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Das Werk 'Die langen Wellen der Konjunktur' erscheint erstmals 1926 auf Deutsch im 'Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik'. Kondratjew konstatiert, dass es neben kurz- und mittelfristigen wirtschaftlichen Veränderungen in der kapitalistischen Wirtschaft auch längerfristige Zyklen gibt, die etwa 48 bis 60 Jahre andauern. Seit Joseph Schumpeter werden diese langen ökonomischen Wellen als 'Kondratjew-Zyklen' bezeichnet.
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Seitenzahl: 64
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Nikolaj Kondratjew: Die langen Wellen der Konjunktur Bearbeitet von Thomas Müller Klassiker der Ökonomie. Band 9 Veröffentlicht im heptagon Verlag © Berlin 2014 www.heptagon.de ISBN: 978-3-934616-38-7
Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew, 1892 in Russland geboren, studiert Jura und arbeitet im Anschluss als Verwaltungsbeamter in Petersburg. Nach der aktiven Teilnahme an der Februarrevolution von 1917 wird er Mitglied der »Verfassungsgebenden Nationalversammlung«. 1920 gründet er in Moskau das sogenannte »Konjunkturinstitut« und ist an der Ausarbeitung des ersten Fünfjahresplans der Sowjetunion beteiligt. Weil Kondratjew auch nach Ende der »Neuen Ökonomischen Politik« im Jahr 1927 für mehr Marktwirtschaft in der Sowjetunion plädiert, wird er angeklagt und 1930 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Im Jahr 1938 wird er in einem erneuten stalinistischen Schauprozess zum Tode verurteilt.
Das hier vorliegende Werk »Die langen Wellen der Konjunktur« erscheint erstmals 1926 auf Deutsch im »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«. Kondratjew leistet hier Pionierarbeit bei der Untersuchung langfristiger wirtschaftlicher Entwicklung. Er konstatiert, dass es neben kurzfristigen wirtschaftlichen Veränderungen und mittelfristigen Konjunkturschwankungen –, die in der Regel 7 bis 11 Jahre dauern – in der kapitalistischen Wirtschaft auch längerfristige Zyklen gibt. Nach der Auswertung verschiedener Wirtschaftsfaktoren (u.a. Warenpreise, Kapitalzinsen, Löhne und Außenhandel) im internationalen Rahmen stellt er fest, dass diese Zyklen etwa 48 bis 60 Jahre andauern. Die sowjetischen Ökonomen und Politiker ignorieren Kondratjews Arbeit, doch in der westlichen Welt wird sie breit rezipiert. So bezeichnet Joseph Schumpeter bereits ein Jahr nach dem Tod des Entdeckers die langen ökonomischen Wellen als »Kondratjew-Zyklen«.
Das vorliegende E-Book orientiert sich an der Originalausgabe aus dem »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« mit einer behutsamen Anpassung an die neue deutsche Rechtschreibung.
Der Gedanke, dass die Dynamik des Wirtschaftslebens in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht einfachen und linearen, sondern komplexen und zyklischen Charakters ist, kann heute als allgemein anerkannt gelten. Die Wissenschaft ist jedoch noch weit davon entfernt, das Wesen und die Typen dieser zyklischen, wellenförmigen Bewegungen geklärt zu haben.
Ist in der Nationalökonomie von Zyklen die Rede, so handelt es sich gewöhnlich um die 7–11-jährigen Zyklen der kapitalistischen Wirtschaft.
Nun sind aber diese 7–11-jährigen Zyklen offenbar nicht der einzige Typ ökonomischer Zyklen. In Wirklichkeit ist die Dynamik des Wirtschaftslebens verwickelter.
In der letzten Zeit ist es wahrscheinlich geworden, dass es außer den erwähnten Zyklen, die wir konventionell nach ihrer Dauer die mittleren nennen wollen, noch kürzere Wellen von durchschnittlich 3½ Jahren Länge gibt2.
Aber nicht genug damit – man hat Grund zu der Annahme, dass es in der kapitalistischen Wirtschaft außerdem noch lange Wellen von einer Durchschnittslänge von etwa 50 Jahren gibt. Kommen nun aber zu den mittleren Wellen auch noch lange und kurze hinzu, so ist es klar, dass das Problem der Wirtschaftsdynamik sehr kompliziert wird.
In der vorliegenden Abhandlung interessieren uns nicht die Fragen der kurzen Wellen: ob es sie wirklich gibt und, wenn ja, welches ihr Wesen ist. Wir erörtern hier nur die langen Wellen, und auch die mit diesen verknüpften Fragen nicht in vollem Umfang. Wir möchten nur einige Daten zu der Frage darlegen, ob es lange Wellen gibt, und wenn ja, worin sie sich äußern.
Die Frage der langen Wellen ist nicht nur noch nicht durchgearbeitet, sondern die Literatur bejaht bisher noch nicht bestimmt die Frage, ob es denn lange Wellen gibt.
