Die Hydra des Dschihadismus - Asiem El Difraoui - E-Book

Die Hydra des Dschihadismus E-Book

Asiem El Difraoui

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Beschreibung

Nachdem der »IS« in Trümmern lag und »Kalif« al-Baghdadi im Oktober 2019 von US-Truppen getötet wurde, schien der »Krieg gegen den Terror« einmal mehr beendet. Aber der Dschihadismus ist längst eine globale Bewegung geworden, der Dutzende von Organisationen angehören – und mit Gewalt allein ist ihr nicht beizukommen.
Seit drei Jahrzehnten verfolgt Asiem El Difraoui als Filmemacher, Journalist und Wissenschaftler diese Entwicklung. Er traf Kampfgefährten bin Ladens in Khartum und PR-Strategen, die in Berlin-Charlottenburg Propagandavideos produzierten. In Kriegsgebieten wie Bosnien, dem Irak oder in Afghanistan hat er selbst den Terror gegen die Bevölkerung miterlebt. Und immer wieder kam der Terror auch zu ihm, wie in Gestalt der Anschläge 1995 und 2015 in Paris, die sich in seiner unmittelbaren Nachbarschaft ereigneten.
Kenntnisreich und anschaulich schildert Difraoui, wie der Dschihadismus entstanden ist, wie seine Denkmuster und PR-Strategien sich gewandelt haben und woraus die Hydra ihre Kraft bezieht. Was macht die todbringende Ideologie gerade auch für junge Menschen in Europa attraktiv? Welchen Anteil hat der Westen, haben die Medien an ihrem Erfolg? Und wie kann es gelingen, ihre Macht zu brechen? Ein aufrüttelnder Appell, sich einer der größten Gefahren der Gegenwart zu stellen.

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Titel

Asiem El Difraoui

Die Hydra des Dschihadismus

Entstehung, Ausbreitung und Abwehr einer globalen Gefahr

Suhrkamp

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2021.

Erste Auflage 2021© Suhrkamp Verlag Berlin 2021Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Kartenzeichner: Peter Palm

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlaggestaltung: Brian Barth

eISBN 978-3-518-74808-4

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Die Hydra: Einleitung

I

. Die Hydra erwacht Geschichte des Dschihadismus

Ahnen und Wegbereiter

Die Hydra kommt nach Europa

Der Dschihad wird global

Brutstätte des

IS

 – das lange Leiden der Iraker

Dschihad reloaded – vom Arabischen Frühling zu Daesch

II

. Schleichwege der Hydra Woraus bezieht der Dschihadismus seine Kraft?

Der giftige Atem – Propaganda

Lebenswege

Menschen aus den Fängen der Hydra befreien – Prävention

Unsere Gesellschaft, wir und die »Anderen«

III

. Die Hydra global Aktuelle Herausforderungen

Neue alte Gefahrenherde

Der Sahel und Südostasien

Autoritäre Versuchungen

Europas internationale Verantwortung

Das Wesen der Hydra: Eine Debatte

Dank

Register

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Die Hydra: Einleitung

Paris, November 2015. Ein lauer Abend, es fühlt sich an wie im September. Ich bin mit einer Freundin verabredet, wir wollen ihre neue Wohnung und ihren neuen Job feiern mit einem Abendessen in einem gastro bistro. Das sind kleine Restaurants, die von jungen Küchenchefs betrieben werden und allerorten in Paris eröffnen.

Clown Bar, so lautet der Insidertipp für den Abend. Ich rufe mittags an, um einen Tisch zu reservieren, aber das Restaurant ist bereits ausgebucht. Zwei Kilometer weiter im Westen finden wir eine gute Alternative, feine, innovative Küche, lässig schicke Pariser an den anderen Tischen.

Es ist ein schöner Abend – bis ein junger Mann am Nebentisch auf sein Handy schaut: Nicht weit von hier habe es Anschläge gegeben, ruft er in den Raum, mit vielen Toten, vor allem im Konzertsaal Bataclan. Meine Begleitung und ich blicken uns an. Das Bataclan liegt gleich um die Ecke von der Clown Bar, wo wir eigentlich hinwollten. Fast jeder im Restaurant greift nach seinem Smartphone. Wie wir lesen, sind offenbar auch auf den Terrassen umliegender Bistros Menschen erschossen worden. Später erfahre ich, ein guter Freund war mitten im Kugelhagel – wie durch ein Wunder ist er unversehrt davongekommen, zumindest körperlich: Das Blutbad, bei dem er mit seiner Begleiterin, einer Ärztin, bis zum Eintreffen der Rettungssanitäter mehr als eine Stunde später Erste Hilfe leistet, wird ihn traumatisiert hinterlassen.

Nachrichten treffen ein über Anschläge vor dem Stade de France, wo gerade Frankreichs Fußballnationalmannschaft gegen Deutschland spielt. Drei Selbstmordattentäter sprengten sich davor in die Luft – zum Glück gelangten sie nicht in das mit rund 80000 Menschen gefüllte Stadion. Zunächst werden an diesem Abend zwanzig Tote gemeldet. Dann vierzig. Auf dem hastigen zehnminütigen Nachhauseweg sind es schon achtzig. Zu Hause angekommen: hundert. Die Attentäter, heißt es in den Medien, hätten »Allahu Akbar« geschrien.

In diesen Stunden erlebe ich ein Déjà-vu nach dem anderen. Mein Lieblingsrestaurant in Bagdad: von einem Selbstmordattentäter weggesprengt. Das Hotel Palestine in der irakischen Hauptstadt wurde ebenso wie das Pearl Continental mit dem schönen Garten in Peschawar, Pakistan, durch Sprengsätze verwüstet. Die Sinai-Halbinsel in Ägypten, wo ich tauchen lernte – von zahlreichen Anschlägen auf Hotels heimgesucht. Und nun hat es meine Wahlheimat Frankreich mitten ins Herz getroffen, die bei jungen Parisern so beliebten 10. und 11. Arrondissements. 130 Tote werden es am Ende sein.

Gegen ein Uhr nachts mache ich das Radio aus und höre Musik. Schlafen gehen, denke ich, der Morgen wird Rat bringen, bin aber völlig ratlos. Eigentlich wollte ich am nächsten Tag nach Clermont-Ferrand im Zentralmassiv zu einer kleinen Buchmesse fahren, die auf Reisebücher spezialisiert ist. Ich hatte mich lange darauf gefreut, dort mein politisches Reisetagebuch Ein neues Ägypten? vorzustellen. Nun ahne ich, dass ich in den nächsten Tagen nicht Herr meiner Zeit sein werde, das Telefon wird nicht aufhören zu läuten. Am nächsten Morgen, einem Samstag, erklärt Frankreichs Präsident Hollande den Ausnahmezustand. Der sogenannte Islamische Staat bekennt sich zu den Attentaten.

Zwei Tage nach dem Anschlag sind die Terrassen der Cafés, Bars und Bistros an den Boulevards Voltaire und Richard-Lenoir erneut brechend voll, auf den Trottoirs Menschenmassen. Die Pariser wollen sich nicht einschüchtern lassen – jetzt erst recht nicht. Sie wollen der Welt zeigen, dass sie auch durch die schlimmsten Attentate, die Frankreich je erlebt hat, nicht kleinzukriegen sind. Doch plötzlich fangen alle um mich herum an zu rennen, suchen Schutz in einer Tiefgarage, drängen sich hastig in Hoteleingänge. »Pas de panique, un peu de calme«, »Keine Panik, bleiben Sie ruhig«, versucht ein Barbesitzer seine Gäste, die in Richtung Toiletten flüchten, zu beruhigen. Die Straßen sind in wenigen Minuten menschenleer. Ein Gerücht hat die Menschen in Panik versetzt. »Der Polizist hat mich gewarnt, alle sollen sich in Sicherheit bringen, am besten den Bezirk verlassen!«, schreit ein junger Mann. Ob es so war oder ob vielleicht nur ein Feuerwerkskörper oder ein geplatzter Autoreifen die Massenpanik ausgelöst hat, Tatsache ist: Die Pariser haben ihre Lässigkeit, die Unbekümmertheit, das Vertrauen in den Alltag verloren.

In den nächsten Tagen meldet die Presse immer neue Fakten über die Attentäter. Es sind vor allem junge Franzosen und Belgier mit arabischen Wurzeln sowie ein Syrer, keiner ist älter als 31, die meisten um die 20 Jahre alt. Einer der Mörder stieg im Bataclan auf die Bühne und spielte Xylophon, bevor er mit einer Kalaschnikow weiter um sich schoss. Bis auf einen sind alle Attentäter tot.

Wie groß und international das Netzwerk ist, das für diese Taten verantwortlich ist, wird erst später herauskommen; es wird Untersuchungen und Festnahmen in mehreren europäischen Ländern geben. Und auch sie werden vom Terror erfasst. Er trifft Belgien, Südfrankreich und erreicht schließlich, im Dezember 2016, mit dem Attentat auf dem Breitscheidplatz in Berlin, auch in Deutschland einen Höhepunkt.

Begonnen hatte die Serie bereits im Januar 2015 mit den Anschlägen in Paris auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und den Hyper Cacher, einen jüdischen Supermarkt, bei denen 15 Personen starben, darunter meine mir persönlich bekannten Lieblingskarikaturisten Charb und Wolinski. In Nizza raste am 14. Juli des folgenden Jahres ein Laster mit voller Absicht in die Zuschauermenge, die sich auf der Promenade des Anglais versammelt hatte, um das Feuerwerk zum Nationalfeiertag zu verfolgen. Mehr als achtzig Menschen kamen ums Leben, darunter mindestens zehn Kinder. Vier Tage darauf wurden in einem Zug bei Würzburg vier Menschen durch die Messer- und Axtattacke eines jungen Mannes zum Teil schwer verletzt. Zu beiden Taten bekannte sich die Terrororganisation »Islamischer Staat«. Sechs Tage später sprengte sich im bayerischen Ansbach ein Syrer in die Luft. Die Polizei fand ein IS-Bekennervideo auf seinem Handy. Zwei Tage darauf stürmten zwei junge Männer eine Kirche in der Normandie, nahmen die fünf bei der Morgenmesse Anwesenden als Geiseln, ließen den Pfarrer niederknien und schlitzten ihm die Kehle auf. Sie filmten ihre Tat.

