sinnen an die Brust, um Knochensplitter und Gewebestücke fortzuwischen. „Großer Gott, Zach!“

Samanthas Kopf fuhr herum.

Zachariah Culpepper.

Die beiden Worte flackerten wie ein Neonschild in ihrem Kopf auf. Und dann: Autodiebstahl. Tierquälerei. Ungebührliches Verhalten in der Öffentlichkeit. Unangemessener Kontakt mit einer Minderjährigen.

Charlotte war nicht die Einzige, die die Fallakten ihres Vaters las. Rusty Quinn hatte Zach Culpepper jahrelang davor bewahrt, für längere Zeit ins Gefängnis zu wandern. Die nicht bezahlten Honorarrechnungen des Mannes hatten ständig zu Spannungen zwischen Rusty und Gamma geführt, vor allem seit das Haus niedergebrannt war. Mehr als zwanzigtausend Dollar schuldete Culpepper ihm, aber Rusty weigerte sich, das Geld einzutreiben.

„Scheiße!“ Zach hatte eindeutig bemerkt, dass Samantha ihn erkannt hatte. „Scheiße!“

„Mama …“ Charlotte hatte noch nicht begriffen, dass sich alles geändert hatte. Sie konnte nur auf Gamma starren, und sie zitterte so sehr, dass ihre Zähne klapperten. „Mama, Mama, Mama …“

„Alles ist gut.“ Samantha versuchte, ihrer Schwester übers Haar zu streichen, aber sie verhedderte sich in den von Blut und Knochensplittern verklebten Strähnen.

„Nichts ist gut.“ Zach riss sich die Maske vom Kopf. Er war ein grobschlächtiger Mann. Die Haut war von Aknenarben übersät. Mund und Augen waren rot umringt, wo sich der rote Sprühnebel nach dem Schuss niedergeschlagen hatte. „Verdammt noch mal! Wieso zum Teufel musst du meinen Namen sagen, Junge?“

„Ich … ich habe nicht …“, stammelte Turnschuh. „Es tut mir leid.“

„Wir sagen es niemandem.“ Samantha senkte den Blick, als könnte sie vorgeben, sein Gesicht nicht gesehen zu haben. „Wir sagen nichts. Ich verspreche es.“

„Kleines, ich habe gerade deine Mutter in Stücke geschossen. Glaubst du wirklich, ihr spaziert hier lebend raus?“

„Nein“, sagte Turnschuh. „Dafür sind wir nicht gekommen.“

„Ich bin gekommen, um ein paar offene Rechnungen zu tilgen, Junge.“ Der Blick aus Zachs stahlgrauen Augen zuckte wie ein Maschinengewehr durch den Raum. „Jetzt finde ich, dass Rusty Quinn es ist, der mich bezahlen muss.“

„Nein“, sagte Turnschuh. „Ich habe dir …“

Zach brachte ihn zum Schweigen, indem er ihm die Flinte vors Gesicht stieß. „Du siehst nicht das große Ganze. Wir müssen die Stadt verlassen, und dafür brauchen wir einen Haufen Geld. Jeder weiß, dass Rusty Quinn Geld im Haus hat.“

„Das Haus ist abgebrannt.“ Samantha hörte die Worte, ehe ihr bewusst wurde, dass sie aus ihrem eigenen Mund kamen. „Alles ist verbrannt.“

„Scheiße!“, schrie Zach. „Scheiße!“ Er packte Turnschuh am Arm und zerrte ihn in den Flur. Die Flinte hielt er weiter auf die Mädchen gerichtet, den Finger am Abzug. Die beiden flüsterten hektisch miteinander, Samantha konnte alles genau hören, aber ihr Verstand weigerte sich, die Worte zu verarbeiten.

„Nein!“ Charlotte warf sich zu Boden und streckte eine zitternde Hand nach ihrer Mutter aus. „Du darfst nicht tot sein, Mama. Bitte. Ich hab dich lieb. Ich hab dich so sehr lieb.“

Samantha sah zur Decke hoch. Rote Linien zogen sich kreuz und quer über den Verputz. Tränen strömten ihr übers Gesicht und durchnässten den Kragen des einzigen T-Shirts, das den Brand überlebt hatte. Sie ließ den Schmerz durch ihren Körper fließen, ehe sie ihn wieder hinauszwang. Gamma war tot. Sie waren allein im Haus mit ihren Mördern, und der Mann des Sheriffs würde nicht kommen.

