Die kommenden Plagen - Laurie Garrett - E-Book

Die kommenden Plagen E-Book

Laurie Garrett

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Beschreibung

»Alte« Krankheiten, inzwischen gegen Medikamente resistent geworden, kehren wieder zurück, neue kommen hinzu. Aids ist nur die spektakulärste dieser neuen Plagen. Nicht minder bedrohlich sind resistente Tuberkulose und Cholera, gefährliche Bakterienmutanten und exotische Viren, die innerhalb von Stunden den Tod bringen können. Unversehens hat es den Anschein, als sei unser Arsenal an Heilmitteln und Impfstoffen wirkungslos oder zumindest weniger effektiv geworden. Wie ist es dazu gekommen? Welche Folgerungen ergeben sich daraus? (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 1837

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Laurie Garrett

Die kommenden Plagen

Neue Krankheiten in einer gefährdeten Welt

Aus dem Amerikanischen von Tatjana Kruse

FISCHER Digital

Inhalt

Für die Menschen von [...]Vorbemerkung von Prof. Dr. Reinhard KurthVorwortEinleitung1 Machupo • Bolivianisches Hämorrhagisches Fieber2 Der Weg zur Gesundheit • Das optimistische Zeitalter – Der Aufbruch zum Ende jeglicher KrankheitIII3 Affennieren und die Gezeiten • Marburg-Virus, Gelbfieber und die brasilianische Meningitis-EpidemieIIIIII4 In die Wälder • Lassa-Fieber5 Yambuku • EbolaIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXX6 Die amerikanische Zweihundertjahrfeier • Schweinegrippe und LegionärskrankheitIIIIIIIVVVI7 N’zara • Lassa, Ebola und die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Entwicklungsländer8 Revolution • Gentechnik und die Entdeckung der Onkogene9 Mikrobenmagneten • Städtische KrankheitszentrenIIIIII10 Ferner Donner • Sexuell übertragbare Krankheiten und JunkiesIIIIII11 Hatari: Vinidogodogo »Ein sehr, sehr kleines gefährliches Ding« • Der Ursprung von AIDSEinleitungIIIIIIIV12 Weibliche Hygiene – weitestgehend aus der Sicht der Männer • Das Toxischer-Schocksyndrom13 Die Rache der Mikroben oder »Erfindet einfach weiter neue Medikamente« • Medikamentenresistente Bakterien, Viren und ParasitenIIIIIIIV14 Verdritteweltlichung • Das Zusammenspiel von Armut, schlechter Unterbringung, gesellschaftlicher Verzweiflung und KrankheitIIIIII15 Alles zu seiner Zeit • Hantaviren in Amerika16 Die Natur und der Homo sapiens • Robbenpest, Cholera, globale Erwärmung, Biodiversität und die Mikrobielle Nährsuppe17 Auf der Suche nach Lösungen • Bereitschaft, Überwachung und ein neues VerständnisNachwortAnhangAnmerkungenDanksagungVerzeichnis der LandkartenNamen- und Sachregister

Für die Menschen von Bukuba, Lasaka, Daressalam und Dutzenden anderer afrikanischer Orte, die im Laufe der Jahre so großzügig ihr Leben und ihre Weisheit mit einer neugierigen weißen Frau aus dem Westen geteilt haben. Betrachtet dies als Anzahlung auf eine enorme Schuld.

 

Afrika: Asanta sana, Mwalimu.

Vorbemerkung

Mit den Menschen vermehren sich auch deren Viren, Bakterien und Parasiten. Laurie Garrett beschreibt brillant und enzyklopädisch, wie in den vergangenen Jahrzehnten bis dahin völlig unbekannte Erreger die Menschen heimsuchten – mit nicht selten tödlichen Konsequenzen. AIDS- und Ebola-Viren sind nur die bekanntesten Vertreter von vielen.

Laurie Garretts beunruhigende Botschaft ist sehr klar: Wir Menschen bestimmen durch unser Handeln, ob Infektionskrankheiten zurückgedrängt, ja sogar völlig beseitigt werden können oder ob unsere Nachlässigkeiten neuartigen Epidemien Vorschub leisten. Die Pocken wurden durch konsequentes Impfen 1978 weltweit ausgerottet. Kinderlähmung, Masern, Röteln usw. hätten auf diese Weise ebenfalls längst verschwunden sein können. Statt dessen führt unser fahrlässiges Verhalten, u.a. auch die Bevölkerungsexplosion mit ihren Armutskonsequenzen, zu dem stetig steigenden Risiko, daß zukünftig insbesondere neuartige oder genetisch veränderte Viren weit mehr Opfer fordern und ganze Gesellschaften zerstören können. Laurie Garrett warnt zu Recht.

 

Prof. Dr. Reinhard Kurth Paul-Ehrlich-Institut Langen bei Frankfurt am Main

Vorwort

Wir neigen gern zu der Ansicht, daß die Geschichte nur »denen damals« geschehen ist und daß wir irgendwie außerhalb der Geschichte stehen, anstatt in sie verstrickt zu sein. Vieles in der Geschichte ereignete sich plötzlich und überraschend, vorhersagbar nur in der Rückschau: Der Fall der Berliner Mauer ist eines der neuesten Beispiele. Dennoch können wir auf einem ganz wichtigen Gebiet, dem des Auftauchens und der Ausbreitung neuer Infektionskrankheiten, die Zukunft bereits vorhersagen – und die ist für uns alle bedrohlich und gefährlich.

Die Geschichte unserer Zeit wird von wiederkehrenden Ausbrüchen neu entdeckter Krankheiten gekennzeichnet sein (die letzte war der Hantavirus im Westen Amerikas); Epidemien von Krankheiten, die in neue Bereiche vorstoßen (beispielsweise die Cholera in Lateinamerika); Krankheiten, die durch menschliche Technologien Bedeutung erlangen (wie bestimmte Tampons dem Toxic Shock Syndrome Vorschub leisteten und Wasserkühltürme einen Nährboden für die Legionärskrankheit boten); und Krankheiten, die von Insekten und Tieren durch die vom Menschen verursachte Störung ihres natürlichen Habitats auf Menschen übertragen werden.

In gewissem Maße hat es jeden dieser Vorgänge in der Geschichte schon immer gegeben. Neu ist jedoch das gestiegene Potential, mit dem zumindest einige dieser Krankheiten großflächige, sogar weltweite Epidemien hervorrufen können. Die globale Epidemie des menschlichen Immunschwächevirus ist das eindrucksvollste und jüngste Beispiel. Dennoch steht AIDS nicht allein, es könnte gut auch nur die erste einer ganzen Reihe moderner weiträumiger Epidemien von Infektionskrankheiten sein.

Die Welt ist in schnellem Tempo immer verletzlicher geworden – gegenüber den Ausbrüchen und mehr noch gegen die großflächige, ja sogar weltweite Ausbreitung von sowohl neuen wie alten Infektionskrankheiten. An dieser neuen und erhöhten Verletzlichkeit ist nichts Geheimnisvolles. Der dramatische Anstieg in der weltweiten Wanderung von Menschen, Gütern und Ideen ist die treibende Kraft hinter der Globalisierung von Krankheiten. Die Menschen reisen nicht nur mehr, sie reisen auch viel schneller und besuchen viel mehr Orte als jemals zuvor. Ein Mensch, der eine lebensbedrohliche Mikrobe in sich trägt, kann leicht einen Jet besteigen und sich bereits auf einem anderen Kontinent befinden, wenn die ersten Symptome der Krankheit auftreten. Das Flugzeug selbst und seine Fracht können Insekten beherbergen, die infektiöse Erreger in neue ökologische Umfelder tragen. Wenige Habitate auf dem Globus sind wirklich isoliert oder unberührt geblieben, da Touristen und andere Reisende auf ihrer Suche nach neuen Sehenswürdigkeiten, Erholungsgebieten oder geschäftlichen Möglichkeiten in die abgelegensten und zuvor unzugänglichen Gebiete eindringen.

Diese neue globale Verletzlichkeit zeigt sich auf drastische Weise am Beispiel von HIV/AIDS. Seine geographischen Wurzeln liegen immer noch im dunkeln, aber es ist klar, daß die globale Ausbreitung von HIV Mitte der siebziger Jahre begann. 1980 waren ungefähr 100000 Menschen weltweit mit HIV infiziert. Dennoch waren die Entdeckung von AIDS in Kalifornien im Jahre 1981 und die nachfolgende Identifikation des verursachenden HIV-Virus im Jahre 1983 das Ergebnis einer Reihe äußerst glücklicher Umstände. Anders gesagt, AIDS hätte leicht mindestens weitere fünf bis zehn Jahre unerkannt bleiben können – mit verheerenden Folgen für die globale Gesundheit. Eine Verzögerung bei der Entdeckung von AIDS hätte aus einem oder mehreren der folgenden Umstände entstehen können:

 

wenn HIV länger gebraucht hätte, um eine nachweisbare, klinische Krankheit hervorzurufen (AIDS);

wenn die Immunschwäche von AIDS zu einem Anstieg von typischeren Infektionen geführt hätte, anstatt zu den leicht zu erkennenden, bizarr opportunistischen Infektionen (Pneumocystis-carinii-Pneumonie) oder Krebsformen (Kaposi-Sarkom);

wenn AIDS sich nicht nur auf die bekennenden, aktiv schwulen Männer, sondern sich innerhalb der Gesellschaft auf einer breiteren Basis verbreitet hätte;

wenn AIDS nicht in einem Land mit einem hochentwickelten Krankheitsüberwachungssystem (USA) aufgetreten wäre, das in der Lage war, die Fallberichte aus vielen verschiedenen geographischen Gebieten miteinander zu verbinden;

und wenn nicht vor kurzem die Humanretrovirologie entwickelt worden wäre, einschließlich ihrer Diagnosetechniken.

Bei AIDS führte eine Kombination aus Zufall und glücklichen Umständen die Wissenschaftler relativ schnell zu der Schlußfolgerung, daß eine neue Gesundheitsbedrohung entstanden war.

