Die Jagd - Am falschen Ort - Claus Probst - E-Book
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Die Jagd - Am falschen Ort E-Book

Claus Probst

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Beschreibung

So moralisch wie »Breaking Bad« und so schnell wie »Bourne Identity«: Top-Spannung aus Deutschland! Ein ganz normaler Mann wird Zeuge eines grausamen Verbrechens. Er wagt, das Richtige zu tun, und geht zur Polizei. Seine Aussage bringt einen mächtigen Mafia-Boss ins Gefängnis. Aber sein bisheriges Leben ist damit vorbei. Denn ab jetzt ist er ein Gejagter. Und er entwickelt erstaunliche Fähigkeiten. Er ist mutig. Einer von den Guten, auf der Flucht vor der Rache der Mafia. Aber wer an seinem Leben hängt, sollte dennoch hoffen, ihm niemals zu begegnen. Ein atemberaubender Thriller und eine actiongetriebene Verfolgungsjagd geradewegs in die Hölle. Rasant, rabenschwarz, komisch und hart.

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Seitenzahl: 330

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Dr. Claus Probst

Die Jagd - Am falschen Ort

Thriller

FISCHER E-Books

Inhalt

Man lebt, wie man [...]Seit der Sache mit [...]Im Oktober 1983 verlor [...]Brauns Falle ist ein [...]Nachdem der Tod innerhalb [...]Schon als Kind hasste [...]Zwei Tage vor unserer [...]Natürlich hat man so [...]Die Beamten der Mordkommission [...]Eines der wenigen Dinge, [...]Was macht Sie als [...]»Aber wieso?«, stieß ich [...]Das mit Frankreich war [...]Ich lebte nur etwa [...]Das Erste, was ich [...]Sobald sich mein Zustand [...]Mein Auftritt als Zeuge [...]Die Wochen nach dem [...]Während ich noch in [...]Die Wohnung, die man [...]Nachdem ich meine Ängste [...]Das erste Mal traf [...]Schon am selben Abend [...]Am späten Vormittag klingelte [...]Zu meiner Überraschung meldete [...]Den ganzen Nachmittag über [...]Mein letztes Telefonat mit [...]Wenn man jemanden tötet, [...]Jemandem wie Luca Torrini [...]La Rochelle – Limoges – ChâteaurouxIssoire – Dijon – FreiburgSchon als Kind träumte [...]Reims – Soissons – ParisMetz – TrierBordeaux (sechs Abfuhren und [...]Bis heute weiß ich [...]Ich will in dem, [...]Seitdem ich in Lille [...]Wenn ich Geld brauchte, [...]Wenn ich an diese [...]Die Wohnung, in der [...]Die Dinge, die ich [...]Nach dem Tod des [...]Nach meiner Ankunft in [...]Ein guter Rat: Sollten [...]»Mi chiamo Michele«, offenbarte [...]Die Wohnung war riesig. [...]Die Nacht nach unserem [...]Die Angst, seine Existenz [...]Das Jahr in Florenz [...]Francesca arbeitete an drei [...]Seit dem Tod der [...]»Bringst du es mir [...]Am 18. April 2015 starben [...]Das letzte Mal, als [...]Sie kamen mitten in [...]Steht man gleich mehreren [...]»Dio mio!«Auf die letzten Stunden [...]Von Italien aus legte [...]Hätte sich mir in [...]Warum ich schon wenige [...]Die Straße nach Den [...]Auf dem Gymnasium hatte [...]Faber und ich, einige [...]Die Berge taten mir [...]Ob er sich zu [...]Schon am nächsten Tag [...]Noch am selben Abend [...]Bei Mariotti bin ich [...]Denise und ich, kurz [...]Wenn Mariotti nicht für [...]In den Wochen nach [...]Das Erste, was mir [...]Es ist so weit! [...]Der Fahrstuhl lässt sich [...]Hätte ich in meinem [...]Ich halte die Glock [...]Man kann in seinem [...]»Sie sind abgehauen? Alle [...]Nachwort

Man lebt, wie man träumt. Allein.

Joseph Conrad

Seit der Sache mit Torrini hat man achtmal versucht, mich zu töten. Vermutlich gibt es nur wenige Menschen, die das von sich behaupten können. Mit Ausnahme einiger Diktatoren, Rebellenführer und Drogenbarone, die sich jedoch nicht mit mir vergleichen lassen, denn sie umgeben sich meist mit einer Armee von Leibwächtern. Ich dagegen bin völlig auf mich gestellt. Um mich zu töten, braucht es nicht viel. Keine langwierigen Vorbereitungen. Keine Autobombe. Keinen verblendeten Selbstmordattentäter. Ich bin ein verwundbares Ziel. Ohne Einfluss und Schutz. Ein Messer, etwas Gift oder eine kleinkalibrige Pistole reichen völlig aus, um Torrinis Weisung in die Tat umzusetzen. Aus der simplen Tatsache, dass ich Ihnen jetzt davon berichte, werden Sie sich allerdings unschwer ableiten können, dass sämtliche Versuche, mich ins Jenseits zu befördern, dennoch erfolglos geblieben sein müssen. Auf dieses Detail bin ich stolz, und obwohl ich mir ein Leben ohne Angst längst nicht mehr vorstellen kann, tröste ich mich seit Jahren mit dem Gedanken an Torrinis Wut, mich noch immer nicht zur Strecke gebracht zu haben.

Aber Vorsicht!

Das ist lediglich MEINE Version der Ereignisse. Welche ich über Jahre nie angezweifelt habe. Niemals anzweifeln musste! Bis zu meinem Treffen mit Ruth. Die mir im Auftrag von Braun eine Botschaft übermittelte, die, in ihrem Gehirn gespeichert, seit Wochen darauf wartete, endlich abgeholt zu werden. Träfen Brauns Behauptungen wirklich zu, so würde das meine Meinung über mich und mein Leben nachträglich auf den Kopf stellen. Ich solle mich endlich bei ihm melden, richtete Ruth mir aus. Sonst könne er für nichts mehr garantieren.

Braun hat mir unverblümt gedroht. Ausgerechnet mir!