Versprich mir, dass du immer auf Charlie achtgibst.

„Charlie, steh auf.“ Samantha zog ihre Schwester am Arm hoch und hielt dabei den Blick abgewandt, denn sie konnte nicht auf Gammas aufgerissenen Brustkorb blicken, aus dem die gebrochenen Rippen wie Zähne herausragten.

Wusstet ihr, dass Haifischzähne aus mehreren Reihen bestehen?

„Charlie, steh auf“, flüsterte Sam.

„Ich kann nicht. Ich kann sie nicht …“

Sam riss ihre Schwester auf den Stuhl zurück. Sie presste den Mund an Charlies Ohr und flüsterte: „Lauf weg, wenn du kannst.“ Ihre Stimme war kaum hörbar. „Schau nicht zurück. Lauf einfach.“

„Was habt ihr beide da zu quatschen?“ Zach stieß die Flinte gegen Sams Stirn. Das Metall war heiß. Hautfetzen von Gamma waren an dem Lauf festgebrannt. Es roch wie Fleisch auf einem Grill. „Was hast du ihr zugeflüstert? Dass sie weglaufen soll? Versuchen soll zu entkommen?“

Charlotte kreischte, hob die Hand vor den Mund.

„Was hat sie zu dir gesagt, Püppchen?“, fragte Zach.

Sam drehte es den Magen um, wenn sie den weichen Tonfall hörte, in dem er mit ihrer Schwester sprach.

„Komm schon, Schätzchen.“ Zachs Blick glitt zu Charlies kleinem Busen hinunter, zu ihren schmalen Hüften. „Wollen wir nicht Freunde sein?“

„H-halt!“, brachte Samantha stotternd heraus. Sie schwitzte, zitterte. Sie würde, wie Charlie, ihre Blase nicht mehr lange kontrollieren können. Die Mündung der Waffe fühlte sich an wie ein Bohrer, der sich in ihren Schädel grub.

Trotzdem sagte sie: „Lass sie in Ruhe.“

„Habe ich etwa mit dir geredet, du kleines Miststück?“ Zach drückte die Flinte fester gegen Samanthas Kopf, bis ihr Kinn nach oben zeigte. „Hm?“

Sam ballte die Fäuste. Sie musste dem ein Ende setzen. Sie musste Charlotte beschützen. „Lass uns in Ruhe, Zachariah Culpepper.“ Sie erschrak vor ihrer eigenen Aufsässigkeit. Sie hatte schreckliche Angst, aber jede Faser davon war mit überwältigender Wut getränkt. Er hatte ihre Mutter ermordet. Er begaffte ihre Schwester. Er hatte ihnen klargemacht, dass sie das Haus nicht lebend verlassen würden. Sie dachte an den Hammer, der hinten in ihren Shorts steckte, und stellte sich vor, wie sie ihn in Zachs Gehirn schmetterte. „Ich weiß genau, wer du bist, du perverser Scheißkerl.“

Er zuckte bei den Worten zusammen. Seine Züge waren wutverzerrt. Seine Hände umklammerten das Gewehr so heftig, dass die Knöchel weiß hervortraten, aber seine Stimme war ruhig, als er sagte: „Ich werde dir die Augenlider abziehen, dann kannst du zusehen, wie ich deine Schwester mit meinem Messer entjungfere.“

Sie schaute ihm in die Augen. Das Schweigen, das der Drohung folgte, war ohrenbetäubend. Die Angst schnitt wie eine Rasierklinge durch ihr Herz. Noch nie in ihrem Leben war sie jemandem begegnet, der so abgrundtief, so seelenlos böse war.

Charlie begann zu wimmern.

„Zach“, sagte Turnschuh. „Komm schon, Mann.“ Er wartete. Sie alle warteten. „Wir hatten eine Abmachung, oder?“

Zach rührte sich nicht. Niemand rührte sich.

„Wir hatten eine Abmachung“, wiederholte Turnschuh.