AIDS versucht, uns eine Lektion beizubringen. Diese Lektion besagt, daß ein gesundheitliches Problem in jedem Teil der Welt schnell zu einer Bedrohung für viele oder alle werden kann. Ein weltweites »Frühwarnsystem« ist nötig, um die Ausbrüche neuer Krankheiten oder eine ungewöhnliche Ausbreitung alter Krankheiten schnell festzustellen. Ohne ein solches System, das auf einer wahrhaft globalen Ebene operieren muß, sind wir im Grunde schutzlos und verlassen uns zu unserem Schutz einfach auf unser Glück.

Laurie Garrett hat mit diesem Buch Pionierarbeit geleistet. Sie erzählt von realen Menschen, von Schweiß und Entschlossenheit, von den Entdeckungen, die uns zu der Erkenntnis geführt haben, daß die Infektionskrankheiten nicht besiegt worden sind – ganz im Gegenteil. In Bolivien, im Sudan, in Sierra Leone und in Zaire traf eine Gruppe sehr gut ausgebildeter, hingebungsvoller und mutiger Leute den Feind auf seinem Terrain. Sie stellten sich dem Unbekannten an den Grenzen der Wissenschaft, sie kämpften und rangen der Natur eine Einsicht ab, die Laurie Garrett mit uns teilt – daß Krankheiten eine Bedrohung bleiben werden, daß Krankheit und menschliche Aktivität untrennbar miteinander verbunden sind und daß die Natur noch viele Geheimnisse und Überraschungen für uns bereithält.

Die Reise, auf die Laurie Garrett uns mitnimmt, zeugt von großer Anteilnahme. Ich hatte das Privileg, viele der Menschen in diesem Buch zu kennen. Es sind ganz besondere Helden: Sie verbinden Wissenschaft, Neugier und humanitäre Besorgnis mit einer äußerst praktischen »Packen-wir-es-an«-Einstellung. Nicht jeder konnte, so wie Joe McCormick, sich vor Ort betätigen, bewaffnet nur mit seinem Willen, seiner Intelligenz und der Zuversicht, daß ein Weg nach vorn gefunden werden würde.

Sie haben für uns Pionierarbeit geleistet. Wir schulden ihnen Dank. Laurie Garrett hat uns den großen Dienst erwiesen, sie und ihre Arbeit einem großen Publikum vorzustellen. Für all jene, die friedlich schlafen, ohne sich dieser auftauchenden globalen Bedrohung durch Infektionskrankheiten bewußt zu sein, und für all jene, die durch dieses Buch die neuen globalen Realitäten kennenlernen, ist es wichtig, diesen Männern und Frauen zu begegnen, die sich der Krankheit an ihrer Grenze zur Gesellschaft stellen.

Dieses Buch löst Alarm aus. Die Welt braucht – jetzt – ein globales Frühwarnsystem, das in der Lage ist, neu auftauchende infektiöse Bedrohungen unserer Gesundheit aufzuspüren und darauf zu reagieren. Es gibt keine deutlichere Warnung als AIDS. Laurie Garrett hat es für uns deutlich ausgesprochen. Wenn wir das jetzt ignorieren, dann auf eigene Gefahr.

 

Dr. Jonathan Mann, M.P.H. Professor für Epidemiologie und internationale Gesundheit an der Harvard School of Public Health Direktor des International AIDS Center Harvard AIDS Institute Cambridge, Massachusetts

Einleitung

Als mein Onkel Bernard 1932 sein Medizinstudium an der University of Chicago aufnahm, war er bereits Zeuge der großen Grippepandemie von 1918 und 1919 geworden. Im Alter von sieben Jahren zählte er die Leichenwagen, die durch die Straßen von Baltimore fuhren. Drei Jahre zuvor wäre Bernards Vater beinahe an Typhus gestorben, den er sich im Geschäftsviertel von Baltimore zugezogen hatte. Und kurz darauf starb sein Großvater an Tuberkulose.

Mit zwölf Jahren erkrankte Bernard scheinbar an einer »Sommergrippe« und mußte die langen, heißen Tage von Maryland im Bett verbringen. Er »benahm sich äußerst merkwürdig«, bemerkte seine Mutter. Erst 1938, als Onkel Bernard sich während seiner Assistenzzeit an der medizinischen Fakultät der University of California in San Francisco freiwillig für Röntgenaufnahmen zur Verfügung stellte, entdeckte er, daß es sich bei dieser »Sommergrippe« in Wirklichkeit um Tuberkulose gehandelt hatte. Zweifelsohne hatte er sich bei seinem Großvater mit der Schwindsucht angesteckt. Er hatte die Krankheit überlebt, trug jedoch für den Rest seines Lebens verräterische Narben auf der Lunge davon, die bei den Röntgenaufnahmen seines Brustkastens zutage traten.

Damals hatte anscheinend jeder Tuberkulose (Tb). Als der junge Bernard Silber sich in Chicago seinen Weg durch das Medizinstudium bahnte, wurden neue Pflegeschülerinnen routinemäßig auf Antikörper gegen Tb getestet. Die Frauen, die aus ländlichen Gebieten stammten, testeten zu Beginn ihrer Ausbildung stets negativ auf Tb. Und ebenso sicher testeten sie nach einem Jahr in den städtischen Krankenhausstationen ausnahmslos Tb-positiv. Jede Krankheit konnte in jenen Tagen eine latente Tb-Infektion auslösen, und die Tuberkulose-Sanatorien waren völlig überbelegt. Die Behandlung beschränkte sich im wesentlichen auf Bettruhe und eine Vielzahl von heftig umstrittenen Diäten, auf körperliche Ertüchtigung, frische Luft und außergewöhnliche Pneumothorax-Eingriffe.

1939 begann Onkel Bernard eine zweijährige Assistenzzeit am Los Angeles County Hospital. Dort traf er meine Tante Bernice, eine Sozialfürsorgerin. Bernice hinkte und war auf einem Ohr taub – Folgen einer bakteriellen Infektion in ihrer Kindheit. Mit neun Jahren wuchsen die Bakterien in ihrem Ohr und infizierten schließlich den Warzenfortsatz des Schläfenbeins. Als Komplikation trat eine Osteomyelitis auf, die ihr rechtes Knie im Vergleich zum linken um etwa drei Zentimeter verkürzte und Bernice zwang, X-beinig zu gehen, um ihr Gleichgewicht zu halten. Kurz nach ihrer ersten Begegnung erkrankte Bernard an einer scheußlichen Pneumokokkeninfektion, und weil er Arzt war, wurde ihm eine Behandlung nach den neuesten Erkenntnissen zuteil: liebevolle Pflege und Sauerstoff. Vier Wochen lag er als Patient im Los Angeles County Hospital darnieder und hoffte, er würde zu den 60 Prozent der Amerikaner gehören, die vor den Tagen der Antibiotika eine bakterielle Lungenentzündung überlebten.

Bakterielle Infektionen waren vor 1944, als die ersten Antibiotikamedikamente auf den Markt kamen, nicht nur weit verbreitet, sondern auch sehr gravierend. Mein Onkel Bernard konnte Scharlach, eine Pneumokokken-Pneumonie, akuten fieberhaften Gelenkrheumatismus, Keuchhusten, Diphterie oder Tuberkulose in nur wenigen Minuten mit wenig oder gar keiner Hilfe aus dem Labor diagnostizieren. Die Ärzte mußten in der Lage sein, schnell zu handeln, weil diese Infektionen rasch eskalieren konnten. Außerdem konnte ein Labor einem Arzt 1940 nur wenig mitteilen, was ein gut ausgebildeter Mediziner mit scharfer Beobachtungsgabe nicht von selbst hätte erkennen können.

In jenen Tagen waren Viren wie eine riesige Black box, und obwohl Bernard keine Probleme hatte, Röteln, Grippe, St. Louis-Enzephalitis und andere Viruskrankheiten voneinander zu unterscheiden, gab es weder eine Behandlungsmöglichkeit noch ein tieferes Verständnis dessen, was diese winzigsten aller Mikroben dem menschlichen Körper antaten.

Im Zweiten Weltkrieg kam Onkel Bernard mit der Tropenmedizin in Berührung. Er diente bei der Sanitätstruppe der Armee in Guadalcanal und auf anderen Schlachtfeldern im Pazifik. Dort lernte er aus erster Hand die Krankheiten kennen, von denen er auf der medizinischen Fakultät nur sehr wenig gehört hatte: Malaria, Denguefieber und eine Vielzahl parasitärer Krankheiten. Chinin eignete sich gut zur Behandlung von Malaria, aber es gab nur wenig, was er für die GIs tun konnte, die unter anderen tropischen Organismen litten, von denen es im Pazifikspektakel so unzählig viele gab.

Zwei Jahre nach Kriegsbeginn verteilte die Armee die ersten mageren Vorräte an Penicillin und wies die Ärzte an, das kostbare Medikament sparsam einzusetzen – in einer Dosis von ungefähr 5000 Einheiten (weniger als ein Drittel dessen, was 1993 als Minimaldosis an Penicillin bei leichten Infektionen galt). In jenen ersten Tagen – bevor die Bakterien gegen Antibiotika resistent wurden – war eine solche Dosis in der Lage, Wunder zu wirken, und die Armeeärzte waren von der Wirksamkeit des Penicillins derart beeindruckt, daß sie den Urin der Patienten, die das Medikament erhielten, sammelten und ausgeschiedenes Penicillin kristallisierten, um es anderen GIs zu verabreichen.

Als ich Jahre später in meinem Abschlußjahr an der University of California in Berkeley Immunologie belegt hatte, ergötzte mich Onkel Bernard mit seinen Geschichten – sie klangen nach der Medizin des finsteren Mittelalters. Ich war mit solchen Dingen wie fluoreszenzaktivierten Zellsortern beschäftigt, die verschiedene Arten von lebenden Zellen des Immunsystems trennen konnten, mit der neuen Wissenschaft der Gentechnik, mit monoklonalen Antikörpern und der Entschlüsselung des genetischen Codes des Menschen.