An die Zeit, in der eine derartige Drohung Eindruck hinterlassen hätte, kann ich mich kaum noch erinnern. Kein tragischer Verlust, wie ich finde. Nur ein weiterer in einer Reihe der Abschiede von liebgewonnenen Lügen. Der Osterhase. Die Zahnfee. Der Weihnachtsmann. Ehrlichkeit zahlt sich aus. Gott und das ewige Leben. Unerschütterliche Freundschaft. Die Unangreifbarkeit der eigenen Existenz, die es wert ist, Zeit und Arbeit zu investieren.

Lächerlich!

Zitat (leider vergessen, von wem): Das Leben ist eine hervorragende Lehrmeisterin. Nur schade, dass sie alle ihre Schüler umbringt.

Besser kann man es letztlich nicht ausdrücken.

Für nichts mehr garantieren? In meinem Leben sind sämtliche Garantien längst abgelaufen. Alle gleichzeitig. Innerhalb einer einzigen Sekunde. Die Wahrheit ist: Dem Leben ist nicht zu trauen. Das Leben ist eine hinterlistige Schlampe. Aber es hat mir immerhin die Augen geöffnet.

Ich glaube, Braun hat gelogen. Wahrscheinlich hat er sich kaufen lassen, und jetzt versucht er, mich aus der Deckung zu locken. Hinein in die Falle, vor der ich jetzt stehe, entschlossen, schon bald in ihr Inneres vorzudringen.

Um mir trotz allem den Köder zu schnappen.

Im Oktober 1983 verlor auf der Autobahn kurz vor Kassel ein Lastwagen seine komplette Ladung. Der Fahrer, der schon morgens angetrunken gewesen war, hatte es beim Beladen versäumt, zwei der Spannriemen anzuziehen. Dadurch gerieten etwa sechshundert Kupferrohre fast gleichzeitig ins Rutschen und ergossen sich über den hinteren Rand der Ladefläche auf die regennasse Straße. Unglücklicherweise war nur wenige Sekunden zuvor ein VW Kombi, genötigt von einem dicht auffahrenden Benz, unmittelbar hinter dem LKW auf die rechte Fahrbahn gewechselt. Am Steuer des Kombis saß ein aus Süddeutschland stammender Architekt namens Bernhard Keller, auf dem Beifahrersitz seine Frau Romy, eine Grundschullehrerin, die er nach Einschätzung von Freunden auch nach zwölf Jahren Ehe noch immer abgöttisch liebte, auf der Rückbank links hinter dem Fahrer ihr zehnjähriger Sohn Magnus, auf der rechten Seite hinter dem Beifahrersitz der Nachzügler der Familie, ein sechs Monate altes Baby, (vermutlich schlafend) in einem Kindersitz festgeschnallt. Keller trat erschrocken auf die Bremse, aber es war bereits zu spät. Rund ein Dutzend der drei Meter langen Kupferrohre durchschlugen mit ungeheurer Wucht die Windschutzscheibe. Fast gleichzeitig krachte der weiße VW auf das Heck des abbremsenden Lastwagens.

Den Ersthelfern und den herbeigerufenen Rettungskräften bot sich ein furchtbarer Anblick. Die Kupferrohre durchzogen in unterschiedlichen Winkeln den Innenraum des fast völlig zerstörten Wagens. Mehrere von ihnen hatten die Heckscheibe durchstoßen, drei die hinteren Seitenscheiben, eines sogar das Wagendach. Den Kopf des Fahrers fand man erst Stunden später – weitgehend unversehrt – in einem Gebüsch abseits der Straße. Zwei der Rohre verliefen dicht über dem ausgefransten Strunk des Halses zum linken hinteren Seitenfenster, wo sie wie Speere ins Freie ragten. Ein weiteres Rohr hatte Kellers Brustkorb durchbohrt und war durch den Rücken wieder ausgetreten. Um anschließend die Rücklehne zu durchschlagen und in den hinter ihm sitzenden Sohn einzudringen, ebenfalls in die Brust, so dass die beiden auf brutale Weise »an zwei blutige Fleischstücke auf einem Schaschlikspieß« (Aussage Notärztin Dr. Irene F.) erinnerten. Durch den Körper der Beifahrerin verliefen drei der Rohre. Durch die rechte Schulter, mitten durch das Herz und ein weiteres durch die rechte Augenhöhle. Der Innenraum des Wagens schwamm in Blut. Ein bizarres Szenario, welches wirkte wie »die misslungene Schwertnummer eines irrsinnig gewordenen Zauberers« (Aussage Polizeihauptmann Frank A.)

Das Erstaunlichste aber – und in dieser Auffassung stimmten sämtliche Helfer später überein – war der Anblick, der sich ihnen auf der rechten Rückbank bot. Ein halbes Dutzend Rohre, in unterschiedliche Richtungen zielend, bildeten dort ein käfigähnliches Geflecht. In seinem Zentrum saß ein nur mehrere Monate altes Baby. Eines der Rohre, nämlich jenes, welches durch das Herz der Mutter getrieben worden war, zielte genau auf seine Stirn und war nur Millimeter davor zum Stillstand gekommen. Auch die anderen Rohre hatten den Säugling nur knapp verfehlt. Erstaunlicherweise wirkte das Kind völlig ruhig. Alle am Unfallort Anwesenden sollten später schwören, dass es während der gesamten Rettungsaktion weder geweint noch geschrien habe. Stattdessen schaute es die entsetzt in den Wagen starrenden Helfer mit großen Augen an. Dieser Blick, dieser fragende Blick, da waren sich alle übereinstimmend sicher, würde sie in ihrem ganzen Leben nie wieder loslassen.

Die anderen drei Insassen waren ohne Zweifel schon Sekundenbruchteile nach dem Aufprall tot gewesen. Nur der Säugling hatte aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz keinen einzigen Kratzer abbekommen, sondern saß – eingerahmt von todbringenden Metallspießen – unverletzt in seinem Sitz.

Dieses Kind, umgeben von Toten und Schrott und Blut, war ein Wunder. Dieses Kind war ich.

Brauns Falle ist ein mehrstöckiger Bau, den man gewöhnlich durch den Haupteingang betritt. Nicht ohne zuvor einen kleinen Platz zu überqueren und den kritischen Blicken des Pförtners standzuhalten. Es sei denn, man wird an der Rückseite des Gebäudes in einem Krankenwagen angeliefert. Oder man ist verrückt genug, über einen drei Meter hohen Zaun zu klettern, schmiedeeisern, schwarz gestrichen und mit eindrucksvollen Zierspitzen versehen.