Noch schlimmer wütete der »IS« zur selben Zeit in Syrien und im Irak. 2014 hatte er die Millionenstadt Mossul im Irak erobert, eine Herrschaft des Terrors begann, die erst 2017 endete.

Als Politologe und Journalist habe ich mich auf die arabische Welt spezialisiert, weil mich der Kulturraum fasziniert. Weil ich mich mit der arabischen Kultur verbunden fühle. Und weil ich diese Welt sehr liebe. Mein Vater stammt aus Ägypten, ich bin in Deutschland geboren. In der arabischen Kultur gibt es so viel Schönes und Inspirierendes: ein reiches Erbe, dem Europa so viel zu verdanken hat, und damit meine ich nicht nur die Architektur von Kairo, Damaskus oder Granada, die Medizin, die Kunst, sondern auch eine lebhafte Jugendkultur. Es ist eine Welt voller Widersprüche, voller positiver Impulse, und ich wollte ihr mein berufliches Leben widmen. Dann kam der Dschihadismus.

Vor 30 Jahren begann ich mich mit dem Phänomen zu beschäftigen, zu einer Zeit, als es noch nicht Dschihadismus, sondern einfach Terrorismus genannt wurde. Im Lauf der Jahre reiste ich durch die islamische Welt, traf Dutzende von Dschihadisten und führte Interviews mit ihnen – in Afghanistan, Pakistan, Syrien, Saudi-Arabien, Ägypten, dem Libanon, dem Irak, aber auch in den Vororten von Paris, London, Bonn oder Frankfurt am Main. In Europa sprach ich mit zahlreichen Jugendlichen, die sich von der Gewaltideologie hatten verführen lassen. Als ich 2003 im Irak war, sah ich dann mit eigenen Augen, welche Zerstörung, welche Blutbäder der Terror anrichten kann. Einem Attentat bin ich nur knapp entkommen: Wenige Minuten bevor ich einen Checkpoint im kurdischen Teil des Iraks erreichte, hatte sich dort ein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt.

Mit den Anschlägen in meiner Wahlheimat Frankreich und in Deutschland kam mir der Dschihadismus dann noch näher, und ich begriff, wie tief die Gewaltideologie in unsere europäischen Gesellschaften vorgedrungen war. Wie hart es aber in den Folgejahren die arabische Welt selbst treffen sollte, hätte ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht ausmalen können. Denn bei allem Horror in Europa: Der Dschihadismus hat rund um den Globus Zehntausende von Menschen das Leben gekostet – die meisten von ihnen in der arabischen Welt und die große Mehrheit von ihnen Muslime.

Spätestens seit den Anschlägen des 11. September 2001, bei denen fast 3000 Menschen getötet wurden, und George W. Bushs darauf folgender Ankündigung eines »Kreuzzugs gegen das Böse« sollte uns eigentlich bewusst sein, dass der Dschihadismus in die Geschichte eingehen und die Welt verändern würde. Aber selbst nach der US-Invasion im Irak 2003, den Attentaten in Madrid 2004 und London 2005, die 247 Menschen das Leben kosteten, hielt sich das Wunschdenken, es handle sich um eine vorübergehende Erscheinung. Der eigentliche Krieg fand schließlich in weit entfernten, fremden Ländern voller »unzivilisierter« Völker statt.

Als fast ein Jahrzehnt nach dem 11. September, am 2. Mai 2011, amerikanische Eliteeinheiten Osama bin Laden auf seinem gut getarnten und gesicherten Anwesen in Abbottabad in Pakistan aufspürten und töteten, meinten viele, die dschihadistische Gefahr sei gebannt. Umso größer war für sie der Schock, als der »Islamische Staat« bald darauf ein Territorium von der Fläche Großbritanniens unter seine Kontrolle brachte. Nach den Attentaten von Paris und Brüssel und dem Anschlag am Breitscheidplatz in Berlin begannen wir allmählich, die Tragweite der Bedrohung nicht zuletzt für unsere Gesellschaft zu begreifen, denn nun waren es auch unsere Kinder, die in den vermeintlichen Dschihad zogen.

Heute, zwei Jahrzehnte nach dem 11. September, liegt das Pseudokalifat des IS in Trümmern. Im Oktober 2019 wurde der selbsternannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi wie acht Jahre zuvor Osama bin Laden von US-Truppen getötet. Bereits im Februar 2019 hatte der damalige US-Präsident Donald Trump den Sieg über die Terrormiliz im Irak und in Syrien verkündet. Erneut wurde die Hoffnung geschürt, diesmal sei die Gefahr endgültig überwunden. Doch selbst der damalige Leiter der United States Intelligence Community, Dan Coats, warnte wie viele seiner westlichen Kollegen, dass der IS eine Bedrohung bleiben würde: Tausende seiner Kämpfer, die Erfahrungen in einem jahrelangen Guerillakrieg voll blindem Terror hatten sammeln können, waren abgetaucht; sie hatten versteckte Waffenlager angelegt und Geld gehortet. Und sie verfügen über eine Propagandamaschinerie, die weiterhin effektiv funktioniert.

Zu lange richteten wir zudem unser Augenmerk auf den IS wie zuvor auf Al-Qaida. Der Dschihadismus ist jedoch längst eine weltweite Bewegung, der Dutzende von Organisationen angehören: Boko Haram in Nigeria, Al-Shabaab in Somalia oder Abu Sayyaf auf den Philippinen, um nur einige zu nennen. Am Ostersonntag 2019 ermordete die »Bewegung für die Einheit Gottes« in Sri Lanka bei Anschlägen auf drei Hotels und drei Kirchen über 250 Menschen. Die lokale Terrorgruppe, die sich dem IS angeschlossen hatte, war selbst den meisten Spezialisten unbekannt.

Die Taliban in Afghanistan sind hingegen allen bekannt. Dass auch sie eine dschihadistische Bedrohung und weltweit eine Inspiration für andere Gruppen sind, rückte erst durch ihre historische Machtübernahme in Afghanistan – mit der Eroberung Kabuls am 15. August 2021, knapp zwei Jahrzehnte nach dem 11. September – wieder ins öffentliche Bewusstsein.

»Ihr Europäer, ihr Deutschen seid naiv; der Dschihadismus ist noch lange nicht besiegt«, erklärte mir bereits im August 2019 ein irakischer Offizier in Mossul. Und damit meinte er nicht allein die andauernden Anschläge in seinem Heimatland oder im benachbarten Syrien, auch nicht die Tausenden nach Europa und Deutschland zurückkehrenden ehemaligen Kämpfer. Nein, das Schlimmste sei, dass die todbringende Ideologie mittlerweile den gesamten Globus infiziert hat.

Tatsächlich breitet sich ihr Gedankengut in den Gesellschaften der ganzen Welt, auch in Europa, weiter aus. Junge Menschen in Deutschland und in anderen europäischen Ländern werden heute oft im Verborgenen zu gewalttätigen Extremisten – dies zeigten die Anschläge in Paris, Wien und Dresden 2020 sowie Würzburg im Sommer 2021 erneut.

Der Dschihadismus trägt zur Spaltung der Gesellschaft bei und nährt den Populismus. Terror und Angst treiben immer mehr Menschen in die Fänge von extremistischen, identitären, religiösen, nationalistischen Ideologien. Wenn der Pseudostaat IS in seiner Propaganda damit geprahlt hat, den Brexit und die Wahl von Donald Trump als seine Siege verbuchen zu können, so liegt in der Übertreibung doch ein wahrer Kern. Dschihadismus, Populismus und Rechtsextremismus befeuern sich gegenseitig.

Mit den epochalen Herausforderungen, vor die uns der Dschihadismus stellt, werden wir noch jahrzehntelang konfrontiert sein und uns geduldig, aber hartnäckig zur Wehr setzen müssen. Es ist ein derart komplexes und schwer greifbares Phänomen, dass immer wieder Sinnbilder benutzt werden, um es anschaulich zu machen.

Der Schriftsteller Abdelwahab Meddeb hat den Dschihadismus als die »Krankheit des Islam« bezeichnet. Vielleicht ist das Bild eines »Parasiten« stimmiger, eines Parasiten, der sich von seinem Wirt ernährt, ihm dabei großen Schaden zufügt und auf andere Wirte überspringt – denn der Dschihadismus hat immer weniger mit dem Islam zu tun.

Ich habe für dieses Buch das Bild der Hydra gewählt: Das mythische Ungeheuer, eine Mischung aus Schlange und Drachen, besitzt gemäß verschiedenen Überlieferungen zwischen neun und fünfzig Köpfe. Jeder hat ein Schlangenmaul mit scharfen Zähnen und gespaltener Zunge. Schon ein Hauch seines giftigen Atems ist tödlich. Das Ungeheuer lebte in den Sümpfen von Lerna, die es verließ, um Felder zu verwüsten und Herden zu reißen.

Die Hydra zu besiegen war eine der zwölf sagenhaften Aufgaben des Herkules. Er lockte das Schlangenwesen aus seinem Versteck und versuchte, die vielen Köpfe einzeln zu zerschmettern, doch sofort wuchsen zwei neue nach. Auch der Hydra Dschihadismus wuchsen nach jedem militärischen Sieg in den letzten drei Jahrzehnten, ob in Afghanistan, im Irak oder in Syrien, jedes Mal noch mehr Köpfe aus ihrem totgesagten Leib.

Metaphern wie Monster und Fabelwesen sind so alt wie die Menschheit und nie perfekt. Doch sie nehmen, indem sie der Bedrohung Anschaulichkeit verleihen, ein wenig auch die Angst vor ihr. In diesem Buch versuche ich, die schwer fassbare Gestalt der Hydra Dschihadismus zu definieren, zu erklären, wo und wie sie entstanden ist und mit welchen Methoden sie sich ausgebreitet hat. Wie sie sich nährt, in welcher Umgebung sie gedeiht und wie sie es schafft, Menschen zu verführen. Ich möchte auch betrachten, wie man sie schwächen und hoffentlich besiegen kann.