»Ich vergleiche die Herstellung von Antibiotika stets gern mit dem Finanzamt«, meinte Onkel Bernard, wenn ich nur wenig Interesse an der vor-antibiotischen Notlage amerikanischer Ärzte zeigte. »Die Menschen suchen immer nach Schlupflöchern, aber sobald sie eines gefunden haben, wird es schon vom Finanzamt gestopft. Bei den Antibiotika ist es ebenso – kaum hat man ein Antibiotikum entdeckt, werden die Bakterien schon dagegen resistent.«

Im Sommer 1976 bot sich mir die Gelegenheit, die Weisheiten von Onkel Bernard neu zu überdenken. Als ich versuchte, meiner Abschlußarbeit – einem Forschungsprojekt am Medical Center der Stanford University – Hand und Fuß zu verleihen, quollen die Nachrichten über von Geschichten über Infektionskrankheiten. Die amerikanische Regierung sah eine massive Grippewelle voraus, die laut einigen Experten die Epidemie von 1918 noch übertreffen würde – ein globaler Horror, der über 20 Millionen Opfer forderte. Eine Gruppe ehemaliger Frontkämpfer traf sich am vierten Juli in einem Hotel in Philadelphia, und plötzlich erkrankten 182 von ihnen schwer, 29 starben. Etwas besonders Merkwürdiges ging in Afrika vor sich: In Zaire und im Sudan starben die Menschen verworrenen Presseberichten zufolge an einem schrecklichen neuen Virus. Das Grüne-Meerkatzen-Virus, das Marburg-Virus, das Ebola-Virus oder eine Mischung aller drei Namen beschäftigte die Aufmerksamkeit von Experten aus aller Welt.

1981 veröffentlichte Dr. Richard Krause von den National Institutes of Health in den USA ein provokatives Buch mit dem Titel The Restless Tide: The Persistent Challenge of the Microbial World.[1] Darin hieß es, daß Krankheiten, die man schon lange für besiegt hielt, zurückkehren und das amerikanische Volk gefährden könnten. Ein Jahr später wurde Krause bei einer Anhörung vor dem amerikanischen Kongreß gefragt: »Warum gibt es so viele neue Infektionskrankheiten?«

»Das ist nichts Neues«, erwiderte Krause. »Seuchen sind uns so sicher wie der Tod und die Steuern.«[2]

Doch wollten aufgrund des Schocks der AIDS-Epidemie in den achtziger Jahren viele Virusexperten die Möglichkeit nicht ausschließen, daß tatsächlich etwas völlig Neues geschah. Während sich die Epidemie von einem Teil der Welt in einen anderen ausbreitete, fragten sich die Wissenschaftler: »Woher kommt dieses Virus? Gibt es da draußen noch andere Erreger? Wird gar noch etwas Schlimmeres auftauchen – etwas, was in der Luft von Mensch zu Mensch übertragen wird?«

Die Fragen wurden im Verlauf der achtziger Jahre immer lauter. Bei einer Cocktailparty der Rockefeller University trat ein junger Virologe namens Stephen Morse auf den berühmten Präsidenten der Institution, den Nobelpreisträger Joshua Lederberg, zu und fragte ihn, was er von der wachsenden Besorgnis hinsichtlich neu auftauchender Mikroben hielte. Lederberg antwortete wie üblich ganz allgemein: »Das Problem ist ernst, und es wird schlimmer.« Mit dem Gefühl einer gemeinsamen Mission machten sich Morse und Lederberg daran, ihre Kollegen in dieser Sache zu vereinen, Beweise zu sammeln und einen Fall aufzubauen.

1988 kam eine beeindruckende Gruppe amerikanischer Wissenschaftler – in erster Linie Virologen und Tropenmediziner – zu dem Schluß, daß es an der Zeit sei, die Alarmglocke zu läuten. Angeführt von Morse und Lederberg von der Rockefeller University, von Tom Monath vom Medical Research Institute of Infectious Diseases der amerikanischen Armee und von Robert Shope von der Arbovirus Research Unit der Yale University, suchten die Wissenschaftler nach einer Möglichkeit, ihrer gemeinsamen Besorgnis Nachdruck zu verleihen. Ihre größte Sorge galt der Gefahr, daß man sie für »Heulsusen« halten könnte, die es nur darauf abgesehen hätten, gegen die Kürzung der Forschungsgelder zu protestieren. Oder daß man sie beschuldigen könnte, blinden Alarm zu schlagen.

Am 1. Mai 1989 trafen sich die Wissenschaftler im Hotel Washington gegenüber dem Weißen Haus und diskutierten drei Tage lang darüber, wie man beweisen könnte, daß die krankheitsverursachenden Mikroben unseres Planeten noch längst nicht besiegt waren, sondern vielmehr eine größere Bedrohung der Menschheit darstellten denn je. Ihre Versammlung wurde unter anderem von den National Institutes of Allergy and Infectious Diseases, vom Fogarty International Center und der Rockefeller University finanziell unterstützt.

»Die Natur ist nicht gütig«, erklärte Lederberg in seiner Eröffnungsrede. »Es sieht doch so aus: Die Einheiten der natürlichen Auslese – DNA, manchmal RNA-Elemente – sind keineswegs nett in isolierten Organismen verpackt. Sie alle teilen sich die gesamte Biosphäre. Das Überleben der menschlichen Spezies ist kein vorherbestimmtes evolutionäres Programm. Im Überfluß vorhandene Quellen genetischer Variationen stehen den Viren zur Verfügung, um neue Tricks zu lernen – und die beschränken sich nicht notwendigerweise auf das, was für gewöhnlich oder auch nur häufig geschieht.«

Der Historiker William McNeill von der University of Chicago skizzierte die Gründe, warum der Homo sapiens in den letzten Jahrtausenden gegenüber mikrobiellen Angriffen so verletzlich war. Er betrachtete jede katastrophale Epidemie in der menschlichen Geschichte als das ironische Ergebnis menschlichen Fortschritts. McNeill warnte, daß wir unsere Anfälligkeit gegenüber Krankheiten um so mehr erhöhen, je weiter wir uns entwickeln.

»Ich halte es für ratsam, sich der Grenzen unserer Macht bewußt zu sein«, meinte McNeill. »Wir sollten eines nicht vergessen: Je mehr wir gewinnen, je mehr wir Infektionen an den Rand menschlicher Erfahrung drängen, desto stärker bereiten wir den Weg für mögliche katastrophale Infektionen. Wir entkommen niemals den Grenzen des Ökosystems. Wir sind Gefangene der Nahrungskette, ob uns das gefällt oder nicht. Wir fressen, und wir werden gefressen.«

Drei Tage lang legten die Wissenschaftler Beweise vor, die McNeills prophetische Worte bestätigten: Viren mutierten mit ungeheurer Geschwindigkeit. Noch während die Forscher tagten, fand aufgrund einer Seuche ein gewaltiges Robbensterben statt; über 90 Prozent aller Hasen in Australien starben in einem einzigen Jahr, nachdem ein neues Virus aufgetaucht war; große Grippepandemien grassierten in der Tierwelt; der Andromeda-Strang tauchte in Afrika beinahe in der Form des Ebola-Virus auf; in den Entwicklungsländern entstanden gigantische Großstädte und schufen Nischen, in denen »so gut wie alles ausgebrütet werden konnte«; die Zerstörung der Regenwälder zwang krankheitsübertragende Tiere und Insekten in menschliche Siedlungsgebiete und ließ es mehr als wahrscheinlich werden, daß zum erstenmal tödliche, geheimnisvolle Mikroben die Menschheit in großem Umfang befallen und das Überleben der menschlichen Spezies gefährden konnten.

Ich gehörte zur jüngeren Generation, die gelernt hatte, der Heilmedizin zu vertrauen und sich um Infektionskrankheiten nur wenig Sorgen zu machen. Ich erlebte die Diskussion nicht als empirisch-wissenschaftlich, sondern als romanreif, wie aus den Büchern von Michael Crichton. Dennoch mußte ich – ebenso wie Tausende junger Wissenschaftler, die ebenfalls in der nach-antibiotischen, gentechnischen Ära aufgewachsen waren – einräumen, daß die Liste erst kürzlich aufgetauchter Viren beeindruckend war: das Immunschwächevirus beim Menschen, das AIDS verursachte, HTLV I und II, die mit Blutkrebs in Verbindung standen, mehrere Arten neu entdeckter, Hepatitis verursachender Viren und zahlreiche Hämorrhagie verursachende Viren, die in Afrika und Asien entdeckt worden waren.

Im Februar 1991 richtete das Institute of Medicine (IOM), das zu der amerikanischen Akademie der Wissenschaften gehört, eine besondere Kommission ein. Sie hatte die Aufgabe, die Fragen, die 1989 bei dem Treffen der Wissenschaftler aufgebracht worden waren, zu verfolgen und die Regierung in zwei Punkten zu beraten: über das Ausmaß der mikrobiellen Bedrohung der amerikanischen Bevölkerung und über mögliche Schritte zur Verbesserung der Krankheitsüberwachung in den USA. Im Herbst 1992 veröffentlichte die IOM-Gruppe ihren Bericht Emerging Infections: Microbial Threats to Health in the United States.[3] Darin kam die Kommission zu dem Schluß, daß die Gefahr des Auftauchens von Infektionskrankheiten in den Vereinigten Staaten keineswegs gegenstandslos war, die Behörden jedoch schlecht ausgerüstet seien, um neue Epidemien vorauszusehen bzw. in den Griff zu bekommen.

»Unsere Botschaft lautet, daß das Problem ernst ist, daß es schlimmer wird und wir unsere Anstrengungen im Kampf dagegen verstärken müssen«, erklärte Lederberg anläßlich der Veröffentlichung des Berichts.

Nach der Veröffentlichung des Berichts begannen die amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta eine Gewissensprüfung, die im Frühjahr 1994 in dem Vorsatz resultierte, wachsamer zu sein und schneller auf Krankheitsausbrüche zu reagieren. Die langsame Reaktion auf das Auftauchen von HIV im Jahr 1981 hatte dazu geführt, daß die Epidemie sich bis 1993 auf 1,5 Millionen Amerikaner ausgebreitet hatte und die Bundesregierung jährlich über zwölf Milliarden Dollar an Forschungsgeldern, für Medikamentenentwicklung, Aufklärung und Behandlung kostete.

Die CDC waren entschlossen, einen solchen Fehler nicht noch einmal zu begehen.

1993 gab es jedoch auch Stimmen anderer Art, die sowohl gegen die oft allzu starke Ausrichtung der amerikanischen Wissenschaftler auf das Virusproblem als auch gegen ihr ausschließliches Augenmerk auf Bedrohungen, die nur amerikanische Bürger betrafen, protestierten. Krankheitsbekämpfer wie Joe McCormick, Peter Piot, David Heymann, Jonathan Mann und Daniel Tarantola brachten nachdrücklich vor, daß Mikroben keinen Respekt für vom Menschen errichtete Landesgrenzen aufbringen würden. Außerdem, so meinten sie, seien in einem Großteil der Welt die gefährlichsten neuen Krankheiten nicht viraler Natur, sondern bakterieller oder parasitärer. Sie traten für eine umfassendere Perspektive ein.