Die Idee mit dem Zaun habe ich schon nach kurzer Überlegung abgehakt (zu hohes Risiko, von einem der Fenster aus beobachtet zu werden!), den Trick mit dem Krankenwagen dagegen bislang noch nicht. Einen Herzinfarkt vorzutäuschen wäre nicht schwer. Unweit der Klinik auf offener Straße, umgeben von Passanten, welche aufgeregt Hilfe anfordern würden (»Ein heftiger Druck in der Brust, ja, genau, seine Schulter schmerzt ebenfalls, ja, ich denke die linke«), danach eine kurze Fahrt zur rückwärtigen Schleuse. Ein herbeieilender Arzt, der die Symptome nochmals abfragen und dann umgehend ein EKG anordnen würde (»Merkwürdig. Auf der Ableitung ist nichts Auffälliges zu erkennen«), danach Einweisung auf eine Station für mindestens eine Nacht (»Nur zur Sicherheit, man kann ja nie wissen«).

Auf den zweiten Blick hat die Idee mit dem Krankenwagen Nachteile. Zum einen wird man einen Herzinfarktpatienten nicht unbeobachtet lassen. Das würde meinen Bewegungsspielraum entscheidend einschränken. Zum andern sind an der rückwärtigen Schleuse Kameras installiert. Es ist daher nicht auszuschließen, dass Braun mein Kommen live mitverfolgen würde, ja, ihm ist sogar zuzutrauen, dass die beiden Typen, die seit Stunden von einem schwarzen Daimler aus den Haupteingang beobachten, nur deswegen dort positioniert wurden, um mich in Richtung des Hintereingangs umzulenken. Typen wie Braun denken niemals nur eindimensional. Sonst wären sie nicht die Richtigen für ihren Job. Jemand wie Braun hält den Hintereingang für die wahrscheinlichere Option.

Also doch der direkte Weg? Ein kleines Ablenkungsmanöver und dann quer über den kleinen Vorplatz und geradewegs durch den Vordereingang? Vorbei an den zwei Wachhunden, die mich – sollten sie mich erwischen – a) verhaften oder b) töten werden?

Die beiden tragen dunkle Anzüge, die ausreichend Platz für Schusswaffen bieten. Der eine, ein blonder Mittdreißiger mit breiten Schultern, sieht aus, als treibe er täglich Sport und als hätte er mich schon eingeholt, noch bevor es mir gelänge, die Pforte zu erreichen. Der andere wirkt zehn Jahre älter und zwanzig Kilo leichter, paradoxerweise aber noch gefährlicher. Vielleicht, weil er mich an Tommy Lee Jones erinnert, den Schauspieler, der den gnadenlosen Jäger in Auf der Flucht verkörperte. Sollte Braun noch immer auf der Seite der Good Guys stehen, haben die beiden den Auftrag, mich lebend zu fassen. Falls nicht (wovon ich ausgehe), so werden sie gewiss nicht abwarten, bis ich das Gebäude erreiche, sondern sobald sie mich erspäht haben, das Feuer eröffnen.

Man sollte meinen, es wäre leicht, Kriminalbeamte und professionelle Killer an ihrem Äußeren zu unterscheiden. Leider ist es das nicht. Wäre ich mir meiner Sache sicher, könnte ich ihnen durchaus zuvorkommen. Indem ich mich von schräg hinten dem Wagen nähere und sie aus nächster Nähe erledige. Mein Mitleid gegenüber Profis hält sich inzwischen in Grenzen. Den aus der Aktion entstehenden Tumult könnte ich womöglich sogar nutzen, um unbemerkt ins Gebäude zu gelangen. Sollte ich mich allerdings täuschen und zwei unbescholtene Beamte erschießen, so wäre das der GAU. Und selbst wenn sie – was ich annehme – gedungene Mörder sein sollten … bis heute habe ich immer nur in Notwehr getötet.

Womöglich mit einer einzigen Ausnahme. Aber falls es so wäre, dann war das ein tragischer Unfall.

Nachdem der Tod innerhalb einer einzigen Sekunde meine gesamte Familie ausgelöscht hatte und mit ihr mein erstes Leben und eine Vielzahl von Möglichkeiten, die sich aus dem Zusammenleben mit meinen Eltern und meinem Bruder ergeben hätten, ließ er mich drei Jahrzehnte lang in Ruhe. Ich wuchs bei meiner Tante auf, welche vier Jahre zuvor ihren Mann und mit dem Unfall nun auch noch die einzige Schwester verloren hatte. Bei einer Seelenverwandten sozusagen. Ruths Ehe war kinderlos geblieben, und so zögerte sie keine Sekunde, sich ihres verwaisten Neffen anzunehmen. Meine Tante war eine attraktive Frau. Nach dem Tod ihres Mannes ging sie jedoch nie wieder eine längere Beziehung ein. Aus Angst, das Leben könnte ihr auch noch das letzte Stück Herz aus den Rippen reißen, wie sie mir irgendwann traurig gestand. Wenn ich an Ruth denke, sehe ich immer ihr Haar vor mir, ein kunstvolles Geflecht aus leuchtendem Rot. Wie alle rothaarigen Frauen, die ich kennengelernt habe, wirkte auch sie ein wenig überdreht und verrückt, aber obwohl es mir bis heute nicht leichtfällt, es in dieser Klarheit auszusprechen: Meine Mutter hätte mich sicherlich nicht besser großziehen können.

Mein zweites Leben verlief ruhig und linear. An den Unfall bei Kassel kann ich mich bis heute nicht erinnern. Alles, was ich als Kind darüber wusste, erfuhr ich von Ruth, und Ruth wiederum erfuhr alles von der Polizei. Erst mit zweiundzwanzig traf ich mich ein einziges Mal mit einem Rettungssanitäter, der am Unfallort anwesend gewesen war, einem Mann mit gelblicher Haut und einem eingefallenen Gesicht, der aussah, als trinke er zu viel. Ich bat ihn ausdrücklich, mich nicht zu schonen. Er gab sich Mühe, meinem Wunsch nachzukommen, und schilderte mir jede Menge grausiger Details. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie seine Fingerspitzen zitterten und dass er – während er sprach – gegen die Tränen ankämpfte und auch an einige seiner dramatischen Formulierungen. Dass das Kupferrohr, welches unmittelbar vor meinem Gesicht endete, meinen Kopf nur deswegen nicht zerschmettert habe, weil es mit dem Durchtritt durch den Körper meiner Mutter seine Energie bereits vollständig eingebüßt hatte. Das muss man sich mal vorstellen: mitten durch ihr Herz.