Im ersten Teil schildere ich die Entstehung und Ausbreitung des Dschihadismus. Wie hat er sich in der arabisch-islamischen Welt herausgebildet, wie griff er auf Europa über? Ich beginne mit den Vorläufern, dem im 18. Jahrhundert in Saudi-Arabien entstandenen Wahhabismus sowie dem Vordenker Sayyid Qutb in Ägypten, diskutiere dann die Genese der heutigen Ideologie, die ihr geistiger Vater, Abdallah Azzam, nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan auch in die Praxis umsetzte. Ein Konflikt, in dem die Haltung des Westens die Geburt des Dschihadismus begünstigt hat. Es folgen historische Begebenheiten, die für die Verbreitung des Dschihadismus in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts entscheidend waren: Osama bin Ladens Tätigkeit im Sudan, die Entwicklung Londons zu einem dschihadistischen Brückenkopf, der Bosnienkrieg sowie der Bürgerkrieg in Algerien, Ursache der ersten Attentatsserie in Europa. Mit Al-Qaida und den Vorbereitungen zu den weltverändernden Anschlägen des 11. September 2001, dem von George W. Bush proklamierten »Krieg gegen den Terror« sowie der US-Invasion im Irak 2003 setzte eine Globalisierung des Dschihadismus ein, die schließlich den Aufstieg des IS im Gefolge des Arabischen Frühlings 2010 ermöglichte. Dieser historische Teil endet mit dem Sieg über das vermeintliche Kalifat des IS in Syrien und im Irak 2019.

Teil zwei geht der Frage nach, warum so viele Menschen in die Fänge der Hydra geraten sind und was sich ihrer verführerischen Kraft entgegensetzen lässt. Ich beschreibe Geschichte und Funktionsweise des Mediendschihad und zeige Möglichkeiten auf, die so gefährliche Propagandawaffe zu entschärfen. Die Lebenswege von Dschihadisten und Dschihadistinnen aus mittlerweile fünf Generationen machen deutlich, wie unterschiedliche Faktoren bei der Radikalisierung zusammenwirken. Wie können wir Menschen aus dem Extremismus zurückholen, sie »deradikalisieren«? Und wie verhindern wir, dass weiterhin Menschen dem Extremismus verfallen? Es geht um unterschiedliche Methoden und Ansätze der Prävention, um ihre Möglichkeiten, aber auch um ihre Grenzen; es geht um Erfolge, Irrwege und hoffnungslose Fälle; und es geht darum, welche vorbeugenden Maßnahmen wir auf gesellschaftlicher Ebene treffen können, nicht zuletzt um zu verhindern, dass sich Dschihadismus und Rechtsextremismus weiter wechselseitig befeuern und unsere Gesellschaft spalten.

Der dritte Teil widmet sich aktuellen internationalen Herausforderungen. Beginnend im Geburtsland des Dschihadismus, dem Krisenherd Afghanistan, über die arabischen Brennpunkte in Syrien und im Irak, in Ägypten und dem Jemen, bis zum Sahel. Diese riesige Region droht von einem dschihadistischen Flächenbrand verschlungen zu werden. Anschließend stelle ich zwei Länder vor, die in Sachen Dschihadismus kaum im Fokus stehen, die Philippinen und Indonesien, und diskutiere die besonderen Gefahren autoritärer Methoden bei der Bekämpfung des Dschihadismus; China ist ein Beispiel, wo dieser Kampf als Vorwand zur Unterdrückung der Uiguren dient. Es folgen Anregungen, wie Europa seine internationale Verantwortung wahrnehmen kann, um gegen den Dschihadismus vorzugehen: durch eine konsequente gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, durch Unterstützung besonders betroffener Länder bei der Errichtung rechtsstaatlicher Strukturen – auch einer Übergangsjustiz – oder durch Wirtschaftsförderung. Die Entstehung funktionierender Zivilgesellschaften ist das Ziel.

Zum Schluss greife ich die teils heftige Debatte über die innere Natur des Dschihadismus auf: Ist sein Kern die »Radikalisierung des Islam« oder die »Islamisierung der Radikalität«? Eine Spätfolge des Kolonialismus? Eine Auflehnung gegen westliche Werte? Oder ist er eher von seinem Heilsversprechen aus zu verstehen, der Verheißung auf persönliche Erlösung? Dabei geht es um viel mehr als um eine theoretische Debatte. Letztendlich geht es um die Prioritäten im Kampf gegen den Dschihadismus – um die Frage, wie die Hydra sich bezwingen lässt.

I. Die Hydra erwacht Geschichte des Dschihadismus

Die Medien verquicken häufig die Begriffe »Islamismus«, »Salafismus« und »Dschihadismus«.1 Der Begriff »Islamismus« ist jedoch extrem weit gefasst und kennzeichnet alle Strömungen, die Elemente des Islam für eine Grundlage der politischen und gesellschaftlichen Systeme und für eine mögliche Antwort auf deren Probleme halten: Es wird eine religiös legitimierte Staats- und Gesellschaftsordnung angestrebt, die den Islam als Richtschnur für das Individuum wie für das gesellschaftliche und politische Leben gleichermaßen begreift.2

Zu den Islamisten zählen die Anhänger sehr unterschiedlicher Gruppierungen – die 1928 in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft, die erste und lange Zeit größte politische Massenbewegung im Islam; deren Ableger wie die in Tunesien bis vor Kurzem mitregierende Ennahda-Partei, die sich zur Demokratie bekennt; die AKP in der Türkei; die schiitische Hisbollah; aber auch das Regime der Ajatollahs im Iran – und eben auch Salafisten und Dschihadisten.

Der Salafismus ist für das Verständnis des Dschihadismus von entscheidender Bedeutung: Er ist eine ultrakonservative Strömung des sunnitischen Islam, die den Koran und die Überlieferungen des Propheten als einzige Quellen des »wahren Glaubens« betrachtet und das muslimische Leben nach dem Vorbild Mohammeds und seiner Weggefährten, also eines vermeintlichen Ur-Islam, reformieren möchte. Salafisten verfechten eine wörtliche Interpretation des Heiligen Buches und lehnen die mehr als tausend Jahre islamischer Rechtsprechung und Philosophie ab.

Der Begriff »Salafismus« leitet sich von salaf al-salih ab, was »fromme Altvordere« bedeutet. Damit sind die Gefährten des Propheten und exemplarische Muslime aus der Frühzeit gemeint. Der Salafismus gilt als die am schnellsten wachsende Strömung des sunnitischen Islam sowohl im arabischen Raum als auch in Europa. Er ist keine homogene Bewegung, sondern hat sehr unterschiedliche Ausprägungen. Drei Gruppierungen lassen sich unterscheiden: Ein Großteil der Salafisten leistet zumeist friedliche, gewaltlose Missionierungsarbeit und ist apolitisch. Andere streben die Errichtung eines islamischen Staates an, um eine gottgefällige Gesellschaftsordnung zu schaffen. Die kleinste Untergruppierung der Salafisten will einen islamischen Gottesstaat mit Gewalt durchsetzen.

In dieser extremistischen Ausprägung ist der Salafismus der Einstieg in den Dschihadismus. Extremistische Islamauslegungen der Salafisten bilden generell dessen geistigen Nährboden. Die Auslegungen wurden zumeist von arabischen Autoren auf Grundlage der im 17. Jahrhundert entstandenen saudischen Doktrin des Wahhabismus entwickelt, sie sind aber heute in fast allen europäischen Sprachen zu finden. Aus diesen Interpretationen entstanden drei für den Dschihadismus relevante Kernkonzepte: al-wala wal-bara, taghut und takfīr.

Al-wala wal-bara bedeutet die alleinige Loyalität gegenüber Muslimen und die strikte Ablehnung von Nichtmuslimen. So wird fast automatisch ein Feindbild geschaffen. Der taghut, die Götzenanbetung, weitet die klassische sunnitische Idee radikal aus, dass neben Gott keine anderen Gottheiten oder Heiligen verehrt werden sollen. Zur Götzenanbetung wird jedwede Akzeptanz von Prinzipien und Verpflichtungen, die nicht ausdrücklich im Koran, in der Sunna oder den Hadithen – den gesammelten Überlieferungen des Propheten – gutgeheißen werden. Demokratie und alle nicht im Islam verankerten Staatsformen und Rechtssysteme gelten somit als Götzen. Muslime, die diese Systeme unterstützen, machen sich der Götzenanbetung schuldig. Sie sind keine Muslime mehr, sondern werden in der Praxis des takfīr exkommuniziert: Sie werden zu kuffar, Ungläubigen, und sind für die gewaltbereiten Extremisten, also die Dschihadisten, vogelfrei. Dschihad gegen sie zu führen wird zur Pflicht.

Das Wort dschihad stammt vom arabischen Verb dschahada: »eine große Anstrengung unternehmen«. Im Islam hat das Konzept des Dschihad vielfältige Bedeutungen: Der Konsensus der Rechtsgelehrten im Sunnismus, der größten Glaubensrichtung im Islam, unterscheidet zwischen dem »großen« und dem »kleinen Dschihad«. Der »große Dschihad« bedeutet eine große innere Anstrengung, um ein besserer Mensch und Gläubiger zu werden – er ist mithin ein humanistisches Konzept. Als »kleiner Dschihad« wird der bewaffnete Kampf bezeichnet; hierauf reduzieren die Dschihadisten das Konzept des Dschihad. Er ist für sie das wichtigste Instrument zur Lösung von Problemen in der muslimischen Welt und der Weg zur persönlichen Erlösung: der schnellste Weg ins Paradies. Auf die Verformung des Konzepts des Dschihad und die dschihadistische Heilslehre werde ich noch genauer eingehen.

Kurz gesagt haben Salafismus und Dschihadismus eine gemeinsame Schnittmenge: die der radikalen Interpretation des Islam. Während die meisten Salafisten diese jedoch zumeist gewaltfrei durch Predigertum, dawa, den Ruf zum Islam, umsetzen wollen, wählen die Dschihadisten den bewaffneten Kampf und den Terror als Mittel.