Andere Kritiker waren der Ansicht, die historische Sicht von den stümperhaften, fehlgeleiteten Versuchen der Menschheit, die Mikroben zu beherrschen, zeige, daß ein Großteil der Schuld gerade bei jenen Wissenschaftlern lag, die jetzt nach größerer Wachsamkeit verlangten. Uwe Brinkmann, Andrew Spielman und Isao Arita warfen ein, daß die Methoden der Mikrobenkontrolle, die aus Sicht der Forschungslaboratorien und Regierungsstellen im reichsten Land der Erde Sinn zu machen schienen, sich in den ärmeren Ländern des Planeten als katastrophal erweisen könnten.

Die Kritiker brachten vor, daß die Amerikaner aufgrund ihrer Beschränkung auf das Auftauchen von Krankheiten in den Vereinigten Staaten das wahre Bild außer acht ließen. Dieses Bild war eingefangen im Anblick eines kleinen Ndbele-Mädchens, das in einen grünen Kanga eingewickelt auf dem harten Lehmboden einer Pflegestation von Bulawayo in Zimbabwe lag. Ihre Mutter saß an ihrer Seite und warf beschwörende Blicke auf jeden Fremden, der die Zwei-Zimmer-Klinik betrat. Das vierjährige Mädchen weinte leise.

»Sie hat Masern«, meinte der Klinikleiter und zeigte mit dem Finger auf das Kind. Der Direktor führte den Beobachter hinaus, um ihm die örtlichen Innovationen in Sanitärhygiene vorzuführen sowie die Anstrengungen, den Proteingehalt in der Ernährung der Dorfkinder zu erhöhen.

Als er eine Stunde später zu dem Klinikgebäude aus Flechtlehm zurückkehrte, schaukelte die Mutter auf ihren Fußballen vor und zurück, und die Tränen rannen ihr still über das Gesicht. Das leise Weinen des Kindes hatte aufgehört. Einige Stunden später legten die Mutter und ihr Ehemann eine zusammengerollte Strohmatte, in der die Leiche ihres kleinen Mädchens lag, über die Griffe eines Fahrrades. Sie starrten blicklos auf den Horizont und schoben ihr Rad hoffnungslos den roten Lehmweg entlang.

Zu einer Zeit, in der die Mütter in den wohlhabendsten Ländern der Erde ihre Kinder »immunisierten«, indem sie ihre Kleinen absichtlich Masern, Mumps sogar Windpocken aussetzten, zwangen diese Krankheiten Eltern in einigen Teilen der ärmsten Länder dieser Erde dazu, mit der Aussicht fertig zu werden, daß höchstwahrscheinlich die Hälfte ihrer Kinder vor dem 10. Lebensjahr sterben würde.

Die lange Liste von Schutzimpfungen und verschreibungspflichtigen Medikamenten, die amerikanische Ärzte ihren Patienten aufdrängten, bevor diese weiter südlich als bis Tijuana reisten, war beredter Zeuge für die Kluft an Wohlstand und Entwicklung, die es auf der Welt gab. In den siebziger Jahren schickten Amerikaner und Europäer, die über die Armut der südlichen Hemisphäre betroffen waren, Geld in die ärmsten Länder für Projekte, welche die Bevölkerung in das »moderne Zeitalter« führen sollten. Die Logik dahinter besagte, daß der Gesundheitszustand eines Volkes sich verbessern würde, wenn seine Gesamtstruktur und -wirtschaft der von Kanada, den USA und Westeuropa ähnlicher würde.

1990 kamen die größten Hilfsorganisationen der Welt gezwungenermaßen zu dem Schluß, daß die Modernisierungsbemühungen das Elend des Durchschnittsmenschen in der Dritten Welt nur zu verschlimmern schienen. Gleichzeitig wuchsen die Macht, der Wohlstand und die Korruption der jeweiligen nationalen Elite sowie der Konzerne in der Hand ausländischer Investoren. Landwirtschaftliche Gesellschaften wurden im Laufe nur einer Generation zu Ländern umgewandelt, die sich immer mehr um riesige urbane Zentren scharten. Diese Städte breiteten sich wie gräßliche Raupen über das Land aus, verschlangen die traditionelle Lebensweise und das Umfeld der Menschen und zwangen junge Arbeitssuchende in wuchernde semi-urbane Slums, die nicht einmal ansatzweise über ein angemessenes Sanitärwesen oder ein öffentliches Gesundheitswesen verfügten.

Auf dem freien Markt der industrialisierten Welt wurden sich in den siebziger Jahren Menschen aller gesellschaftlichen Sphären in zunehmendem Maße der Verbindung zwischen Umweltverschmutzung und individueller Gesundheit bewußt. Als die Gefahren durch einen Mißbrauch von Pestiziden, Bleifarben, Asbestfasern, Luftverschmutzung und behandelten Lebensmitteln offenbar wurden, verlangten die Bürger der Industrienationen dieser Erde lautstark nach Bestimmungen, um die Verschmutzung der Umwelt und der Nahrungsmittelvorräte einzuschränken.

Mit der Entdeckung des Ozonlochs begannen die Wissenschaftler weltweit eine Debatte über die globale Verantwortung, einer weiteren Zerstörung der schützenden Gasschicht des Planeten durch Umweltverschmutzung Einhalt zu gebieten. Auf ähnliche Weise argumentierten Meeresbiologen mit zunehmender Vehemenz, daß alle Länder der Erde die Verantwortung für den bedauernswerten Zustand der Weltmeere und die bevorstehende Ausrottung bzw. die Gefahr der Ausrottung von Fischen, Korallen und Säugetieren trugen. Umweltschützer wandten ihre Aufmerksamkeit dem Schutz der globalen Natur zu. Biologen wie E.O. Wilson von Harvard und Frank Lovejoy vom Smithsonian Institute warnten vor einer globalen Massenausrottung der Tier- und Pflanzenwelt, die sogar das große Dinosauriersterben in der Kreidezeit übertreffen könnte.

Wilson führte die fossilen Beweise für fünf große Wellen in der Frühgeschichte der Erde an, bei denen Tiere und Pflanzen ausstarben, und er fragte, wieviel mehr Umweltzerstörung aus der Hand des Menschen toleriert werden könnte: »Diese Zahlen sollten jeden einhalten lassen, der glaubt, was der Homo sapiens zerstört, würde die Natur schon wieder einrenken. Das mag ja so sein, aber nicht innerhalb einer Zeitspanne, die für die gegenwärtige Menschheit von Bedeutung wäre.«[4]

Während sich die Menschheit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts näherte, drang die Vorstellung eines Globalen Dorfes – zuerst in den sechziger Jahren von dem kanadischen Philosophen Marshall McLuhan als Beschreibung für die durch die Technologie der Massenmedien geschaffene weltweite wechselseitige Verbundenheit geprägt – auch in Zusammenhang mit der Ökologie der Erde eindeutig in das Massenbewußtsein. Umweltschützer dachten an die Makroebene und arbeiteten Möglichkeiten aus, um die Walfangpolitik so disparater Gebiete wie Japan, Alaska, Rußland und Norwegen zu ändern. Die Weltbank beschloß, ökologische Bedenken in ihre Parameter für die Vergabe von Krediten an Entwicklungsländer mit einzuschließen. Der nukleare Zwischenfall von Tschernobyl bewies in den Augen vieler Wissenschaftler, daß es töricht wäre, die toxische Risikenkontrolle als Problem zu betrachten, dessen Lösung sich stets auf den Rahmen nationaler Souveränität beschränkte.

1992 wählten die Vereinigten Staaten einen Vizepräsidenten, der sich für einen ehrgeizigen globalen Marshallplan zum Schutz der Umwelt einsetzte. Albert Gore sprach die Warnung aus, daß nur eine massive weltweite Veränderung menschlicher Perspektiven zusammen mit ausgeklügelten Systemen internationaler Regulation und ökonomischer Anreize geeignet sei, das Überleben der planetaren Ökologie sicherzustellen. »Diejenigen, die ein ureigenes Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo haben, werden wahrscheinlich so lange jeden bedeutsamen Wandel verhindern können, bis genügend Bürger aus Sorge um das ökologische System ihre politisch Verantwortlichen mit größter Entschlossenheit zwingen, die Erde wieder ins Gleichgewicht zu bringen.«[5]

Auf der Makroebene entstand ein Gefühl für die weltweite wechselseitige Abhängigkeit in Punkten wie wirtschaftliche Gerechtigkeit und Entwicklung, Umweltschutz und – in wenigen Fällen – gesetzgebende Maßnahmen. Obwohl es Unterschiede in der Sichtweise und der Semantik gab, war bereits lange vor dem Fall der Berliner Mauer in einigen Bereichen über ideologische Grenzen hinweg eine globale Sichtweise zu bemerken. Seit damals geht alles viel schneller, obwohl außerhalb der Vereinigten Staaten beträchtliche Bedenken bestehen hinsichtlich einer amerikanischen Dominanz in Denkmodellen, kulturellen Bereichen, Technologie und Weltwirtschaft bei einer Globalisierung von Umwelt, Kommunikation und Entwicklung.

Erst seit dem Auftauchen des Immunschwächevirus wurden die Grenzen und die Voraussetzungen für eine Globalisierung gesundheitsfördernder Maßnahmen in einem größeren Kontext als dem der Massenschutzimpfungen und Durchfallkontrollprogramme offensichtlich. Seit dem Augenblick seiner Entdeckung im Jahr 1981 unter schwulen Männern in New York und Kalifornien diente AIDS als Prisma, in dem das positive Licht – in dem die verschiedensten Institutionen gern gesehen wurden – in Tausende verschiedenartige und grelle Stücke zerfiel. Durch das AIDS-Prisma war es den Gesundheitsexperten in aller Welt möglich, die ihrer Ansicht nach vorhandene Scheinheiligkeit, Grausamkeit, das Versagen und die Unzulänglichkeiten in den geheiligten Institutionen der Menschheit zu verdeutlichen – einschließlich der Ärzteschaft, der Wissenschaft, der organisierten Religion, einiger Rechtssysteme, der Vereinten Nationen und einzelner Regierungssysteme jeglicher politischer Couleur.