Es war eine merkwürdige Situation. Einem Fremden gegenüberzusitzen und erkennen zu müssen, dass die Erinnerungen an das Unglück diesen mehr aufwühlten als mich selbst. Ihren fragenden Blick sehe ich noch heute gelegentlich vor mir, stieß er gequält hervor und suchte irgendetwas in meinen Augen, was da längst nicht mehr war. Sosehr ich mich auch anstrengte: Ich erinnerte mich an NICHTS.

Ich besuchte den Kindergarten und die Grundschule, anschließend das Gymnasium. Das Übliche eben. Immer in Sichtweite der Pfälzer Berge und umzingelt von Weinreben, welche tagaus, tagein den Blick auf die Landschaft prägten und sie im Herbst in Gold zu tauchen schienen. Ein ruhiges Leben. Garniert mit ein paar halbherzig gepflegten Hobbys, in denen ich – außer im Zeichnen – zur Mittelmäßigkeit tendierte, mit Rivalen und Feinden, die sich gern und oft mit mir prügelten, weil ich fast immer den Kürzeren zog, und einer Handvoll Liebschaften, von denen ich irrtümlich glaubte, sie niemals verwinden zu können, von welchen mir aber mit den Jahren nur noch vage Erinnerungen blieben. Als schließlich der Zeitpunkt gekommen war, mich von Ruth zu lösen und dem Ort meiner Kindheit den Rücken zu kehren, deutete nichts darauf hin, dass meine Biographie noch ein zweites Mal einen Haken schlagen und ihre bisherige Ausrichtung nicht wiederfinden würde. Mit neunzehn zog ich auf die andere Seite der Rheinebene, wo ich ein Zimmer in einer Studenten-WG mietete und mich in Jura immatrikulierte. Erneut in der Nähe der Berge, was fast schon wie eine geometrische Spiegelung wirkte – mit dem Rhein als Achse.

Vier Jahre bevor ich Torrini begegnete, hatte ich mein Studium beendet und als Anwalt bei einer bekannten Kanzlei angeheuert. Zu einem Gehalt, das es mir schon bald erlauben würde, einen Kredit aufzunehmen, um eine Wohnung oder ein Haus zu kaufen. In der Firma lernte ich Julia kennen. Ich liebte sie, und sie liebte mich. Wir planten zu heiraten und schon bald eine Familie zu gründen.

Wenn Sie sich für mein Äußeres (damals!) interessieren, dann stellen Sie sich einen unauffälligen Typen vor, nicht hässlich, aber auch nicht gutaussehend, einen leicht übergewichtigen Langweiler. Geprägt von einer unspektakulären Kindheit in einem eintönigen Ort und sozialisiert von den Kontakten mit unaufgeregten Menschen in einer vom Weinbau geprägten Gegend. Wäre mein Leben weiterhin so verlaufen wie in den ersten drei Jahrzehnten, so gäbe es darüber bis heute nicht viel zu berichten. Vermutlich würde ich gelegentlich in Fotoalben blättern, und die dort sorgfältig abgelegten Highlights wären die Aufnahmen von Weihnachtsbäumen, Geburtstagstorten und exotischen Orten, an welchen sich die Menschen einmal pro Jahr einzureden versuchen, weltoffene Abenteurer zu sein. Zumindest gehe ich davon aus, dass es so wäre. Aber würde mich das stören? Bis heute bin ich mir nicht völlig sicher, aber ich denke, eher nicht. Je weniger es von einem Leben Außergewöhnliches zu berichten gibt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht unglücklich oder gar tragisch verlaufen ist. Zumindest bin ich nach dem, was ich erlebt habe, überzeugt, dass es so ist.

Aber an manchen Tagen zweifle ich auch. Denke, genau das Gegenteil sei der Fall. Dass ein Leben ohne Schicksalsschläge und abrupte Veränderungen in seiner Bedeutungslosigkeit kaum auszuhalten ist.

Schon als Kind hasste ich den Tod. Für mich war er niemals abstrakt, sondern stets eine konkrete Person. Ein großer schwarzer Mann mit knochigem Gesicht und blutunterlaufenen Augen, die in der Dunkelheit glühen wie brennende Kohlen. Ein mächtiger Fürst mit einer Armee von Helfern, die in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen konnten, um sich dann unerkannt unter die Menschen zu mischen und sich Beute zu suchen. Ich war unglaublich wütend auf diesen Mann, aber gleichzeitig fürchtete ich ihn auch, denn über Jahre quälte mich immer wieder die eine entscheidende Frage: Warum ich? Warum hatte er damals in dem Wagen ausgerechnet mich verschont? Oder war ihm vielleicht nur ein Irrtum unterlaufen, und er hatte mich – klein und unauffällig in einem Kindersitz festgeschnallt – schlicht und ergreifend vergessen? Jahrelang fürchtete ich, er könnte seinen Fehler wiedergutzumachen versuchen und käme eines Tages zurück, um mich doch noch zu holen. Besonders in den Nächten wurde meine Angst oft unerträglich. Dann war es an Ruth, mich mit beruhigenden Worten zu trösten.

Dem Tod unterlaufen keine Fehler. Er hat dich mit Sicherheit absichtlich verschont.

Glaubst du? Aber warum?

Keine Ahnung. Glücklicherweise bin ich dem Kerl bis heute noch nie begegnet. Aber irgendetwas wird er sich wohl dabei gedacht haben. Du wirst schon sehen … ich werde recht behalten. Wahrscheinlich wirst du hundert Jahre alt. Vermutlich wirst du noch für etwas Wichtiges gebraucht.

Aber, Tante Ruth … wenn das stimmt und der Tod keine Fehler macht … warum hat er dann Mama und Papa und Magnus geholt? Sie waren doch alle noch so jung.

(Ruths trauriger Blick, während sie nach einer Antwort suchte.)

Ja, das waren sie. Aber es war dennoch nicht ihre Schuld, und sie haben so ein Ende auch gewiss nicht verdient. Ich denke, der Tod muss das zuweilen tun.