„Sicher“, brach Zach schließlich das Schweigen. Er ließ sich von Turnschuh die Flinte aus den Händen nehmen. „Ein Mann taugt nur so viel wie sein Wort.“

Er wollte sich schon abwenden, überlegte es sich jedoch plötzlich anders. Seine Hand schoss vor wie eine Peitsche. Er griff nach Sams Gesicht, seine Finger krallten sich um ihren Schädel wie um einen Ball, und er stieß sie so heftig nach hinten, dass der Stuhl umfiel und ihr Kopf an die Spüle krachte.

„Du hältst mich also für pervers?“ Seine Handfläche quetschte ihre Nase. Seine Finger bohrten sich wie heiße Nadeln in ihre Augen. „Hast du sonst noch etwas über mich zu sagen?“

Samantha öffnete den Mund, aber ihr fehlte die Atemluft für einen Schrei. Schmerz durchzuckte ihr Gesicht, als seine Fingernägel in ihre Augenlider schnitten. Sie packte sein feistes Handgelenk, trat blind nach ihm, versuchte, ihn zu kratzen, zu boxen, dem Schmerz ein Ende zu setzen. Blut floss über ihre Wangen. Zachs Finger zitterten, sie drückten so kräftig zu, dass Sam zu spüren meinte, wie die Augäpfel in ihr Gehirn zurückgeschoben wurden. Er krümmte die Finger und versuchte, ihr die Lider abzureißen. Sie fühlte, dass seine Nägel an ihren ungeschützten Augäpfeln kratzten.

„Aufhören!“, schrie Charlie. „Aufhören!“

Der Druck ließ so plötzlich nach, wie er sich aufgebaut hatte.

„Sammy!“ Charlies Atem war heiß, panisch. Ihre Hände fuhren über Sams Gesicht. „Sam? Schau mich an! Kannst du sehen? Schau mich an, bitte!“

Vorsichtig versuchte Sam die Lider zu öffnen. Sie waren aufgerissen, beinahe zerfetzt. Sie hatte das Gefühl, durch ein Stück alten Spitzenstoff zu blicken.

„Was zum Teufel ist das denn?“, fragte Zach.

Der Hammer. Er war aus ihren Shorts gerutscht.

Zach hob ihn vom Boden auf. Er untersuchte den Holzstiel, dann sah er Charlie vielsagend an. „Was ich damit wohl alles anstellen könnte?“

„Das reicht jetzt!“ Turnschuh packte den Hammer und warf ihn in den Flur. Alle hörten, wie der Metallkopf einige Male über den Hartholzboden sprang.

„Ich amüsiere mich nur ein bisschen, Bruder“, sagte Zach.

„Steht auf, alle beide“, sagte Turnschuh. „Bringen wir’s hinter uns.“

Charlie blieb auf dem Boden hocken. Sam blinzelte sich das Blut aus dem Blickfeld. Sie sah kaum genug, um sich in Bewegung zu setzen. Das Deckenlicht brannte wie heißes Öl in ihren Augen.

„Hilf ihr auf“, sagte Turnschuh zu Zach. „Du hast es versprochen, Mann. Mach das Ganze nicht schlimmer als nötig.“

Zach riss so heftig an Sams Arm, dass er ihn beinahe ausrenkte. Sie mühte sich auf die Beine und stützte sich am Tisch ab. Zach schob sie in Richtung Tür. Sie stieß gegen einen Stuhl. Charlie griff nach ihrer Hand.

Turnschuh öffnete die Tür. „Los jetzt.“

Sie hatten keine andere Wahl. Charlie ging voraus, halb zur Seite gedreht, damit sie Sam die Stufen hinunterhelfen konnte. Im Freien, ohne das grelle Küchenlicht, pochten Sams Augen nicht mehr ganz so schmerzhaft. Sie passten sich nicht an die Dunkelheit an. Einzelne Schatten tauchten ständig in ihrem Blickfeld auf und verschwanden wieder.

Sie sollten in diesem Augenblick eigentlich beim Leichtathletik-Training sein. Sie hatten Gamma angebettelt, es ein einziges Mal ausfallen lassen zu dürfen, und jetzt war ihre Mutter tot, und sie wurden mit vorgehaltener Waffe von einem Mann aus dem Haus getrieben, der seine offenen Rechnungen mit einer Schrotflinte begleichen wollte.