Dschihadisten lassen sich eindeutig als Extremisten definieren, da sie bestehende Gesellschaftsordnungen und vor allem freiheitlich-demokratische ablehnen und mit Gewalt bekämpfen. Den in Deutschland häufig gebrauchten Begriff Islamistischer Extremismus werde ich in diesem Buch nur sparsam benutzen. Er ist oft zu unpräzise und vermengt etwa den Staatsterrorismus des iranischen Regimes und Gewaltakte der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah mit dem sunnitischen Dschihadismus.

Ein anderer Ausdruck hingegen, der in Deutschland weniger bekannt ist, den aber IS-Gegner in der arabischen Welt sowie englische und französische Medien zur Benennung der Terrororganisation nutzen, wird häufiger vorkommen: Daesch. Es ist das arabische Akronym für »Islamischer Staat im Irak und in der Levante«. Der Begriff wurde von einem jungen syrischen Aktivisten erfunden.3 Abkürzungen und Akronyme sind in der arabischen Sprache nicht gängig und unbeliebt, zumal »Daesch« wie das arabische Wort für »zertrampeln« klingt. Indem man also die bei der Terrorgruppe verhasste Abkürzung verwendet und nicht den Namen, den sich die Organisation selbst gegeben hat, weist man ihren Herrschaftsanspruch als »Islamischer Staat« zurück. Denn es handelt sich weder um einen Staat, noch agiert sie im Namen des Islam. Daesch hat bei seiner vermeintlichen Staatsbildung ein Land und dessen Ideologie als Vorbild: Saudi-Arabien.

Ahnen und Wegbereiter

Seit dem 1945 auf dem Kreuzer USS Quincy geschlossenen Abkommen zwischen Abd al-Aziz ibn Saud und US-Präsident Franklin D. Roosevelt ist Saudi-Arabien ein enger Verbündeter der USA und des Westens im Allgemeinen. Zugleich war und ist das Königreich einer der wichtigsten Wegbereiter des Dschihadismus. Der Wahhabismus, die hier vorherrschende Strömung des Islam, fordert mit reaktionärer Intoleranz die Unterwerfung von Andersgläubigen und ist trotz Reformen immer noch Staatsideologie. Mit ihren Petromilliarden und ihren globalen Propagandainstrumenten wie der Islamischen Weltliga konnten die Saudis den Wahhabismus – oder besser gesagt: dessen Hybris, den Salafismus – in den letzten Winkel der Erde tragen, auch in die westlichen Metropolen. Der Pakt mit den USA macht das Herrscherhaus unantastbar.

Bis heute dient der Wahhabismus als Rechtfertigung für die Herrschaft der saudischen Monarchie. Ohne ihn und die Behauptung, der Koran sei die Verfassung des Landes, würde der saudische Machtanspruch unterhöhlt. In Riad, der Hauptstadt Saudi-Arabiens, streben zwar glitzernde Wolkenkratzer gen Himmel, mit Shoppingmalls und edlen Boutiquen, die denen in London oder Paris in nichts nachstehen. Aber dass die Frauen sich Luxusdessous in den Schaufenstern immer noch überwiegend vollverschleiert mit Niqab und Abaya anschauen oder dass sie, obwohl in Saudi-Arabien mehr Frauen als Männer einen Universitätsabschluss besitzen, erst seit Kurzem und nur unter bestimmten Bedingungen Auto fahren dürfen – all das ist auf die wahhabitische Islam-Interpretation zurückzuführen. In Saudi-Arabien wird die Todesstrafe durch Enthauptung mit dem Schwert vollstreckt, auch Kreuzigungen sind erlaubt.

Vor mehr als 15 Jahren war ich das letzte Mal dort, um – unter dem Vorwand eines Berichts über die Pilgerfahrt – eine Reportage über Intoleranz und die architektonische Zerstörung zu drehen.4 Die einst so malerische und verwinkelte Gebirgsstadt Mekka glich wie Medina einer Betonwüste, mit einem Touch von islamischem Disneyland.

Der Wahhabismus als geistiger Ahne: Saudi-Arabien

Medina, März 2005. Als Journalist darf man sich nicht ohne staatliche Aufpasser im Land bewegen. Unser Begleiter aus dem Informationsministerium heißt Hassan. Er will dem mit wahhabitischem Gedankengut durchdrungenen saudischen Volk an diesem Vormittag einmal so richtig aus der Seele reden, vorher aber noch einen Abstecher zu McDonald’s machen. Dass es in diesem Vorort der heiligen Stadt Medina überhaupt eine Filiale des amerikanischen Schnellrestaurants gibt, wundert mich, aber Saudi-Arabien ist reich an solchen Widersprüchen.

Hassan beißt in seinen doppelten Cheeseburger, ohne auch nur einen Ketchupfleck auf seinem makellos weißen Gewand zu hinterlassen. Selbst dann nicht, als er mit der einen Hand den Burger schwenkt, die andere zu einer Pistole formt und diese auf seine Schläfe richtet, während er erklärt: »Nimm mich mit in den Irak, nach Falludscha, zum Dschihad gegen die Amerikaner. Ein Schuss in den Kopf, und ich bin sofort im Paradies.«

Als wir anschließend auf der vierspurigen Autobahn nach Mekka fahren, werden wir vom Anblick der monumentalen Betonbögen über der Fahrbahn, die den aufgeschlagenen Koran darstellen sollen, fast erschlagen. Selbst von den Bergen rings um die Stadt ist die Große Moschee nicht mehr zu sehen, geschweige denn die Kaaba mit den vielen tausend weiß gewandeten Pilgern, die sie umrunden. Rings um das »Herz des Glaubens« stehen riesige Hochhäuser und Luxushotels, in denen man im Gegensatz zum Rest der Stadt auch rauchen darf. Von ihren Suiten mit Kingsizebetten aus brauchen vermögende Pilger nur wenige Schritte zu tun, um mit dem Fahrstuhl in die Lobby und von dort aus per Rolltreppe vor das Heiligtum zu fahren.

Die ehemalige Handelsstadt Mekka ist der Geburtsort des Propheten und beheimatet mit der Großen Moschee und dem schwarzen Kubus, der Kaaba, den heiligsten Ort des Islam. In der Oasenstadt Medina wurde die erste muslimische Glaubensgemeinschaft in der hidschra, der Auswanderung, dem zeitweiligen Exil des Propheten, gegründet. Beide Städte liegen im westlichen Saudi-Arabien in der Region Hedschas unweit der bis heute wichtigen Hafenstadt Dschidda. Sie waren geprägt von einer Weltoffenheit, die vor allem durch die hadsch entstand: die Pilgerreise der Gläubigen nicht nur aus Arabien, sondern aus der gesamten islamischen Welt, aus Afrika, Indien, Indonesien oder den Philippinen. Einige ließen sich hier nieder und brachten ihre lokalen Traditionen, Kulturen und Islamauslegungen mit, bis der Wahhabismus alles zunichtemachte.

Die Bewegung geht zurück auf den muslimischen Gelehrten Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703-1792): ein Mann aus dem Nadschd, einer der isoliertesten Wüstengegenden Zentralarabiens, weit weg von den intellektuellen Zentren des Islam. Er predigte eine puristische Rückkehr zu der Gründungszeit der Religion, zum Islam der Sunna, zu den Überlieferungen des Propheten Mohammed und der ersten vier Kalifen, der sogenannten rashidun, der »Rechtgeleiteten«, als der Einzigen, die sich nicht vom Weg Mohammeds abgewendet hätten. Nur ein vermeintlich reiner Islam ohne verbotene Erneuerungen könne die Glorie der Religion wiederherstellen, und alles, was von einer wörtlichen Auslegung der heiligen Schriften abweiche, sei Häresie.

Die puristische Islamauslegung Abd al-Wahhabs ist stark von den lokalen Bräuchen seiner Provinzheimat, etwa der Vollverschleierung von Frauen, beeinflusst. Vermutlich auch deswegen gelang es ihm, das ebenfalls aus Zentralarabien stammende, bis dahin unbedeutende Herrscherhaus der Al Sauds für seine Interpretation des Glaubens zu gewinnen. So entstand das Bündnis zwischen den Schwertern der Saudis und den Schreibfedern Al-Wahhabs, seiner Nachkommen und Schüler: Die Saudis erhielten durch die Gelehrten politische Legitimität als die einzigen wirklich islamischen Herrscher auf der arabischen Halbinsel. Im Gegenzug versprachen diese, unter den Araberstämmen die extremistische Islaminterpretation der Wahhabiten zu verbreiten – auch mit Waffengewalt. Die Wahhabiten töteten zu Beginn des 20.Jahrhunderts Tausende von Menschen, darunter unzählige Sufis, weil diese Anhänger eines mystischen Islam in ihren Augen keine Muslime sind.

Abd al-Wahhabs Ideologie verlieh den Handlungen der saudischen Krieger durch die Behauptung, sie würden für den »wahren Islam« kämpfen, sowie das darin enthaltene Paradiesversprechen einen höheren Sinn und ermöglichte den Saudis, über traditionelle Stammesgrenzen hinweg Anhänger zu rekrutieren. Unter dem Deckmantel dieser Ideologie konnten die Saudis schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts den größten Teil der Arabischen Halbinsel erobern. Mit dem Sieg über das Königreich Hedschas im Jahr 1925 fiel der Dynastie ihre wichtigste Kriegsbeute in die Hände: die heiligen Städten Mekka und Medina.