Er muss das tun? Wieso?

Weil wir Menschen – wenn er sich immer nur die Alten und Kranken holen würde – das Leben nicht zu schätzen wüssten. Weil wir uns sicher fühlen würden. Indem sich der Tod gelegentlich jemanden greift, der nett und jung und unschuldig ist, völlig überraschend und anscheinend ohne Grund, macht er deutlich, dass es uns immer und überall treffen kann. Damit hält er uns vor Augen, dass jeder einzelne Tag in unserem Leben kostbar und einzigartig ist.

Keine Ahnung, ob Ruth mit ihren hundert Jahren am Ende richtigliegen wird. So, wie es derzeit läuft, würde ich nicht darauf wetten. Jedenfalls sind seit diesem Tag inzwischen mehr als zwanzig Jahre verstrichen, und zumindest bis heute ist ihre Aussage durch nichts zu widerlegen. Mit den Jahren drängte die Vernunft die Ängste meiner Kindheit zunehmend aus meinem Denken, bis ich endlich davon überzeugt war, dass mein Überleben nichts weiter war als ein glücklicher Zufall, für den ich trotz allem dankbar sein musste, und dass mich der Tod wohl fortan in Ruhe lassen würde.

Aber ich sollte mich täuschen. Als ich kaum noch an ihn dachte, schien er sich doch noch einmal an das vergessene Kind auf der Rückbank zu erinnern und schickte einen seiner Schergen aus, um die noch offene Rechnung zu begleichen.

In der Gestalt eines alternden Mafiabosses mit gewaltigen Beziehungsproblemen. Namens Luca Torrini.

Zwei Tage vor unserer ersten Begegnung hatte sich Torrinis Verdacht, von seiner Geliebten hintergangen zu werden, bis zur Gewissheit verdichtet. Maria Brancati war fünfzehn Jahre jünger als er, bildschön und dumm genug, Torrinis Buchhalter zu verführen, einen hübschen Burschen namens Carlo Riva, mit dem sie ihn wochenlang betrog. Ich weiß weder, wie er von Marias Untreue erfuhr, noch kann ich abschätzen, warum er nicht einfach seine Männer schickte, sondern beschloss, die Sache selbst zu regeln. Torrini war damals ein mächtiger Mann, der in der Gegend, in der ich lebte, einen beträchtlichen Teil der Unterwelt kontrollierte. Ein Mann, der Hindernisse pragmatisch aus dem Weg zu räumen pflegte und dem man noch nie etwas hatte nachweisen können. Für ihn wäre es gewiss ein Leichtes gewesen, seinen liebestollen Buchhalter beseitigen zu lassen, während er selbst vor Zeugen zu Abend speiste. Indem er sich selbst um Riva kümmerte, riskierte er viel. Ich denke, er hatte den Mord nicht wirklich geplant. Vielleicht klammerte er sich ja bis zuletzt an die Hoffnung, sich doch in Maria getäuscht zu haben, und wurde von seinem Handeln selbst überrascht.

Auch Maria ging nicht gerade vorsichtig vor. Am entscheidenden Tag fuhr sie allein in die Stadt und stellte ihren Porsche in einem Parkhaus ab, wo Carlo Riva sie bereits erwartete. Danach fuhren sie in Rivas Audi gemeinsam zu einem Waldstück am Stadtrand. Dort bog Torrinis Buchhalter in einen schmalen Forstweg ab und stoppte den Motor. Am helllichten Tag auf einem Waldweg zu vögeln schließt das Risiko, entdeckt zu werden, zwangsläufig mit ein. Keine Ahnung, warum sich die beiden kein Hotelzimmer suchten. Vielleicht war es eine spontane Entscheidung. Vielleicht gab ihnen die Möglichkeit, von zufällig vorbeikommenden Spaziergängern überrascht zu werden, den entscheidenden Kick. Dass sie sich bei der Wahl des Ortes auf dünnem Eis bewegten, muss ihnen jedenfalls klargewesen sein. Nicht aber, dass sie schon seit fast einer Stunde verfolgt worden waren. Während die beiden ohne Umschweife zur Sache kamen, passierte Luca Torrini den Waldweg, fuhr noch etwa hundert Meter weiter, stellte seinen Wagen in einer Einbuchtung ab, stieg aus und pirschte sich quer durch den Wald an Rivas Audi heran.

Ich selbst hatte zwei Tage zuvor meinen dreißigsten Geburtstag gefeiert. Nicht ahnend, dass ich von da an meinen Geburtstag nie wieder feiern würde. Zumindest nicht an dem Datum, an dem ich tatsächlich geboren wurde. Genau genommen passierte das alles nur, weil Julia und ein paar meiner Freunde gesammelt hatten, um mir gemeinsam ein neues Mountainbike zu schenken. Und weil ich mir an dem bewussten Donnerstag freigenommen hatte und nach dem Frühstück beschloss, mit dem neuen Rad eine erste Tour zu unternehmen. Und weil ich, um ein Stück querfeldein zu radeln, nahe einem Umspannwerk hinein in den Wald abbog, in einer Gegend, in welcher in der Regel nichts los war.

Während ich schwitzend in die Pedale trat und vermutlich über etwas völlig Belangloses nachdachte, sah ich plötzlich einen schwarzen Audi, der sich rhythmisch bewegte und durch dessen beschlagene Heckscheibe sich vage nackte Haut abzeichnete. Daneben stand ein Mann, der mit entschlossener Miene seinen rechten Arm ausstreckte. Noch bevor ich begriff, was gleich geschehen würde, schoss er auch schon.

KLICK!

Der Schalldämpfer dämpfte das Geräusch des Schusses so sehr, dass ich deutlich hörte, wie die Kugel durch die Seitenscheibe drang. Dann hörte ich einen Mann schreien, panisch, ein Schreien unter Schmerzen, und kurz darauf das Flehen einer Frauenstimme: »Luca? No! Per favore! No!«

Ich war derart überrascht, dass ich zuerst nicht bremste, sondern wie hypnotisiert weiterradelte. Erst etwa dreißig Meter von dem Audi entfernt brachte ich das Rad zum Stehen.

Ein weiteres lautes KLICK. Das Schreien des Mannes wurde schlagartig lauter, und das Flehen der Frau steigerte sich zu einem hysterischen Kreischen. Es folgte ein drittes KLICK, und die Heckscheibe des Wagens wurde mit einer Galaxie von roten und gelben Punkten besprengt. Das Schreien des Mannes erstarb.