„Kannst du sehen?“, fragte Charlie. „Sam, kannst du sehen?“

„Ja“, log Sam, denn vor ihren Augen blinkte es wie eine Discokugel, nur dass sie statt hellen Lichtblitzen graue und schwarze aufleuchten sah.

„Hier entlang“, sagte Turnschuh und führte sie statt zu dem alten Pick-up in der Einfahrt in das Feld hinter dem Farmhaus. Kohl. Zuckerhirse. Wassermelonen. Das hatte der alleinstehende Farmer angebaut. Sie hatten sein Saatenbuch in einem ansonsten leeren Schrank im Obergeschoss gefunden. Seine einhundertzwanzig Hektar waren an den Nachbarsfarmer verpachtet und zusammen mit dessen dreimal so großer Fläche im Frühjahr bepflanzt worden.

Sam konnte die frisch bearbeitete Erde unter ihren nackten Füßen spüren. Sie stützte sich auf Charlie, die ihre Hand fest umklammert hielt. Mit der anderen Hand tastete sie blind um sich, weil sie die unsinnige Angst hatte, sie könnte auf dem offenen Feld gegen ein Hindernis laufen. Jeder Schritt fort vom Haus, vom Licht, legte eine weitere Schicht Dunkelheit auf ihr Sehvermögen. Charlie war ein grauer Klecks. Turnschuh war groß und dürr wie ein Bleistift. Zach Culpepper war ein bedrohlicher, schwarzer Quader aus Hass.

„Wohin gehen wir?“, fragte Charlie.

Sam spürte, wie die Flinte in ihr Kreuz gedrückt wurde.

„Geht weiter“, sagte Zach.

„Ich verstehe es nicht“, sagte Charlie. „Warum tun Sie das?“

Ihre Worte waren an Turnschuh gerichtet. Wie Sam verstand sie, dass der jüngere Mann der schwächere war, aber irgendwie das Kommando führte.

„Was haben wir Ihnen getan, Mister?“, fragte Charlie. „Wir sind nur Kinder. Wir haben das nicht verdient.“

„Halt dein Maul“, warnte Zach. „Ihr haltet jetzt beide verdammt noch mal das Maul.“

Sam drückte Charlies Hand noch kräftiger. Sie war jetzt fast vollkommen blind. Sie würde bis in alle Ewigkeit blind sein, nur dass diese Ewigkeit nicht mehr allzu weit entfernt lag. Zumindest nicht für Sam. Sie zwang sich, die Hand ihrer Schwester lockerer zu fassen, und betete lautlos, dass Charlie ihre Umgebung genau registrierte und wachsam blieb, um die erste Gelegenheit zur Flucht zu nutzen.

Vor zwei Tagen, am Tag ihres Einzugs, hatte Gamma ihnen eine topografische Karte der Gegend gezeigt. Sie versuchte ihnen das Landleben schmackhaft zu machen und deutete auf alle Gebiete, die sie erkunden konnten. Auf der Suche nach einem Fluchtweg ging Sam nun die einzelnen Plätze in ihrem Kopf durch. Die Ackerfläche des Nachbarn reichte weiter als der Horizont, eine offene Ebene, wo Charlie wahrscheinlich eine Kugel in den Rücken verpasst bekäme, falls sie in diese Richtung rannte. Der äußerste rechte Rand des Anwesens war von Bäumen gesäumt, ein dichter Wald, der Gammas Warnung zufolge wahrscheinlich voller Zecken war. Auf der anderen Seite des Waldes floss ein Bach, und dieser mündete in einen Tunnel, der sich unter einem Wetterturm hindurchschlängelte und zu einer asphaltierten, aber kaum befahrenen Straße führte. Eine verlassene Farm stand eine halbe Meile nördlich. Eine weitere zwei Meilen entfernt im Osten. Ein morastiger Fischteich. Dort würde es Frösche geben. Hier drüben würden Schmetterlinge sein. Wenn sie geduldig waren, konnten sie in diesem Feld vielleicht einen Hirsch sehen. Haltet euch von der Straße fern. Ene, mene, meck, und du bist weg.