De facto strich Al-Wahhab mit seiner Feder das Goldene Zeitalter und die weltoffene Hochkultur des Islam aus der Geschichte. Die Blütezeit mittelalterlicher islamischer Kultur etwa in Granada, Kairo, Bagdad oder Damaskus war für ihn der Inbegriff von Dekadenz und Korrumpierung der göttlichen Offenbarung. Abd al-Wahhab sprach nicht nur dem Erbe von mehr als einem Jahrtausend islamischer theologischer Reflexion, Koran-Interpretation, Philosophie und Rechtsprechung jede Bedeutung ab, sondern auch der Literatur, Kunst oder Musik. Wer annimmt, die Zerstörung von Weltkulturerbe hätte mit den Taliban und der Zerstörung der Buddhastatuen von Bamiyan angefangen und sei dann durch Al-Qaida in Timbuktu oder den IS in Palmyra oder in Ninive fortgesetzt worden, täuscht sich. Schon die Wahhabiten vernichteten seit der Entstehung der Bewegung im 18. Jahrhundert ein über tausendjähriges islamisches Kulturerbe – ausgeschmückte Moscheen, die Gräber und Mausoleen der Gefährten des Propheten –, da es sich bei diesen Monumenten um unerlaubte Neuerungen handle, die der im Wahhabismus verbotenen Götzenanbetung dienten. Sie verneinten und zerstörten Kultur und Tradition, um sie besser verfälschen zu können – genau wie später ihre Sprösslinge, die Dschihadisten. Und dabei machten sie selbst vor den zwei heiligsten Städten des Islam, Mekka und Medina, nicht halt, auf die sich täglich die Blicke von Milliarden von Muslimen richten.

Was genau die Saudis an Kulturerbe ausgelöscht haben, wird sich wohl nie mehr vollständig eruieren lassen. In Mekka und Medina blieben lediglich die großen Moscheen erhalten, allerdings völlig umgebaut. Die Kaaba wurde »renoviert«: Das Innere des Heiligtums wurde ausgehoben, archäologische Schätze aus mehr als tausend Jahren vorislamischer Geschichte in Bausäcke gefüllt und mit Helikoptern über dem Meer ausgeschüttet. Die letzten historischen Gebäude, etwa die Osmanische Zitadelle, wurden 2002 abgerissen, um Platz zu schaffen für den riesigen Palast der saudischen Könige und den königlichen Uhrenturm, ein 601 Meter hohes Luxushotel, das Big Ben nachempfunden ist.

Ich bin mit Sami Angawi verabredet, der mich durch Mekka führen will, so wie es seine Familie schon seit Generationen mit islamischen Pilgern tat. Angawi ist einer der berühmtesten Architekten Saudi-Arabiens, kein Wahhabit, sondern ein weltoffener Sufi – wie bis zur saudischen Eroberung des Hedschas im Jahr 1924 die meisten Menschen hier. Für ihn ist neben der Zerstörung der Stadt vor allem der ideologische Missbrauch der heiligen Stätten eine Katastrophe: »Dabei ist Mekka das Zentrum der Welt, das Herz des Glaubens, das Herz der Menschheit – ein Licht in der Mitte der Dunkelheit, das Menschen leiten kann.« Die Wendung »intellektueller Terrorismus« fällt.

In Angawis Augen sollte Mekka eigentlich ein Vorbild der Toleranz sein, doch das Gegenteil ist der Fall: Bereits bei Kindern wird in der Schule die Angst vor Hölle und Fegefeuer geschürt. Die wahhabitischen Religionsuniversitäten in Mekka und Medina indoktrinieren jährlich Tausende von Studenten mit der saudischen Islaminterpretation, auch aus Europa, auch aus Deutschland. Ein prominentes Beispiel ist der Salafist Pierre Vogel. Der ehemalige Boxer aus dem Rheinland soll ab 2004 drei Semester in Mekka studiert haben. Und trotz autoritärer Reformbemühungen ist das saudische Königshaus in seiner eigenen ideologischen Falle gefangen: Den Dschihadismus kann es nicht wirklich verurteilen, denn die Wahhabiten waren und sind dessen geistige Wegbereiter – sie rechtfertigten, unterstützten und finanzierten den Kampf gegen die sowjetische Besetzung Afghanistans, später in Bosnien und anfangs auch gegen das Assad-Regime in Syrien. Im Widerspruch dazu steht das historische Bündnis mit den »ungläubigen« Amerikanern, weshalb zahlreiche dschihadistische Gruppen, allen voran Al-Qaida, 2006 Saudi-Arabien selbst zum Anschlagsziel erklärt haben und eine blutige Kampagne starteten, bei der mehrere Hundert Menschen starben.5

Hassan, der mir bei McDonald’s erklärte, wie gern er in den Dschihad ziehen würde, hätte als Staatsdiener eigentlich die offizielle Linie vertreten müssen, wonach der Dschihad gegen die Amerikaner im Irak nicht legitim ist. Doch das Königreich Saudi-Arabien ist ein Nährboden, auf dem der Dschihadismus über Jahrhunderte gedeihen konnte – durch wahhabitische Intoleranz. Aus keinem anderen arabischen Land sind mehr Freiwillige nach Syrien und in den Irak geströmt: Mindestens 2500 Saudis sollen für Daesch gekämpft haben.6

Dutzende extremistischer Denker aus der islamischen Welt schöpften aus dem Wahhabismus, um die Ideologie des Dschihadismus zu schaffen. Einer der wichtigsten Ideologen war der Ägypter Sayyid Qutb.

Der Dschihad ist die einzige Lösung: Sayyid Qutb, Ägypten

Kairo, Mai 2016. Für die sonst so chaotische, übervolle und so lärmende ägyptische Hauptstadt ist es in der baumgesäumten Seitenstraße im Stadtteil Mohandessin sehr ruhig. Hier stehen kleine, zwei- oder dreigeschossige Häuser aus den fünfziger und sechziger Jahren, die sich kaum voneinander unterscheiden. Eines von ihnen wird von zwei auffällig unscheinbaren Polizisten in Zivil bewacht. Im ersten Stock, in einer mit Teppichen und teuren Sofas und Kommoden im »ägyptischen Barock« dekorierten Wohnung treffe ich einen Mann mit kurzen grauen Haaren. Der ältere Herr – sein genaues Alter will er mir nicht sagen – trägt eine weiße Dschallabija, das traditionelle ägyptische Gewand, eine Bedienstete bringt uns auf einem Silbertablett Tee.

»Dschihadismus kann man nicht nur mit Gewalt begegnen. Jahrelang wurden Extremisten einfach ins Gefängnis geworfen, aber wir brauchen den Dialog, um zu überzeugen, dass Gewalt keine Lösung ist.« Mein Gesprächspartner klingt wie ein Menschenrechtsaktivist.

Zum Zeitpunkt unserer Unterhaltung sitzen 30000 bis 40000 Muslimbrüder in den Gefängnissen des ägyptischen Regimes unter Feldmarschall Abdel Fattah al-Sisi. Drei Jahre zuvor haben die Militärs den ersten frei gewählten ägyptischen Präsidenten, den Muslimbruder Mohammed Mursi (1951-2019), nach Großdemonstrationen abgesetzt. Und gleichgültig, ob Mitglieder der Bruderschaft gewaltbereite Extremisten waren oder nicht, sie landeten massenhaft im Gefängnis.

»Finden Sie das gerechtfertigt, Onkel?«, frage ich meine Gegenüber. »Onkel« ist eine ägyptische Höflichkeitsanrede – allerdings nur für Person, die man lange kennt. Und ich kenne Fouad Allam schon, solange ich denken kann, er war ein enger Freund meines verstorbenen Vaters. »Was sollten wir denn machen?«, antwortet er: »Die Muslimbrüder haben seit Jahrzehnten einen geheimen bewaffneten Flügel, der Dutzende von Attentaten organisiert hat und der bekämpft werden muss. Es ist eine schwierige Gratwanderung.«

Mir wird wieder bewusst, wem ich gerade gegenübersitze. General Fouad Allam ist kein Aktivist, sondern war jahrelang Chef der gefürchteten Staatssicherheit. Und er macht es sich heute einfach. Er und der Rest der Machtelite hätten bereits damals versuchen sollen, das Land zu demokratisieren, dann wäre dem Extremismus der Boden entzogen worden. Auch wenn er eingesteht, dass Fehler gemacht wurden, betont der General, den Dschihadismus hätte es nie gegeben ohne die extremistischen Elemente der Muslimbrüder – darunter maßgeblich deren Führer Sayyid Qutb (1906-1966), den er kannte und als ausgesprochen höflich und gebildet bezeichnet.

Aber dafür, dass die Überzeugungen von Sayyid Qutb und seinen Nachfolgern auf fruchtbaren Boden fielen, schufen die Potentaten Ägyptens und anderer arabischer Länder erst die Voraussetzungen. In Ägypten waren das vor allem die Präsidenten Gamal Abdel Nasser (1918-1970) und Anwar el-Sadat (1918-1981). Sie tragen eine erhebliche Mitverantwortung an der Entwicklung des Dschihadismus. Bereits ihnen diente General Fouad Allam.

Die autoritären Regime untersagten fast sämtliche weltlich orientierten Parteien, Moscheen waren praktisch die einzigen erlaubten öffentlichen Versammlungsräume. In diesem politischen Klima konnten sich nur religiöse Bewegungen wie die Muslimbruderschaft zu mächtigen Oppositionsgruppen entwickeln. Nachdem die Bruderschaft ebenfalls unterdrückt wurde, radikalisierten sich einige ihrer Führer so weit, dass sie später von Al-Qaida und Daesch als ihre geistigen Ahnen angesehen wurden. Allen voran Sayyid Qutb, der, ehe er bornierter Vordenker des Dschihadismus wurde, Journalist und Literaturkritiker war und den Ägyptern den späteren Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus bekannt machte.

Angewidert vom dekadenten, moralisch verdorbenen Westen kehrte Qutb1951 von einem Studienaufenthalt in den USA nach Ägypten zurück und engagierte sich bei den Muslimbrüdern. Er wurde schnell zu einer ihrer einflussreichsten Führer und forderte eine Reform des Landes gemäß konservativen islamischen Werten zu einem »Islamischen Staat«. Wie genau ein solcher Staat aussehen und funktionieren soll, präzisierte er ebenso wenig wie spätere Islamisten. Qutb gelangte jedoch bald zu der Überzeugung, es sei unmöglich, Ägypten, das bevölkerungsreichste und damals modernste arabische Land, auf politischem Weg zu »reformieren«. Dies könne nur durch den Dschihad im Sinne des bewaffneten Kampfes funktionieren.