Fast gleichzeitig wurde die rechte hintere Tür aufgerissen. Eine Frau ließ sich nackt ins Freie fallen, kam mühsam in den Stand und rannte los. Maria Brancati hatte schneeweiße Haut, und ihre Brüste wippten bei jedem ihrer Schritte aufgeregt mit. Sie versuchte, in den Wald zu flüchten, aber noch bevor sie den Wegrand erreichte, schoss Torrini erneut. KLICK. Aus der Vorderseite ihres Oberschenkels löste sich eine Fontäne von Blut. Sie stürzte schreiend zu Boden, aber so, als glaubte sie noch immer an ein Wunder, kroch sie wimmernd weiter, jetzt jedoch nicht mehr in Richtung der Bäume, sondern genau auf mich zu. Ich stand noch immer mitten auf dem Waldweg. Nur dreißig Meter von den beiden entfernt, völlig regungslos, wie ein mit der Landschaft verschmelzendes Reh. Torrini bemerkte mich auch weiterhin nicht. Für jemanden wie ihn sicher ungewöhnlich, aber er war völlig auf die Frau fokussiert. Maria dagegen hob plötzlich den Kopf und schaute mir genau in die Augen. Als sie mich bemerkte, huschte ein Ausdruck von Hoffnung in ihr Gesicht. Ihr Blick schien sich in meinem festzukrallen. So wie ein Ertrinkender nach einem Holzbalken greift, und sei er auch noch so klein. Torrini lief mit großen Schritten um den Wagen herum. Er war groß und dick, ein wahrer Koloss, und er trug einen dunklen Anzug, der ihm perfekt zu passen schien. Maria öffnete den Mund, doch noch bevor sie etwas sagen konnte, griff Torrini nach ihrer Schulter und warf sie hart auf den Rücken. Während ich noch überlegte, was ich tun sollte, schimpfte er lautstark los, auf Italienisch, so dass ich von dem, was er sagte, kein Wort verstand. In seiner Stimme eine Mischung aus Trauer, Enttäuschung und Wut, die den Grund seines Zorns erahnen ließ.

»Luca, nein«, flehte die Frau – jetzt auf Deutsch, doch Luca Torrini ließ sich nicht erweichen, sondern richtete stattdessen die Pistole auf sie. An seinen Gesichtsausdruck kann ich mich heute noch erinnern. Diese Ahnung, dass er gleich auch ein Stück von sich selbst auslöschen würde. Dieser Zweifel, die getroffene Entscheidung eventuell doch noch zurücknehmen zu wollen.

»Nicht!«, rief ich, so leise, dass ich mir für einen Moment unsicher war, ob er mich tatsächlich gehört hatte. Weit hinter mir auf der Straße fuhr laut heulend ein Motorrad vorbei.

Torrini hob den Kopf und musterte mich verblüfft. Zwei, drei Sekunden lang schien er nachzudenken, ob er von seinem Opfer ablassen und sich erst einmal um mich kümmern sollte. Dann wandte er sich – als wäre ich Luft – wieder Maria Brancati zu, die zitternd vor ihm auf dem Rücken lag, nur mit ihren Nylons bekleidet, schneeweiß und schön. Seine Mimik verformte sich zu einem Ausdruck des Bedauerns, doch während ich noch hoffte, er würde von ihr ablassen, flüsterte er ihr etwas zu und schoss ihr genau ins Gesicht.

Natürlich hat man so etwas im Fernsehen schon tausendmal gesehen. Grausame Morde. Mafiakiller. Mit Blut- und Hirnspritzern übersäte Autoscheiben. Schussverletzungen. Irgendwo habe ich gelesen, dass ein durchschnittlicher Fernsehzuschauer im Laufe seines Lebens Zeuge von etwa fünfzigtausend Morden werden wird. Aber glauben Sie mir! Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man so etwas im Fernsehen oder wirklich erlebt. Im Fernsehen wirken solche Szenen glaubwürdig und real, in der Wirklichkeit dagegen unwirklich und bizarr. Im wirklichen Leben haben solche Szenen einfach nichts zu suchen! Sie gehören ausschließlich in diesen Kasten, der unser aller Wohnzimmer ziert.

Zwei Sekunden lang verharrte Torrini wie in Trance, dann schien er sich unwillig an mich zu erinnern. Er schaute in meine Richtung und hob langsam den Arm. Seine Augen waren voller Tränen. Noch bevor er sein Ziel erfasst hatte, ließ ich das Rad fallen und sprintete in den Wald. Rückblickend betrachtet die einzig richtige Entscheidung. Wäre ich so dumm gewesen, mit einem geübten Schützen im Nacken mein Rad herumzuwerfen und über einen geraden Waldweg zu flüchten, hätte Torrini mich schon damals erledigt. So aber war ich erst einmal seinem Blick entzogen, nur für wenige Sekunden, aber lang genug für eine Chance. Auch Torrini rannte umgehend los. Ich konnte seine Schritte auf dem Waldweg hören, laut und dumpf, aber noch bevor er die Stelle erreichte, an der ich zwischen die Bäume geflüchtet war, erreichte ich eine dicht stehende Ansammlung von mannshohen Tannen, preschte wie ein entschlossener Footballspieler mitten durch sie hindurch und warf mich flach auf den Boden. KLICK! KLICK!, ertönte es zweimal dicht nacheinander, wie eine Drohung, aber wenn man den Schuss hört, ohne einen Einschlag zu spüren, ist die Gefahr bereits vorüber (… es sei denn, man ist tot!), und das Einzige, was ich spürte, war ein heftiges Brennen an meinen Unterarmen und in meinem von Ästen zerkratzten Gesicht. Den Kopf dicht über dem Boden robbte ich eilig los, immer weiter in das Wäldchen hinein, vorsichtig darum bemüht, die noch jungen Nadelbäume nicht durch unachtsame Berührungen in Bewegung zu versetzen. Dabei änderte ich mehrfach die Richtung, so dass ich irgendwann weder wusste, wo ich mich noch wo er sich befand, inständig hoffend, dass es sich mit meinem Verfolger nicht anders verhielt. Inzwischen hatte bestimmt auch er den Rand des Gehölzes erreicht, aber anscheinend war er noch unentschlossen, ob er mir zwischen die Tannen folgen sollte.