Bitte lauf weg, flehte Sam lautlos Charlie an. Bitte schau nicht zurück, ob ich dir folge.

„Was ist das?“, fragte Zach.

Alle drehten sich um.

„Es ist ein Auto“, sagte Charlie, aber Sam konnte nur die funkelnden Scheinwerfer erkennen, die langsam die lange Zufahrt zum Farmhaus entlangkrochen.

Der Mann, den der Sheriff schicken wollte? Jemand, der ihren Vater nach Hause brachte?

„Scheiße, sie werden meinen Truck sofort erkennen.“ Zach stieß sie mit der Schrotflinte an, um sie schneller in Richtung Wald zu treiben. „Bewegt euch, oder ich erschieße euch gleich hier.“

Gleich hier.

Charlie erstarrte bei diesen Worten. Ihre Zähne begannen wieder zu klappern. Endlich hatte sie den Zusammenhang hergestellt: Sie verstand, dass ihr Weg in den Tod führte.

„Es gibt noch einen anderen Ausweg“, sagte Sam.

Sie sprach zu Turnschuh, aber Zach war es, der höhnisch schnaubte.

„Ich tue alles, was Sie wollen.“ Sie hörte Gammas Stimme diese Worte sprechen. „Alles.“

„Scheiße“, sagte Zach. „Glaubst du, ich nehme mir nicht sowieso, was ich haben will, du dummes Luder?“

Sam versuchte es noch einmal. „Wir sagen niemandem, dass ihr es wart. Wir sagen, ihr hattet die ganze Zeit eure Masken auf und …“

„Mit meinem Truck in der Einfahrt und eurer toten Mama im Haus?“ Zach schnaubte erneut. „Ihr Quinns glaubt alle, ihr seid so verdammt schlau und könnt euch aus allem rausreden.“

„Hören Sie mir zu“, bettelte Sam. „Sie müssen so oder so die Stadt verlassen. Es gibt keinen Grund, uns auch noch zu töten.“ Sie wandte den Kopf und sprach zu Turnschuh. „Bitte denken Sie einfach darüber nach. Sie müssen nichts weiter tun, als uns fesseln. Uns irgendwo zurücklassen, wo man uns nicht findet. Sie müssen ohnehin fliehen. Sie brauchen nicht noch mehr Blut zu vergießen.“

Sam wartete auf eine Antwort. Sie alle warteten.

Turnschuh räusperte sich. „Es tut mir leid“, sagte er schließlich.

Zachs Lachen klang triumphierend.

Sam konnte einfach nicht aufgeben. „Lassen Sie meine Schwester gehen.“ Sie musste kurz innehalten, um den Speichel in ihrem Mund zu schlucken. „Sie ist dreizehn. Noch ein Kind.“

„Sieht mir gar nicht wie ein Kind aus“, sagte Zach. „Mit ihren hübschen steilen Titten.“

„Halt den Mund“, sagte Turnschuh. „Ich meine es ernst.“

Zach sog hörbar die Luft durch die Zähne.

„Sie wird es niemandem verraten.“ Sam musste es einfach immer weiter versuchen. „Sie wird sagen, es waren Fremde. Oder, Charlie?“

„Ein Schwarzer vielleicht?“, fragte Zach. „Wie der, dem euer Daddy die Mordanklage vom Hals geschafft hat?“

„Sie meinen, so wie er Sie freigekriegt hat, als Sie Ihren Schniedel ein paar kleinen Mädchen gezeigt haben?“

„Charlie, bitte sei still!“, flehte Sam.

„Lass Sie reden“, sagte Zach. „Ich mag es, wenn sie ein bisschen kampflustig sind.“

Charlie verstummte. Als sie in den Wald hineingingen, sagte sie kein Wort.

Sam folgte dicht hinter ihr und zermarterte sich das Gehirn, wie sie die Bewaffneten davon überzeugen könnte, dass sie das nicht tun mussten. Aber Zach Culpepper hatte recht. Dass sein Wagen beim Haus entdeckt worden war, änderte alles.