Wenn man von HIV ausging, konstatierten einige führende Wissenschaftler, befand sich die Menschheit in großen Schwierigkeiten. Der Homo sapiens bedachte das Auftauchen dieser neuen Krankheit zuerst mit völliger Gleichgültigkeit, dann mit Verachtung für die vom Virus Infizierten, gefolgt von einer fast pathologischen Massenverleugnung. Die Mechanismen zur Rationalisierung der Epidemie reichten von der Beteuerung, das Virus sei vollkommen harmlos, bis zu der Behauptung, daß bestimmte Individuen oder Rassen mit der einzigartigen Fähigkeit gesegnet seien, die HIV-Infektion zu überleben. Die Geschichte würde, so erklärte man, weltweit die Leistung der politischen und religiösen Führer in den achtziger Jahren bewerten: Würden sie es dem Londoner Adel und Klerus des 17. Jahrhunderts gleichtun, die Stadt verlassen und die Armen an der Beulenpest leiden lassen? Oder würde die Geschichte in ihnen mehr Mitgefühl entdecken, nur um dann herauszufinden, daß sie den Sturm erst erkennen konnten, als er ihre Häuser bereits dem Erdboden gleichgemacht hatte?

In den letzten fünf Jahren drückten Wissenschaftler – besonders in den Vereinigten Staaten und in Frankreich – ihre Besorgnis darüber aus, daß HIV nicht einfach nur eine Abweichung von der Volksgesundheit darstellte, sondern ein Vorbote dessen war, was uns noch bevorstand. Sie warnten, daß die Menschheit wenig gelernt hatte, auf neue Mikroben schlecht vorbereitet sei und nur langsam reagieren würde – trotz der eklatanten Tragödie von AIDS. Sie forderten die Anerkennung der Tatsache, daß Veränderungen auf der Mikroebene in der Umwelt eines einzelnen Landes weltweit Auswirkungen auf die Makroebene des Lebens haben kann.[6]

Die Mikroben sind schließlich die uralten Feinde der Menschheit. Sie sind nicht verschwunden, nur weil die Wissenschaft Medikamente, Antibiotika und Schutzimpfungen erfunden hat (eine bemerkenswerte Ausnahme bilden die Blattern). Sie sind nicht von diesem Planeten verschwunden, als die Amerikaner und Europäer ihre Städte in der postindustriellen Ära säuberten. Und sie werden sicherlich nicht aussterben, nur weil die Menschheit sich entschlossen hat, ihre Existenz zu ignorieren.

In diesem Buch verfolge ich die neuere Geschichte von Krankheitsausbrüchen und beleuchte in grob chronologischer Reihenfolge Beispiele der Hintergründe mikrobieller Epidemien sowie die Reaktion verschiedener Gesellschaftsgruppen – Wissenschaftler, Ärzte, Bürokraten, Politiker und religiöse Führer.

Es wird auch auf die Biologie der Evolution auf der mikrobiellen Ebene eingegangen – mit einem genauen Blick auf die Methoden, mit denen Krankheitserreger und ihre Überträger durch Anpassung den Verteidigungswaffen begegnen, mit denen sich die Menschen schützen. Darüber hinaus wird in Die kommenden Plagen untersucht, wie Menschen durch mangelhafte Entwicklungspläne, eine fehlgeleitete Medizin, eine unzulängliche Gesundheitspolitik, kurzsichtige politische Aktionen und Versäumnisse den Mikroben in Wirklichkeit noch Beihilfe leisten.

Schließlich werden einige Lösungen angeboten. Angst, ohne mögliche mildernde Lösungen, kann sehr launisch sein. Sie hat im Laufe der Geschichte zur lebenslangen Inhaftierung von Opfern bestimmter Krankheiten geführt. Etwas weniger bedrückend ist die unangemessene Verschwendung von Geld und menschlichen Ressourcen mit dem Ziel, einen wirklichen oder imaginären Feind zu verjagen.

Wir brauchen insgesamt gesehen ein neues Paradigma in unserer Einstellung zu Krankheiten. Anstatt einer Sicht, welche die Beziehung der Menschheit zu den Mikroben als eine historisch lineare wahrnimmt, bei der das Risiko für die Menschen über die Jahrhunderte hinweg immer geringer wird, muß eine weitaus herausforderndere Perspektive gesucht werden, die einen dynamischen, nichtlinearen Zustand zwischen dem Homo sapiens und der mikrobiellen Welt zuläßt – sowohl im Körper als auch außerhalb. Dick Levins von der Harvard University hat es so formuliert: »Wir müssen die Komplexität erfassen und Möglichkeiten suchen, um eine sich ständig ändernde Ökologie zu beschreiben und zu verstehen – eine Ökologie, die wir nicht sehen können, von der wir aber dennoch ständig beeinflußt werden.«

Mein Onkel Bernard ist jetzt in den Achtzigern und hat sich zur Ruhe gesetzt. Er fragt sich, wie viele amerikanische Ärzte heutzutage einen Fall von Malaria, Diphterie, akutem rheumatischen Gelenkfieber, Tuberkulose oder Typhus erkennen würden ohne den hilfreichen Rat, den zeitaufwendige Labordiagnoseanalysen bieten. Er bezweifelt, ob die meisten Ärzte in den Industrienationen in der Lage wären, alte Geißeln wie das Gelbfieber oder das Denguefieber zu diagnostizieren, ganz zu schweigen von einer völlig neuen Mikrobe. Während er und der Rest der Ärzte aus der vor-antibiotischen Zeit der Industrieländer alterten und in Pension gingen, fragte sich Bernard, ob die Ärzte im Jahr 2000 besser oder schlechter ausgerüstet wären, um eine bakterielle Lungenentzündung zu behandeln, als die Ärzte in seinen vor-antibiotischen Tagen.

Vorbereitetsein setzt Verständnis voraus. Um die Interaktionen zwischen Homo sapiens und der riesigen und verschiedenartigen mikrobiellen Welt zu verstehen, müssen Sichtweisen entwickelt werden, in denen so unterschiedliche Bereiche wie Medizin, Umweltschutz, öffentliches Gesundheitswesen, grundlegende Ökologie, Primatenbiologie, menschliches Verhalten, wirtschaftliche Entwicklung, kulturelle Anthropologie, Menschenrechtsgesetzgebung, Entomologie, Parasitologie, Virologie, Bakteriologie, Evolutionsbiologie und Epidemiologie verschmelzen.

Das Buch Die kommenden Plagen erzählt Geschichten von Männern und Frauen, die darum kämpften, die mikrobielle Bedrohung der Menschheit nach dem Zweiten Weltkrieg zu verstehen und in den Griff zu bekommen. Während diese Krankheitsbezwinger sich in den Ruhestand begeben, gibt es in den Hochschullaboratorien und medizinischen Fakultäten immer mehr junge energiegeladene Wissenschaftler, aber ihre Energie richtet sich nicht auf die scheinbar altmodischen Aufgaben einer vergangenen Epoche, die im historischen Kampf der Menschheit gegen die Mikrobe so unverzichtbar waren. Wir nähern uns der Jahrtausendwende, und nur wenige der jungen Wissenschaftler oder Ärzte der Welt können einen Tigermoskito, eine Peromyscus-maniculatus-Maus, Keuchhusten oder eine diphterielle Halsinfektion schnell erkennen.

Die Fähigkeiten, die man braucht, um Abweichungen in der Mikroökologie des Homo sapiens zu beschreiben und zu erkennen, verschwinden mit dem Dahinscheiden der Generationen und lassen die Menschheit – eingelullt in eine Selbstgefälligkeit, die aus den stolzen Entdeckungen und medizinischen Triumphen geboren ist – unvorbereitet auf die kommenden Plagen zurück.

1 Machupo

Bolivianisches Hämorrhagisches Fieber

Jeder Versuch, die Welt zu formen und die menschliche Persönlichkeit zu modifizieren, um ein selbstgewähltes Lebensmuster zu erschaffen, beinhaltet viele unbekannte Konsequenzen. Das menschliche Schicksal muß ein Spiel bleiben, weil die Natur zu einer nicht vorhersehbaren Zeit und auf unvorhersehbare Weise zurückschlagen wird.

 

Mirage of Health, René Dubos, 1959

Karl Johnson hoffte inständig, daß ihn diese Krankheit bald tötete oder ihn jemand erschießen und von seinem Leid befreien würde. Das Wort »Agonie« war nicht stark genug. Er war in der Hölle.

Alle Nervenenden seiner Haut befanden sich im Alarmzustand. Er konnte nicht einmal den Druck eines Lakens ertragen. Wenn die Schwestern und Ärzte im Gorgas Hospital von Panama ihn berührten oder versuchten, Blutproben zu entnehmen, schrie Johnson innerlich auf – manchmal auch laut heraus.

Er war schweißnaß vor Fieber, fühlte eine beinahe paralytische Erschöpfung und den drückenden Schmerz, ähnlich, so dachte er, wie Hochleistungssportler, die es mit ihrem Training zu weit getrieben haben.

Als die Schwestern auf der Quarantänestation Johnson und seine beiden Kollegen zum erstenmal sahen, schreckten sie vor dem Anblick seiner blutgefüllten karmesinroten Augen zurück. Über Johnsons gesamten Körper wurden die winzigen Kapillaren, die als Nebenflüsse zu und von den Blutströmen der Venen dienten, durchlässig. Aus mikroskopisch kleinen Löchern sickerten Wasser und Blutproteine. Sein Hals schmerzte so sehr, daß er kaum sprechen oder Wasser trinken konnte. Die Wände seiner Speiseröhre waren roh und bluteten. Im Krankenhaus verbreitete sich die Kunde, daß die drei Opfer einer seltsamen und ansteckenden neuen Seuche seien, die sie sich in Bolivien geholt hätten.

In kurzen Augenblicken der Klarheit fragte Johnson, wie viele Tage schon vergangen seien. Als eine Schwester ihm mitteilte, es sei der fünfte Tag, stöhnte er.

»Wenn mein Immunsystem nicht bald einschreitet, bin ich ein toter Mann«, dachte er.