Mein Puls raste, aber gleichzeitig war mein Verstand erstaunlich gut in der Lage, die Situation zu analysieren. Dieser Typ war bewaffnet und mir hoffnungslos überlegen. Ich hatte ihn dabei beobachtet, wie er brutal zwei Menschen tötete. Sollte er mich erwischen, würde es mir mit Sicherheit nicht besser ergehen. Mir blieb nur ein einziger Vorteil: Dieser Scheißkerl hatte auf keinen Fall ewig Zeit. Mitten auf dem Waldweg lag noch immer gut sichtbar eine nackte Frau mit zerschossenem Gesicht. Je länger er wartete, desto mehr musste er damit rechnen, dass noch weitere Zeugen auf der Bildfläche erschienen und sich seine Lage dramatisch komplizierte. Sprich: Alles, was ich tun musste, war unsichtbar zu bleiben und zu warten.

So, als wollte der Himmel meine Überlebenschancen schmälern, fing es im selben Moment an zu regnen. Erst kaum spürbar, eher wie eine Andeutung, doch schon wenig später fielen die Tropfen so dicht, dass der Wald um mich herum prasselnd zum Leben erwachte und mir das T-Shirt nass am Körper klebte. Während ich mich flach auf den Moosboden presste und jedes Geräusch vermied, versuchte ich, die Größe des Tannenwäldchens zu schätzen. Fünfzig mal fünfzig Meter vielleicht. Wie viele Patronen blieben meinem Verfolger noch übrig? Drei? Vier? Wie viele Patronen enthielt überhaupt ein gängiges Magazin? Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass mich ein zufällig und blind abgefeuerter Schuss dennoch traf? Solange mein Verfolger keine Ahnung hatte, wo ich mich gerade jetzt befand, wohl verschwindend gering. Ich durfte daher auf keinen Fall in Panik geraten und meine Position verraten.

KLICK!, ertönte es erneut. Fast gleichzeitig hörte ich nur einen halben Meter von mir entfernt ein bösartiges Rascheln. KLICK! Wieder durchschlug eine Kugel in unmittelbarer Nähe die Äste der Tannen. Der Impuls, aufzuspringen und loszulaufen, wurde übermächtig. Dennoch blieb ich, den Tränen nahe, weiterhin liegen. Was dachte sich dieser Kerl? Hielt er mich für so dumm? Wenn er darauf hoffte, mich wie einen Hasen aufscheuchen zu können, hatte er sich gründlich getäuscht. Wenn er mich erledigen wollte, dann musste er sich schon mehr einfallen lassen.

»Komm endlich raus, du verfluchter Scheißer!«, hörte ich ihn rufen, und seine Stimme klang beunruhigend nah. »Die beiden hatten es verdient, verstehst du? Verdient! Ich bin reich, und ich bin auch durchaus bereit, für dein Schweigen zu zahlen.«

Sein italienischer Akzent war nicht zu überhören. Er ließ meine Angst schlagartig anschwellen. Als ob es irgendeinen Unterschied machen würde, ob einen ein Italiener, ein Belgier oder ein Friese umbringen will. Dennoch: Ein Italiener? Bewaffnet. Mit einer Pistole samt Schalldämpfer? In was, zur Hölle, war ich da hineingeraten?

Anscheinend lag ich mitten auf einer Ameisenstraße, denn überall an meinem Körper begann es zu kribbeln. Der Regen nahm ständig zu, aber die kleinen Biester schienen sich dadurch nicht stören lassen zu wollen. Ich schaute mich suchend um – nach einer potentiellen Waffe wie einem großen Stein oder einem soliden Ast, mit dem ich mich notfalls zur Wehr setzen konnte. Im selben Moment vernahm ich schräg hinter mir ein lautes Knacken. Entsetzt begriff ich, dass mein Verfolger noch lange nicht aufgeben wollte. Offenbar war er zum gleichen Schluss gekommen wie ich. Dass seine Zeit begrenzt war und er die Sache zu Ende bringen musste. Aufgrund seines Volumens war er nicht zu überhören. Er bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die Tannen, entschlossen, mich doch noch zu finden, und wenn ich mich nicht täuschte, genau auf mich zu. Ich robbte um mein Leben. Leicht schräg nach links, um nicht länger genau auf seinem Weg zu liegen zu kommen.

»Wenn du gegen mich aussagst, bist zu ein toter Mann«, schrie er außer Atem. »Hörst du? Ganz gleich, wo du Ratte dich versteckst: ich werde dich finden.«

Inzwischen hatte ich den Rand der Baumpflanzung erreicht, während der Italiener seinerseits in ihrem Zentrum angekommen zu sein schien. Etwa hundert Meter entfernt erkannte ich hinter Bäumen und Büschen die schwarze Silhouette des Audis.

Wie lange würde ich brauchen, um den Wagen zu erreichen? Und wie viel Zeit würde dieser Wahnsinnige benötigen, um sich durch die dicht stehenden Tannen hindurch wieder ins Freie zu kämpfen? Wie auch immer, einen Versuch war es wert. Kurz entschlossen sprang ich auf und rannte los. In der Hoffnung, dass mich der Italiener von da, wo er stand, nicht sehen konnte. Glücklicherweise konnte er das wirklich nicht, aber schon die ersten meiner Schritte entlockten dem Waldboden ein infernalisches Knacken.

»Ma vaffanculo!«, schimpfte Torrini los und setzte sich fluchend in Bewegung, doch noch bevor er sich zwischen den dicht beieinander stehenden Tannen durchgezwängt hatte, war ich bereits auf dem Waldweg angekommen.

Erneut entschied ich mich gegen das Rad. Stattdessen sprintete ich gebückt um den Wagen herum. Als ich die Fahrertür aufriss, sah ich erstmals Carlo Riva. Sein Körper durchzog den Innenraum wie eine blutige Diagonale, Kopf und Oberkörper auf der rechten Seite der Rückbank, während seine Beine bizarr angewinkelt den Fahrersitz blockierten. Beide Rückenlehnen waren abgesenkt. Der Tote trug weder Hosen noch Unterhosen. Dort, wo sich vor kurzem noch seine Genitalien befunden hatten, klaffte eine hässlich zerfledderte Wunde. Ein zweites Einschussloch an der Schulter sowie ein drittes in der Stirn. Seine Augen glotzten starr mitten durch mich hindurch. Ich schaute suchend zum Armaturenbrett. Wie ich gehofft hatte, steckte der Zündschlüssel im Schloss. Eine moderne Version, die man nicht drehen, sondern nach vorn drücken musste. Durch die rechte hintere Seitenscheibe konnte ich Torrini durch den Wald auf mich zu laufen sehen.