Jedoch sind einzelne Autoren, wie Moor, Lescure, Aftalion, Spiethoff, Cassel u.a.m. diesem Gegenstand näher getreten, allerdings nur in einer ziemlich fragmentarischen und zufälligen Form. Die Frage, ob es lange Wellen gibt, beantworten sie verschieden. Die einen halten das Vorhandensein der langen Wellen für wahrscheinlich; andere konstatieren lange Perioden des Aufstiegs und Niedergangs der Konjunktur, geben aber auf die Frage, ob diese Perioden einander zyklisch ablösen, keine bestimmte Antwort; eine dritte Gruppe verneint diese Frage entschieden und erklärt die langen Perioden des Aufstiegs und Niedergangs der Konjunktur aus zufälligen Faktoren und Verschiebungen im Wirtschaftsleben.
Die Erforschung der langen Wellen der Konjunktur stößt auf außerordentlich große Schwierigkeiten. Erstens setzt sie gemäß dem Wesen der Sache eine sehr lange Beobachtungszeit voraus, und wir können doch nicht weiter als bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, d.h. bis zum Anfang der großen Entwicklung des industriellen Kapitalismus zurückgehen, wenn wir den Bereich der zuverlässigen Daten und der gleichartigen und vergleichbaren Erscheinungen nicht verlassen wollen. Zweitens aber sind auch für die Zeit vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Daten über den Verlauf der Konjunktur nicht vollständig und zuverlässig genug; auch in dieser Zeit fließen die Quellen nicht ununterbrochen.
Dennoch haben wir den Versuch unternommen, die vorhandenen Daten statistischer und deskriptiver Art für Deutschland, Frankreich, England und die Vereinigten Staaten von Amerika für einen möglichst großen Zeitraum zu sammeln und auszuwerten. Im Nachstehenden legen wir einige erste Ergebnisse dar, zu denen diese Arbeit geführt hat. Da bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts das statistische Material für England und Frankreich am vollständigsten ist, so haben wir dem vorliegenden Aufsatz seiner Kürze halber die Angaben über eben diese Länder zugrunde gelegt; und nur in einzelnen Fällen ziehen wir die Daten über andere Länder, besonders über die Vereinigten Staaten heran.
Bevor wir die tatsächlichen Konjunkturschwankungen betrachten, schildern wir die Methode, nach der wir bei der Untersuchung der einzelnen ökonomischen Elemente verfahren sind.
Die Elemente der ökonomischen Wirklichkeit zerfallen dem Charakter ihrer Dynamik nach zunächst in zwei Gruppen. Für die Elemente der ersten Gruppe ist es charakteristisch, dass sie neben den Schwankungsvorgängen keine allgemeine Tendenz zum Steigen oder Fallen (secular trend) aufweisen oder dass diese Tendenz wenigstens im Beobachtungszeitraum kaum bemerkbar ist. Dahin gehören gewisse werthafte Elemente, z.B. die Warenpreise. Wo wir statistische Angaben über die Dynamik von solchen Elementen zur Aufzeigung der langen Wellen auswerten, bedienen wir uns elementarer statistischer Methoden der Analyse.
Für die Elemente der zweiten Gruppe – und dahin gehört die Mehrzahl – ist charakteristisch, dass sie, organisch mit der allgemeinen Veränderung des Umfangs des ökonomischen Lebens der Gesellschaft verbunden, in ihrer Dynamik neben Schwankungsvorgängen auch eine allgemeine Tendenz von einer bestimmten Richtung – in der Regel nach oben – bekunden. Dahin gehören a) gewisse rein werthafte Elemente, z.B. der Kapitalzins, der Arbeitslohn, die Bankeinlagen usw., b) Elemente gemischten Charakters, d.h. solche, auf welche die Veränderungen sowohl werthafter als auch naturaler Faktoren Einfluss haben, wie z.B. der in Werten ausgedrückte Umfang des Außenhandels, c) rein naturale Elemente, z.B. Angaben über die Produktion der verschiedenen Industriezweige und über den Verbrauch von gewissen Waren. Legt man der Untersuchung die statistischen Angaben über die Dynamik der Elemente dieser zweiten Gruppe in unbearbeiteter Gestalt zugrunde, so treten die Wellen entweder gar nicht oder nicht deutlich genug in die Erscheinung, und zwar bleiben nicht nur die langen, sondern bei den rein naturalen Elementen auch die anderen Wellen unsichtbar. Daher hatten wir hier kompliziertere Methoden der Verarbeitung statistischer Reihen anzuwenden, um das Vorhandensein oder das Nichtvorhandensein der langen Wellen aufzuzeigen.
Zunächst haben wir die Jahresgrößen dieser Reihen da, wo das Wesen der zu untersuchenden Erscheinung das zuließ, durch die Einwohnerzahl des Landes dividiert3. Das geschah aus zwei Gründen: 1. weil wir so die Kurven, die das reale Wachstum der Gesellschaft ausdrücken, näher bestimmen, und 2. weil wir so bei den Ländern, die wie z.B. Frankreich im Beobachtungszeitraum Gebietsveränderungen erfahren haben, die Größen der anfänglich gegebenen Reihe aus der Zeit vor und nach der Gebietsveränderung zweifellos untereinander vergleichbarer machen4.
Die Reihen, die aus der Division der ursprünglichen Daten durch die Einwohnerzahl hervorgehen, sind ab er noch immer zusammengesetzte Größen. Sie enthalten jedenfalls zwei Grundkomponenten: a) die allgemeine Tendenz der Entwicklung (secular trend) mit seiner Geschwindigkeit und b) die Beschleunigung dieser Entwicklung5