Er hatte es in San Joaquín viele Male gesehen. Einige starben nach nur vier Tagen, aber die meisten litten über eine Woche unter diesen Folterqualen.

Immer wieder dachte Johnson darüber nach, was er in diesem abgelegenen Dorf an der Ostgrenze Boliviens gesehen hatte. Er hoffte auf einen Einfall, der zu seiner Genesung beitragen und das Geheimnis von San Joaquín lösen konnte.

Alles hatte ein Jahr zuvor begonnen – im Juli 1962. Johnson war eben im Auftrag der Middle America Research Unit (MARU) in der Panamakanalzone eingetroffen. Er hatte genug davon, Atemwegsviren in den staatlichen National Institutes of Health (NIH) in Bethesda, Maryland, zu katalogisieren.

Seit er 1956 als junger Arzt von der Universität gekommen war, hatte Johnson in ermüdender Ausführlichkeit die Viren studiert, die Erkältung, Bronchitis und Lungenentzündung hervorriefen. Seine Arbeit wurde hochgelobt, aber der stets ungeduldige Johnson langweilte sich. Als er hörte, daß die National Institutes of Health Virologen für ihre Belegschaft in den MARU-Laboratorien suchten, ergriff er sofort diese Gelegenheit.

Kurz nach seiner Ankunft in Panama meldete sich sein neuer MARU-Kollege Ron MacKenzie freiwillig, um einem Team des amerikanischen Verteidigungsministeriums (Department of Defense, DOD) zu helfen, das in Bolivien Ernährungsumfragen durchführen sollte.

»Eine Ernährungsumfrage?« erkundigte sich Johnson höhnisch.

»Ich kann die Erfahrung gebrauchen, und ich war noch nie in Bolivien. Also warum nicht?« meinte MacKenzie.

Als MacKenzie und das DOD-Team den bolivianischen Gesundheitsminister in La Paz trafen, ließ der Minister sie wissen, daß er kein Problem damit habe, ihre Forschungen zu autorisieren, vorausgesetzt, sie kümmerten sich zuerst um ein dringlicheres Problem in einigen hundert Meilen Entfernung.

»Ich brauche Experten für geheimnisvolle Krankheiten, die einer Epidemie im Ostteil des Landes nachgehen.«

Aller Augen wandten sich MacKenzie zu, der als Kinderarzt und ausgebildeter Epidemiologe der Beschreibung am nächsten kam. Er rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum und murmelte, er könne kein Spanisch. Dabei versuchte er sich vorzustellen, wie der Osten Boliviens wohl aussehen mochte.

Amazonasgebiet

Der Minister fuhr in seinen Erläuterungen fort. Die geheimnisvolle Epidemie sei recht beachtlich, und zwei Ärzte aus La Paz hätten sie El Typho Negro genannt – schwarzer Typhus.

Am folgenden Morgen stand der große, etwas bäurische MacKenzie – in einem schwarzen Anzug mit gestärktem Hemd und blankpolierten Schuhen – auf dem Rollfeld von La Paz mit einem Aktenkoffer zu seinen Füßen. Er begrüßte den bolivianischen Arzt Hugo Garrón, den Mikrobiologen Luis Valverde Chinel und einen örtlichen Politiker. Dann bestieg das Quartett einen alten B-24-Bomber in Richtung Magdalena, in der östlichen Grenzregion des Landes. MacKenzie suchte die Sitze – es gab keine. Das Flugzeug war ausgeräumt worden, um Fleisch zu transportieren, die einzigen Passagiere an Bord waren normalerweise Rindfleischhälften.

Also stand MacKenzie hinter dem Piloten und klammerte sich während der langen Beschleunigungsphase auf dem kiesigen Rollfeld verzweifelt an der Kabinenwand fest. Da La Paz auf einer Höhe von über 3900 Metern lag, konnten die Flugzeuge nur bei großer Geschwindigkeit abheben. Nach einer anscheinend ungeheuerlich langen Zeit zog der Mechaniker, ein bolivianischer Indianer, der zwischen dem Piloten und dem Copiloten kauerte, an einem Hebel auf dem Boden des Cockpits das Fahrgestell ein, und sie hoben ab.

Wie ein müder alter Kondor kreiste der Bomber mehrere Male langsam über La Paz, stieg in Spiralen auf 5000 Meter, hoch genug, um durch einen engen Paß zwischen den Andengipfeln, die sich über La Paz auftürmten, hindurchzufliegen. MacKenzie starrte entgeistert auf die Eislawinen, die gefährlich nahe kaskadenartig von den Klippen herabstürzten.

Als das Flugzeug dem Klaustrophobie auslösenden Bergpaß entronnen war, wurde es von einem dichten Nebel eingehüllt, der den Piloten zwang, nur mit Hilfe der Instrumente zu fliegen: einem magnetischen Kompaß, einer Stoppuhr, einer Landkarte und einem Notizblock.

MacKenzie waren das bereits genug Abenteuer. Vor nur drei Jahren hatte er in einer Kleinstadt auf dem Lande nördlich von San Francisco die gebrochenen Knochen von Kindern geflickt und ihnen Schutzimpfungen verabreicht. Diese neue Heldentat war doch gefährlicher als alles, auf was er gehofft hatte, als er die Privatpraxis verließ, um für das öffentliche Gesundheitswesen zu arbeiten.

Als das Flugzeug langsam in den Nebel tauchte, fühlte MacKenzie, wie Hitze und Feuchtigkeit zunahmen. Unter seinem steifen Hemd kam er ins Schwitzen. Die Nebeldecke brach auf, und er sah scheinbar endlose Grassavannen unter dem Flugzeug dahingleiten. Sie wurden von kleinen, bewaldeten Altura-Bergen und langen mäandernden Flüssen unterbrochen, an deren Ufern dünne Bandas-Streifen von Regenwald wuchsen.

»Sieht aus wie in Florida«, dachte MacKenzie. »Ein bißchen wie in den Everglades.«

Nach weiteren zwei sich dahinziehenden Stunden landete das Flugzeug in der Kleinstadt Magdalena. MacKenzie traute seinen Augen nicht.

»Meine Güte«, rief er aus. »Da draußen müssen an die zweihundert Menschen um das Flugzeug herumstehen.« Die Frauen in der Menge waren alle in Schwarz gekleidet, die Männer trugen schwarze Armbinden. Die trauernden Menschen von Magdalena hatten sich versammelt, um »die Experten« zu begrüßen, die gekommen waren, um ihrer Epidemie ein Ende zu bereiten.

»Experten?« brummte MacKenzie und warf einen zweifelnden Blick auf Valverde Garrón. »Tja, das bin dann wohl ich.«

Zusammen mit seiner trauernden Begleitung wich das Quartett entlang den verstreuten strohgedeckten Häusern aus Lehmziegeln auf seinem Weg zum Marktplatz des Ortes schwerfälligen Ochsenkarren aus. Der Marktplatz selbst war ein großer Hof, umgeben von einer runden Arkade und den Häusern und Läden von Magdalena. Eine traurige Lethargie durchdrang alles.

In der winzigen Klinik von Magdalena fand MacKenzie ein Dutzend Patienten vor. Sie krümmten sich vor Schmerzen.

»Mein Gott!« rief er aus. Er mußte mit ansehen, wie einer nach dem anderen Blut erbrach. MacKenzie schauderte und fühlte die schreckliche Verantwortung seiner Position. Er verfluchte die Naivität, mit der er in diese Situation geraten war. Es schien ihm, als ob er erst gestern in einer Klinik in Sausalito Antibiotika an Kinder verteilt hatte, deren fröhliches Spiel durch einen rauhen Hals nur kurz unterbrochen worden war. Was MacKenzie auf dieser Krankenstation sah, zwang ihn dazu, seine Ausbildung als Kinderarzt beiseite zu schieben und für den Augenblick aus den Lektionen an Mut und Schrecken Kraft zu ziehen, die er während der Kämpfe im Zweiten Weltkrieg gelernt hatte.

Man sagte ihm, daß die meisten Kranken aus Orobayaya kamen. Der bloße Name dieses abgelegenen Dorfes ließ die Magdalenistas erschaudern. Sie sprachen mit unverhüllter Furcht davon.

Bald schon kauerte der hochaufgeschossene MacKenzie, der die Bolivianer weit überragte, in einem Einbaumkanu, das im Mondlicht flußaufwärts in das heimgesuchte Dorf unterwegs war. Als sie über den Fluß glitten, sah MacKenzie riesige »Hölzer« – viel größer als ihr Kanu – vom Ufer ins Wasser gleiten und auf sie zuschwimmen. Seine Nackenhaare sträubten sich, als ihm klar wurde, daß es sich bei diesen »Hölzern« um Alligatoren handelte.

Am nächsten Tag ritt die Gruppe zu Pferde vierzig Kilometer nach Orobayaya.

Der Ort war ausgestorben. Die sechshundert Einwohner waren vor Tagen in panischer Angst geflohen und hatten das Dorf den Schweinen und Hühnern überlassen, die verrückt vor Hunger herumliefen.

MacKenzie kehrte nach Magdalena zurück und sammelte Blutproben von den Patienten. Dann kehrte er nach Panama zurück, wo er versuchte, den MARU-Direktor Henry Beye und die NIH-Bosse in Bethesda davon zu überzeugen, daß die Situation in Bolivien weitere Nachforschungen erforderlich machte.

»Es ist wahrscheinlich nur eine Grippe«, lautete die einhellige Meinung der NIH-Vertreter.

»Es ist etwas Seltsames und Gefährliches«, beharrte MacKenzie.

Sowohl MacKenzie als auch Johnson waren der Ansicht, daß die Symptome der bolivianischen Dorfbewohner denen eines vor kurzem entdeckten lateinamerikanischen Virus ähnelten, das 1953 in der Nähe des Junín-Flusses in Argentinien aufgetaucht war. Das argentinische Virus war ein naher Verwandter des Tacaribe-Virus, das Fledermäuse und Nagetiere in Trinidad befiel und ebenfalls erst vor kurzem entdeckt worden war. Es gab zwar keine Beweise, daß sich Menschen mit dem Tacaribe infizieren konnten, aber Junín verlief eindeutig in vielen Fällen tödlich. In den kaum besiedelten landwirtschaftlichen Gebieten der riesigen Pampas von Argentinien tauchte Junín wie aus dem Nichts unter Männern auf, die Mais ernteten. Auch Junín tötete die Menschen, indem es die Kapillaren durchlässig machte und die Opfer zu Tode bluten ließ. Keiner wußte genau, wie die Argentinier sich mit Junín infizierten; man spekulierte, das Virus könne durch die Luft übertragen werden.