„Nein“, flüsterte Charlie zu sich selbst. Ständig musste sie die Gedanken aussprechen, die ihr gerade durch den Kopf gingen.

Bitte lauf, flehte Sam tonlos. Es ist okay, wenn du ohne mich fliehst.

„Beweg dich.“ Zach stieß ihr wieder die Flinte in den Rücken, bis sie schneller ging.

Kiefernnadeln stachen ihr in die Fußsohlen. Sie liefen tiefer in den Wald. Die Luft kühlte ab. Sam schloss die Augen, denn es war ohnehin sinnlos, dass sie etwas zu sehen versuchte. Sie ließ sich von Charlie durch den Wald führen. Laub raschelte. Sie stiegen über umgestürzte Bäume, traten in einen schmalen Wasserlauf, der wahrscheinlich von der Farm in einen Bach ablief.

Lauf, lauf, lauf, betete Sam stumm. Bitte lauf!

„Sam …“ Charlie blieb stehen. Ihr Arm legte sich um Sams Taille. „Da ist eine Schaufel. Eine Schaufel.“

Sam verstand nicht. Sie berührte ihre Augenlider. Das getrocknete Blut hatte sie verklebt, und sie tupfte sanft daran, um sie zu öffnen.

Weiches Mondlicht warf einen blauen Schein auf die Lichtung vor ihnen. Da war nicht nur eine Schaufel. Ein Hügel aus frisch ausgehobener Erde türmte sich neben einer offenen Grube im Boden auf.

Ein Erdloch.

Ein Grab.

Ihr Blick verengte sich auf die schwarz klaffende Leere, und alles wurde ihr klar. Das war kein Raubüberfall oder ein Erpressungsversuch, der ein paar Anwaltsrechnungen aus der Welt schaffen sollte. Alle wussten, dass die Quinns durch den Hausbrand in große finanzielle Not geraten waren. Die Auseinandersetzung mit der Versicherung. Die Vertreibung aus dem Hotel. Die Einkäufe im Secondhand-Laden. Zach Culpepper hatte offenbar angenommen, dass Rusty beabsichtigte, sein Bankkonto wieder aufzufüllen, indem er säumige Klienten dazu zwang, ihre Rechnungen endlich zu bezahlen. Damit lag er gar nicht so falsch. Gamma hatte Rusty neulich abends angeschrien, dass die zwanzigtausend Dollar, die Culpepper ihnen schuldete, ein mehr als hilfreicher Beitrag wären, damit die Familie wieder flüssig war.

Das hieß, letzten Endes lief alles auf Geld hinaus.

Und, schlimmer noch, auf Dummheit. Denn die offenen Rechnungen würden nicht verschwinden, wenn ihr Vater starb.

Sam fühlte die Wut von vorhin wieder aufwallen. Sie biss sich so heftig auf die Zunge, dass Blut in ihren Mund floss. Nicht ohne Grund stand Zachariah Culpepper ein ums andere Mal vor Gericht. Wie alle seine Taten war auch dieser Plan schlecht und armselig ausgeführt. Jede einzelne seiner Stümpereien hatte ihn bis an diesen Punkt gebracht. Sie hatten dieses Grab für Rusty ausgehoben, aber da Rusty sich verspätet hatte, weil er sich immer verspätete, und weil heute der eine Tag war, an dem sie ihr Leichtathletik-Training hatten ausfallen lassen dürfen, war es nun für Charlie und Sam bestimmt.

„Also gut, Großer. Es ist Zeit, dass du deinen Teil erledigst.“ Zach stützte den Schaft der Flinte auf der Hüfte ab. Er zog ein Schnappmesser aus der Tasche und ließ die Klinge herausspringen. „Die Schusswaffen wären zu laut. Nimm das hier. Einfach quer über die Kehle, wie bei einem Schwein.“

Turnschuh nahm das Messer nicht an.

„Komm schon“, drängte Zach. „Wie wir es ausgemacht haben. Du übernimmst sie. Ich kümmere mich um die Kleine.“

Turnschuh rührte sich noch immer nicht. „Sie hat recht. Wir müssen das nicht machen. Es war nie die Rede davon, den Frauen etwas zu tun. Sie sollten gar nicht im Haus sein.“

„Was du nicht sagst.“