In seinen bis heute einflussreichen Werken befand Qutb, die Herrscher der arabischen Länder seien keine Muslime, sondern Heuchler. Sie regierten nur, um ihre eigenen weltlichen Gelüste zu befriedigen und mit allen Mitteln die Rückkehr zum »wahren Islam« zu verhindern. Die arabischen Potentaten seien muschrikun, Polytheisten und Götzendiener und als kuffar zu ächten, also als Ungläubige, die im Stadium der sündigen präislamischen Ignoranz, der dschahiliyya, lebten. Jeder Machthaber eines muslimischen Landes, der gegen die Prinzipien des Islam verstoße, müsse zum Ungläubigen erklärt werden – in Qutbs extremistischer Logik kommt ein solcher takfīr einem Todesurteil gleich. Folglich sei es nicht nur erlaubt, sondern Pflicht eines jeden »wirklichen« Muslim, ihnen den Krieg, oder besser gesagt: den Dschihad zu erklären.

Qutbs Einfluss in der arabischen Welt wuchs. Nach zahlreichen erfolglosen Bestechungsversuchen, etwa dem Angebot, die Leitung des damals in der ganzen arabischen Welt gehörten Staatsrundfunks Sawt al-Arab (»Stimme der Araber«) zu übernehmen, ließ Präsident Nasser ihn 1966 schließlich hinrichten. Qutbs Schriften aber, allen voran sein weit verbreitetes Manifest Zeichen auf dem Weg, wurden in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten zu einer »Bibel« der Dschihadisten.7

Sein Denken füllte Teile des ideologischen Vakuums, das sich nach der Niederlage gegen Israel im Sechstagekrieg 1967 gebildet hatte. Damals eroberten die Israelis die ägyptische Sinai-Halbinsel, die seitdem annektierten syrischen Golanhöhen, das von Palästinensern bewohnte, zuvor von Jordanien kontrollierte Westjordanland sowie die drittheiligste Stadt des Islam, Jerusalem. Die Niederlage, die viele Araber bis heute als schmachvolle Katastrophe empfinden, läutete das Ende des Nasserismus und des arabischen Nationalismus ein – bis dato die dominanten Ideologien.

Mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Tod gelangte die Saat Qutbs schließlich in Ägypten als eine Art posthumer Rache zu ihrer Reife. Am 3. Oktober 1981 wurde Präsident el-Sadat von einer Organisation, die sich »Ägyptischer Islamischer Dschihad« nannte, bei einer Militärparade ermordet. Die Gruppe hatte ihn zum vogelfreien Ungläubigen erklärt, weil er drei Jahre zuvor in Camp David Frieden mit Israel geschlossen hatte. Ein Name sticht im Umfeld des Mordkomplotts hervor: der des Chirurgen Ayman al-Zawahiri – der heutige Nachfolger Bin Ladens als Führer von Al-Qaida. Doch Qutbs ideologischer Einfluss reichte weit über Ägyptens Grenzen hinaus und lieferte entscheidende Impulse für die eigentliche Geburtsstunde des Dschihadismus, die sich bereits zwei Jahre zuvor, Tausende von Kilometern entfernt, in Afghanistan ereignete: 1979 marschierten die Sowjets in das Land am Hindukusch ein.

Die Geister, die wir riefen – Afghanistan, die Erste

Kabul, Dezember 2002. Der in Islamabad gestartete Falcon Jet, gechartert vom Roten Kreuz, dreht bereits seit fast einer Stunde über dem wolkenbedeckten Kabul seine Runden. Er hätte gerade noch genug Kerosin, um zurückzufliegen, als sich in der dichten Wolkendecke auf einmal eine Lücke auftut, die den Blick auf eine majestätische Bergwelt freigibt. Endlich kann der Pilot den Flughafen der afghanischen Hauptstadt ansteuern. Ich bin unterwegs, um eine Reportage über die Bundeswehr in Afghanistan zu drehen und Präsident Hamid Karsai zu interviewen.

Das Erste, was wir beim Aussteigen auf dem Rollfeld sehen, sind Wracks von Suchoi- oder MiG-Kampfjets und zerschossene Hubschrauber, Zeugen des Krieges gegen die Sowjets. Auf den Straßen patrouillieren deutsche Schützenpanzer. Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr verteilen Stifte und Teddybären in einer gerade wiedereröffneten Schule. Die Lehrerinnen können, nach langen Jahren des Berufsverbots unter dem Talibanregime, wieder arbeiten. Studiert haben sie fast alle in der Sowjetunion, genauso wie die Ärztinnen, die in den mit europäischer Hilfe renovierten Krankenhäusern Patienten behandeln. Auch die Sowjets hatten, wie später die USA und ihre Alliierten, eben nicht nur Krieg in Afghanistan geführt, sie hofften das Land zu modernisieren und hearts and minds, die Herzen und Köpfe, der Afghanen gewinnen.

Afghanistan ist eines der beeindruckendsten Länder, die ich je besucht habe: schier endlose Weiten, atemberaubende Berge, eine einmalige Farbwelt aus verschiedensten Braun- und Grünschattierungen und strahlendem, klarem Blau des Himmels und Menschen aus vielen verschiedenen Ethnien mit faszinierenden Gesichtszügen. In den Bergen und Hügeln um Kabul habe ich zum ersten Mal gesehen, wie kunstvoll, wie hoch Kinder Drachen fliegen lassen können.

Doch der auf den Einmarsch der UdSSR folgende Befreiungskampf und die anschließenden Bürgerkriege haben Afghanistan zerstört, Hunderttausende vor allem junge Afghanen starben. Kaum einer von ihnen wusste, dass sie lediglich Spielfiguren in der Fortsetzung des sogenannten Great Game waren, das im 19. Jahrhundert zwischen Russland und Großbritannien begann und bei dem es um die Vorherrschaft am Hindukusch und in Zentralasien ging.

Jene Kriege ein »Großes Spiel« zu nennen, darauf konnten vermutlich nur die Briten mit ihrem schwarzen Humor kommen. Im 19. Jahrhundert war Afghanistan für sie eine unabdingbare Pufferzone zwischen dem Zarenreich und Indien, dem Kronjuwel des britischen Imperiums. Mehrmals versuchten die Truppen Ihrer Majestät Afghanistan zu erobern und mussten jedes Mal eine schwere Niederlage einstecken.

Im Jahr 1979, inmitten des Kalten Kriegs, fand dieses Great Game seine Fortsetzung, mit neuen Spielern und neu gemischten Karten: Großbritannien rückte in die zweite Reihe, die Vereinigten Staaten waren Hauptakteur. Unter der Ägide von Präsident Ronald Reagan wollten sie die aktuelle Besatzungsmacht, die Sowjets, vertreiben und mit der Zerschlagung des kommunistischen Imperiums beginnen – und sich auch für die vier Jahre zuvor erlittene Niederlage im Vietnamkrieg rächen.

Zwei neue, mit den USA verbündete Player kamen hinzu: Saudi-Arabien als Verteidiger des Islam; und das erst 1947 durch die Teilung Indiens entstandene Pakistan, das Afghanistan als seinen Hinterhof betrachtete und in der sowjetischen Präsenz an den eigenen Grenzen eine massive Bedrohung sah, zumal die UdSSR enge Beziehungen zu Pakistans Erzfeind Indien unterhielt. Das saudische Königreich wiederum sah seinen Anspruch, der einzig wirklich islamische Staat zu sein, in Gefahr: Im selben Jahr, in dem die Sowjets in Afghanistan einmarschierten, wurde die Islamische Republik Iran ausgerufen, und Ende November 1979 brachten 5000 millenaristische Islamisten die große Moschee in Mekka mit Tausenden von Pilgern in ihre Gewalt – insgesamt sollen während der Geiselnahme und der anschließenden Befreiungsaktion mehr als 1000 Menschen zu Tode gekommen sein.

Amerika, Pakistan und Saudi-Arabien schmiedeten eine Allianz, in der jedem der drei Verbündeten eine eigene Rolle zukam. Amerika lieferte die Waffen, darunter Stinger-Boden-Luft-Raketen, die im Krieg gegen die Sowjets eine entscheidende Rolle spielten, da sie die Lufthoheit der UdSSR beendeten; Saudi-Arabien finanzierte das Kriegsgerät mit seinen Ölmilliarden und half, Kämpfer aus allen arabischen Ländern zu rekrutieren; Pakistan schließlich unterstützte die Mudschaheddin-Verbände logistisch, erlaubte ihnen, Lager auf seinem Staatsgebiet zu unterhalten, und sorgte dafür, dass die Nachschubwege nach Afghanistan offen blieben. Im Gegenzug erhielt Pakistan amerikanische Waffen, Wirtschaftshilfe und saudi-arabisches Geld. Diese drei Staaten waren die Geburtshelfer des Dschihadismus.

Die mit dem Westen verbündeten, damals in den westlichen Medien als Freiheitskämpfer porträtierten Mudschaheddin und vor allem ihre Führer waren bereits extremistische Islamisten, und viele der noch Lebenden sind heute Dschihadisten. Manche der jungen Araber, die aus den konservativen, oftmals so beengenden Gesellschaften der Golfstaaten an den Hindukusch zogen, schwärmten aber auch von der Faszination, die das wilde Afghanistan ausgeübt hat. In solchen Erzählungen klingt eine Art Pfadfinderromantik durch. Und natürlich glaubten alle, für eine gerechte Sache zu kämpfen, schließlich wurden sie von den westlichen Staaten unterstützt, und Dutzende von islamischen Rechtsgelehrten vor allem aus Saudi-Arabien hatten dazu aufgerufen, den Afghanen im Kampf gegen die atheistischen sowjetischen Invasoren beizustehen – allen voran der Palästinenser Abdallah Azzam (1941-1989). Er wird von sämtlichen dschihadistischen Organisationen als geistiger Vater des Dschihadismus verehrt. »Es gibt heute auf der Welt kein Gebiet des Heiligen Krieges und keinen Mudschahid, der auf dem Weg Gottes kämpft, die sich nicht vom Leben, den Lehren und dem Wirken Abdullah Azzams […] leiten lassen«,8 urteilte sein berühmtester Schüler, Osama bin Laden – der ohne Azzam kaum zur Ikone hätte werden können.