Eilig ging ich in die Hocke, hob die Beine des Toten an und schob sie mit aller Kraft auf den Beifahrersitz. Dann zwängte ich mich immer noch gebückt hinter das Lenkrad. Das Blut auf dem Fahrersitz sog sich feucht in den Stoff meiner eh schon feuchten Hose und drang körperwarm an meine Haut. Ohne dass ich einen Schuss gehört hätte, splitterte hinten rechts die Seitenscheibe, und auch in der oberen linken Ecke der Frontscheibe klaffte plötzlich ein rundliches Loch. Ich griff fahrig zum Zündschlüssel und drückte ihn ruckartig ins Schloss. Zu meiner Erleichterung sprang der Motor artig an. Lass ihn bloß nicht absaufen, dachte ich, legte den ersten Gang ein und gab Gas. Der Wagen setzte sich zügig in Bewegung, aber ich hatte dennoch das Gefühl, als halte ihn etwas fest. Nach all den Jahren wirst du jetzt doch noch in einem Auto sterben, schrie es in meinem Kopf, während der Motor gequält aufheulte und der Audi schneller und schneller wurde. Sowohl die Beifahrer- als auch die rechte Hintertür standen noch immer weit offen. Ohne mich darum zu kümmern, beschleunigte ich im zweiten Gang auf über siebzig Stundenkilometer. Als eine weitere Kugel die Heckscheibe durchschlug, zog ich den Wagen erschrocken nach rechts, so dass die offenen Türen gegen einen Baumstamm krachten und laut knallend zugeworfen wurden, die Hintertür genau gegen den Kopf des Toten, der sich dadurch ruckartig zur Seite drehte. Im Rückspiegel sah ich Torrini, wie er immer noch hinter mir her rannte und nochmals auf mich anlegte. Dann aber ließ er kopfschüttelnd den Arm sinken und gab auf. Er stand vornüber gebeugt auf dem Waldweg, schwer atmend, wie ein alter, schwacher Bär.

Ich fuhr noch mindestens einen Kilometer weiter, immer geradeaus. Dicke Regentropfen zerplatzten auf der Windschutzscheibe und nahmen mir die Sicht. Irgendwann hielt ich an und starrte benommen auf meine zitternden und blutverschmierten Hände. Eine Minute lang saß ich nur so da, dann ließ ich meinen Blick suchend durch den Wagen wandern. Im Fußraum vor dem Beifahrersitz entdeckte ich ein gepunktetes rotes Kleid, einen Frauenschuh sowie ein rotes Spitzenhöschen. Hinten auf der Rückbank lag Carlo Riva noch immer auf der Seite und starrte tot zur Tür. Neben ihm eine Unterhose, eine Hose und ein Sakko. Ich griff mir kurzentschlossen das Sakko und durchwühlte die Taschen. In einer der Innentaschen fand ich tatsächlich ein Handy, zum Glück ohne PIN.

Kurz darauf berichtete ich dem in der Notrufzentrale zuständigen Polizeibeamten, was sich in den letzten Minuten zugetragen hatte. Naiv davon überzeugt, diesen unglaublichen Vorfall heil überstanden zu haben.

Aber ich sollte mich täuschen.

Denn in Wirklichkeit fing gerade alles erst an.

Die Beamten der Mordkommission gingen die Geschehnisse im Wald mehrmals mit mir durch. Bis ins kleinste Detail. Weil sie mir misstrauten. Weil sie in mir nicht nur einen Zeugen, sondern auch einen Tatverdächtigen sahen. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Auf dem Korridor waren uns zwei Frauen begegnet, die mich fassungslos angestarrt hatten. Als ich wenig später den Vernehmungsraum betrat, fiel mein Blick auf eine fast vollständig verspiegelte Wand, und ich begriff, warum. Der Mann, der mir von jenseits des Glases entgegenblickte, sah aus wie ein grimmiger Krieger. Seine Hände und seine Kleidung waren rot verschmiert, und selbst auf seinem Gesicht klebte in fingerbreiten Streifen trockenes Blut. Ich musterte ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Stolz. War das wirklich ich? Der Stuhl, den sie mir beim Hereinkommen angeboten hatten, bestand aus weißem Kunststoff, und die Tischplatte, auf der ich meine Hände ablegte, war meliert. Nach der Vernehmung würde man sie gründlich abwaschen müssen.

»Ich hätte schnell nach Hause fahren und duschen können«, stellte ich schulterzuckend fest. »Aber Ihre Kollegen von der Spurensicherung wollten das auf keinen Fall zulassen. Stattdessen bestanden sie darauf, mich im Originalzustand zu fotografieren und verschiedene Stellen meines Körpers mit Wattestäbchen abzutupfen. Muss ich mir deswegen Sorgen machen?« Meine Stimme klang nüchtern und sachlich und dadurch auch merkwürdig fremd.

Der Ältere der beiden, der sich mir als Hauptkommissar Klein vorgestellt hatte, schien sich völlig auf meine Mimik zu konzentrieren. »Sie dürfen uns unser Verhalten nicht übelnehmen. Wir gehen grundsätzlich immer vom Schlimmsten aus. Berufskrankheit. Sind Sie sich sicher, dass wir nicht besser einen Psychologen anrufen sollen?«

»Nein danke. Ich komme schon klar.«

»Was Sie dort draußen im Wald erlebt haben, war schlimm.«

»Stimmt. Der Gedanke, noch immer in einer feuchtklammen Hose herumlaufen zu müssen, an der Blut und zerschossene Genitalien kleben, macht es allerdings auch nicht besser.«

Klein lächelte. »Haben Sie Ihre Freundin daran erinnert, saubere Kleidung mitzubringen?«

»Ja.«

»Sie wird vermutlich schon bald hier eintreffen. Im Erdgeschoss gibt es ein kleines Badezimmer. Dort können Sie sich duschen und umziehen.«

»Klingt toll.«