Johnson hielt es für dumm, es einfach darauf ankommen zu lassen. Obwohl die NIH eine MARU-Untersuchung der Epidemie nicht genehmigt hatte, flog er nach Fort Detrick, einer Armeekaserne in Maryland, um Dr. Al Wieden zu treffen. Wieden war ein Pionier auf dem Gebiet der Laborsicherheit. Er hatte Fort Detrick zum weltweit ersten Forschungszentrum für tödliche Mikroben gemacht. Johnson wollte etwas bis dahin Unerhörtes tun: eine tragbare Schachtel konstruieren, damit er Junín – oder was immer die Menschen von San Joaquín dahinraffte – sicher vor Ort studieren konnte.

In Fort Detrick wurden zahlreiche Experimente an »bakterienfreien Mäusen« durchgeführt – Tieren, die ein so schwaches Immunsystem besaßen, daß für die mutierten Nager so gut wie jede Mikrobe tödlich sein konnte. Um die Mäuse am Leben zu halten, wurden sie von den Wissenschaftlern in luftdichte Schachteln gesetzt, die ständig unter positivem Druck standen. Die Luft wurde durch Spezialfilter zu den Mäusen hinein- und dann wieder zu den Wissenschaftlern hinausgeblasen. Auf diese Weise atmeten die Mäuse nur sterile Luft. Wenn die Wissenschaftler mit den Mäusen arbeiten wollten, zwängten sie ihre Hände in die luftdichten Gummihandschuhe, die an den Seiten der Druckschachtel befestigt waren. So eine »Handschuhschachtel«, wie der Stahlbehälter genannt wurde, war so groß wie ein Sarg und wog mehrere hundert Pfund.

Johnson war auf die Idee gekommen, einen dieser Behälter von positivem auf negativen Druck umzubauen, damit die ganze Luft hineingeblasen wurde, in Richtung auf Proben von möglicherweise gefährlichen Tieren oder Mikroben. Auf diese Weise konnte er in seinem tragbaren Labor relativ sicher arbeiten.

Ein solches tragbares Labor war noch nie zuvor eingesetzt worden, und Wieden war sich nicht sicher, wie er die Glove-box mit dem positiven Druck gebrauchsfertig umbauen sollte. In einem Rennen gegen die Zeit fanden Johnson und Wieden eine neue, leichte Glove-box aus Plastik und umgaben sie mit einem Geflecht aus Aluminiumstäben, damit der Behälter nicht implodierte, wenn der positive Druck in einen negativen Druck umgekehrt wurde. Zu ihrer beider Freude funktionierte die Sache.

In der Zwischenzeit sah sich MacKenzie in Bethesda ebenso wie in den Centers for Disease Control in Atlanta immer noch einer entschiedenen Opposition gegenüber. Obwohl er Arzt war und eine Ausbildung im öffentlichen Gesundheitswesen hatte, zweifelten einige »höhere Tiere« ganz offen daran, ob der 37jährige MacKenzie genug Tropenerfahrung besaß, um eine neue Epidemie zu erkennen. Sie blieben dabei, daß es eine Zeit- und Ressourcenverschwendung wäre, ein Team zu beauftragen, etwas zu untersuchen, was sich wahrscheinlich als eine ganz normale Feld-, Wald- und Wiesen-Grippe herausstellen würde.

Im Herbst 1962 wandte sich MacKenzie an Bill Reeves, seinen alten Mentor aus der Zeit seiner Abschlußstudien im Gesundheitswesen an der University of California in Berkeley. Er beschrieb Reeves die Lage in Magdalena, und dieser bestand darauf, daß MacKenzie »den Bethesda-Bürokraten Paroli bieten solle«.

»Bleib dran. Du bist da einer großen Sache auf der Spur. Laß dich von denen nicht entmutigen«, drängte Reeves.

Am 9. Januar 1963 fand ein Treffen von Topleuten der Abteilung Infektionskrankheiten der NIH in Bethesda statt, und MacKenzie brachte seinen Fall überzeugend vor. Es wurde beschlossen, daß er und ein MARU-Ökologe namens Merl Kuns zuerst das Ausmaß der Epidemie auskundschaften, Blutproben sammeln und die Struktur der örtlichen Ökologie bestimmen sollten.

Die beiden traten ihre Reise im März an und kehrten eine Woche später zurück, mehr denn je davon überzeugt, daß sie es mit einer ernstzunehmenden Epidemie zu tun hatten. Kuns – ein Ökologe, der an der University of Wisconsin ausgebildet worden war – verblüfften die Abertausende von Fledermäusen, die in den Strohdächern von Städten wie Magdalena hausten und des Nachts auf Futtersuche ausschwärmten. Es waren kleine Fledermäuse, ungefähr so groß wie Monarchen-Schmetterlinge, aber sie sammelten sich in riesigen Schwärmen, die den Himmel über dem Dorf urplötzlich verdunkeln konnten. Der Epidemiologe MacKenzie war seinerseits davon überzeugt, daß in Magdalena niemand wirklich infiziert war und die eigentliche Epidemie fünfzig Meilen entfernt in einer Stadt namens San Joaquín tobte. Die beiden kehrten mit mehr als ausreichenden Beweisen nach Panama zurück, um die Genehmigung für weitere Nachforschungen zu erhalten.

Johnson packte seine neue Glove-box in Kisten und machte sich im Mai 1963 zusammen mit MacKenzie und Kuns auf den Weg nach Bolivien. Nach ihrer Ankunft in der Hauptstadt charterte das Team einen ehemaligen B-17-Bomber der amerikanischen Luftwaffe und flog an den östlichen Rand der Anden, dann anderen östlichen Ausläufern entlang, hinunter zum Iténez-Fluß und von dort zum Zufluß Machupo. Schließlich landeten sie auf einem Feld vor San Joaquín. Auf Mauleseln brachten sie ihre 10000 Pfund schwere Ausrüstung in das winzige Städtchen.

San Joaquín schmiegte sich an den Hang über dem Flußlauf des Machupo und war, wie Johnson verblüfft dachte, »der letzte Außenposten der Neuen Welt«. Nichts in seiner wissenschaftlichen Laufbahn hatte ihn auf derart primitive Bedingungen vorbereitet: keine Straßen, keine sanitären Einrichtungen, keine Zäune, keine Elektrizität, keine Telefone, kein fließend Wasser. Auf jeden Menschen kamen ungefähr zwei Kühe, die frei durch die Stadt streiften. Die Menschen von San Joaquín bestanden zu etwa gleichen Teilen aus reinrassigen Spaniern, reinrassigen Indianern und Mestizen, deren Vorfahren die Stadt im 17. Jahrhundert erbaut hatten. Die wohlhabenderen Bürger wohnten in weißen Lehmhäusern mit Ziegeldächern, der Rest der Einwohner lebte in Lehmhütten mit Strohdächern. Sechs schmale Streifen Morast formten die »Straßen« von San Joaquín und liefen in einem bescheidenen Marktplatz zusammen.

Die spanischen Bewohner von San Joaquín stammten von Gauchos ab, die einige Generationen lang die riesigen Herden wohlhabender brasilianischer Familien, welche die Dampfschiffe mit Kühlräumen auf dem Amazonas kontrollierten, gehütet hatten. Die Schiffe brachten das Rindfleisch von San Joaquín das Flußsystem entlang 1400 Meilen nordwestlich bis zu der Stelle, an der der Amazonas ins Meer mündete. Von dort wurde das Rindfleisch nach Europa oder Nordamerika transportiert und brachte den Brasilianern hervorragende Profite.

Im winzigen San Joaquín waren die Gauchos, ihre Familien und die örtlichen Indianer gänzlich abhängig von der »Güte« der brasilianischen Ranchbesitzer und von den Lebensmitteln und sonstigen Vorräten, welche die Dampfschiffe bei ihrer Rückkehr in die abgelegene Stadt mitbrachten.

1952 kam die Movimiento Nacionalista Revolucionario durch einen Putsch an die Macht. Die Landreformpartei nahm der alten bolivianischen und brasilianischen Oligarchie riesige Landflächen, und die Menschen von San Joaquín waren plötzlich Grundbesitzer. Die Brasilianer waren nicht bereit, die Rinder, die einst ihnen gehört hatten, von den Dorfbewohnern zurückzukaufen, und verließen daher die Gegend auf ihren Dampfschiffen. Sie kehrten niemals zurück. Die Dorfbewohner waren nun isoliert und verarmten. Ihnen drohte Mangelernährung, wenn es ihnen nicht gelang, Getreide anzupflanzen, um das allzu reichlich vorhandene Rindfleisch zu ergänzen.

Als Johnson, MacKenzie und Kuns in San Joaquín ankamen, fanden sie ein bescheidenes Städtchen von etwa 2000 Menschen vor, die vom Rindfleisch lebten, vom Gemüse aus dem eigenen Garten und vom Ertrag der in der Savanne verstreuten kleinen Reis- und Maisfelder.

Ein ständiger Strom von Reisenden kam durch die Stadt, auf dem Weg von noch abgelegeneren Gebieten in der Savanne zu größeren bolivianischen Städten mit Hilfe der Dampfschiffe, die gelegentlich im Hafen von San Joaquín festmachten.

Bei ihrer Ankunft baute Johnson sofort sein tragbares Labor auf, und das Team machte sich daran, das Ausmaß dieses geheimnisvollen Ausbruchs abzuschätzen. Zu diesem Zeitpunkt wütete die Epidemie bereits seit 14 Monaten, und die Menschen trauerten jeden Tag, wenn die Kirchenglocke für neue Tote läutete und frische Gräber den Friedhof füllten.

Mit der emsigen Hilfe der Einwohner kartographierte das Team die Gegend und markierte jede einzelne Lehmhütte. Jede Familie wurde ausführlich befragt. Die Wissenschaftler stellten die Fragen, die sie am brennendsten interessierten: Wie viele Menschen in diesem Haus wurden von der Krankheit befallen? Wie viele sind gestorben, und wie viele haben sich wieder erholt? Was haben sie in den Tagen vor ihrer Erkrankung getan? Besteht die Möglichkeit, daß ein Familienmitglied ein anderes angesteckt hat? Waren irgendwelche Tiere krank?