Azzam ist bis heute der wohl bedeutendste Gelehrte der dschihadistischen Bewegung. Seine religiöse Bildung überstieg bei Weitem jene der prominenten Gesichter des extremistischen Terrors wie Bin Laden, Ayman al-Zawahiri, Abu Musab al-Zarqawi oder gar des Pseudokalifen Abu Bakr al-Baghdadi. Und mit diesem Wissen gelang es Azzam, Kernkonzepte des Islam zu revolutionieren, um sie für seine Idee des Dschihad zu verformen.

Der Vater des Dschihadismus: Abdallah Azzam

London, Herbst 2008. Ein unscheinbares viktorianisches Reihenhaus im Osten der Stadt. Ich sitze mit Abdallah Anas in seinem Wohnzimmer auf dem geblümten Teppichboden. Eine schlanke, große Frau mit Kopftuch bringt ein Tablett mit Tee und Gebäck, stellt es auf einem kniehohen Tischchen ab, grüßt knapp mit einem Nicken, einem angedeuteten Lächeln – schon ist sie wieder verschwunden. Es ist die Tochter Abdallah Azzams und Ehefrau meines Gastgebers.

Abdallah Anas, der selbst in Afghanistan gegen die Sowjets gekämpft hat, lehnt den heutigen dschihadistischen Terror ab. Ihm ist vor allem wichtig zu betonen, dass nicht alle damaligen Mudschaheddin und Ideologen zu Terroristen wurden oder Terrorismus unterstützen. Das gelte nicht zuletzt für seinen Schwiegervater: Niemals habe Azzam zu Selbstmordanschlägen aufgerufen, niemals hätte er die Massenmorde der heutigen dschihadistischen Organisationen gutgeheißen, er habe das Konzept des Märtyrertums lediglich auf die Mudschaheddin bezogen, die heldenhaft im Kampf starben. Mir zeigt das Gespräch erneut, in was für einer Grauzone der Dschihadismus entstanden ist. Denn selbst wenn es stimmt, dass Azzam nicht zu Selbstmordattentaten aufgerufen hat, gäbe es ohne seinen ideologischen Beitrag keinen globalen Dschihad.

Geboren 1941 in einem Dorf im Westjordanland, unweit der Stadt Dschenin, soll sich Abdallah Yusuf Azzam bereits Mitte der fünfziger Jahre der Muslimbruderschaft angeschlossen haben. 1963 nahm er ein Studium des Islamischen Rechts an der Universität Damaskus auf.9 Schon hier soll er sich im Geheimen an politischen Debatten in islamistischen Kreisen beteiligt haben, bei denen es vor allem darum ging, Strategien für den Umgang mit den autoritären Regimen der arabischen Welt zu entwickeln. Nach seinem Studium, das er 1966 mit exzellenten Noten abschloss, kehrte er in seine Heimat zurück, unterrichtete dort an Schulen und predigte in Moscheen.

1967 war wahrscheinlich das Jahr, das ihn endgültig radikalisierte. Die Gründung Israels im Jahr 1948 hatte Azzams Familie weniger hart getroffen als zahlreiche andere palästinensische Familien, die gezwungen waren, ihre Heimatorte zu verlassen. Aber nach der dramatischen Niederlage der arabischen Staaten gegen Israel im Sechstagekrieg und der daraus resultierenden Besetzung des Westjordanlandes und Jerusalems floh auch Azzam. Er kam mit seiner Familie in einem Lager in der jordanischen Stadt Zarqa unter, einer der späteren Hochburgen des Dschihadismus, in der beispielsweise der ehemalige Kleinkriminelle und künftige Chef von »Al-Qaida im Irak«, Abu Musab al-Zarqawi, aufwuchs.

Wie Tausende von jungen Palästinensern beteiligte sich Azzam am Guerillakrieg gegen Israel. Er war jedoch schnell enttäuscht vom weltlichen und nationalistischen Charakter der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Durch umfassenderes religiöses Wissen hoffte er an politischem Einfluss zu gewinnen. Er machte sich auf den Weg nach Kairo zu einer der ältesten und renommiertesten islamischen Universitäten der Welt, der Al-Azhar.

In Ägypten erlebte der Islamismus gerade einen staatlich geförderten Boom. Der damalige Präsident, Anwar el-Sadat, entließ zahlreiche von seinem Vorgänger Nasser inhaftierte Muslimbrüder aus der Haft, um sie als politische Alliierte gegen linke arabische Nationalisten zu instrumentalisieren. Azzam pflegte in Kairo engen Kontakt zur Familie von Sayyid Qutb.

Als er 1973 mit Doktortitel nach Jordanien zurückkehrte, hatte er sich in islamistischen Kreisen bereits einen Namen gemacht. Wie viele zukünftige Dschihadisten wurde er zum professionellen Kommunikator; er lehrte an der Universität in Amman und arbeitete in der Informationsabteilung des Religionsministeriums, um das islamistische Bewusstsein in der jordanischen Gesellschaft zu schärfen. Audiokassetten, später VHS-Videos seiner Vorträge wurden in der ganzen arabischen Welt zu Bestsellern und sind bis heute unter Extremisten in Umlauf.

Das Phänomen Azzam beunruhigte die jordanische Regierung zunehmend, zumal er sich öffentlich immer kritischer über sie äußerte. Der Ton wurde schärfer, die Luft für ihn dünner, schließlich ging Azzam ins Exil nach Saudi-Arabien, wo er bereits über hervorragende Kontakte verfügte. Er unterrichtete an der König-Abdulaziz-Universität in Dschidda, der Hafenstadt im Hedschas. Das saudische Königreich hatte seit den sechziger Jahren Tausende von Muslimbrüdern aus Ägypten und Syrien aufgenommen und ihnen politisches Asyl gewährt, um sie gegen die weltlichen »arabischen sozialistischen Regime« von einerseits Gamal Abdel Nasser in Ägypten und andererseits der Baath-Partei in Syrien einzusetzen.

Die Muslimbrüder in Saudi-Arabien kamen mit allen Gesellschaftsschichten und Bevölkerungsgruppen in Berührung, da viele von ihnen als Ärzte, Lehrer und Universitätsprofessoren arbeiteten. Die ultrakonservativen, bislang apolitischen Wahhabiten des Königreiches und die politisierten revolutionären Muslimbrüder inspirierten sich gegenseitig. Der Wahhabismus brachte seine aus Zentralarabien stammenden puritanischen Gebräuche – die strikte Geschlechtertrennung, die Vollverschleierung der Frauen, das Verbot von Musik und selbst von ornamentaler Dekoration in den Moscheen – in die ideologischen Debatten ein, die Muslimbrüder steuerten ihre politischen Pläne zum Sturz der arabischen Potentaten bei. So wurden weitere Grundlagen für die Entstehung des Salafismus und letztlich des Dschihadismus gelegt.

Azzam lernte in Dschidda vermutlich Ende der siebziger Jahre seinen späteren geistigen Ziehsohn kennen – den knapp über 20-jährigen, sehr schüchternen Osama bin Laden. Beide lebten zeitgleich in der Hafenstadt, wo der Milliardärssohn Management studierte. Azzam begann 1979 seine Doktrin des Dschihad zu entwickeln und rief zum Kampf in Afghanistan auf. 1980 übersiedelte er nach Pakistan. Er lehrte zeitweilig an der neu gegründeten International Islamic University in Islamabad; wichtiger waren jedoch seine außeruniversitären Aktivitäten in der pakistanischen Grenzstadt Peschawar, zu dieser Zeit Kapitale der entstehenden dschihadistischen Bewegung.

Peschawar, fast zweitausend Jahre alt, an den Kreuzwegen zwischen Zentral- und Südasien gelegen, ist reich an Kontrasten. Einerseits prägen weite, baumgesäumte Alleen, Sportklubs nach britischem Vorbild – Cricket ist pakistanischer Nationalsport – und Golfplätze die Stadt, andererseits gänzlich überfüllte Viertel mit verstopften Straßen; der Lkw- und Busverkehr ins angrenzende Afghanistan verursacht bei subtropischen Temperaturen einen der höchsten Luftverschmutzungspegel der Welt.

Während des Krieges im nahen Afghanistan gegen die Sowjets wimmelte es in Peschawar von westlichen, arabischen und sogar sowjetischen Geheimdienstlern, von Journalisten, die in einem der luxuriösesten Hotels Pakistans, dem Pearl Continental, untergebracht waren, Mitarbeitern internationaler Hilfsorganisationen und Führern verschiedener afghanischer Mudschaheddin-Fraktionen. Hunderttausende von Flüchtlingen aus Afghanistan lebten in Camps oder in Armenvierteln.

Azzam mietete sich im eher ruhigen Stadtviertel University Town ein, um 1984 das Maktab al-Khidamat, das »Dienstleistungsbüro für arabische Mudschaheddin«10, zu eröffnen, das – hauptsächlich finanziert durch den jungen und wohlhabenden Osama bin Laden – die Weltgeschichte verändern würde. Enttäuscht darüber, dass sein Aufruf zum Dschihad in der arabischen Welt relativ wenig Beachtung fand, wollte Azzam mit dem Servicebüro die Anreise, Aufnahme und Vermittlung arabischer Mudschaheddin an afghanische Kampfgruppen organisieren und vereinfachen.

Häufig wurde später spekuliert, ob sich der Name Al-Qaida – das sowohl schlicht »Führung« als auch »Datenbank« bedeutet – auf die Kontaktliste des Servicebüros bezieht oder ob die Organisation erst entstand, nachdem Bin Laden sich 1986 von Azzam gelöst hatte, um seine eigene Kampfgruppe zu gründen. Zweifelsohne griff Al-Qaida später auf die Netzwerke des Servicebüros zurück, um neue Mitglieder zu rekrutieren.

Eine wichtige Funktion des Büros war das Spendensammeln. Wie mir Abdallah Anas erzählte, reiste sein Schwiegervater mehrfach in die USA, um dort unter Muslimen um finanzielle Unterstützung zu werben. Schließlich kämpfte man damals als Alliierte gegen die Sowjets in Afghanistan.

Azzam selbst betrachtete sich als Mudschahid, als Kämpfer. Auf einigen Fotos sieht man ihn mit nachdenklichem, beinahe sanftem Blick und einer Kalaschnikow über der Schulter. Doch er war, im Gegensatz zu seinem Jünger Bin Laden, keinesfalls ein Kriegsherr, der seine eigene Kampfgruppe schaffen wollte. Azzams Waffen waren seine Schriften, mit denen er die ideologische Saat säte, die das Gedeihen aller späteren dschihadistischen Bewegungen – Al-Qaida, der IS, die Taliban oder Al-Shabaab – ermöglichte. Zu Azzams »Klassikern« dschihadistischer Literatur gehört Die Verteidigung der muslimischen Gebiete ist die oberste Pflicht des einzelnen.11 Darin fordert er »eine islamistische militärische Verteidigungsanstrengung weltweit«.

Vor Azzam sahen sich die meisten islamistischen Ideologen als Avantgarde mit dem Ziel, ihre jeweiligen Heimatländer in islamische Staaten zu verwandeln. Azzam war ehrgeiziger: Er wollte eine Massenbewegung schaffen, die die gesamte muslimische Gemeinschaft, die umma, einschließlich seiner Heimat Palästina befreien würde.

Zunächst revolutionierte Azzam den Begriff des Dschihad. Die beschriebene Unterscheidung zwischen dem »großen Dschihad« als innerer Glaubensanstrengung und dem »kleinen Dschihad« als bewaffnetem Kampf, der vor allem zur Verteidigung dient und der in sunnitischer Jurisprudenz strikten Regeln unterliegt – er darf nur von einem legitimen muslimischen Herrscher ausgerufen werden, und folgen müssen seinem Ruf lediglich Muslime, die in den bedrohten oder angegriffenen Territorien leben –, weichte Azzam auf und deutete letzteren völlig neu: Jeder muslimische Gelehrte dürfe den Dschihad ausrufen, und jeder Muslim, überall auf der Welt, sei verpflichtet, bedrohten Glaubensbrüdern beizustehen. »Der Dschihad und das Gewehr, das ist alles. Keine Verhandlung, keine Konferenz, kein Dialog.«12 Diese revolutionäre Umdeutung verfolgt uns bis heute. Ohne sie hätten auch die Rekrutierer von Daesch nicht behaupten können, es sei »die absolute Pflicht junger Deutscher oder Franzosen, in Syrien oder dem Irak zu kämpfen«.13

Der auf den bewaffneten Kampf reduzierte Dschihad wurde für Azzam – neben dem Glaubensbekenntnis, dem Beten und dem Fasten, der Pilgerfahrt und dem Almosenspenden – zu einer Art sechster Säule des Islam. Dabei verknüpfte er die Lösung der Probleme in der muslimischen Welt mit der persönlichen Erlösung: Der so interpretierte Dschihad sei der einzige Weg, der unmittelbar ins Paradies führe. Denn Azzams zweite, entscheidende doktrinäre Revolution galt dem Konzept des Märtyrertums im sunnitischen Islam.

Der arabische Begriff schahid (»Märtyrer«) stammt vom Wort schahada (»etwas bezeugen«) und hat dieselbe Wurzel wie das islamische Glaubensbekenntnis (schahāda). Märtyrer im Islam waren Menschen, die durch ihren Tod ein starkes Zeugnis für ihren Glauben ablegten; die Idee, aktiv und bewusst im Kampf den Tod zu suchen, existierte bis dato nicht in der Geschichte des sunnitischen Islam. Azzam hingegen propagierte diesen Todeswunsch als »höchste Form der Hingebung an Gott und als Gipfel des Dschihad«.14 Das Wohlgefallen Gottes und seine Belohnungen für Märtyrer sind Kernthemen seiner Werke. Sein wohl bekanntestes Buch, Folgt der Karawane! – gemeint ist die Karawane der Märtyrer –, hat über die Jahrzehnte ein ganzes Genre von dschihadistischen Videoproduktionen inspiriert, in denen die göttlichen Belohnungen und Paradiesbeschreibungen in Bilder umgesetzt werden.15

Abdallah Azzam starb 1989 durch eine Bombe in Peschawar. Wer hinter dem Attentat steckt, ist bis heute ungeklärt. Infrage kommen viele: von der CIA über den Mossad bis hin zu afghanischen oder arabischen Mudschaheddin. Doch sein giftiges Gedankengut lebt weiter und wird über dschihadistische Websites in allen Sprachen des Globus verbreitet. Und er hatte viele Schüler – darunter einen, der weltweit bekannter wurde als Azzam selbst: Osama bin Laden.

Ikone des Dschihad: Osama bin Laden

Kairo, September 2003. Für einen Dokumentarfilm über Osama bin Laden16 gehe ich der Frage nach: Wie und warum wurde er zur Ikone des Dschihad? Nach aufwendigen Verhandlungen habe ich ein Treffen mit einem Mann arrangieren können, der, wenn auch unabsichtlich, maßgeblich daran beteiligt war, den Mythos Osama bin Laden zu schaffen.

Wir sind in einem Shisha-Café in einem hässlichen Betonvorort Kairos verabredet. Als ich dort eintreffe, sitzt er schon da, ein kleiner Mann, dessen Glatze unter den Neonröhren glänzt. Die Begrüßung ist zurückhaltend.

Essam Deraz hat nicht für Bin Laden gekämpft, er ist kein Terrorist und auch kein Anhänger von Al-Qaida: Er ist Dokumentarfilmer und hat 1988 in Afghanistan die ersten Videoaufnahmen von Bin Laden gemacht, jene, die ihn auf dem Boden sitzend in einer Höhle zeigen. Sie liefen jahrzehntelang auf allen Fernsehsendern der Welt, häufig ohne dass Deraz etwas dafür bekommen hat. Und der große Nutznießer war letztendlich Bin Laden.

Deraz war, wenn man so will, damals zur rechten Zeit am rechten Ort: In Pakistan, an der Grenze zu Afghanistan, wollte er eigentlich die Folgen eines Erdbebens dokumentieren. Dann hörte er von dem Sohn eines saudischen Milliardärs, der auf ein Leben in Reichtum verzichtet habe und in Afghanistan als sogenannter Emir, als Anführer einer Kampfgruppe arabischer Mudschaheddin, aktiv sei. Bin Laden hatte sich von seinem Mentor Abdallah Azzam und dem Servicebüro gelöst und sein eigenes Kampflager al-Ma’sada (»Die Höhle des Löwen«) gegründet. Deraz war neugierig. Nach Verhandlungen mit diversen Mittelsmännern konnte er Bin Laden und seine Kämpfer in den Bergen Afghanistans treffen. Bin Laden nahm ihn mit an die Front zu einer Schlacht um die afghanische Stadt Dschalalabad gegen die Sowjets.

Etwas erstaunte Deraz damals schon: »Bin Laden ließ sich ohne Weiteres filmen, im Gegensatz zu vielen der anderen Kämpfer, Wahhabiten und Salafisten, die strikt dagegen waren, weil das Abbild der Schöpfung Gottes verboten sei. Dabei bin ich mir sicher, dass ihm die Wichtigkeit des Mediums damals noch kaum bewusst war.«

Die von Deraz gedrehten Szenen machten Bin Laden schnell unter Sympathisanten des Dschihad in aller Welt bekannt. Vor allem seine Natürlichkeit, sein ruhiger Ton, seine gepflegte Ausdrucksweise und Bescheidenheit wurden immer wieder gerühmt: ein Gentleman, der als primus inter pares mit seinen Kameraden auf dem Boden einer Höhle sitzt, einfache Mahlzeiten mit ihnen teilt oder seelenruhig gefährliche Frontlinien inspiziert. Ein knapp 30-jähriger gelassener, aber zielstrebiger Kommandeur. Dabei hat Bin Laden de facto kaum an den Kampfhandlungen in Afghanistan teilgenommen. Sein erstes Gefecht soll der Kampf von Dschadschi im Jahr 1987 gewesen sein. Nach eigenen Angaben wäre er dabei fast umgekommen.

Der Krieg in Afghanistan legte die Grundlage des Dschihadismus in mehrfacher Hinsicht: durch die revolutionäre Umdeutung der sunnitischen Kernkonzepte des Dschihad und des Märtyrertums; durch die Schaffung der Ikone Bin Laden und die Entstehung des Gründungsmythos, auf dem die Bewegung bis heute aufbaut; und weil es den Mudschaheddin gelang, den Abzug der Supermacht UdSSR1989 als ihren Sieg, einen göttlichen Sieg darzustellen – wobei sie die Tatsache geflissentlich ignorierten, dass er vor allem dank amerikanischer Unterstützung zustande kam, durch amerikanische Raketen, die den Russen die kriegsentscheidende Lufthoheit nahmen.

Afghanistan wurde im neuen Great Game mit westlicher Hilfe zerstört. Es versank in einem Bürgerkrieg, in dessen Folge sich dschihadistische Milizen, Gruppierungen wie Al-Qaida und später die Taliban bilden und in der ganzen Welt ausbreiten sollten. Eine weitere verheerende Folge war, dass die Dschihadisten der ersten Stunde mit ihrem Prestige der »siegreichen« Kampferfahrung den Dschihadismus exportierten. Die Mehrheit der über 2000017 arabischen Kämpfer verließ Afghanistan Anfang der neunziger Jahre. Vielen von ihnen wurde die Einreise in ihre Heimatländer verwehrt; die dortigen Machthaber fürchteten nicht ohne Grund, dass die Mudschaheddin auch sie mit Gewalt zu Fall bringen wollten. Tausende ließen sich in Drittländern – auch in Europa – nieder.

Osama bin Laden allerdings kehrte 1990, nach Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan, zunächst in seine Heimat Saudi-Arabien zurück – als gefeierter Held und mit einem Gefühl der Allmacht. In einem Interview mit Al Jazeera aus dem Jahr 1998