Sofort wurde klar, daß sich fast die Hälfte der Bevölkerung angesteckt hatte, und von diesen war wiederum etwa die Hälfte an der Krankheit gestorben. Das war ein angsteinflößender Befund, denn nur wenige Mikroben töteten annähernd 50 Prozent der Infizierten. Eine Familie hatte 1963 neun von elf Angehörigen verloren.

»Das ist eine Dezimierung von römischen Ausmaßen«, äußerte Johnson gegenüber seinen Kollegen. Er bezog sich dabei auf die große Epidemie im antiken Rom der republikanischen Ära, als mindestens ein Viertel der Bevölkerung von einer Krankheit dahingerafft wurde, die man heute für die Blattern hält.

Der erste Tagesordnungspunkt lautete: herausfinden, welche Art von Mikrobe die Menschen von San Joaquín tötete – Bakterien, Viren oder Parasiten. Die Umstände verwiesen auf ein Virus, möglicherweise von Insekten übertragen, daher errichtete das Team zwei kleine Laboratorien im Abstand von etwa 70 Metern. Das erste, eine bereits vorhandene Lehmhütte mit Strohdach, enthielt Johnsons Glove-box und eine Vielzahl anderer Ausrüstungsgegenstände sowie die Versuchstiere, aus deren Blut- und Gewebeproben man mikroskopisch kleine Organismen isolierte. Das zweite Labor wurde nach Anweisung von den Ortsansässigen aus eingeschlagenen Holzpflöcken und Stroh gebaut. Es beherbergte wilde Insekten und Tiere, die Kuns und seine Assistenten im Gebiet von San Joaquín gefangen hatten. Das Team plante, diese Tiere zu untersuchen und so zu bestimmen, welche Spezies die tödlichen Mikroben in sich trug.

Die beiden Laboratorien wurden getrennt errichtet, um eine Querkontamination zu vermeiden. Die Gebäude wurden mit Fenstern und dicht schließenden Türen versehen und intensiv mit DDT besprüht. Man legte außerdem Nagetierfallen aus, um die Wissenschaftler vor den Lebewesen zu schützen, welche die Krankheit in sich tragen könnten – welche es auch immer sein mochten.

Nach tagelangen Verhandlungen mit der Verwaltung von San Joaquín über die Angemessenheit ihrer geplanten Vorgehensweise konnte Valverde im Juni den örtlichen Priester überzeugen. Dieser erlaubte MacKenzie, an dem nächsten Opfer der Epidemie eine Autopsie durchzuführen. Einige Tage später starb ein zweijähriger Junge, und das Team konnte aus seiner Milz und seinem Gehirn eine Substanz isolieren, die bei Injektion in einen Hamster die Krankheit hervorrief. Einige Tage nachdem der Junge gestorben war, schloß das Team weitere Tests ab, die bewiesen, daß die geheimnisvolle Krankheit von einem Virus hervorgerufen wurde: Parasiten oder Bakterien konnten aufgrund der winzigen Größe der Filter, durch welche die Mikrobe problemlos hindurchging, und aufgrund ihrer Resistenz gegenüber Antibiotika ausgeschlossen werden. Sie zeigten auch, daß die Mikrobe menschliche Zellen zerstören konnte und die Krankheit bei wilden Mäusen verursachte.[7]

Mitten in der Autopsie an dem Kind rutschte Hugo Garrón das Skalpell aus der Hand. Es flog über den Autopsietisch und traf MacKenzie an der Hand. MacKenzie sah auf das Blut, das sofort aus seinem durchbohrten Handschuh floß, und dann auf Garrón. Er ahnte Schlimmes.

Eine sorgenvolle Woche ohne Symptome verging. MacKenzie hielt sich für einen echten Glückspilz. Mit größerer Sorgfalt führten er und Garrón weitere Autopsien durch und waren wie erschlagen von dem Ausmaß an Zerstörung, das die geheimnisvolle Mikrobe hervorrief. Am alarmierendsten sah es im Gehirn der Opfer aus: Wo klare zerebrospinale Flüssigkeit hätte sein sollen, gab es statt dessen dunkelrotes Blut. Alle meningealen Schutzschichten um das Gehirn waren blutdurchtränkt. Es war unheimlich, wie den Opfern kurz vor ihrem Tod noch fast alle Haare ausfielen.

Ende Juni fand in der Stadt ein Fest statt, das die Wissenschaftler zum Anlaß nahmen, ihre zahlreichen Entdeckungen zu feiern. Der nächste logische Schritt in ihrer Forschung bestand darin, das Virus zu charakterisieren und den genauen Ablauf der Ansteckung herauszufinden. Johnson, Kuns und MacKenzie waren zuversichtlich, daß sich ihnen bald alle Antworten offenbaren würden. Begeistert nahmen sie an dem Fest teil, tranken und aßen die örtlichen Spezialitäten. Alle drei Männer waren in der Stimmung für eine Fiesta, aber es war Johnson, der sich mit charakteristischem Elan in die Feierlichkeiten stürzte, trank, tanzte und an dem örtlichen Macho-Sport teilnahm und großspurige Angebergeschichten erzählte. Johnson war zwar nicht von klassischer Schönheit, aber er besaß eine Mischung aus Cowboyflair und Charisma, die andere Männer inspirierte und Frauen anzog. Auch MacKenzie warf sich in die fröhlichen Festivitäten, während der scheue, ernsthaftere Kuns das Treiben still beobachtete.

Am 3. Juli sammelten Johnson und MacKenzie etwa 20 Meilen außerhalb von San Joaquín Zecken von den Büschen um eine Chaco, eine kleine Rinderfarm. Sie vermuteten, das Virus könnte von Insekten übertragen werden, und sammelten Proben zur Analyse in ihrem Feldlabor.

Als sie den langen Marsch zurück nach San Joaquín antraten, mußte der kleinere Johnson mit der Zeit immer langsamer gehen, um sich dem Tempo seines sonst athletisch ausschreitenden Kollegen anzupassen.

Als sie zum Fluß kamen und per Kanu flußabwärts nach San Joaquín paddelten, fiel Johnson auf, daß er sich stärker ins Zeug legen mußte.

»Ich fühle mich mies, wirklich mies«, sagte MacKenzie und schwankte in sein Bett.

Am nächsten Morgen warf Rose Navarro, Krankenschwester des Friedenskorps, die man entsandt hatte, um beim Übersetzen zu helfen, einen Blick auf MacKenzie und erklärte seinen Zustand für ernst. Ihr fiel auch auf, daß Angel Muñoz, ein panamesischer Labortechniker, der vor kurzem von der MARU gekommen war, um Kuns zu assistieren, ähnliche Symptome aufwies.

Johnson und Kuns nahmen mit Hilfe eines klobigen Relaissenders Kontakt mit Panama auf, und noch am selben Tag – dem vierten Juli – flog eine C-130 der amerikanischen Luftwaffe ein, um die beiden erkrankten Forscher zu evakuieren.

Als Johnson MacKenzie zum Abschied zuwinkte, spürte er einen Anfall von Schüttelfrost und dachte: »Verdammt! Ich sollte auch in diesem Flugzeug sein!«

In den nächsten vier Tagen flog Johnson langsam per Anhalter von Flugzeug zu Flugzeug durch Bolivien, Peru und Kolumbien und gelangte schließlich in das Gorgas-Krankenhaus in Panama.

Hier lag er nun und blutete zu Tode. Zu seiner Linken lag MacKenzie, zur Rechten Muñoz. Johnson sah vor seinem inneren Auge schon seinen kurzen Nachruf: »Vielversprechender junger Forscher und Arzt, geboren 1929 in Terre Haute, Indiana. Gestorben im Alter von 34 Jahren. Unverheiratet.«

Er wußte, das Virus konnte ihn auf zwei Arten töten. Johnson hatte es in San Joaquín gesehen. Zum einen könnte er schon bald neurologische Symptome entwickeln, Krämpfe bekommen und die Kontrolle über seine Muskeln verlieren; schließlich würde er einen Grand-mal-Anfall bekommen und sterben. Zum anderen könnte die Menge an Blut, die aus seinen Kapillaren strömte, derart ansteigen, daß sein Körper in Schock fiel und er an Herzversagen starb. Beide Todesarten könnten in einigen Stunden oder Tagen eintreten.

Auf jeden Fall gab es kein Heilmittel, kein Gegengift. Er konnte nur daliegen und abwarten.

Nach mehreren Tagen der Agonie zeigten alle drei Männer Anzeichen von Besserung. Das war im wesentlichen den Bemühungen eines Armeearztes zu verdanken, der eigens für sie aus Washington eingeflogen worden war. Obwohl er diese Krankheit nicht kannte, hatte er bereits Dutzende anderer Patienten, die an einem viralen hämorrhagischen Fieber namens Seoul Hantaan litten, behandelt. Hantaan erregte zum erstenmal die Aufmerksamkeit des Westens, als 121 amerikanische Soldaten aus den Schützengräben des Korea-Krieges auf eine Weise zu Tode bluteten, die der von Johnson sehr ähnlich war. (Beinahe 2500 amerikanische Soldaten litten zwischen 1951 und 1955 an der Hantaan-Krankheit.)[8] Bislang war das Hantaan-Virus noch nicht identifiziert worden, und es war nicht klar, wie die Krankheit übertragen wurde, aber amerikanische Armeeärzte hatten entdeckt, daß die Chancen der Patienten auf eine Genesung durch sorgfältige Überwachung ihrer Elektrolyten und Körperflüssigkeiten signifikant erhöht wurden. Bei allen hämorrhagischen Erkrankungen ließen die Kapillaren wertvolle Körperflüssigkeiten und Proteine durchsickern und störten auf diese Weise ernsthaft das empfindliche chemikalische Gleichgewicht lebenswichtiger Organe wie Nieren, Herz, Leber und Milz. Lange bevor das Immunsystem Gelegenheit hatte, seinen Gegenangriff gegen das Hantaan-Virus zu beginnen, gaben die inneren Organe ihre Funktion auf, und der Patient bekam entweder Krämpfe oder fiel in Schock.